Polen 2023

Analysen, Trends und Kommentare aus dem Deutschen Polen-Institut

„Das Konzept des europäischen ‚Gemeinschaftsgeistes‘ lag Bronisław Geremek als Historiker und Politiker am Herzen. Der Gelehrte zählte auf, dass innerhalb von sechs Jahrhunderten etwa 180 Initiativen versuchten, die politische Einheit Europas zu schaffen. Zur Herrschaftszeit Karls des Großen wurde sie durch die Realisierung des Konzeptes der ‚christianitas‘ erreicht, das dem modernen ethischen System Europas als Grundlage diente. Geremek bedauerte, dass die Einheit Europas auf ‚apokalyptische Angst‘ und nicht auf Hoffnung gegründet wurde. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderte diesen Wunsch.“ (Boźena Gierat-Bieroń)

Boźena Gierat-Bieroń und Janusz Józef Węc forschen und lehren an der Jagiellonen-Universität Krakau. Sie haben im Juli 2023 das Buch „Europa und die Europäer im 21. Jahrhundert aus der Sicht der polnischen Wissenschaft herausgegeben. Boźena Gierat-Bieroń leitet ihren Essay „Kultureller Gemeinschaftsgeist Europas: von Bronisław Geremeks historiosophischen Idealen zum kulturbildenden Metanarrativ“ mit den zitierten Sätzen ein. Bronisław Geremek wurde 1932 geboren, er starb im Jahr 2008, er engagierte sich zeit seines Lebens und insbesondere nach den Ereignissen des Jahres 1989 für ein demokratisches Polen in einem demokratischen Europa. Gilt sein Erbe, trägt es?

Das Deutsche Polen-Institut ist die erste Adresse für all diejenigen, die fundiert erfahren möchten, was in Polen geschieht, wer dort welche Ziele verfolgt, was Pol*innen und Deutsche übereinander denken und wie sich Polen sowie das polnisch-deutsche Verhältnis in den nächsten Jahren entwickeln könnte, ist in Darmstadt und Warschau. Die stellvertretende Direktorin, Agnieszka Łada-Konefał, hat das Deutsche Polen-Institut im Demokratischen Salon vorgestellt. Das Institut veröffentlicht regelmäßig im Wiesbadener Harassowitz Verlag seine inhaltlich wie künstlerisch anspruchsvoll gestalteten Jahrbücher und ergänzende Themenbände (wie den zitierten über Bronisław Geremek). Auf seiner Internetseite erscheinen monatlich die von deutschen und polnischen Autorinnen und Autoren verfassten Polen-Analysen, die ich allen, die sich für Polen, seine Rolle in Europa und aktuelle wie langfristig wirksame Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft interessieren, als Pflichtlektüre empfehlen möchte. Jährlich erscheint das deutsch-polnische Barometer. Es informiert über Einstellungen in beiden Ländern zu aktuellen politischen Entwicklungen sowie über das jeweilige Bild vom anderen Land.

Jüngste Themenbände befassen sich unter dem Motto „Nie wieder Krieg“ mit dem 1. September 1939 – Autoren sind Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew – sowie unter dem Motto „Nachbarschaft im Rahmen“ mit dem Bild des deutsch-polnischen Verhältnisses in den Medien, geschrieben wurde dieser Band von Justyna Arendarska, Agnieszka Łada-Konefał und Bastian Sendhardt.

Die Veröffentlichungen des Jahres 2023 unterscheiden sich von vorangegangenen Veröffentlichungen. Russland und die Ukraine spielen eine zentrale Rolle, so auch im Jahrbuch 2023 mit seinem Schwerpunkt „Osten“ der Fall. Das Jahrbuch 2022 befasste sich 2022 mit dem Thema „Widersprüche“, unter anderem mit strittigen Themen wie den Rechten der Frauen, Patriotismus, Europa und dem Katholizismus, die in Polen innenpolitisch nicht nur bei Wahlen kontrovers diskutiert werden. Das Jahrbuch 2021 stellte eine Region mit äußerst wechselvoller Geschichte vor: „Oberschlesien“.

Das Deutsch-Polnische Barometer 2023

Das Deutsch-Polnische Barometer belegt seit dem 24. Februar 2022 Veränderungen der Einstellungen in Deutschland und in Polen. Eine anlässlich des russischen Überfalls auf die Ukraine veranlasste Untersuchung ergab, dass sich die Befürchtungen vor russischen Übergriffen in Polen und Deutschland einander angeglichen hatten. Das Deutsch-Polnische Barometer vom Juni 2023 greift dieses Thema im Titel erneut auf: „Der deutsche und der polnische Blick auf die russische Aggression gegen die Ukraine“. Die Untersuchung bestätigt weitgehend die Ergebnisse vom März 2022, auch wenn die Zustimmung zur Unterstützung der Ukraine in beiden Ländern etwas geringer ausfällt. Aber nach wie vor ist sie auch in Deutschland immer noch deutlich höher als vor dem 24. Februar 2022.

Es ließe sich vermuten, dass die von Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete „Zeitenwende“ mit ihrer Aufstockung der Bundeswehr in Polen Ängste hervorrufe. Das ist jedoch nur bei einigen Gruppierungen der Fall. Etwa ein Drittel derjenigen, die sich bei einer Wahl für die aktuelle Regierungspartei PiS entscheiden, erklären sich besorgt über den Ausbau der Bundeswehr, andererseits sieht ein Drittel der in Polen befragten Menschen die Unterstützung Deutschlands für die Ukraine – und damit mittelbar auch für die Sicherheit Polens – als zu gering an. Wer von polnischen Ängsten vor einem (zu) starken deutschen Militär spreche, bediene nur eigene Ressentiments, um innenpolitisch zu punkten. Konkret bedeutet dies, dass die deutsche Politik und die deutschen Medien die Positionierungen der PiS und ihres Vorsitzenden Jarosław Kaczyński mit den Einstellungen eines ganzen Landes verwechseln, während in Polen mitunter vor allem von der PiS und anderen noch weiter rechts stehenden Kräften ein Deutschland-Bild verbreitet wird, das aus der Zeit des untergegangenen Deutschen Reiches gespeist wird.

Ein großes Problem ist die Kommunikation deutscher Politik, die in Polen zu Verunsicherung und zur teilweisen Bestätigung ohnehin vorhandener Vorbehalte gegenüber Deutschland führt. Das deutsch-polnische Barometer formuliert deutlich: „Seit Beginn des kriegerischen Konflikts wird Deutschland seitens Polen und anderer Länder für seine unzureichende Unterstützung der Ukraine kritisiert. Diese Kritik rührt zum einen von der zögerlichen Entscheidungsfindung Deutschlands darüber her, was wann an die Ukraine geliefert werden soll, aber zum anderen auch vom desaströsen Kommunikationsverhalten der Bundesregierung, die die Öffentlichkeit selbst über bereits getätigte Waffenlieferungen nicht informierte. Dieses Vorgehen wurde in Polen sowohl vom Regierungslager – in dessen latent antideutsche Rhetorik dies vorzüglich passte – als auch von der Opposition heftig kritisiert. Aber auch in der polnischen Gesellschaft sind solche Meinungen wahrnehmbar.“

Der Anteil der Deutschen, die Russland als eine Bedrohung sehen, ist gegenüber dem März 2022 gesunken. Er liegt nach wie vor knapp über 50 Prozent, er lag unmittelbar nach dem 24. Februar 2022 bei über 70 Prozent. Bedeutsam ist der Bezug zwischen dem „Gefühl der militärischen Bedrohung“ und der Zustimmung zu den von der Europäischen Union beschlossenen Maßnahmen zur Unterstützung der Ukraine. „In beiden Ländern beeinflusst das Gefühl der militärischen Bedrohung das Maß an Zustimmung für bestimmte Unterstützungsmaßnahmen für die Ukraine. Befragte, die Ängste einräumen, sind häufiger bereit, solche Maßnahmen zu befürworten. Auf polnischer Seite gibt es einen solchen Zusammenhang beim Thema Aufnahme von Flüchtlingen jedoch nicht, in Deutschland sehr wohl.“ Hier haben sich die polnischen Zahlen in den vergangenen 18 Monaten nicht maßgeblich verändert. Wirtschaftssanktionen und der Verzicht auf russisches Öl und Gas werden von über 80 Prozent der Befragten in Polen für gut befunden, jedoch nur von etwa 60 Prozent in Deutschland. Lediglich bei der Frage der Aufnahme ukrainischer Geflüchteter liegen die Zustimmungswerte in beiden Ländern etwa gleich hoch, bei etwa 60 Prozent.

