Polnische Moderne
Das Deutsch-polnische Barometer und das Jahrbuch Polen 2024
„Ist Polen/Deutschland ein modernes Land? Wir wollten sehen, wie viele Deutsche Polen als ein modernes Land wahrnehmen. Die Ergebnisse zeigen, etwas weniger als die Hälfte, 46 Prozent, haben die Frage mit Ja beantwortet. Die ambivalente Einstellung zu Polen dominiert. Das Bild, dass Deutschland ein modernes, wirtschaftlich starkes Land ist, ist immer noch präsent, auch wenn es nicht mehr so stark ist, wie es das einmal war. Von deutscher Seite wurde nach der touristischen Attraktivität immerhin auch die wirtschaftliche Stärke Polens genannt. In Polen sagten etwa zwei Drittel, Deutschland ist ein modernes Land. (Agnieszka Łada-Konefał in: Prekäres Gleichgewicht, Demokratischer Salon, November 2024)
Am 24. Oktober 2024 wurde das Deutsch-polnische Barometer 2024 unter der Überschrift „Hoffnung und Krise“ veröffentlicht. Agnieszka Łada-Konefał und Jacek Kucharczyk haben die Ergebnisse unter der Überschrift „Deutschland und Polen – Das schwierige Verhältnis zum Nachbarn“ im Berliner Tagesspiegel zusammengefasst. Neu war die Frage danach, ob Menschen in Polen und Deutschland das jeweilig andere Land als ein modernes Land wahrnehmen. Die Diskrepanz der Einschätzungen gibt durchaus Anlass zur Sorge. Das Jahrbuch Polen 2024 befasst sich mit dem Schwerpunkthema „Modern(e)“.
Das Jahrbuch Polen 2023 wurde im Demokratischen Salon in der Sammelrezension „Polen 2023“ vorgestellt. Rahmenthema war damals „Osten“. Die Sicht auf den russländischen Angriff auf die Ukraine war eines der Themen und wurde auch im Deutsch-polnischen Barometer 2023 und 2024 abgefragt. Mehrere Gespräche mit Agnieszka Łada-Konefał, zuletzt unter dem Titel „Prekäres Gleichgewicht“, und Reportagen von Ines Skibinski, zuletzt zu den Europa- und Kommunalwahlen, im Demokratischen Salon ergänzen das Bild der Entwicklungen in Polen und nicht zuletzt auch der Frage des Verhältnisses polnischer und deutscher Sichtweisen (alle in der Rubrik „Osteuropa“ des Demokratischen Salons verfügbar).
Das Deutsch-polnische Barometer 2024
Die aktuelle Befragung von jeweils 1.000 Menschen in Polen und in Deutschland wurde etwa ein Jahr nach den polnischen Parlamentswahlen veröffentlicht, die zu einem Regierungswechsel führten. Donald Tusk wurde Ministerpräsident an der Spitze einer Koalition seiner liberalen „Bürgerkoalition“ (KO) mit der „Linken“ und dem Bündnis „Dritter Weg“. Staatspräsident ist nach wie vor Andrzej Duda von der PiS, dem es gelingt, fast alle Gesetzesvorhaben des Parlaments zu stoppen. Im Mai 2025 wird ein neuer Präsident gewählt, Duda darf nicht mehr kandidieren und die Regierung hofft, dass nach dieser Wahl Präsidentschaft und Regierung dem gleichen Lager angehören. Viele Polinnen fragen allerdings bereits jetzt voller Ungeduld, wo der versprochene Neuanfang bliebe.
