Reale Basis

Gedankenspiele für eine zukunftsfähige Kinderpolitik

„Dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eignen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unsrer Kontrolle entwächst, unsre Erwartungen durchkreuzt, unsre Berechnungen zunichte macht, ist eines der Hauptmomente in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung, und eben aus diesem Widerspruch des besondern und gemeinschaftlichen Interesses nimmt das gemeinschaftliche Interesse als Staat eine selbständige Gestaltung, getrennt von den wirklichen Einzel- und Gesamtinteressen, an, und zugleich als illusorische Gemeinschaftlichkeit, aber stets auf der realen Basis (…).“ (Karl Marx / Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: MEW 3)

Es lohnt sich immer wieder, Karl Marx und Friedrich Engels zu lesen. Man darf nur nicht den Fehler machen, ihre Analysen als Handlungsanweisung zu verstehen, denn das kann – wie wir wissen – fatale Folgen haben. Ihre Analysen haben aber die Kraft, Entwicklungen der damaligen wie der heutigen Zeit einmal aus einer tiefergehenden Perspektive zu betrachten. Dies tun beispielsweise Ulrike Hermann oder Kohei Saito, deren Gedanken ich unter dem Titel „Jenseits des Kapitalismus – Gedankenspiele für eine zukunftsfähige Politik“ vorgestellt habe. Darin enthalten sind auch Hinweise auf die Perspektiven der Konvivialistischen Manifeste (veröffentlicht im transcript-Verlag).

Die Frage läge eigentlich nahe: wo ist nun diese „reale Basis“, von der die beiden sprechen? Wie sieht sie aus? Wer schafft sie, mehr oder weniger frei- oder unfreiwillig oder gar gezwungen? Was können wir kontrollieren, was nicht? Auf die aktuelle Kinderpolitik bezogen bedeutet dies, dass es einfach nicht ausreicht, das Gute zu wollen. Manche verstricken sich in gutem Glauben im Spiel der Interessen, sodass die Realität oder wenn man so will die „reale Basis“ ihrer „Kontrolle entwächst“.

Das Elend der Kindergrundsicherung

Das Ziel einer Kindergrundsicherung sollte eigentlich allen einleuchten: Aufwachsen ohne materielle Sorgen, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an Bildung, Kultur, Sport. Das hat nicht nur mit Geld zu tun, eine der Zauberformeln kinderpolitischer Grundsatzerklärungen heißt: weniger Bürokratie = weniger Armut. Mitunter verweist jemand Gebildetes auf Estland. Dort erhalten die glücklichen Eltern drei Tage nach der Geburt von ihrer Gemeinde eine Gratulationsmail, verbunden mit der Bitte, die Kontonummer zur Überweisung des Kindergeldes mitzuteilen. Es wäre nicht schwer, das auch in Deutschland umzusetzen, wäre da nicht die alles beeinträchtigende deutsche Misstrauenskultur, es könnte jemand eine Leistung erhalten, der sie nicht verdient. Bei den Zuschüssen zu den Energiepreisen wird ein Kollateralnutzen für Bestverdienende gerne in Kauf genommen, beim Bürgergeld für die ein oder andere arme Familie jedoch nicht. Die Lösung: mehr Kontrolle, mehr Sanktionen und damit nicht weniger, sondern mehr Bürokratie. Auch das gehört zur „realen Basis“.

Die Einführung einer Kindergrundsicherung wurde im Koalitionsvertrag der sogenannten Ampel als gemeinsames Projekt verankert. Christoph Butterwegge, einer der wichtigsten Armutsforscher in Deutschland, und die Diakonie hatten unabhängig voneinander einen Bedarf von etwa 20 Milliarden EUR errechnet. Bundesfamilienministerin Lisa Paus, die vielleicht eines Tages – sofern man sich überhaupt noch an sie erinnern wird – als eine der ungeschicktesten Minister:innen dieser und vergangener Regierungen in die Geschichte eingehen dürfte, hatte vor einiger Zeit 12 Milliarden EUR Bedarf genannt, musste diese Zahl zurücknehmen, weil sie nicht erklären konnte, wofür sie das Geld bräuchte, und gab sich mit 2,4 Milliarden EUR zufrieden, die sie die grüne Bundestagsfraktion als Erfolg verkaufen ließ. Aber die Geschichte war nicht zu Ende, denn die nächste Zahl, die sie nannte, waren 5.000 neue Stellen, die erforderlich wären, um den in der Tat höchst unübersichtlichen Verfahren für die Verteilung von Unterstützungsleistungen für Kinder ein Ende zu bereiten. Auch diese Zahl gilt nicht mehr. Nun hat sie weder die Chuzpe noch die Unterstützung eines Andy Scheuer, dies vielleicht zu ihrer Entlastung. In der FAZ reagierter Katja Gelinsky angesichts des Desasters der Familienministerin mit der Forderung, das Familienministerium einfach abzuschaffen. Wir bräuchten kein „Nanny-Ministerium“.

Eigentlich müssten Grüne (und SPD) das Gesetzgebungsverfahren für die Kindergrundsicherung in Hoffnung auf andere Mehrheiten auf die nächste Legislaturperiode vertagen. Es ist weder etatreif noch verspricht es eine für Kinder und Familien spürbare Entlastung. Der Clou ist jedoch der Sturmlauf von FDP und CDU/CSU gegen die Kindergrundsicherung, durchaus vergleichbar ihrem Sturmlauf gegen das Bürgergeld (das – offen gesagt – in seiner Ausgestaltung auch nicht viel besser ist als Hartz IV). Und damit sind wir bei der Frage nach der Infrastruktur für Kinder. CDU/CSU und FDP fordern, die Mittel für die Kindergrundsicherung sollten in Bildung investiert werden statt in Sozialleistungen. Was da geschehen soll, bleibt unklar, aber es klingt erst einmal gut. Christoph Butterwegge hat am 19. April 2024 in der Süddeutschen Zeitung in seinem Beitrag „Wie meinen, Frau Paus?“ jedoch die hinter dieser wohlmeinenden Forderung steckende Heuchelei entlarvt: „Bildung gerät zur Ideologie, wenn sie nicht als Mittel zur Bekämpfung der Kinderarmut genutzt, sondern als Mittel zur Verhinderung einer kostenträchtigen Armutsbekämpfung missbraucht wird.“