Möglicherweise beeinflussen der schlechte Zustand des russischen Militärs und die unerwarteten Erfolge der ukrainischen Streitkräfte die Einstellungen. Je weniger erfolgreich die russische Invasion ist, umso stärker könnte in Deutschland die Bereitschaft zur Unterstützung der Ukraine sinken, weil sie nicht mehr als dringlich erforderlich gesehen wird. Dies wäre eine mögliche, meines Erachtens aber fatale Schlussfolgerung. Besonders nachhaltig gedacht wäre dies nicht, denn die Stärke der Ukraine hängt unmittelbar mit der langfristigen und qualitativ hochwertigen Intensität der Unterstützungsleistungen für die Ukraine zusammen.

Ein abschließendes Bild zur Frage, ob sich die Positionierung in Polen gegenüber Deutschland durch den Krieg um die Ukraine grundsätzlich verändert habe, lässt sich nicht ausmachen. Vieles ist im Fluss. Es fällt auch vielen Befragten schwer, sich eindeutig zu Entwicklungen im Nachbarland zu äußern. Zu beachten ist allerdings der Einfluss politischer Rhetorik, gerade im Hinblick auf anti-deutsche Ressentiments, wie sie die PiS nicht nur in Wahlkämpfen pflegt. Es stellt sich daher nicht nur die Frage nach den realen Entwicklungen, sondern auch nach den vorhandenen und verbreiteten Informationen in all ihrer oft gegebenen problematischen Vielfalt.

Frames, Topoi und Metaphern

Die Studie „Nachbarschaft im Rahmen“ untersuchte, „welche Frames, Topoi und Metaphern im deutsch-polnischen Mediendiskurs angewendet werden“. Dazu wurden etwa 60.000 Presseartikel der Jahre 2000 bis 2019 sozialwissenschaftlich und linguistisch untersucht. Die Studie belegt, welche Kontinuitäten es in dem Bild vom jeweiligen Nachbarland gibt.

Die Studie konzentriert sich auf in der Berichterstattung verwendete Metaphern sowie auf die Darstellung bestimmter Personen. In Polen sind dies Jarosław Kaczyński, Donald Tusk und Radosław Sikorski, in Deutschland – man bedenke den Untersuchungszeitraum – Gerhard Schröder, Angela Merkel und Joschka Fischer. Die Themen spiegeln mehr oder weniger alle Themen der politischen Debatte, Wirtschaft, Arbeitsmigration nach Deutschland, Russland und das ehemalige Ostpolen, USA und Sicherheit, Klima, Energie, Migration, Grenze(n) und Vertreibung.

Zu den häufigsten Metaphern gehören Kriegsmetaphern, insbesondere Verweise auf den Zweiten Weltkrieg, auch bei Themen, die gar nichts mit dem Krieg zu tun haben, sowie die Lehrer-Schüler-Metapher, in der Deutschland als Lehrer, Polen als Schüler erscheinen. Damit verbunden ist eine in Polen vermutete Dominanz Deutschlands in der EU, die die polnische Souveränität bedrohe. Immer wieder Thema ist ein manifester Egoismus Deutschlands, nicht zuletzt in der polnischen Berichterstattung zur Debatte um die russischen Gaslieferungen über die Ostsee. Deutschland war und ist in polnischen Wahlkämpfen ständiges Thema. Umgekehrt ist dies nicht der Fall und wahrscheinlich auch nicht denkbar. Rechtskonservative Kreise in Polen sehen Deutschland als Bedrohung und Komplize des Kreml, während eher linksliberale Kreise Deutschland als Partner und Garanten der Sicherheit betrachten.

Ein wichtiger Indikator für das gegenseitige Verständnis oder Unverständnis ist die jeweilige Erinnerungskultur. Wir dürfen davon ausgehen, dass viele Deutsche nicht wissen, dass es nicht nur eine „Vertreibung“ beziehungsweise „Umsiedlung“ (das war die offizielle Bezeichnung in der DDR) von Deutschen aus den ehemals deutschen Landesteilen östlich von Oder und Neiße gab, sondern auch eine Vertreibung aus dem ehemals polnischen Ostpolen, aus Gebieten, die heute in Belarus und in der Ukraine liegen und mit den Vereinbarungen zwischen Churchill, Roosevelt und Stalin in Teheran und Jalta der damaligen Sowjetunion zugeschlagen wurden. Es gab somit nach dem Kriegsende 1945 eine Ost-West-Verschiebung Polens. Menschen aus dem ehemaligen Ostpolen wurden nach Westen umgesiedelt, vor allem in die ehemaligen deutschen Ostgebiete.

Kritisches Thema war in Deutschland bis 1990 die polnische Westgrenze. Es gab zwar bereits einen Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion, der am 12. August 1970 unterzeichnet wurde. In diesem Vertrag erklärten beide Staaten die Oder-Neiße-Grenze zur polnischen Westgrenze, eine Festlegung, die – darauf verweist Martin Schulze Wessel in seinem Buch „Der Fluch des Imperiums“ (München, C.H. Beck, 2023) – ohne Beteiligung der beiden Staaten erfolgte, die dies eigentlich betraf, die DDR und die Volksrepublik Polen. Dieses Vorgehen spiegelte die damaligen Machtverhältnisse, die bis heute weitestgehend nachwirken. Die Formel, dass ein Frieden nur mit Russland möglich wäre, wie sie die SPD bis vor Kurzem in ihrer Programmatik verkündete, darf durchaus als Zeichen der Fortdauer eines privilegierten deutsch-sowjetischen Verhältnisses gewertet werden. Andererseits ist diese Formel auch gar nicht so falsch, auch wenn sie sich zurzeit geradezu tragisch bestätigt, aber die deutsche Ignoranz gegenüber polnischen Bedarfen und Ängsten war in der Vergangenheit schon eklatant. Dies hängt auch – so Bogdan Koszel in seinem Beitrag über das Weimarer Dreieck im oben genannten Band über Bronisław Geremek – mit dem Regierungswechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder im Herbst 1998 zusammen. Erst der 24. Februar 2022 änderte dies wieder.