Zu den Fragen des Barometers gehört der Wunsch nach einer spontanen Einschätzung, nach Assoziationen, die die Befragten mit dem Nachbarland verbinden. Die Befragten konnten jeweils drei Punkte nennen. In Polen dominieren mit 20 Prozent der Nennungen der Zweite Weltkrieg und mit 19 Prozent das große Leid, das Deutschland in dieser Zeit über Polen gebracht hatte. An dritter Stelle wurde Deutschland mit 15 Prozent als Land des Wohlstands genannt. Diese Werte verringerten sich jedoch in den letzten Jahren durchweg, die bekannten Probleme in der deutschen Infrastruktur beeinflussen diese Bewertung. Bei der Beschreibung der gegenseitigen Beziehungen wurde in Polen die langjährige Kollaboration Deutschlands mit Russland kritisch angemerkt, nicht zuletzt die Abhängigkeit Deutschlands von Russland in der Energieversorgung. Bei den Deutschen zugeschriebenen Charaktereigenschaften, die etwa zehn Prozent nannten, gab es eine Fülle negativer Begriffe wie beispielsweise Hochmut, Ärger, Betrug. Im Vergleich zum Vorjahr gab es allerdings weniger Hinweise auf den Zweiten Weltkrieg, alle anderen Nennungen blieben etwa im gleichen Rahmen, allerdings stiegen die Nennungen negativer Charaktereigenschaften. Man könnte von einer „Desillusionierung“ gegenüber Deutschland sprechen, so die Verfasser:innen des Barometers, eine Wirkung der anti-deutschen Propaganda der PiS sei jedoch ebenfalls feststellbar. Die Wähler:innen der KO äußerten sich positiver als die der PiS, aber auch bei den PiS-Wähler:innen lässt sich kein durchweg extrem negatives Bild feststellen. Die Pol:innen – so Agnieszka Łada-Konefał bei ihrer Vorstellung des Barometers am 24. Oktober – seien nicht anti-deutsch, aber kritischer geworden.
Die Deutschen nannten an erster Stelle mit 26 Prozent Polen als „touristisch interessantes und preiswertes Urlaubsland“. Etwa 17 Prozent nannten Charaktereigenschaften. Die positiven Charaktereigenschaften (zum Beispiel Gastfreundschaft, Herzlichkeit) dominierten, die negativen sanken. Pol:innen werden durchweg als gute Arbeiter.innen bezeichnet, die früheren Assoziationen, sie betrieben „Lohndumping“ und gefährdeten Arbeitsplätze von Deutschen, sind völlig verschwunden. Ebenfalls 17 Prozent der Nennungen betrafen persönliche Kontakte. Nur fünf Prozent nannten die polnisch-deutsche Geschichte, einschließlich der Geschichte der Solidarność. Viele der Befragten haben keine Meinung zu Polen, aber insgesamt ist die Meinung positiver als noch vor einem Jahr, insbesondere im Hinblick auf Wirtschaft und Demokratie, aber dennoch sieht nicht einmal die Hälfte positive Entwicklungen.
Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern werden insgesamt, da von zwei Drittel in beiden Ländern – gut bewertet. Nur jeder fünfte spricht von schlechten Beziehungen der beiden Länder zueinander. Der Grund dafür seien, laut der Hälfte der Befragten, die die Beziehungen so wahrnehmen, die wirtschaftlichen gemeinsamen Interessen. Große Unterschiede gibt es im Hinblick auf die Rolle der „Versöhnung“. In Deutschland sieht sie etwa die Hälfte, in Polen jedoch nur 29 Prozent als Grund, warum das deutsch-polnische Verhältnis gut sei. Unten den Polen, die die Beziehungen als schlecht bezeichnen, dominiert die Auffassung, der Grund dafür sei die unzureichende Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges von der deutschen Seite.
Der Beitrag Deutschlands zur Verbesserung der Zusammenarbeit der beiden Länder in und für Europa wird in Polen zunehmend schlechter bewertet. 2005 bewerteten 62 Prozent der Befragten in Polen den deutschen Beitrag noch positiv, inzwischen tun dies nur noch 42 Prozent. Die deutsche Europapolitik sei nicht konstruktiv. Umgekehrt sehen inzwischen 40 Prozent einen positiven polnischen Beitrag, gleichwohl wird auch hier keine Mehrheit unter den Befragten erreicht. Energiesicherheit und Verteidigungspolitik werden in beiden Ländern gleichermaßen als wichtige Aufgabe genannt, nicht zuletzt im Rahmen des Weimarer Dreiecks. Allerdings konnten in Deutschland nur 17 Prozent der Deutschen konkret sagen, worum es sich beim Weimarer Dreieck handele, in Polen lag dieser Wert bei 33 Prozent. Dabei spielt das Bildungsniveau der Befragten eine wichtige Rolle.