Das eine tun, das andere nicht lassen – das wäre die Botschaft, die Wirksamkeit verspricht. Noch besser wäre es sicherlich, einen auskömmlichen Mindestlohn (ob 15 EUR reichen wie sie die Linke fordert, ließe sich diskutieren, meines Erachtens nicht) zu schaffen, prekäre Ein-Euro-Jobs in auskömmlich finanzierte Arbeitsverhältnisse zu überführen und dies durch den Abbau von Privilegien zu refinanzieren, die Kindern nun einmal gar nichts nützen, beispielsweise pauschale Kinderfreibeträge und Inflationsausgleiche für hohe und höchste Einkommen, Ehegattensplitting, Kerosinsteuer, Dienstwagenprivileg und einiges mehr. Auch die Einführung einer Vermögenssteuer ist nach wie vor tabu und wird allenfalls leise von der ein oder anderen sozialdemokratischen Unterorganisation gefordert, natürlich auch von der Linken, aber wer hört schon auf diese Partei?

Unzureichender Mindestlohn führt zu höheren Sozialausgaben. Es gibt eine Fülle solch verdeckter Subventionen für Wirtschaftsunternehmen. Wer das Geld hat, kann – so dokumentierte es Ingo Malscher in der ZEIT unter dem Titel „Gier ist geil“ – alle seine Luxusausgaben, vom handgenähten Anzug über den Luxusurlaub und den Restaurantbesuch bis zu welchen luxuriösen Ausgaben auch immer, von der Steuer absetzen, natürlich auch die Kosten für die Finanzberatung, die dieses ermöglicht. Cum-Ex und andere Steuervermeidungs- und Steuerbetrugsmodelle kommen hinzu. Norbert Walter-Borjans hatte in seiner Zeit als nordrhein-westfälischer Finanzminister CD’s aus der Schweiz angekauft, denen Daten über Steuerhinterziehung zu entnehmen haben. Als CDU und FDP die Regierung wieder übernahmen, schafften sie diese Einnahmequelle umgehend ab. Norbert Walter-Borjans arbeitet inzwischen ebenso wie die ehemalige Kölner Staatsanwältin Anne Brorhilker, die beste Expertin Deutschlands zur Aufdeckung des Cum-Ex-Schwindels, für das Team von „Finanzwende“.

Geld wäre in Hülle und Fülle vorhanden, Deutschland ist ein reiches Land, selbst dann noch, wenn deutlich mehr als bisher in die Ausrüstung des Militärs investiert werden muss. Das bestehende System müsste allerdings vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Wirtschaftsunternehmen ließen sich durch einen Bürokratieabbau, der diese Bezeichnung verdient, sicherlich leichter entlasten als durch Dumpinglöhne. Allein die Zeitersparnis wäre schon ein Geldwert für sich. Aber wie das so ist – der Bürokratieabbau, und ganz besonders der Bürokratieabbau durch Digitalisierung, wird in der Regel ebenso rhetorisch verkündet wie die Forderung nach besserer Bildung. Und das seit Jahrzehnten. Man könnte fast unken, dass manche Parteien die Unübersichtlichkeit deutscher Behördenzustände geradezu brauchen, weil sie ja sonst ihre vollmundigen Parteiprogramme nicht mehr aufschreiben könnten. Ergebnis: Arme Menschen bleiben arm, arme Kinder sowieso.

Die Rückabwicklung der Kinderbetreuung

Kürzlich erzählte mir eine Bekannte, dass sie ihre Arbeitsstelle gekündigt habe. Ihr Ehemann habe jetzt viele Termine im Ausland, sie müsse sich daher mehr um die Kinder kümmern. Ihr Beruf: Erzieherin in leitender Position. Kein Einzelfall.

Was geschieht da eigentlich? Wir erleben eine Rückabwicklung der Kinderbetreuung mit massiven Folgeschäden für die wirtschaftliche Entwicklung. Und weil Eltern, vor allem Frauen, ihre Kinder zunehmend wieder selbst betreuen müssen, wird auch die Armut von Erwachsenen wie von Kindern steigen. Die Auswirkungen auf die Rente der betroffenen Frauen sind damit noch nicht berücksichtigt. Und das geschieht, obwohl von den demokratischen Parteien immer wieder betont wird, wie wichtig ihnen die diversen Rechtsansprüche auf eine Betreuung der Kinder von 0 bis 10 Jahren wären. Sind die demokratischen Parteien in einem Landtag in der Opposition, tun sie das sehr laut, in Regierungen werden sie oft kleinlaut.

Ein Blick in die Geschichte: In den 1960er Jahren, auch noch in den 1970er Jahren, stritten sich die politischen Parteien in Westdeutschland darüber, ob Jungen und Mädchen, katholische und evangelische Kinder, Kinder aus finanziell unterschiedlich gut oder schlecht ausgestatteten Elternhäusern gemeinsam lernen dürften. Sicherlich, es gab Horte, die schon eine lange Tradition in Deutschland hatten, weil sie bereits im 19. Jahrhundert die Betreuung der Kinder von Arbeiterinnen sicherstellen sollten, damit die Kinder nicht auf den Straßen herumlungerten. In der DDR war das anders. Dort gab es eine umfassende Betreuung von Kindern, eine Infrastruktur, von der die östlichen Bundesländer nach wie vor profitieren. Dies war wiederum Anlass genug, dass CDU und CSU im Westen mit der Einführung staatlich unterstützter Kinderbetreuung die unmittelbar bevorstehende Einführung des DDR-Sozialismus an die Wand malten. Manche meiner Leser:innen erinnern sich sicherlich noch an den Brief von Franz Josef Strauß, in dem er ankündigte, jede gesetzliche Regelung für Kinder und Jugendliche zu verhindern, damit die linken Sozialarbeiter nicht die intakten Familien kaputtmachten. Bis in die 1970er Jahre gab es im Westen den despektierlichen Blick auf sogenannte „Doppelverdiener“ und „Schlüsselkinder“. Das Wort von den „Alleinerziehenden“ traute sich damals noch niemand in den Mund zu nehmen. Der Makel einer Scheidung oder eines nicht ehelich geborenen Kindes färbte auf die Kinder ab.