Grenzen, Vertreibungen, Umsiedlungen spielen in den „Frames der deutsch-polnischen Beziehungen“ eine zentrale Rolle. So das Fazit in „Nachbarschaft im Rahmen“: „Im Unterschied zum Framing mittels des Themas Grenze lässt sich beim Framing mittels des Themas Vertreibung eine Verengung der Perspektive ausmachen, die letztlich zwei Versionen der Beziehungen zwischen Deutschland und Polen bereithält, die sich diametral gegenüberstehen. Dies ist zum einen das Framing der deutsch-polnischen Beziehungen als immerwährender Antagonismus, bei dem Deutschland und Polen in einem Nullsummenspiel um die Deutungshoheit über die Vergangenheit ringen. Dem steht zum anderen ein Framing der deutsch-polnischen Beziehungen als (potenzielle) Partnerschaft gegenüber, in der beide Länder die Opferperspektive des Gegenübers anerkennen, ohne dass hieraus eine relativierende Symmetrie des auf beiden Sitten erlittenen Unrechts entstünde.“

Das Thema „Vertreibung“ verlor seit etwa 2009 in der Berichterstattung zwar an Bedeutung, doch scheint es – so nachzulesen in „Nachbarschaft im Rahmen“ – latent mobilisierbar zu sein, nicht im Sinne einer konkreten Infragestellung von Grenzen. Das Thema zeige aber, „wie eng Innenpolitik und Außenpolitik über den Vertriebenenkomplex miteinander verzahnt sind.“ Der Streit um das „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin und die „Causa Steinbach“ belegten dies eindrücklich. Dies gilt ebenso für die Debatten um polnische Positionierungen zu Shoah und heutigem Antisemitismus. Je stärker man sich in Polen als Opfer des NS-Überfalls und der 17 Tage später erfolgten Invasion der Sowjetunion im damaligen Ostpolen sieht, umso stärker scheint auch das Bedürfnis, sich von allen Anzeichen der Kollaboration freizusprechen, sei es im Hinblick auf Kollaboration mit den Nazis, sei es auf Kollaboration mit dem sowjetischen Kommunismus, sei es auf antisemitische Übergriffe in Polen während und nach der deutschen Besatzung.

Solche Kontexte wirken nach, wenn 2016 in der Gazeta Wyborcza zu lesen ist, welche Wirkung russische Propaganda in Deutschland habe: „Bei Pegida-Märschen wehen russische Flaggen, beliebte Informationsquellen dieser Leute sind die deutschsprachige Version des Senders Russia Today und Blogs mit Kremlpropaganda. Merkel versucht Putins Aggression in der Ukraine zu stoppen, und Russland organisiert seine fünfte Kolonne in Deutschland.“ Als maßgeblicher Agent der „Kremlpropaganda“ erscheint Gerhard Schröder. All dies eine Diagnose, die sich nach dem 24. Februar 2022 zu bestätigen scheint, ein Jahr später nicht zuletzt im Kontext der Wagenknecht-Schwarzer-Initiative, der allerdings die Kampagnenfähigkeit der AfD zu fehlen scheint, die in weiten Teilen ebenfalls ausgesprochen russlandfreundlich agiert.

Ivan Krastev und Stephen Holmes formulierten in ihrem Buch „Das Licht das erlosch“ (deutsche Ausgabe Berlin, Ullstein, 2019, englischer Titel: „The Light that Failed“) die These, dass die osteuropäischen Staaten in den 1990er Jahren nach ihrem Ausscheiden aus dem sowjetischen Herrschaftsbereich zunächst versuchten, die als Erfolgsmodell gesehenen Rezepte des Westens nachzuahmen. „Nachahmung“ sei jedoch in Misskredit geraten: „Genau wie einige ungarische und polnische Populisten mit ihrer Weigerung prahlen, den liberalen Westen zu kopieren, so fühlen sich Trump-Anhänger befreit, wenn sie hören, dass die in Harvard ausgebildeten Eliten nicht nur keine Vorbilder, sondern in einem ganz fundamentalen Sinne noch nicht einmal richtige Amerikaner sind.“ Und umgekehrt. Die Popularität Trumps bei rechtspopulistischen Bewegungen hat viel damit zu tun, dass das gesamte westliche liberale und demokratische Modell als vermeintliches Elitenprojekt gesehen wird. „Illiberale Politiker verdanken ihren politischen Erfolg dem weitverbreiteten Groll, zwei Jahrzehnte lang vor vermeintlich kanonischen, fremden Modellen die Knie gebeugt zu haben. Dies erklärt, warum in den überzogenen Reden der Populisten die europäische Union und die Sowjetunion austauschbar sind.“

Den Brüsseler Eliten – in den USA sind es dann die Eliten der „Ostküste“, im Übrigen eine auch in Europa gängige Antisemitismus triggernde Metapher – wird unterstellt, sie hielten alle anderen für unterentwickelt und minderwertig, wären also die eigentlichen „Rassisten“. Die Analysen von „Nachbarschaft im Rahmen“ zeigen, dass dies in den Medien im Kern über die Lehrer-Schüler-Metapher vermittelt wird. Ein solcher Streit wird beispielsweise auf dem Feld der europäischen Migrationspolitik ausgetragen. In deutschen Zeitungen gibt es Berichte in durchaus herablassendem Ton, Polen, Ungarn und andere wären eben nicht so weit, sich für eine liberale Migrationspolitik einzusetzen, die man eigentlich selbst auch nicht will, sodass sich auf Externalisierung eigenen Unwillens schließen ließe. Dieses Argument dürfte sich angesichts der jüngsten EU-Beschlüsse vom 8. Juni 2023 erledigt haben, andererseits bleibt es latent reaktivierbar. Die von der CDU angestoßene Debatte um den Ersatz der bisherigen Asylgesetzgebung durch eine Schaffung von Kontingenten ist nicht nur ein Angriff auf liberale und demokratische Grundsätze, sondern auch auf all die Staaten, die eine unmittelbare Grenze zu Ländern haben, aus denen Flüchtende in die EU einwandern könnten, im Grunde ein weiterer Versuch, die alten Dublin-Regeln wieder zu bestätigen, somit auf Kosten der Anrainerländer des Mittelmeeres, dies wiederum verbunden mit einer ständigen Kritik an den angeblich so unkooperativen osteuropäischen Staaten. Die Bereitschaft Polens, Geflüchtete in hohem Maße aus der Ukraine aufzunehmen, wird in Deutschland nach wie vor ignoriert. Das Verhältnis zwischen Polen und Deutschland bleibt „asymmetrisch“, es dominiert „Westplaining“, mitunter verbunden mit Krankheitsmetaphern, vorwiegend aus dem vulgärpsychologischen Wortschatz, wenn von „Neurosen, Traumata, Komplexe(n)“ die Rede ist, die dem jeweils anderen unterstellt werden.

Wo liegt eigentlich Polen?

Das Jahrbuch 2023 formuliert eine scheinbar einfach zu beantwortende Frage: „Wir fragen, ob Polen nun tatsächlich im ‚Westen‘ liegt oder irgendwo in der Mitte Europas oder in einer Art Zwischenraum.“ Auch hier sind nach dem 24. Februar 2022 Veränderungen feststellbar. Daher widmet sich das Jahrbuch nicht nur der Frage nach der Rolle Polens in Europa, sondern auch der Ukraine, zumal die polnisch-ukrainischen Beziehungen auch ihre eigene Geschichte haben. Daher lässt sich das Jahrbuch im Grunde auch als ein Jahrbuch zur Ukraine lesen, insbesondere im zweiten Teil. Dabei zeigt sich, dass sich weder Polen noch die Ukraine ohne die russische Geschichte verstehen lassen. In dem „Ideen“ überschriebenen dritten Kapitel werden Begriffe wie „russische Seele“, „ukrainische Seele“ und „ruthenische Seele“ dekonstruiert und ideologische Linien zwischen Dostojewski und Putin analysiert. Das vierte Kapitel befasst sich explizit mit der Ukraine, das fünfte schafft wiederum einen Bogen zu den beiden ersten Kapiteln, es fragt nach einer „polnischen ‚Ostalgie‘“.