36 Prozent der befragten Pol:innen sagten, Deutschland und Polen müssten mehr über die Vergangenheit reden. Im Jahr 2011 lag dieser Wert bei etwa 20 Prozent. Der Wert hingegen, man müsse sich auf Gegenwart und Zukunft konzentrieren, sank in diesem Zeitraum von 73 auf 49 Prozent. In Deutschland gibt es nur geringe Veränderungen. Im Jahr 2018 lag der Wert für Gegenwart und Zukunft bei 70 Prozent, jetzt liegt er bei 64 Prozent. Der Wert für die Vergangenheit stieg von 13 auf 23 Prozent.
Ein zentrales Thema ist nach wie vor die Unterstützung der Ukraine. Die Unterstützungsbereitschaft sank in beiden Ländern gegenüber dem März 2022, insbesondere im Hinblick auf die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine, die in Polen nur noch von 51 Prozent befürwortet wird, in Deutschland von 58 Prozent, ein Wert, der auf dem Niveau vom Februar 2022 liegt, aber deutlich unter dem Spitzenwert von 79 Prozent im März 2022. Wirtschaftssanktionen gegen Russland werden in Polen von 75 Prozent der Befragten befürwortet, in Deutschland von 58 Prozent. Gegenüber Februar 2022 gibt es jedoch in beiden Ländern einen Anstieg, mit einem Spitzenwert von 90 beziehungsweise 69 Prozent im März 2022. Etwa 39 Prozent der befragten Pol:innen denken, dass die deutsche Unterstützung zu gering ausfalle, in Deutschland denken das nur 14 Prozent. In Polen dominiert die Auffassung, dass Polen genug leiste, Deutschland jedoch mehr tun könnte. Die Angst vor Russland erreicht in Polen einen Wert von 68 Prozent, in Deutschland von 60 Prozent, vor der russländischen Vollinvasion lagen die deutschen Werte deutlich darunter. Die Werte haben sich inzwischen auf dem aktuellen Niveau mehr oder weniger eingependelt.
Die unterschiedlichen Bewertungen innerhalb des jeweiligen Landes ergeben sich durchaus aus Parteipräferenzen und Wohnort:
- „In Polen zeigt sich bei fast allen Fragen eine starke Korrelation zwischen den Antworten und der politischen Orientierung der Befragten, wobei die Meinungen über die Deutschen und die deutsche Politik bei den Wählerinnen und Wählern der derzeitigen Regierungskoalition (Bürgerkoalition/KO, Dritter Weg und Linke) deutlich positiver sind als unter den Anhängern der Opposition (Recht und Gerechtigkeit/PiS und Konföderation). Bei Fragen zur Politik gegenüber Russland und der Ukraine ist die politische Polarisierung etwas weniger ausgeprägt, doch auch hier bestehen Unterschiede, wobei die Meinungen von Anhängern der Konföderation besonders hervorstechen. Die Analyse zeigt auch die große Bedeutung von Variablen wie Alter und Bildung, wohingegen die des Wohnortes oder der Region, aus der die oder der Befragte stammt, weniger augenfällig sind.“
- „In Deutschland beeinflusst die Teilung zwischen der Bevölkerung der östlichen und westlichen Bundesländer die ausgewählten Bewertungen. Einwohner der neuen Bundesländer neigen zu einer positiven Bewertung Polens als Land, schätzen den Zustand der deutsch-polnischen Beziehungen vergleichsweise häufig als gut ein und lehnen eine Unterstützung der Ukraine deutlich häufiger ab. Die Antworten der deutschen Befragten unterscheiden sich jedoch nicht nach dem Merkmal Migrationshintergrund. Die Präferenz für eine bestimmte Partei sorgt in Deutschland insbesondere hinsichtlich der Unterstützung für die Ukraine für ein Ausdifferenzierung der gegebenen Antworten – die Wählerschaft der Alternative für Deutschland und des Bündnisses Sahra Wagenknecht lehnt diese Unterstützung häufiger ab als die Anhänger anderer politischer Gruppierungen.“
Das Jahrbuch Polen 2024
In der Einführung zum Jahrbuch 2024 schreibt Andrzej Kaluza: „Polens Gesellschaft – vor allem die jüngere Generation – lässt sich nicht in den Ideen von gestern einsperren.“ Das Jahrbuch enthält 14 Essays und Interviews von 17 Autor:innen, die von elf Übersetzer:innen vom Polnischen ins Deutsche übertragen wurden. Die Texte sind in vier Kapitel gegliedert: „Ideen“, „Aufbrüche in die Moderne“, „Die Großstadt-Avantgarde“ und der Essay „Cyberpolska on Real“ zum Schluss. Alle Texte enthalten Testimonials, Definitionen, auch zu historischen Epochen, und Lektüre-Empfehlungen. Einige der Texte wurden – das wird bei entsprechend angemerkt – vor der Wahl vom 15. Oktober 2023 geschrieben. Dies ändert jedoch nichts an der grundlegenden Botschaft dieser Texte. Sehr ansprechend – wie immer bei den Jahrbüchern – die auch künstlerisch anspruchsvolle Illustration, unter anderem das Titelbild von Rafał Stefanowski.