Es ist das Verdienst von Ursula von der Leyen und Jürgen Rüttgers, dass die CDU (mit nachhallendem Knurren auch die CSU) ihren Frieden mit einer ganztägigen Kinderbetreuung machten. Zumindest rhetorisch. Zwischenzeitlich versuchte die CSU zwar, eine scheinbare Wahlfreiheit einzuführen, indem Eltern, die ihre Kinder zu Hause betreuten, ein „Betreuungsgeld“ erhalten sollten, scheiterte damit jedoch ebenso kläglich wie später mit der Maut für Ausländer (gemeint waren Österreicher, getriggert wurden Türken) auf deutschen Autobahnen. Heute verlangt nur noch die AfD ein solches „Betreuungsgeld“, Kinderbetreuung hält sie für überflüssig, die Frau gehört ins Haus.

Heute fordert nicht zuletzt die Wirtschaft mehr und verlässliche Kinderbetreuung. Mit gutem Grund. Vielleicht lohnt sich ein Rückblick in die im Jahr 2011 im Auftrag der nordrhein-westfälischen Schulministerin Sylvia Löhrmann von der Firma Prognos erstellte bildungsökonomische Studie „Fiskalische Wirkungen des Ganztags in Nordrhein-Westfalen“. Die Studie belegt, dass sich die für den Ganztag ausgegebenen Finanzmittel mit der Zeit amortisieren und die Produktivität steigt, weil sich vor allem das Arbeitsverhalten von Frauen verändert, die bei verlässlicher Betreuung ihre Arbeitszeiten aufstocken oder überhaupt erst einmal eine Arbeit aufnehmen, im Übrigen auch mit Langzeitwirkungen auf eine auskömmliche Rente (die vor allem von der CSU propagierte Mütterrente ist dagegen nur ein Tropfen auf den heißen Stein). Darüber hinaus schafft Ganztagsbetreuung eine ganze Menge Arbeitsplätze. Sybille Stöbe-Blossey hat die Verknüpfungen des Ausbaus von Ganztagsbetreuung und einer aktivierenden Beschäftigungspolitik mehrfach differenziert dargestellt. Ein Vortrag vom 26. Oktober 2023 nennt beispielsweise die einzelnen Aspekte.

Das Prognos-Gutachten belegt allerdings auch, dass von den zusätzlichen Einnahmen dank Ganztag vor allem der Bundeshaushalt und die Sozialkassen profitieren, in geringem Maße auch die Landeshaushalte. Zahlen müssen die Kommunen. Bisherige Bundesprogramme lassen sich daher insgesamt als eher halbherzig charakterisieren. Pressestellen sprechen zwar gerne von einem „Schritt in die richtige Richtung“, sagen aber leider nie, wie das Ziel aussehen könnte und sollte. Wie die Kommunen mit steigenden Kinderzahlen, gerade im Hinblick auf die steigende Zuwanderung, nicht nur aus der Ukraine, in Kindertageseinrichtungen und Schulen umgehen, bleibt eine ungelöste Frage.    

Bund, Länder und Kommunen – ein Mexican Standoff

Die kommunale Infrastruktur ist eine grundlegende Herausforderung. Manches Problem ist hausgemacht. Zu erinnern wäre an Cross-Border-Leasing-Geschäfte der Vergangenheit, überflüssige und scheinbar prestigeträchtige Bauvorhaben wie bestausgestattete Stadthallen, Schwimmhallen in jedem Stadtteil und Müllverbrennungsanlagen. Sanierung wurde lange Jahre vernachlässigt, sodass sich der Sanierungsbedarf alleine von Schwimmbädern inzwischen auf über 8,5 Milliarden EUR aufsummiert hat. Das Bundesbauministerium hat im Jahr 2023 400 Millionen EUR für diesen Zweck bereitgestellt (im Jahr 2022 waren es 476 Millionen EUR). Immer schwieriger wird es für viele Kommunen, Eigenanteile zu erbringen, denn sie werden erheblich mit Sozialleistungen belastet, gerade auch im Zusammenhang mit Zuwanderung, sodass ihnen einfach die Spielräume fehlen, nachhaltig in ihre Infrastruktur zu investieren, die sie dann aber mangels Finanzmitteln entweder verkommen lassen oder erforderliche Bau- und Sanierungsvorhaben auf Eis legen.

Bund, Länder und Kommunen schieben sich gerne gegenseitig die Verantwortung zu. Während Bundesregierung und Landesregierung auf ihren Schuldenbremsen beharren, werden sie nicht müde, die Kommunen für ihr Beharren auf dem Konnexitätsprinzip zu kritisieren, das jedoch Bundestag und Landtage beschlossen haben und die Landesregierungen über ihre Kommunalaufsicht durchsetzen lassen. In dieser Konstellation erinnert das Aufeinanderzeigen von Bund, Ländern und Kommunen an eine Art Mexican Standoff.

Zur Infrastruktur gehören auch Bildungs- und Betreuungseinrichtungen, die so lange geöffnet sein sollten, dass Mütter und Väter gleichermaßen einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen können. Im Jahr 1996 wurde im Kontext einer Reform des Abtreibungsrechts ein Rechtsanspruch für die Betreuung von Kindern zwischen drei und sechs Jahren in einer Kindertageseinrichtung eingeführt, 2013 folgte der Rechtsanspruch auf die Betreuung von Kindern unter drei Jahren. Am Freitag vor der Bundestagswahl im September 2021 stimmte der Bundesrat dem vom Bundestag beschlossenen Ganztagsförderungsgesetz zu. Es soll jetzt ab 2026 schrittweise ein Rechtsanspruch auf die Betreuung von Kindern im Grundschulalter bis zur vierten Klasse eingeführt werden. Dass Eltern auch für vielleicht zehn- bis zwölfjährige Kinder eine Betreuung bräuchten, wurde bisher nicht bedacht, auch nicht, dass Ganztagsprogramme manchen Teenagern Bildungserlebnisse eröffnen könnten, die sie in der Familie oder in ihrer Gemeinde nicht finden. Die Länder sind jetzt gehalten, Ausführungsgesetze zu schaffen, doch verzögert sich dieser Prozess erheblich, vor allem in den westdeutschen Flächenländern. Die ostdeutschen Bundesländer haben ihre bekannten Hortstrukturen, die Stadtstaaten haben ordentlich ausgebaute Systeme. Hamburg dürfte den Spitzenplatz verdienen.