Um Polen geht es in den beiden ersten Kapiteln „Mental Mapping“ (sechs Texte) und „Kresy“ (ein Text). Jan Kusber beschreibt die Veränderungen im Blick auf den „Osten“: „Der eigene historische Osten ist, was die Ukraine betrifft, zum Westen geworden – dies betrifft übrigens auch die Sicht auf die Protestbewegung in Belarus, die aus dem Land gedrängt wurde und in Polen, Litauen und andernorts Zuflucht gefunden hat. Russland hingegen bleibt, in der selbstwahrgenommenen Kontinuität vom Zarenreich über die Sowjetunion bis zur Diktatur Putins, der Osten – nicht nur geografisch, sondern auch in den Werten und Gesellschaftsmodellen. (…) Der ‚Osten‘ ist in diesem Sinne als Diskursfigur zum wenigsten eine Himmelsrichtung.“

Jan Kusber verweist auf die in der polnischen Geschichte ständig präsente Opposition von West und Ost. Der Osten wurde in Polen wie auch im Hinblick auf das benachbarte Russland „mit Rückständigkeit“ verbunden. „Die Ostgebiete, die Kresy Wschodnie, waren einerseits Regionen von mythischer Kraft, andererseits Orte der Rückständigkeit.“ Für die katholische Kirche war Polen als „antemurale christianitatis“ (…) ideologischer Kern für ihr Wirken.“ Bastian Sendhardt spricht von einem „‚Dazwischensein‘ (in-betweenness)“ im Sinne der Studie von Larry Wolff „Inventing Eastern Europe“ (Stanford 1996). Immer wieder ehe es um „Anpassung und Nachahmung“, aber auch um „fehlende Anerkennung“. Die EU – so Kai-Olaf Lang – sei in diesem Sinne ein „Entwicklungs- und Modernierungsvehikel“, andererseits sollten bilaterale Beziehungen zu den USA, beispielsweise im Irakkrieg, bei der Einrichtung von US-Stützpunkten auf polnischem Territorium, „Schutz vor Russland“ bieten, den man bei der EU nicht immer fände. Die Folge sei ein Konsens in der polnischen Politik in Fragen der Sicherheit und der Ostpolitik, es fehle jedoch ein Konsens in der Europapolitik, sodass hier die Gefahr von Diskontinuität nicht unterschätzt werden dürfe.

Eine parallele Debatte sieht Wojciech Śmieja im Gespräch mit Piotr Brysacz im Balkan – wo beginnt der Balkan? In seinem Buch „Gorsze światy“ („Schlechtere Welten“, leider gibt es keine deutsche Übersetzung) aus dem Jahr 2012 spricht er „von provinziellen Räumen, von ‚Transiträumem‘ (…), Räumen, die für Medien, Reisende und das Tourismusgeschäft unattraktiv sind.“ Das polnische Dilemma: „Die anderen von unserer ‚Westlichkeit‘ zu überzeugen, das ist vielleicht das ‚östlichste‘ an uns.“ Allerdings sei es schwer, ein einheitliches Bild des Ostens zu zeichnen.

Einen weiteren problematischen Begriff des Ostens beschreibt Katrin Steffen: das „Ostjüdische“. Im 18. Jahrhundert lebten im polnisch-litauischen Raum etwa 80 Prozent aller Jüdinnen und Juden der Welt. Es sei allerdings erforderlich, den Begriff zu diversifizieren und „Vorstellungen, Curricula, Bibliothekskataloge und die Geschichtswissenschaften – jenseits einer Verwendung als historischem Quellenbegriff – vom Begriff der ‚Ostjuden‘ und dem damit einhergehenden dichotomischen Denken in Kategorien von ‚Ost‘ und ‚West‘ zu befreien.“ Gleichzeitig müsse „diese ‚östliche‘ Komponente (des Judentums, NR) „ernst genommen werden. Eine stärkere Berücksichtigung des Ostens heißt in der Konsequenz dann auch eine neue Perspektivierung des Westens.“ Nur wenige der Jüdinnen und Juden, die die Shoah überlebten, sind nach Polen zurückgekehrt, bis zu 90 Prozent der Mitglieder der heutigen deutschen jüdischen Gemeinden kamen aus der Sowjetunion oder sind Kinder von in den 1990er Jahren zugewanderten Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion. Das heutige deutsche Judentum ist zu einem sehr hohen Anteil migrantisch. Welchen Einfluss diese unterschiedlichen Entwicklungen auf jüdisches Leben in Polen und in Deutschland haben, wäre ein eigenes Thema.

Der ehemalige Osten Polens ist im deutschen Denken kaum präsent. Małgorszata Ruchniewicz schreibt über die einstigen polnischen Ostgebiete, die Kresy. Sie erinnert an die Massenumsiedlungen 1945 und 1946 sowie an die Unterdrückung bis hin zur Kriminalisierung der Erinnerung: „Ganze Kapitel aus den Biografien von zwei Millionen Polen und Polinnen, ja große historische Abschnitte der polnischen Geschichte wurden offiziell in den Mantel des Schweigens gehüllt.“ Revisionismus habe es in Polen jedoch nicht gegeben, anders als in Ungarn, wo heute – zumindest in der politischen Rhetorik – noch eine Art „Trianon“-Komplex“ gepflegt wird. Auch im Ausland lebenden Ungarn soll die ungarische Staatsbürgerschaft verliehen werden können. Małgorszata Ruchniewicz rückt die Erinnerung an die ehemaligen polnischen Ostgebiete in Polen eher in die Nähe des „von vielen Effekten des erneuten ‚Unabhängigkeitsringens‘ Polens am Ende des 20. Jahrhunderts und der damit einhergehenden Aufarbeitung von verschiedenen ‚weißen Flecken‘ im historischen Diskurs.“

Nur am Rande, auch als Lesetipp gedacht: die meines Erachtens wichtigsten deutschen Romane, die die Umsiedlungen beziehungsweise Vertreibungen von Ost nach West aus deutscher wie aus polnischer Sicht thematisieren, schrieb Ulrike Draesner mit „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ (2014) und „Die Verwandelten“ (2023). Diese Bücher wären vor 30 Jahren noch nicht denkbar gewesen. Beide Bücher haben durchaus das Niveau von Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ (1976).

Opfermythen

Wo liegen eigentlich die Ukraine, wo Ruthenien, wo Polen, wo Russland? Diese Fragen ließen sich im Verlauf der Jahrhunderte immer wieder neu stellen, weil sich die Grenzen ständig veränderten. Der Erste Weltkrieg dauerte in der Region noch einige Jahre länger als im Westen und führte dazu, dass Polen seine Eigenstaatlichkeit wiedergewann. Die vorangegangenen Konflikte zwischen Polen und Russland respektive der Sowjetunion sowie zwischen Polen und ukrainischem Unabhängigkeitsstreben wurde blutig ausgetragen. Im Westen dominierten Fehleinschätzungen. Iwona Reichardt schreibt: „Die Mehrheit der Europäer und Europäerinnen ist im Geiste der Nachkriegsdevise ‚Nie wieder Krieg‘ aufgewachsen sowie im Glauben an eine sogenannte russische Hochkultur, die als wichtiger Bestandteil der europäischen Kultur wahrgenommen wird.“ Soweit so gut oder auch so schlecht. Die implizite Abwertung des Ostens lässt sich im Westen meines Erachtens mit dem Zar-und-Zimmermann-Syndrom beschreiben. Der Westen wurde nicht nur in der Eigenwahrnehmung, sondern auch in der Wahrnehmung durch diverse Modernisierer im Osten, beispielsweise Peter den Großen, Lenin, in einer neoliberal-korrupten Variante auch Jelzin, ganz im Sinne des zitierten Buches von Krastev und Holmes, als Vorbild und Lehrmeister gesehen.