Michał Olszewksi analysiert Einstellungen in der rechtsextremistischen Konfederacja, der anti-modernistischen Partei schlechthin. Kern-Thema sei das Thema Abtreibung, man betreibe eine „traditionalistische Gegenrevolution“. Das Programm wirkt deutlich mehr bei jungen Männern als bei jungen Frauen. Unter den Erstwähler:innen unter 24 Jahren profitierte die Konfederacja mit einem Wert von 48 (!) Prozent bei den Männern, bei den Frauen nur mit einem Wert von 16 Prozent. Das Auftreten ist durchaus modern, so beispielsweise das von Sławomir Mentzen, „einer der Führer der Bewegung, (…) einfach cool, jung, gebildet, weltgewandt, rhetorisch begabt, sympathisch.“ Die Einstellung lässt sich wie folgt zusammenfassen: „Der Hass auf die EU stellt kein Hindernis dar, wenn es gilt, finanzielle Vorteile in Anspruch zu nehmen. Von Vorteilen sprechen Anti-EU-Kreise jedoch nicht“, man spricht „von Sorge und Abscheu angesichts des vermeintlichen Niedergangs der EU-Länder, im Kreis derer Polen selbstredend der einzige Hort von Normalität und christlicher Ordnung sei.“
Michał Szułdrzyński analysiert die „Mehrdeutigkeit der Moderne“. Er verweist auf Papst Johannes Paul II., der im Jahr 1991 „sah, wie schnell die Polen dem Westen hinterherlaufen wollten, was für ihn einer Verleugnung des christlichen Erbes gleichkam.“ Demokratie und Kapitalismus waren die eine Seite, die andere waren für ihn „Abtreibung sowie die Ausgrenzung von Arbeitslosen und älteren Menschen“. An diese Sicht knüpfte die PiS an, so formulierte beispielsweise der ehemalige Ministerpräsident Mateusz Morawiecki: „Wir wollen, dass das Leben in Polen wie das Leben im Westen ist, aber ohne die dortigen Fehler“. In diesem Kontext sei die Einstellung gegenüber dem Thema Migration zu erklären, die allerdings nicht nur unter PiS-Anhänger:innen Zustimmung findet. Die Attraktivität konservativ-katholischer Werte und der modernen Wissenschaft und Technologien schließen einander nicht aus. Die materielle Verführung des Westens spielt eine zentrale Rolle, gerade in der Wendezeit 1989/1990 so Michał R. Wiśniewski in seinem Beitrag über das „Internet auf Polnisch“. Diese Sicht entspricht durchaus der Analyse von Stephen Holmes und Ivan Krastev in ihrem Buch „Das Licht, das erlosch“ („The Light That Failed“, beide Ausgaben erschienen im Jahr 2019, hierzu im Demokratischen Salon in dem Essay „Die Wende der Wende“). Einer Zeit der „Nachahmung“ des Westens sei eine Zeit gefolgt, in der Nachahmung als Werteverlust empfunden worden sei.