Aber Vorsicht: Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Es ist alles Obst, aber es gibt entscheidende Unterschiede. Der Rechtsanspruch auf eine Kinderbetreuung von Kindern unter sechs Jahren bezieht sich in der Regel auf den Vormittag, nicht mehr und nicht weniger. Der Rechtsanspruch auf eine Betreuung von Grundschulkindern bis zur vierten Klasse bezieht sich auf insgesamt acht Stunden täglich, Unterricht einschließlich. Hinweise aus Wohlfahrts- und Wirtschaftsverbänden, dass eine verlässliche Ganztagsbetreuung bis zu zehn Stunden täglich erforderlich wäre, damit Eltern sorglos einer Ganztagsbeschäftigung nachgehen könnten, verhallten ungehört. Und ob die Arbeitszeiten der Eltern zu den in der Regel zwischen acht Uhr morgens und 16 Uhr nachmittags anberaumten Betreuungszeiten passen, ist eine weitere offene Frage.

Quantität vor Qualität?

Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (§ 72 SGB VIII) enthält ein Fachkräftegebot. Dies müsste in Kindertageseinrichtungen wie in Ganztagsgrundschulen umgesetzt werden. Inzwischen wissen jedoch alle, die in irgendeiner Art für Bildung und Betreuung von Kindern politisch verantwortlich zeichnen, dass es einen enormen Fachkräftemangel gibt, der sich auch in den nächsten Jahren nicht auflösen wird. Die Kinderbetreuung – übrigens auch der Unterricht von Kindern in der Schule – wird in einem hohen Maße von Menschen übernommen werden (müssen), die keine grundständige pädagogische Ausbildung haben. Es käme niemand auf die Idee, einen Mangel an Richter:innen oder Staatsanwält:innen durch Personen ohne juristische Ausbildung, einen Mangel an Ärzt:innen durch Personen ohne medizinische Ausbildung, einen Mangel an Polizist:innen durch Bürgerwehren zu kompensieren. Aber Bildung und Betreuung – das können doch offenbar wohl alle. Der Vollständigkeit halber: Bei Pflegeberufen gibt es ähnliche Annahmen. Hinzu kommt, dass gut ausgebildete Menschen, die in den Schulen oder in den Kindertageseinrichtungen (oder in der Pflege) tätig sind, sich inzwischen immer öfter eine andere Beschäftigung suchen, aus welchen Gründen auch immer. Bezahlung (vor allem bei Erzieher:innen und Pflegekräften) und Arbeitsbedingungen (dies auch bei Lehrer:innen) sind offenbar nicht attraktiv genug.

Studien wie die Bundesstudie StEG oder die Bildungsberichterstattung Ganztag in Nordrhein-Westfalen (beide leider inzwischen eingestellt) belegen, dass eine professionell organisierte und kontinuierlich angelegte Kinderbetreuung präventiv wirkt. Ich könnte weitere Studien benennen, denn mit dem Ausbau des Ganztags für Schulkinder in den 2000er Jahren entstand in den Hochschulen ein Boom von Studien, die mehr oder weniger alle zum guten Ergebnis kamen: Kinder entwickeln soziale Kompetenzen, schließen Freundschaften mit Kindern, die sie sonst nicht kennenlernen würden. Möglich werden Förderprogramme, die – in den Ganztagsschulen – Hausaufgaben überflüssig machen, in der Kindertageseinrichtung helfen, die deutsche Sprache leichter zu lernen. Aber leider nicht immer, denn letztlich hängt die Qualität der Ganztagsbetreuung, die – nach einem Begriff von Hans-Uwe Otto sel. A. und Thomas Coelen – als „Ganztagsbildung“ konzipiert werden könnte und sollte, angesichts des unzureichenden finanziellen Engagements von Bund und Ländern, von der Postleitzahl ab. Die Frage „gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ist nicht nur eine Frage zwischen West und Ost, sondern auch zwischen reichen und armen Städten und Gemeinden, oft sogar eine Frage zwischen ärmeren und reicheren Stadtteilen.

Vielleicht wäre es auch eine gute Idee, in Ganztagsgrundschulen am Nachmittag mehr Leseförderung zu ermöglichen, beispielsweise über eine Schulbibliothek, in der Kinder Bücher entdecken könnten, die sie sonst nicht kennenlernten. Theaterbesuche, eine Theatergruppe, Gruppen- und Klassenorchester, all dies wäre möglich. Zumindest in der Theorie und dort, wo die Einrichtungen kompetent geleitet und von den jeweiligen Kommunen verlässlich unterstützt werden. Es gibt dies alles. In Schulen kommt die verlässliche Zusammenarbeit von Lehrkräften und sozialpädagogischen Fachkräften hinzu. Einen ausgezeichneten curricularen Rahmen bieten die nordrhein-westfälischen Bildungsgrundsätze von 0 bis 10. Diese umfassen im Grunde alle Lebensbereiche. Und sie enthalten Hinweise zur Kinderbeteiligung! Auch dafür gibt es im Ganztag hervorragende Modelle. Das haben diejenigen, die die Lehrpläne der Grundschulen schreiben, zwar noch nicht gemerkt, aber wer weiß, der Tag wird vielleicht kommen. Einige Wohlfahrtsverbände, beispielsweise die Diakonie, haben einen eigenen Qualitätsrahmen entwickelt, das Institut für Soziale Arbeit in Münster das Qualitätsentwicklungsinstrument QUIGS. Inhaltlich ist Nordrhein-Westfalen durchaus Vorbild, in der Umsetzung leider nicht (mehr).