Martin Schulze Wessel hat in seinem bereits zitierten Buch „Der Fluch des Imperiums“ die Fehleinschätzungen der Vergangenheit von allen Seiten beleuchtet. Die Verflechtung Deutschlands und Russlands spielte dabei immer eine zentrale Rolle, durch die Polen, die Ukraine und andere Staaten beziehungsweise Volksgruppen immer wieder in eine Sandwichposition gerieten. Vergleiche sind im positiven wie im negativen Sinne immer falsch: „So werden Vergleiche zwischen Putin und Ivan dem Schrecklichen gezogen und die Grausamkeit des russischen Mittelalters für Russlands Kriegsführung heute verantwortlich gemacht. Russische Geschichte wird damit essentialisiert. Die Dämonisierung ist aber ein Zwilling der Romantisierung.“

Dies gilt auch für die Rezeption von Puschkin, Dostojewski und anderen Intellektuellen in West und Ost. Michał Nogaś spricht mit Stefan Chwin über die Frage: „Warum steht Putin so sehr auf Dostojewski?“ War Dostojewski ein Verfechter autoritärer Staatsführung oder vertrat er eher antiautoritäre Positionen? Stefan Chwin vertritt die zweite Position und damit die These, dass sich Putin in Dostojewski täusche. Zu berücksichtigen sei aber auch – im Sinne von Michail Bachtin – die „polyphone Struktur seiner Bücher“. Allerdings habe Putin in einer Hinsicht mit seiner Dostojewski-Rezeption recht. Beide sehen „die westliche Welt als moralisch völlig verkommen“. In unterschiedlichen Kontexten, aber hier scheint der Text den Wandel der Kontexte zu überdauern. Aus dieser Sicht der westlichen Welt habe sich dann die Sympathie Putins für Ideologen wie Alexander Dugin entwickelt, der eine „russische Mission“ formulierte, die Europa bis Lissabon unter russische Herrschaft stellen solle.

Timothy Snyder hatte diese Grundlage Putin’schen Denkens in seinem Buch „Der Weg in die Unfreiheit“ (die englische und die deutsche Ausgabe erschienen beide 2018, die deutsche in München bei C.H. Beck) analysiert. Letztlich bestimmt ein Opfer-Mythos die russische Selbstdefinition. „Perwy Kanal erzählte am 12. Juli 2014 eine bewegende – und frei erfundene – Geschichte von einem drei Jahre alten russischen Jungen, der angeblich in Slowjansk von ukrainischen Soldaten gekreuzigt worden war. (…) Es sieht ganz danach aus, dass Alexander Dugin persönlich die Kreuzigungsgeschichte erfand, denn eine Variante davon hatte er selbst bereits über die sozialen Medien verbreitet. Das Bild von einem ermordeten Unschuldigen machte Russland zum Christus unter den Nationen und seinen Angriffskrieg zu einer Reaktion auf eine teuflische Grausamkeit.“ Die Parallelen zum gängigen in Polen populärem Selbst- als dem „Christus unter den Völkern“ und den antijüdischen Begründungen für Pogrome und Shoah sind offensichtlich. Auch die serbische Fixierung auf den Kosovo ließe sich hier zitieren. Sie alle sind Opfer. Politisches Machtstreben wird religiös und damit als gottgewollt begründet. Ähnliche mitunter religiös und vor allem patriotisch überhöhte Opfermythen ranken sich um die Behauptung Jarosław Kaczyńskis, der Flugzeugabsturz von Smolensk, bei dem sein Bruder Lech im Jahr 2010 starb, sei ein Mordanschlag gewesen.

Iwona Reichardt belegt in ihrem Beitrag im Jahrbuch 2023, dass sich antiukrainische Einstellungen und „großrussischer Chauvinismus“ auch bei anderen russischen Autoren feststellen lassen, nicht nur bei Dostojewski, auch bei Puschkin, Tolstoi, Solschenizyn und Brodsky. Die Rolle der orthodoxen Kirche in Russland und der katholischen Kirche in Polen erscheinen wie Spiegelbilder, aber dies sollte den alten Westen auf keinen Fall dazu verführen, sich auf eine Essentialisierung des gesamten osteuropäischen beziehungsweise slawischen Raums einzulassen. Die Mystifizierung welcher Einstellung auch immer ist Thema des Gesprächs, das Piotr Brysacz mit Włodzimierz Pawluczuk führte. Immer wieder dieselbe Frage: wo ist Osten, wo ist Westen, was ist Osten, was ist Westen? Das eigene Selbstverständnis ist in den als Osten gelesenen Ländern „im religiösen Code verschlüsselt, der den Sinn des Lebens darstellt.“ Włodzimierz Pawluczuk spricht lieber von „Spiritualität und nicht von ‚Seele‘“. Es gebe Unterschiede zwischen der ruthenischen und der russischen Ausprägung, die ruthenische sei eher „byzantinisch“ geprägt. Sie konzentriere sich auf das „ewige Jetzt“, nicht auf eine wie auch immer ausgestaltete Mission. Aber auch hier lassen sich wieder Elemente der skizzierten Mystifizierung finden, allein die Verwendung des Begriffs einer wie auch immer gearteten „Ewigkeit“ deutet auf die Gefühle hin, die die jeweilige Geschichte beeinflussen. Gefühle, oft religiös konnotiert, scheinen die Politik zu dominieren. Und immer wieder werden sie mit Opfermythen verknüpft.

Wo liegt die Ukraine?

Jaroslaw Hryzak erklärt in seinem Gespräch mit Sonia Knapczyk, dass man eigentlich von „22 Ukrainen“ sprechen könne oder müsse, wenn man die Geschichte des Landes in den vergangenen Jahrhunderten verfolge. Auch hier dominiert wiederum eine romantisierende Version, „der romantische Mythos vom Ukrainertum“ im Sinne von Taras Schewtschenko, obwohl sich auch dessen Bild immer wieder neu dekonstruieren ließe. Jaroslaw Hryzak: „Charakteristik und Segen unseres Landes ist seine Vielfalt.“ Den Kern bildeten drei Ukrainen, der russischsprachige Donbass, der ukrainisch sprechende Westen um Lwiw beziehungsweise Lemberg sowie als Mischform Kyjiw, wo man zwar russisch spräche, sich aber bei Wahlen verhielte wie in Lwiw. Putin glaube, „er kämpft nicht gegen die Ukrainer, sondern auf ukrainischem Gebiet gegen den Westen“. Im Ergebnis wenden sich vorwiegend russischsprachige Städte wie Charkiv, Odessa und Mariupol gegen eine russische Dominanz. Essentialisierung eines vermuteten Gegners erweist sich in diesem Fall für den Aggressor als kontraproduktiv.