Allerdings haben die rechts-konservativen Akteure die Geister selbst geweckt, die sie bekämpfen. Insbesondere im Bildungswesen haben sie – so Michał Szułdrziński – versagt: „Wer trägt Schuld an der Vernachlässigung von Kindern im Netz? Ich denke, dass viele Faktoren Anteil daran haben. Der Hauptfaktor ist die fehlende Sexual- und Medienerziehung, an der rechte Regierungen überhaupt nicht interessiert sind (ersteres halten sie für sittenwidrig, zweitere erschwert das Heranziehen gehorsamer Bürgerinnen und Bürger).“
Der erste Teil „Ideen“ schließt mit einem Essay von Klaudia Hanisch über „Die polnischen Symmetristen und ihre Wegbereiter“ und befasst sich mit der Frage, ob diese durch ihren Versuch einer Äquidistanz nach rechts und links, zum Konservatismus und zur Moderne möglicherweise dazu beitragen, „ein zunehmend autokratisches Regime zu legitimieren“. Dieser Verdacht treffe auch moderate Politiker wie Szymon Hołownia, zentraler Akteur des inzwischen an der polnischen Regierung beteiligten Bündnisses „Dritter Weg“, das sich bisher nicht zu einer grundlegenden Unterstützung des Regierungsvorhabens für eine Reform des Abtreibungsrechts hat durchringen können. Klaudia Hanisch zitiert die Publizistin Karolina Wigura, die die Polarisierung in der polnischen Medienlandschaft beschrieben habe und berichtet, dass Positionen, „die sich nicht eindeutig einer Seite zuordnen, wie die Symmetrist:innen, als störend empfunden werden“.
Die heutigen Konfrontationen und ihre Geschichte sind auch Gegenstand der Analysen im zweiten Teil des Jahrbuches. Tomasz Kizwalter versucht eine „Genealogie“ am Beispiel von am Rande liegenden Regionen wie Galizien. Die Emanzipation von Juden und Frauen im 19. Jahrhundert könne als Beispiel auch für heute noch wirkende Konflikte untersucht werden. Ethnisierung werde zum „Werkzeug zum Schutz vor den Krisenphänomenen“, deren Ursache dann gerade bei bestimmten Gruppen gesehen wird. Kizwalter vertritt die These, „dass im 20. Jahrhundert, unter sich immer schneller verändernden zivilisatorischen Bedingungen, versucht wurde, Probleme zu lösen, die im 19. Jahrhundert entstanden sind. Das wichtigste von ihnen war die Agrarfrage.“ Modernisierung sei immer nur „halbherzig“ erfolgt, dies habe zu „kulturellen Spannungen und Konflikten“ geführt. Hier finden sich auch Verbindungen zu entsprechenden politischen und gesellschaftlichen Debatten in anderen Ländern.
Ulrich Schmid bietet einen Überblick über die Rezeption des italienischen Faschismus und Futurismus in Politik, Kunst, Architektur und Kultur insbesondere während der Epoche der Sanacja (1926-1939). Der italienische Faschismus traf auf Entwicklungen und Utopien in Polen, die Ulrich Schmid unter anderem mit dem Begriff „Imperiale Ansprüche“ Polens charakterisiert. Dies zeigte sich in Wirtschaft, Industrie, Militär und Rüstungsindustrie sowie in kolonialen Ansprüchen im Hinblick auf das vormalige Deutsch-Ostafrika. Polen verstand sich als „Seemacht“ und gründete im Jahr 1930 eine „Meeres- und Kolonialliga“. Wie in Italien begleiteten ästhetische Konzepte die politische Neugründung der Nation: „Der neue Staat brauchte auch eine neue Kunst.“ Zum Beispiel in der Architektur. Ulrich Schmid zitiert den Futuristen Anatol Stern, der schrieb: „Wir alle waren damals ergriffen von einer erhabenen Manie, die Wirklichkeit zu organisieren.“ Begeistert vom italienischen Faschismus war Roman Dmowski, der nach Italien reiste und dessen Sympathie für den italienischen Faschismus auch „vor dem Hintergrund seiner idée fixe einer jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung gesehen werden“ müsse. Wie verführerisch solche Ideen waren, belegt ein von Kizwalter zitierter Text von Czesław Miłosz, „in dem er die ‚Produzenten künstlerischer Güter‘ selbstbewusst mit der ‚Aufzucht von Menschen‘ beauftragte.“ Ähnliche Ideen gab es auch in vielen anderen Ländern, auch in liberalen und sozialdemokratischen Bewegungen. Peter Bierl hat dies in seinem Buch „Unmenschlichkeit als Programm“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2022) ausführlich beschrieben (im Demokratischen Salon in dem Essay „Querfront der Exklusion“ besprochen).