Einige Studien widmeten sich der vor allem von PISA-hörigen Politiker:innen gepflegten Frage, wie sich die Schulnoten im Ganztag betreuter Kinder entwickeln. Signifikante Ergebnisse gibt es zu dieser Frage nicht. Dies liegt allerdings auch daran, dass es zu viele Faktoren gibt, die sich auf Schulnoten und Schulleistungen auswirken und in ihren Wirkungen nicht im Einzelnen ausdifferenzieren lassen. Der Ganztag ist eben auch nur einer von vielen Faktoren. Aber immerhin gibt es Hinweise, dass eine gute Ganztagsbetreuung die Übergangsquoten zu Gymnasien nach der vierten Klasse erhöht. Kurz: Vieles wäre möglich, manches geschieht, es kann jedoch keine Rede davon sein, dass dies flächendeckend so erkannt und umgesetzt wird. Denn dazu sind die Rahmenbedingungen des Ganztags in Schule und Kindertageseinrichtungen zu labil.

Fachkräfte – gesucht und unauffindbar

Manche Kommunen helfen sich angesichts des Fachkräftemangels, indem sie Betreuungszeiten reduzieren. Boris Palmer ging in Tübingen voran und kommunizierte diese Notwendigkeit öffentlich. Das war ehrlich, aber eine Lösung konnte auch er nicht anbieten, zumal die baden-württembergische Landesregierung keine Anstalten macht, die Personalausstattung und die Arbeitsbedingungen in KiTas und Schulen zu verbessern. Die Beschäftigten, die in einer KiTa oder einer Ganztagsschule ganztägig arbeiten wollen, brauchen oft einen Zweitjob. Dies ist eine der Paradoxien der Ganztagsentwicklung. Für die Kinder gilt der Ganztag, das Personal arbeitet oft genug in Teilzeit und angesichts der ohnehin schlechten Bezahlung entweder in prekären Arbeitsverhältnissen oder mit einem Zweitjob.

Nun ja, sagen viele, sicherlich guten Glaubens, die Kassen sind leer (siehe oben), und helfen sich mit der Ansage, man müsse erst einmal die Quantitäten einer flächendeckenden Kinderbetreuung schaffen, bevor man sich um die Qualität kümmern könne. Das hat man vor 20 Jahren auch schon gesagt, aber die Qualität, die man für die Zukunft versprach, kam nie. Es gab zwar im pressetauglichen Giffey-Jargon ein „Gute-KiTa-Gesetz“, der Bund ließ sich jedoch von den Ländern abhandeln, dass damit auch Beitragsfreiheit geschaffen werden könne, mit dem Ergebnis, dass Wahlgeschenke an bestverdienende Familien möglich wurden, das Gesetz sich – wen wundert es – jedoch nicht in der Qualität der Angebote auswirkte.

Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) hat vor etwa fünf Jahren errechnet, dass man für einen Ganztagsplatz in der Grundschule zusätzlich etwa 4.000 EUR pro Platz bräuchte, für zusätzliches Lehrpersonal, für sozialpädagogisches Personal und für Ergänzungskräfte, beispielsweise für Sport und Kultur, für die Gestaltung von Ausflügen, die Nutzung außerschulischer Lernorte. Andere Berechnungen kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Personal zur Umsetzung der Inklusion ist darin noch nicht eingerechnet. Die nordrhein-westfälischen Grünen haben die vom DJI errechnete Zahl in ihr Wahlprogramm für die Landtagwahl 2022 hineingeschrieben, es gibt Hinweise aus informierten Kreisen, dass in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU diese Zahl auch vereinbart worden sei. Inzwischen dürfte der Bedarf angesichts Inflation und Tarifabschlüssen auf etwa 5.000 EUR gestiegen sein. Zumindest gehen die Wohlfahrtsverbände von einem solchen Anstieg aus.

Geschehen ist bisher nichts und es sieht auch nicht danach aus, dass etwas geschieht. Es hat alles etwa den Anschein des Mannes, der in einer Heinrich-Böll-Geschichte am Telefon immer den Satz sagen muss: „Es muss etwas geschehen.“ Es war beispielsweise in Nordrhein-Westfalen nicht einmal möglich, dass für die Beschäftigten im Nachmittagsbereich der Grundschulen, in der offenen Ganztagsgrundschule (OGS), eine Art Inflationsausgleich gezahlt wurde. Für die Beschäftigten in Kindertageseinrichtungen gab es einen solchen Ausgleich in Höhe von zehn Prozent, in der OGS blieb es bei den ohnehin jährlich vorgeschriebenen drei Prozent für Tarifsteigerungen.

Nun könnte der Bund vielleicht helfen (die nach wie vor unsinnige Kompetenzverteilung im Bildungsbereich wäre eine weitere Frage, ist aber nicht Gegenstand dieses Essays). Ein großer Erfolg war das in den Jahren 2003 bis 2009 laufende Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB). Das Bundesprogramm umfasste immerhin vier Milliarden EUR. Einige Länder, beispielsweise Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, nutzten es sehr produktiv, um die Infrastruktur für die Ganztagsbetreuung in den Grundschulen zu verbessern. Andere Länder, beispielsweise Niedersachsen und Baden-Württemberg, kassierten das Geld, sorgten aber nicht für zusätzliches Personal. Dies überließen sie den Schulen. Erst einige Jahre später kam Baden-Württemberg auf die Idee, den Ganztag mit zusätzlichem Ehrenamt zu gestalten (sie nannten das „Jugendbegleitung“). Das Programm wurde mit der Zeit modifiziert, weil sich der ursprüngliche Zweck so nicht erreichen ließ. Auch für die Umsetzung des Rechtsanspruchs hat der Bund zwei Milliarden EUR bereitgestellt, und – das ist neu – er will auch einen bescheidenen Anteil zu den Betriebs- und Personalkosten beitragen. Ob dieser Anteil mehr als ein Tropfen auf den berüchtigten heißen Stein ist, bleibt abzuwarten. Viel hängt davon ab, ob die Länder sich über diesen Anteil refinanzieren oder ob sie auch ihre Beiträge für die Finanzierung des Personals erhöhen.