Der Einsatz Polens für die Ukraine bedeutet nicht, dass die Ukraine immer akzeptiert wurde. Kacper Pobłocki dokumentiert antiukrainische Ressentiments in seinem Beitrag: „Der Bauernpöbel – Die Ukraine zwischen Sklaverei und Schlaraffenland“. In Polen herrschten Legenden über ein angeblich „herrenloses Land“, es gebe viel „Doppelmoral“, die auch daher rühre, dass in der Vergangenheit die Regionen, die heute zur Ukraine gehören, als billiges Reservoir für Arbeitskräfte ausgebeutet wurden. Die diversen Aufstände, gerade die Aufstände der Kosaken, hätten viel damit zu tun, dass sich Widerstand gegen „eine dauerhaft untergeordnete Position“ entwickelte.

Widersprüche sind die Folge. Adam Balcer beschreibt diese Widersprüche am Beispiel des Kontrasts zwischen dem „weltweit einzige(n) Denkmal für das Magdeburger Recht (das Magdeburger Stadtrecht von 1492, NR), das sich in Kiew über den Dnjepr erhebt“ und der „Tatsache, dass während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche Ukrainedeutsche das ‚Dritte Reich‘ unterstützten und zu dem größten Leid beitrugen, das der Ukraine in der neuesten Geschichte widerfuhren.“ Wer auf die Ukraine schaut, sucht sich im Grunde die Gruppen heraus, die geeignet sind, die eigene Zu- oder Abneigung zu begründen. Umstrittene Figuren der ukrainischen Geschichte wie Stepan Bandera oder Symon Petljura lassen sich eben nicht eindeutig beschreiben, ihr Bild hängt immer davon ab, wer sich in welchem Kontext auf sie beruft. Dies mag auch für Poeten wie Taras Schewtschenko gelten, ebenso wie für die bereits genannten russischen Autoren. Es findet sich immer jemand, der sie vergöttert, und ebenso jemand, der sie verdammt. Aber dazu leistete der Westen, vor allem die verschiedenen Deutschlands, die es in der Vergangenheit gab, ihren nachhaltig wirkenden Beitrag. Adam Balcer fasst die unterschiedlichen Blickwinkel und Entwicklungsperspektiven in dem Hinweis zusammen, dass man die Region als West-Ost-Achse im Hinblick auf den über die Seidenstraße laufenden wirtschaftlichen (und intellektuellen) Austausch betrachten könne, ebenso aber über die Nord-Süd-Achse der Flüsse, die einen anderen Austausch, aber auch andere Grenzen konnotierten. Ein Fadenkreuz der Erinnerung?

Nie wieder! Nie wieder was?

Welche unterschiedlichen und miteinander konkurrierenden Erinnerungskulturen sich aus den unterschiedlichen Interpretationen der historischen Entwicklungen ergeben, haben Katja Makhotina und Franziska Davies in ihren Reisereportagen und Analysen unter dem Titel „Offene Wunden Osteuropas“ (Darmstadt, wbg Theiss, 2022) dokumentiert. Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew haben dies für die Erinnerungskulturen zum 1. September 1939 in Polen, der Bundesrepublik Deutschland und der DDR in den Jahren 1945 bis 1989 geleistet. Das Buch trägt den Titel „Nie wieder Krieg!“. Das Titelbild reduziert die polnische Version auf die Worte „Nigdy Więcej!“ Unten rechts sehen wir dann in doppelter Größe des Textes die Jahreszahl „1939“. Für was gilt der Appell „nie wieder“? „Nie wieder Faschismus“? „Nie wieder Krieg“? Oder vielleicht doch eher „Nie wieder wehrlos“?

Der Unterschied zwischen polnischer und deutscher Erinnerungskultur lässt sich auch an zwei anderen Daten erklären: 4. Juni und 9. November. Ich persönlich denke, dass der 9. November ohne den 4. Juni wahrscheinlich nicht möglich gewesen wäre. Nach dem 4. Juni 1989 entschied sich im Grunde, ob die osteuropäischen und südosteuropäischen Staaten im bisher sowjetischen Herrschaftsbereich dem chinesischen oder dem polnischen Beispiel folgen würden. In China wurde der Aufstand am 4. Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens blutig niedergeschlagen, in Polen fanden am selben Tag die ersten halbwegs freien Wahlen zum Sejm statt, die dazu führten, dass ein nicht-kommunistischer Ministerpräsident ins Amt kam. Es war noch nichts entschieden, aber ein blutiger Weg hätte jeden einzelnen osteuropäischen Staat, einschließlich der DDR, isoliert, zumal die Sowjetunion in keinem Fall eingegriffen hätte. Das Prager Szenario von 1968, das ungarische von 1956 waren nicht mehr vorstellbar.

Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew schließen eine „Forschungslücke“, es gab in der Tat bisher „keine umfassende Darstellung des 1. September 1939 in der Erinnerungskultur eines der drei untersuchten Länder, geschweige denn eine vergleichende Untersuchung.“ Ihre Studie bietet eine Medienanalyse, analysiert Rituale der Erinnerung und definiert den Begriff der „Geschichtspolitik“ umfassender als dies in der Regel geschieht. Es geht eben nicht nur um die Frage der Deutung von Geschichte, sondern auch um die Frage, wer Geschichte wie deutet. Was dies in den osteuropäischen Ländern einschließlich Russland bedeutet, haben Katja Makhotina und Franziska Davies in ihrem Buch „Offene Wunden Osteuropas“ in vielen Gesprächen erfahren können. Auch sie beschreiben eine Fülle von „Erinnerungsmonologen“. Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew sehen eben dies im den drei Staaten ihrer Studie: „Der dreifache Erinnerungsmonolog ergab sich somit aus dem Fehlen eines authentischen und offenen Dialogs zwischen diesen drei Gesellschaften, aber auch zwischen den Bevölkerungen und ihren politischen Vertretungen. Zugleich war er ein ausgezeichnetes Alibi, das von Politikerinnen und Politikern sowie den Symboleliten der drei Staaten geschickt dafür genutzt wurden, innen- und außenpolitische Ziele zu verfolgen.“ Dies belegen die beiden Autoren mit der Beschreibung der „Rolle von Orten und Ritualen, Akteuren und Medien“.

„Alle drei Gesellschaften pflegten beharrlich ihre nationalen Bilder vom Zweiten Weltkrieg (über die Ursachen seines Ausbruchs ebenso wie bezüglich seines Verlaufs und der Konsequenzen).“ Die Bundesrepublik Deutschland konzentrierte sich nach „Jahren des Schweigekonsenses“ auf den Holocaust, Flucht und Vertreibung sowie die Bombardierung deutscher Städte. Für Osteuropa interessierte sich kaum jemand. „In der Bundesrepublik bestanden im Grunde keine landesweit aktiven Organisationen, die sich das Septembergedenken auf die Fahne geschrieben haben.“ Die DDR pflegte antifaschistische Traditionen. Andererseits spielte Polen in der DDR nur eine „marginale Rolle“, allenfalls als Mahnung an Westdeutschland, das immer wieder als NS-Nachfolgestaat markiert wurde. Als dann Roland Jahn am 1. September 1982 mit einer polnischen Flagge und dem Schriftzug der Solidarność durch Jena radelte, wurde er verhaftet. Polen thematisierte den deutschen Überfall, die deutsche Vernichtungspolitik, Germanisierung und Zwangsarbeit. Während in Deutschland die Erzählung gepflegt wurde, es dürfe nie wieder Krieg von deutschem Boden ausgehen, wurde in Polen betont, dass Polen nie wieder so schwach sein dürfe wie am 1. September 1939.