Stefan Garsztecki kritisiert in seinem Essay über „Modernisierung und regionale Entwicklungspläne in Polen“ die „stark ausgeprägte paternalistische Mentalität“, die erkläre, warum die 1989 / 1990 dominierende Bereitschaft zur Übernahme neoliberaler Strukturen durch patrimoniale Alternativen, beispielsweise in der Sozialpolitik der PiS abgelöst worden sei, die darüber hinaus den Vorteil genoss, dass sie sozialpolitische Maßnahmen mit anti-kommunistischer Rhetorik zu verbinden wusste. Inzwischen dominiere jedoch der Konflikt zwischen Zentrum und Peripherie, (Groß-)Stadt und Land. Auch die „alternde Bevölkerung“ behindere weitere Modernisierung. Die verbreitete Forschungsskepsis verschärfe das Problem der „zu geringen Wettbewerbsfähigkeit polnischer Firmen“. Im Grunde entsteht so eine Art Teufelskreis, in dem sich Konservativismus zunehmend radikalisiert, nicht nur in Polen. Thomas Biebricher analysierte dies für Frankreich, Italien und Großbritannien in seinem Buch „Mitte / Rechts“ (Berlin, Suhrkamp, 2023, im Demokratischen Salon im Essay „Rechtsgedreht“ besprochen).
Der Essay von Stefan Garsztecki leitet über zum dritten Teil des Jahrbuches. Michał Piernikowski befasst sich mit Design und Materialentwicklung, der Verbindung von „Ästhetik mit Funktionalität“, die sich beispielsweise in Arbeitersiedlungen (durchaus in Anlehnung an das Bauhaus oder den Wiener Karl-Marx-Hof) zeige. Filip Springer und Damian Nowicki sprechen über Architektur. Filip Springer vermisst eine Debatte über „Parameter oder klar bestimmte Prinzipien, die uns in Bezug auf Funktionalität im Raum dienen.“ Er verweist auch auf die von ihm mit der Schriftstellerin Julia Fiedorcuzk gegründete „Schule der Ökopoetik“.
Joanna Kiliszek zitiert im Titel ein Gemälde des Breslauer Künstlers Paweł Jarodzki (1958 – 2021), Mitglied der Künstlergruppe Luxus: „Nur die Kunst wird dich nicht betrügen“. Drei Daten bezeichnen die Umbrüche in Polen, 1945, 1989/1990 und 2022. „Russlands Krieg gegen die Ukraine, der im Grunde bereits 2014 begonnen hatte, vertiefte 2022 den Diskurs über die Dekolonisierung der Kunst in diesem Teil der Welt.“ Modernität, Anschlussfähigkeit an innovative künstlerische Entwicklungen wurden von der PiS skeptisch betrachtet, sie bevorzugte „nationale Themen“. Erstaunlich ist – so Joanna Kiliszek , dass das einzige Museum moderner polnischer Kunst nicht in Polen liegt. Es ist das Museum Jerke in Recklinghausen. Letztlich spiegeln sich die politischen und gesellschaftlichen Konflikte in der Kultur. Joanna Kiliszek befürchtet, „dass demnächst erneut in alternativen Strukturen gearbeitet werden muss. Genau wie im Sozialismus, nur diesmal im Post-Kommunismus.“
Gibt es Erklärungen? Marta Żakowska und Anna Diduch sprechen über „Das Auto im Sumpf der Stadt – Über den polnischen ‚Autoholismus‘“, den sie nicht ohne Grund mit anderen Suchtstrukturen vergleichen. Polen habe „im Zuge seines Beitritts zur Europäischen Union gerade einen lang erwarteten Auto-Tsunami erlebt.“ Das war zum Beispiel in der DDR im Zuge der Deutschen Einheit nicht anders. Flächenverbrauch oder auch Gegenmaßnahmen, die Flächen wieder befreiten, spielen eine grundlegende Rolle in der Stadtplanung. Marta Żakowska bezieht sich auch auf die Untersuchung von Jane Jacobs zum „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (Berlin, Ullstein Bauwelt Fundamente, 2015). Das Buch wurde ins Polnische übersetzt.