In Nordrhein-Westfalen und in Hamburg gibt es für die Ganztagsbetreuung in den Grundschulen ein Trägermodell. Die Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe – so steht es in dem einschlägigen nordrhein-westfälischen Erlass – ist eine „zentrale Grundlage“ (ein Verdienst des damaligen Abteilungsleiters Klaus Schäfer). Die Schule und ein Träger der freien Jugendhilfe arbeiten auf der Grundlage von Kooperationsverträgen zusammen. Eine Chance, diese Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule weiterzuentwickeln böte das vom Bundesbildungsministerium aufgelegte „Startchancenprogramm“ mit 20 Milliarden EUR über zehn Jahre für sozialpädagogische Fachkräfte in sogenannten „Brennpunktschulen“ über. Dieses Programm ließe sich gut mit der Förderung von Ganztagsprogrammen koppeln, beispielsweise über Familiengrundschulzentren, die in den offenen Ganztagsgrundschulen eine Fülle psychosozialer Beratungsbedarfe auffangen könnten. Leider scheint dies nicht zu funktionieren (in anderen Ländern im Übrigen auch nicht). Ein Gedanke der Vorgängerministerin im nordrhein-westfälischen Schulressort, Yvonne Gebauer (FDP), das zu ihrer Zeit schon angekündigte Programm nach dem Muster der flächendeckend eingeführten Familienzentren in den Kindertageseinrichtungen, über Familiengrundschulzentren umzusetzen, ist offenbar den aktuellen Hausleitungen in Schul- und Jugendministerium (einmal CDU, einmal Grüne) unvertraut. Stattdessen pflegen die beiden Ministerien zwei konkurrierende Programme der Familiengrundschulzentren. Im Schulministerium ressortieren immerhin OGS und Familiengrundschulzentren in einem Referat, allerdings ist für das Startchancenprogramm eine andere Abteilung zuständig.

In den 16 Bundesländern, bei den westdeutschen Flächenländern auch innerhalb der Länder, ist ein erschreckender Flickenteppich entstanden. Es gibt Länder und Kommunen, in denen für die Betreuung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und Schule kein Elternbeitrag gezahlt werden muss, es gibt andere, in denen dies der Fall ist, allerdings mit unterschiedlicher Höhe. Es gibt Einrichtungen mit Fachpersonal, andere, in denen es kein Fachpersonal gibt.

Dennoch wird immer wieder von den Ministerien betont, Kinder bräuchten bessere Bildung. Nicht ohne Grund, zumal es inzwischen – offenbar nicht nur pandemiebedingt – Kinder in den fünften Klassen sogar von Gymnasien kaum wissen, wie man einen Stift hält. Die Zahl der Kinder, die am Ende der Grundschulzeit weder richtig lesen noch schreiben können, ist erschreckend hoch, sie liegt im Durchschnitt bei etwa 25 Prozent, womit deutlich ist, dass es Stadtteile gibt, in denen diese Zahl erheblich höher liegt. Auch dies ist ein Faktor, der die Arbeitszufriedenheit der dort tätigen Lehr- und Fachkräfte beeinträchtigen dürfte. Inzwischen gibt es angesichts der unzureichenden Finanzierung Jugendhilfeträger, die die Ganztagsbetreuung von Schulkindern aufgeben und sich nur noch auf die Betreuung von Kindern unter sechs Jahren konzentrieren.

Der Fachkräftemangel in Ländern und Kommunen ist ein Fachkräftemangel mit Ansage. Die Bertelsmann-Stiftung wird nicht müde, jedes Jahr den Fachkräftemangel in Kita und Grundschule zu beziffern. Geschehen ist – ich wiederhole mich – in den vergangenen zwanzig Jahren nichts. Aufwendige Werbekampagnen oder martialisch geframte „Fachkräfteoffensiven“ erweisen sich als wirkungslos, zumal sie oft ein Bild der pädagogischen Berufe vermitteln, das nicht den Realitäten entspricht. Die Zahl der Studien- und Ausbildungsplätze wurde nicht erhöht, nach wie vor gibt es zu wenige Standorte, beispielsweise für zukünftige Lehrkräfte in Förderschulen. Letztlich ist eine immer weiter um sich greifende Entprofessionalisierung pädagogischer Berufe zu befürchten. Und wenn die Qualität sinkt, sinkt auch die Motivation von Eltern, ihre Kinder zur Ganztagsbetreuung anzumelden. Manche Frauen übernehmen die Betreuung ihrer Kinder dann wieder selbst (übrigens auch eine Variante von Long-COVID, Jutta Allmendinger wies darauf bereits zu Beginn der Lockdowns hin). Zu Lasten ihrer Berufstätigkeit. Sie fehlen dann in anderen Berufen, manche davon auch eben in den pädagogischen Berufen. Zur Erinnerung: all dies konstituiert die „reale Basis“, von der Marx und Engels sprachen.

Privatisierung und Klassismus

Tragfähige Lösungen hat die Politik keine, vielleicht will sie auch keine und manche glauben immer noch geradezu magisch an das Konrad Adenauer zugeschriebene Diktum: „Kinder bekommen die Leute immer. Erhöhung des Kindergeldes – das muss doch motivieren, Kinder in die Welt zu setzen! Wer das wirklich glaubt, leidet unter heftigem Realitätsverlust. Feststellbar ist jedoch eine erhebliche Privatisierung der Verantwortung für Bildung und Betreuung. Dazu gehören ein Trend vor allem vermögender Familien, ihre Kinder in Privatschulen anzumelden, sowie ein Boom der Nachhilfeinstitute, die aber auch wiederum nur diejenigen in Anspruch nehmen können, die es sich leisten können.

Die Eltern, deren Kinder ohne Probleme studieren können, hatten immer schon unter dem heuchlerischen Siegel sozialer Gerechtigkeit die Möglichkeit, selbst geringste Studiengebühren zu verhindern. Sie sprachen von armen Kindern, meinten aber in der Regel die eigenen wohlsituierten Kinder. Betreuung von kleinen Kindern, Schulkindern und Teenagern ist für Eltern jedoch ausgesprochen teuer und kann sich auf mehrere 100 EUR im Monat pro Kind belaufen. Und die Freizeit? Christoph Butterwegge verweist mit Recht darauf, dass es früher preiswert war, mit den Kindern in ein Hallenbad zu gehen, diese jedoch inzwischen oft geschlossen sind, dafür die Eintrittspreise in kommerziellen Spaßbädern für Familien mit geringen Einkommen nicht mehr finanzierbar sind: „Die Gesellschaft hat die Kindheit privatisiert und kommerzialisiert.“