Das heißt nicht, dass es in Deutschland nicht schon vor 1989 Hinweise auf den 1. September 1939 gegeben hätte. Bundespräsident Gustav Heinemann sagte am 1. September 1969 (zitiert nach Czachur und Loew): „Wir müssen einen neuen Anfang zwischen uns und unseren östlichen Nachbarn, zumal mit Polen, setzen.“ Gleichwohl gingen diese Signale in den Kontroversen um die Ostverträge, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens unter. Vor allem die CDU/CSU tat sich lange schwer. In Polen dominierte nach wie vor die „Perspektive einer triumphalistisch-messianistischen und romantisch-nationalen Opfergeschichte“, die mit symbolischen Akten aufgeladen wurde, beispielsweise im Jahr 1984 mit der Beisetzung des Herzens von Tadeusz Kościusko, in Erinnerung an den von ihm geleiteten Aufstand aus dem Jahr 1794, im Warschauer Königsschloss. Andererseits gab es Ende der 1970er Jahre auch differenzierende Gegenbewegungen: „Wesentlich bei diesem Prozess war ein sich von der kommunistischen Erzählung unterscheidender Versuch zur Universalisierung von Werten und Haltungen der Polen im September 1939 sowie im gesamten Zweiten Weltkrieg. Diese Strategie zielte darauf ab, den polnischen Kampf als Kampf um europäische Werte darzustellen und zu zeigen, dass Polen ein Teil des Westens und nicht des Ostens sei.“

Interne Debatten führen noch nicht zu einem Dialog mit dem anderen Land. Erste politisch tragfähige Initiativen, die die „Erinnerungsmonologe“ aufbrechen halfen, gab es erst im Jahr 1989, beispielsweise mit einer „Versöhnungsmesse in Kreisau am 12. November 1989, bei der Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki und Bundeskanzler Helmut Kohl miteinander den symbolischen Friedensgruß austauschen. Am 14. November unterzeichneten beide Regierungschefs in Warschau eine Gemeinsame Erklärung.“ Wenige Wochen zuvor hatte Helmut Kohl sich noch zurückhaltender geäußert, so in einer Rede im Bundestag am 1. September 1989: „(…) während Rita Süssmuth (damals Bundestagspräsidentin, NR) Deutschland klar als den Aggressor und Polen als das erste Opfer bezeichnete, ließ Kohl Polen zunächst ungenannt: Für ihn stand zunächst nicht des Überfalls als solcher und die Rolle Polens, sondern insgesamt der Zweite Weltkrieg im Mittelpunkt.“ Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew verstehen „Kohls Rede (…) als typisch bundesrepublikanisch“, es fehle jede Empathie gegenüber Polen, das nur als eines der Opfer der NS-Diktatur genannt wurde. Ebenso genannt wurden die aus den ehemaligen Ostgebieten vertriebenen Deutschen. Davon unterschied sich – so Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew – vor allem Helmut Lippelt, der als Redner der Fraktion der Grünen „die ermordeten polnischen Professoren, die Germanisierungspolitik im Wartheland, die Vertreibungsverbrechen in der Gegend von Zamość“ benannte. Helmut Lippelt „zitierte ausführlich Czesław Miłoszs Beschreibung seiner multiethnischen Kindheitsgegend rund um Wilna.“

Der Weg zu einem gemeinsamen Gedenken war jedoch noch lang und ist auch noch lange nicht abgeschlossen. Waldemar Czachur und Peter Oliver Loew weisen darauf hin, dass in Deutschland immer wieder der Begriff der „Versöhnung“ genannt wurde, der auch in anderen Kontexten, nicht zuletzt der Shoah, eine zentrale Rolle spielt und meines Erachtens nicht mehr und nicht weniger als die andere, die schönere Seite der Medaille mit dem Namen „Schuldabwehr“ ist. Der Bundestag beschloss am 30. Oktober 2020 schließlich das Entstehen eines ‚Orts des Erinnerns und der Begegnung mit Polen‘, der neben der Schaffung eines symbolischen Orts auch weitere Bildung, Begegnung und Information ermöglichen soll.“ Inzwischen gibt es in Berlin Gedenkveranstaltungen, erstmals am 1. September 2022 „auf dem Gelände der einstigen Krolloper (…), wo Adolf Hitler am 1. September 1939 vor dem Reichstag den Angriff auf Polen rechtfertigte.“ An demselben Ort beschloss der Reichstag am 23. März 1933 das sogenannte „Ermächtigungsgesetz“. Am 4. August 1914 hielt dort Wilhelm II. seine sogenannte „Burgfriedenrede“, die die Deutschen auf den begonnenen Krieg einschwören sollte.

Für eine Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks

Möglicherweise liegt der Kern der „Zeitenwende“ weniger in der Steigerung der militärischen Kompetenzen und Kapazitäten in Deutschland, sondern eher in einem veränderten Blick auf Europa – in beiden Ländern, durchaus analog im Hinblick auf die baltischen Staaten und andere Staaten des ehemaligen sowjetischen Herrschaftsbereichs. Es öffnet sich der Blick nach Osten. Und beide Seiten sollten profitieren. Bogdan Koszel – er forscht und lehrt an der Adam-Mickiewicz-Universität Posen – beschreibt in seinem Beitrag zum Bronisław Geremek gewidmeten Band ausführlich die Geschichte des Weimarer Dreiecks. Ein Ziel aus polnischer Sicht war die Beschleunigung des Beitritts zur Europäischen Union, aber auch die Einhegung Deutschlands in einem ausbalancierten Verhältnis zwischen Ost und West, mit Frankreich, Deutschland und Polen. Jerzy Buzek, Ministerpräsident Polens von 1997 bis 2001, nannte das Dreieck „Wirbelsäule Europas“. So sahen es zunächst alle drei Staaten: „Die Präsidenten von Polen und Frankreich sowie der deutsche Kanzler bekräftigten, dass die Weimarer Zusammenarbeit vor allem einen europäischen Kontext besitze. Das Weimarer Dreieck habe eine Mission in Europa zu erfüllen, die auf einer Stabilisierung der Lage auf dem Kontinent beruhe, unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen auf Osteuropa. Kwaśniewski (Aleksander Kwaśniewski war von 1995 bis 2005 polnischer Präsident, NR) schätzte die Rolle beider Staaten als ‚Anwälte‘ der polnischen Sache in Brüssel ein und bewertete das persönliche Engagement von Präsident Chirac und Bundeskanzler Kohl in dieser Frage sehr hoch. Der französische Präsident revanchierte sich dagegen mit der Feststellung – was von der Presse umgehend aufgegriffen wurde – dass die drei Staaten in der Zukunft ‚der Motor der europäischen Integration‘ sein würden.“

Mit dem Regierungswechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder wurde es schwieriger, auch französische Vorbehalte wuchsen. Bogdan Koszel zitiert Alfred Grosser, der davon sprach, „dass das Weimarer Dreieck ‚unter den Regierungen von Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder durch die Achse Paris-Berlin-Moskau zerschlagen worden sei.“ Dies bedeutete nicht, dass es nicht weiterhin Erklärungen im Sinne des Weimarer Dreiecks gegeben hätte, aber inzwischen, im Jahr 2023, steht das Weimarer Dreieck so gut wie nur noch auf dem Papier. Die unter Gerhard Schröder verstärkte Orientierung nach Russland, die französische Sorge vor einer zu hohen deutschen Dominanz im Bündnis mit osteuropäischen Staaten, die polnischen Vorbehalte unter den Brüdern Kaczyński gegenüber Deutschland trugen das jeweils Ihrige zum Scheitern des Dreiecks bei. Bronisław Geremek wurde von der durch die PiS dominierten Regierung unter Druck gesetzt: „Als man seitens der Regierung in einer politischen Hetzjagd versuchte, ihm sein Mandat als Europaabgeordneter abzunehmen, standen seine französischen und deutschen Freunde in Straßburg geschlossen hinter ihm, indem sie ihre uneingeschränkte Solidarität zum Ausdruck brachten.“ Immerhin: „Es ist erwähnenswert, dass Geremek für seine Verdienste mit dem Großen Bundesverdienstkreuz mit Stern ausgezeichnet sowie zum Träger des Ordens Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste und zum Offizier der französischen Ehrenlegion ernannt wurde.“