Wenn die beschriebenen Konflikte um die Moderne, um eine innovative und zukunftsorientierte Kultur, aufgehoben werden sollen, bedarf es einer Begegnung der verschiedenen Lager. Tomasz Szlendak befasst sich mit der Generation Z, den „Zetki“, und ihrer Liebe zum Smartphone. Es gibt eine Menge an Vorurteilen über die angeblich durch Smartphones depressiv, übersensibel, ignorant und nicht zuletzt „anfällig für autoritäre Ideen“ gewordenen jungen Menschen. Mag alles sein, ist aber nicht das eigentliche Thema, oder doch? Bartosz Bielenia und Magdalena Dubrowska sprechen über das „Irgendwas Dazwischen“ von Generation Z und Boomern. Wie nimmt man die Wirklichkeit wahr, nicht zuletzt in den Jahren der Pandemie? Bartosz Bielenia sagt: „Während der Pandemie habe ich zwanghaft die Nachrichten verfolgt, weil ich fasziniert war von der Apokalypse. Menschen in Masken, die Armee auf der Straße, wow! Meine Partnerin und ich saßen in einem Haus auf dem Land, kochten auf einem Küchenofen Risotto, und ich hing Untergangsvisionen wie aus Katastrophenfilmen nach. Genauso war es beim Krieg in der Ukraine. Der Vietnamkrieg war der erste Krieg, der im Fernsehen übertragen wurde, doch dank der sozialen Medien können wir den Krieg nun in den Schützengräben – auf beiden Seiten – aus nächster Nähe miterleben. Und uns ständig fragen, ob das, was wir sehen, Wahrheit oder Fiktion ist.“
Was ist, wenn dieser „Zwang“, von dem Bartosz Bielenia spricht, der einzige Weg ist, Wirklichkeit zu erfahren? Olga Drenda formuliert zum Abschluss ihres Essays „Cyberpolska on Real“ eine Dystopie: „Gut möglich, dass sich das Volk dann für einen agilen, schneidigen Vertreter einer kleinen NGO entscheiden würde, wenn dieser allen einen schnellen Internetzugang über das Satellitennetzwerk Starlink verspräche.“ Tomasz Szlendak nennt die Alternative, die allerdings nicht sehr realistisch zu sein scheint: „Im Internet gibt es keine Teppichstangen“ und erinnert daran, dass die „Teppichstangen“ in den Großsiedlungen zur kommunistischen Zeit, der Zeit vor der Smartphone-Welle, der Ort war, wo sich Menschen trafen, kennenlernten und kannten, miteinander ins Gespräch kamen. Es entsteht in diesem Mangel an Begegnung sogar ein merkwürdiges Paradox: „Obwohl unter den polnischen ‚Zetki‘ eine größere Toleranz für Individualität, Andersartigkeit und Minderheiten rechte als in früheren Generationen sichtbar ist, ist die bloße Toleranz kein besonders geschätzter Wert. Sie ist nur für 27 Prozent aller 18-21-Jährigen wichtig.“ Vielleicht ist das aber auch ein gutes Zeichen. Bei auf der Plattform Państwowa Komisja Wyborcza dokumentierten Wahlpräferenzen (vor der Wahl vom Oktober 2023) antworten zwar viele, dass sie sich (noch) nicht entscheiden könnten, tendenziell erreichten jedoch Bürgerplattform und Linke zusammen über 50 Prozent. Auf der anderen Seite profitierte die Konfederacja mit 13,5 Prozent, während die PiS nur noch bei 5,6 Prozent lag. Die folgende Frage liegt auf der Hand: Radikalisiert sich die konservative Seite weiterhin? Und wie stark profitiert sie von anti-modernistischen Einstellungen auch bei jungen Menschen? Die Nutzung moderner Technik und konservative bis rechtsextreme Einstellungen gegenüber Frauen, Migrant:innen, verschiedenen Minderheiten scheinen sich nicht auszuschließen.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2024. Agnieszka Łada-Konefał und Andrzej Kaluza danke ich für ihre kritische Durchsicht des ersten Entwurfs. Internetlzugriffe zuletzt am 26. November 2024. Das Titelbild zeigt den Marktplatz von Katowice. Foto: Pixabay.)