Uta Meyer-Gräwe referierte in der Aprilausgabe 2024 der Blätter für deutsche und internationale Politik in ihrem Essay „Kitas in der Krise, Wirtschaft in Gefahr“ den „Aufschrei von 30 Dax-Vorständen, CEOPs und Personalverantwortlichen, die ihr Geschäftsmodell durch den Mangel an Betreuungsplätzen in Kitas und Schulen akut bedroht sehen.“ Sie stellte zwei Fragen und beantwortete sie gleich selbst: „Doch hat sich diese sehenden Auges zuspitzende Care-Katastrophe von der Wiege zur Bahre in den Verhandlungen um den Bundeshaushalt 2024 auch nur in einem einzigen Redebeitrag im Deutschen Bundestag eine Rolle gespielt? Nein. Gibt es eine Task Force im Bundeskanzleramt, die sich dieses Dramas annimmt? Nein.“

Das hat strukturelle Ursachen. Wenn die FDP in ihrer bedrohlichen Umfrage-Lage und die CDU/CSU in ihrer gemütlichen Oppositionsrolle sich vehement gegen eine Aufweichung der sogenannten „Schuldenbremse“ äußern, verfehlen sie ebenso wie Bundesregierung und Landesregierungen ihren Auftrag. Care-Berufe, Bildungsberufe, pädagogische Berufe zählen einfach nicht als wirtschaftsrelevant. Die Beschäftigten haben auch weder Traktoren noch Lokomotiven. Uta Meyer-Gräwe: „Einmal mehr zeigt sich, wie fatal es ist, wenn lediglich die Produktion von Maschinen, Autos und Rüstungsgütern als Investitionen betrachtet werden, wohingegen Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsausgaben als Konsumausgaben gelten, die vor allem in Krisenzeiten unter Finanzierungsvorbehalt gestellt werden.“

Angesichts der heiligen „Schuldenbremse“ steht inzwischen mehr oder weniger alles unter Vorbehalt, sodass sich die Frage stellt, ob und wie der Staat überhaupt noch in irgendeiner Form Einfluss auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung nehmen will. Wer sich mit Steuersparmodellen und schwer nachweisbarer Steuerhinterziehung – von Cum-Ex bis hin zur Verlagerung auf Auslandskonten in Luxemburg oder auf irgendwelche Inselstaaten – zu helfen weiß, profitiert und inszeniert sich als „Leistungsträger“. Hedge-Fonds-Manager ist ein attraktiver Berufswunsch, Erzieher:in oder Pfleger:in eher nicht. Wolfgang M. Schmitt hat diesen schon im Bildungssystem vermittelten Klassismus in seinen Besprechungen zu den Filmen „Fuck you Goethe“ und „Chantal im Märchenland“ treffend beschrieben.

Erlaubt ist schließlich die These, dass die Beteiligung von Menschen an Wahlen oder auch anderen Formen des öffentlichen Lebens sinkt, je prekärer die Arbeitsverhältnisse und Einkommen sind. Dies belegen die niedrigen Wahlbeteiligungen in entsprechenden Stadtteilen, in denen oft genug auch viele migrantische Familien (die meisten mit deutscher Staatsangehörigkeit!) zu Hause sind. Es sinkt einfach die Zuversicht, dass man es schaffen könne. Ausnahmen bestätigen die Regel, insbesondere dann, wenn es sich ungeachtet der prekären Finanzlage um gebildete Eltern handelt. Sehr lesenswert zu diesem Thema sind die Bücher von Undine Zimmer „Nicht von schlechten Eltern – Meine Hartz-IV-Familie“ (Frankfurt am Main, Fischer, 2013) und Christian Baron „Ein Mann seiner Klasse“ (Berlin, Claassen, 2020).

Die Faulen und die Fleißigen

Aladin El-Mafaalani vertrat in einem Gespräch mit Leila Al-Serori, das die Süddeutsche Zeitung am 29. März 2024 veröffentlichte, die These, dass eine höhere Erwerbsbeteiligung von Müttern den Fachkräftemangel in manchen Bereichen erheblich lindern könnte. Vorschläge, den Fachkräftemangel vorwiegend mit mehr Zuwanderung zu lösen oder einfach darauf zu setzen, dass die Geburtenrate stiege, hülfen nicht. Würden mehr Kinder geboren, verschärfe sich natürlich auch die Belastung von Kindertageseinrichtungen und Schulen. Abgesehen davon sind die neugeborenen Kinder nicht so schnell auf dem Arbeitsmarkt zu finden wie sich das manche Politiker:innen in ihrem grenzenlosen Optimismus erhoffen. „Wir hätten noch weniger Menschen auf dem Arbeitsmarkt, weil neben vielen Rentnern auch viele Kinder versorgt werden müssten. Vor allem Mütter würden ausfallen, der Fachkräftemangel sich massiv verschärfen. Frauen arbeiten vermehrt in der Pflege, in Kitas und Schulen – man kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn noch mehr Fachkräfte ausfallen und gleichzeitig mehr gebraucht werden, denn wir bräuchten dann ja mehr Kita- und Schulplätze. Dazu würden die Folgen für den Wohnraum kommen, der jetzt schon knapp ist. Wir sind also in einer enorm schwierigen demografischen Phase.“

Wenig hilfreich sind auch die üblichen Vorschläge, alle müssten eben mehr arbeiten, in der Regel von Politiker:innen vorgetragen, die sich selbst eigentlich nie groß um Kinderbetreuung und Altenpflege kümmern mussten. Der Bundesfinanzminister schwärmte zuletzt, man müsse mehr „Lust auf die Überstunde“ machen, ein Modell, das – wie Carla Neuhaus in der ZEIT vermerkt – sich nach wie vor am männlichen Vollzeitmodell orientiert. Die angestrebte Steuerfreiheit für Überstunden soll es natürlich nur für Vollzeitkräfte geben, damit diese nicht ihre Arbeitszeit reduzieren, um bisher steuerpflichtige Arbeitszeit in steuerfreie Überstunden zu verwandeln.