Jacques Rupnik, der meines Erachtens zu den besten Kennern europäischer Politiken – man muss den Plural wählen – oder der diversen Politiken in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und denjenigen gehört, die es in den nächsten Jahren noch werden möchten, hat in der Sommerausgabe 2023 von Lettre International in seinem Essay „Europas neue Ordnung“ von einer Verschiebung des „Gravitationszentrums“ in der Europäischen Union nach Osten gesprochen. Er stellte in der polnischen Rhetorik durchaus Widersprüche fest, einerseits in dem Wunsch, sich einerseits mit Europa, sich andererseits eigenständig jenseits europäischer Bevormundung zu positionieren und zu entwickeln. Polen hatte in der Vergangenheit mehrfach versucht, Gegengewichte zu einer angenommenen deutsch-französischen Dominanz zu pflegen, beispielsweise mit dem Visegrád-Format mit Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Mit dem Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine veränderte sich dies, weil Ungarn sich ungeachtet seiner Unterstützung der meisten gegen die Russische Föderation gerichteten Sanktionen nicht so eindeutig auf die Seite der Ukraine stellen wollte wie dies Polen tat. Polen hat sich daher ein wenig von Ungarn entfernt und bringt inzwischen eigene Initiativen zur Stärkung der osteuropäischen Länder auf den Weg. Die alten Verbindungen zu Ungarn manifestieren sich weitgehend nur noch in der Ablehnung der Aufnahme von Flüchtenden, die nicht aus der Ukraine kommen.

Es gibt seit August 2016 auf Initiative Polens und Kroatiens die Drei-Meere-Initiative, an der sich dreizehn Länder beteiligen, neben zwölf EU-Mitgliedstaaten inzwischen auch die Ukraine. Die Gründungsstaaten der EU sind nicht dabei, nicht Deutschland, nicht Frankreich, nicht Italien, nicht die Niederlande, nicht Belgien, nicht Luxemburg, aber auch nicht die Mittelmeerländer Griechenland, Spanien und Portugal. Allerdings beteiligt sich – angesichts der dortigen innenpolitischen Debatten vielleicht erstaunlich – Österreich.

Aber was geschieht, wenn das Europa der 27 zu einem Europa der 37 wird? Unter anderem mit einer Integration der Ukraine, Georgiens, der Staaten des Westbalkan. Dann werden voraussichtlich – so Jacques Rupnik – Mehrheitsentscheidungen unausweichlich, ebenso „eine Entwicklung zu einer Union mit variabler Geometrie und verschiedenen Geschwindigkeiten“. Die aktuelle polnische Regierung sieht in einer Erweiterung der Europäischen Union die Chance neuer „souveränistischer“ Bündnisse, die die in Polen gefühlte und in Teilen durchaus vorhandene deutsche und französische Dominanz mit einer Tendenz zur „Föderalisierung“ einhegen könnten.

Jacques Rupnik formuliert folgendes Fazit: „Ein solches Szenario ist natürlich keine schicksalhafte Notwendigkeit, die politische Neuordnung Europas ist gerade in vollem Gange. Der geopolitische Schwerpunkt verschiebt sich nach Osten, gewiss, aber die Institutionen und die Wirtschaftsmacht bleiben im Westen. Eine positive Antwort auf die latenten Spaltungen, die mit dem Krieg in der Ukraine zutage tragen, könnte in der Wiederbelebung des ‚Weimarer Dreiecks‘ – das von 1991 an Frankreich, Deutschland und Polen versammelte – als strategischer Achse einer nach Osten erweiterten Europäischen Union bestehen. Voraussetzung hierfür wäre jedoch ein Frankreich, dass seine russische ‚Illusion‘ hinter sich gelassen hätte, ein Deutschland, das die von seinem Kanzler verkündete ‚Zeitenwende‘ in ihrem vollen Ausmaß vollzogen hätte … und ein Regierungswechsel in Warschau.“ Die aktuelle und ausgesprochen volatil zu bewertende Lage im polnischen Wahlkampf hat Andrzej Kaluza am 1. August 2023 auf dem Blog des Deutschen Polen-Instituts beschrieben.

Vielleicht liegt eine Lösung – gegebenen falls sogar unabhängig vom Wahlergebnis – auch in gemeinsamen Bemühungen der EU-Mitgliedstaaten zur Konsolidierung, möglicherweise auch mit Abstrichen, und in einer Neuausrichtung der europäischen Checks and Balances, wohl kaum jedoch in einer engeren Integration der Mitgliedstaaten, ungeachtet ihrer heutigen oder zukünftigen Zahl. Das muss nicht unbedingt der gemeinsame kleine Nenner sein, obwohl dies in der Migrationspolitik der EU nach dem 8. Juni 2023 offenbar wohl der vorläufige Konsens zu sein scheint.

René Cuperus hat einen eher vorsichtigen Ansatz zur Weiterentwicklung der Europäischen Union in seinem 2021 bei Dietz erschienen Buch „7 Mythen über Europa“ vorgeschlagen. Er plädiert für eine neue europäische „Realpolitik“, in der dann auch eines klar wird: Polen, die baltischen Staaten, auch alle anderen ehemals im sowjetischen Herrschaftsbereich liegenden Staaten, sie alle liegen in Europa und damit im traditionellen „Westen“, der eben mehr ist als eine Himmelsrichtung. Wo Russlands Zukunft liegen wird, hängt von vielen Faktoren ab, die die Europäische Union durch ihre Unterstützung der Ukraine durchaus zu beeinflussen, wenn auch nicht zu entscheiden vermag. Ob ein europäisches und „westliches“ Russland in absehbarer Zeit denkbar wird, ist zumindest zurzeit nicht sehr wahrscheinlich. Die Ukraine allerdings liegt heute im „westlichen“ Teil Europas, mehr denn je, auch mehr als noch im Jahr 2014.

Die großen Mitgliedstaaten Europas sollten vielleicht mehr auf die kleinen hören und achten. Manche dieser Mitgliedstaaten sind gar nicht so klein, und Polen muss sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Eine Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks im Kontext oder in Kooperation mit der Drei-Meere-Initiative wäre vielleicht ein Anfang. Dies wäre – so Bogdan Koszel – vielleicht auch das Vermächtnis Bronisław Geremeks: „Ungeheures Gewicht maß er dem Engagement zugunsten des Aufbaus einer breiten trilateralen Zusammenarbeit bei. Er betonte die Bedeutung einer entsprechenden Bildung der Jugendlichen in den drei Ländern, damit sie den sie erwartenden europäischen Herausforderungen gerecht werden könnten. Außerdem regte er die Schaffung sog. Kleiner Weimarer Dreiecke in verschiedenen Bereichen, angefangen von der Bildung über die Wirtschaft, die Rechtsprechung und Verteidigung bis hin zur Medizin, an, was eine dauerhafte und starke Grundlage für eine trilaterale Zusammenarbeit darstellen würde.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2023, Internetzugriffe zuletzt am 3. August 2023.)