Julia Wertheim nennt all dies – ebenfalls in der ZEIT – „Eine ganz faule Geschichte“ – es ist wieder einmal der Versuch einer Spaltung der Gesellschaft in „Faule“ und „Fleißige“, anders gesagt ein Versuch der „Moralisierung“ der Debatte mit Schuldzuweisungen an Menschen, die gerne arbeiten wollen, aber nicht dürfen oder aufgrund der Rahmenbedingungen nicht arbeiten können, Kranke und Zugewanderte gehören dazu, aber auch viele Frauen, die Teilzeit nicht wählen, weil sie nicht mehr arbeiten wollten, sondern aus den Gründen der Doppelbelastung mit Familie und Beruf sowie der fehlenden öffentlichen Kinderbetreuung.

Besonders beliebt ist zurzeit die Anprangerung der angeblich fehlenden Bereitschaft der sogenannten „Generation Z“ zu arbeiten. Abgesehen davon, dass die Erhöhung von Arbeitszeiten auch die Forderung nach mehr Kinderbetreuung nach sich ziehen wird, die schon jetzt nicht gewährleistet werden kann, zeugt das Generation-Z-Bashing von einer unerträglichen Arroganz. Es ist mehr als berechtigt, wenn junge Menschen fordern, dass ihre Arbeitsplätze menschen- und familienfreundlich gestaltet werden, dass ihre Chef:innen sich nicht patriar- beziehungsweise matriarchalisch verhalten, sondern sie als Kolleg:innen akzeptieren und ihnen Gestaltungsspielräume ermöglichen. Niemand darf sich über mangelnde Bereitschaft zur Übernahme von Ehrenämtern beschweren, wenn freie Zeit ausschließlich von Arbeitszeit in Anspruch genommen wird. Die Betreuung von Kindern und Eltern beziehungsweise Großeltern – oft sogar gleichzeitig – kommt nun einmal für viele dazu. Das wissen junge Menschen, vor allem die jungen Frauen.

Klaus Hurrelmann hat sich im Gespräch mit Julia Bell am 23. April 2024 im Tagesspiegel (auch zuvor im Handelsblatt erschienen) zu diesem Thema geäußert. Heute haben junge Menschen eine hohe „Marktmacht“: Sie brauchen keine Traktoren, um ihre Interessen zu bekunden (abgesehen davon: Erzieher:innen und Altenpfleger:innen habe Traktoren und Lokomotiven nur im Spielzeugformat). „Sie wollen arbeiten und etwas erreichen, aber eben zu ihren Bedingungen. Ich rate Unternehmen übrigens auch dazu, sich klarzumachen: Nur weil jemand im Einstellungsprozess bestimmte Forderungen stellt, heißt das nicht, dass er oder sie sich später nicht auf Kompromisse einlassen wird.“ Klaus Hurrelmann ist optimistisch: „Die Forderungen der Gen Z werden ein besseres Arbeitsklima für alle zur Folge haben. Und wenn ihre Ansprüche erst mal umgesetzt sind, dann ist diese Generation auch bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sobald die Gen Z erst mal richtig ernst genommen wird, werden alle anderen von ihr profitieren, etwa von ihrer digitalen Intuition. Bis dahin müssen Arbeitgeber aber stark sein.“

Nicht nur am Rande: Erinnert sich noch jemand an die Aufdeckung der skandalösen Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie während der Corona-Pandemie? Und was hat sich im Pflegesektor verändert? Dazu lohnt sich vielleicht ein Blick in frühere Beiträge im Demokratischen Salon: „Der Kapitalismus und die Pandemie“ mit einer Vorstellung von Büchern von Christoph Butterwegge und Michael Klundt sowie „Who Cares?“ über eine (autobiographisch inspirierte) Dokumentation von Frédéric Valin zum Pflegebereich. Was sich in der Pandemie zeigte, gilt nach wie vor. Das Image sozialer Berufe leidet angesichts der fehlenden Bereitschaft zu nachhaltigen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen erheblich. Nach wie vor.

Es gäbe auch noch eine weitergehende Lösung, Engpässe in der Kinderbetreuung und Arbeitsbedingungen aneinander anzupassen. In einem von David Gutensohn protokollierten Gastbeitrag für die ZEIT bekennt Carsten Maschmeyer, der sich bisher nicht gerade als profilierter Sozialpolitiker ausgewiesen hat: „Ich als Investor fürchte mich nicht vor der Viertagewoche“. Das starre Beharren auf der Fünftagewoche und der Glaube, dass Produktivität mit Überstunden steige, sei einfach falsch. Eine Viertagewoche mit 32 Stunden reduziere die Fehleranfälligkeit in Randstunden (nicht nur am Montagmorgen, auch am Freitagnachmittag oder am späten Nachmittag), reduziere überflüssige Meetings, verringere die Zahl von Burn-Out-Fällen, mache Arbeit attraktiver: „Unternehmen sollten nach Leistung und nicht nach Anwesenheit bezahlen.“ Das gerade begonnene bundesweite Pilotprojekt mit 50 größeren wie kleineren Unternehmen sei ein Schritt in die richtige Richtung. Wer in Zukunft noch erwartet, dass alle Angestellten an fünf Tagen arbeiten und dazu am besten nur noch in Präsenz und nicht im Homeoffice, wird erst den Wettbewerb um die Talente und dann den um alle anderen Fachkräfte verlieren. Ich als Chef eines Unternehmens kann mit meiner Verantwortung vielleicht nicht nur an vier Tagen in der Woche arbeiten, aber fast alle anderen können das.“ Gute Ergebnisse hat wohl auch der Feldversuch mit 61 Unternehmen in Großbritannien. Es habe unter anderem weniger Fehlstunden gegeben. 56 Unternehmen wollen die Viertagewoche beibehalten.

Kurz: Es geht um auskömmliche Bezahlung sozialpädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen, Ganztagsschulen und Pflege, familienfreundliche Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, eine gut ausgestattete und qualitativ anspruchsvolle Kinderbetreuung, alles finanzierbar mit dem Geld, das der Staat bisher an diejenigen verschwendet, die es gar nicht brauchen, während diejenigen, die es dringend bräuchten, sich noch beschimpfen lassen müssen, sie wären nicht fleißig genug. Neoliberalismus und Klassismus sind ein wirkmächtiges Paar. Sie sind die „reale Basis“ einer scheiternden und illusionären Kinderpolitik.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2024, Internetzugriffe zuletzt am 6. Mai 2024, Titelbild: © Stiftung SPI / Thomas Richert.)