Rechtsgedreht

Die autoritäre Versuchung des Konservatismus

„Die eklektische und fließende Natur der faschistischen Ideologie hat zu ihrer Langlebigkeit als politischer Bewegung beigetragen und damit den Faschismus ermöglicht, genau das zu sein, was seine Befürworter momentan benötigen: die Beschönigung faschistischer Gewalt, während die Zahl seiner rechtsextremistischen Anhänger weltweit wächst. Je mehr der Autoritarismus in allen möglichen Ländern Fuß fasst und viele sich fragen, ob der Faschismus in anderer Form zurückkehrt, sollte man sich daran erinnern, was Faschismus bedeutet: Massenmord.“ (Ruth Ben-Ghiat, Faschismus, in: David Ranan, Sprachgewalt, Bonn, Dietz Verlag, 2022)

In den 2010er und 2020 Jahren haben autoritäre Regime Konjunktur. Dazu gehören Victor Orbáns „Illiberale Demokratie“, die Versuche der polnischen Regierungspartei PiS, die Praxis der türkischen Regierungen unter Recep Tayyip Erdoğan. Nicht jeder „Autoritarismus“ muss faschistisch sein, aber jeder „Autoritarismus“ spielt mit Elementen der zitierten Faschismus-Elemente, nicht zuletzt mit dem Ziel, nicht den Gegner, sondern die eigenen Reihen zu beeindrucken, aber letztlich auch mit dem Ziel, all diejenigen auszuschließen, die eine andere Vision der Gesellschaft vertreten. Wie weit autoritäre Politiker*innen bereit sind, ihre Ausschlussfantasien in die Tat umzusetzen und mit welchen Mitteln, das sind vielleicht die entscheidenden Fragen.

Der eigentliche Gegner der liberalen Demokratie: Autoritarismus

In Ungarn und Polen bleibt es (zumindest zunächst) beim Ausschluss von bestimmten Positionen, in der Türkei oder in Russland werden Andersdenkende inhaftiert. Allerdings ist in all diesen autoritären Regimen ein wesentlicher Unterschied zu beachten: totalitäre Träume dürften die politischen Fantasien von Orbán, Kaczyńsky, Erdoğan und anderen beflügeln, in Russland werden sie umgesetzt, auch wenn der dortige Totalitarismus möglicherweise in erster Linie durch die staatlich verursachte Lethargie weiter Teile der Bevölkerung bedingt sein dürfte. Der von Umberto Eco in „Der ewige Faschismus“ (deutsche Neuauflage 2020 bei Hanser) angesprochene „Newspeak“ herrscht jedoch überall. Es geht nicht nur um die Frage, ob man einen „Krieg“ auch „Krieg“ nennt. Wer die Rechte von Frauen mit diffusen Verweisen auf die „Natur“ bedenkt oder vor Krieg und Armut Flüchtende als „Invasoren“, tut nichts anderes. Nach wie vor ist Umberto Ecos Warnung höchst aktuell. Wo erscheinen Faschist*innen im bürgerlichen Gewand? Ruth Ben-Ghiat sieht die Gefahr des Faschismus ähnlich wie Zeev Sternhell in „Faschistische Ideologie“ (1976, Neuauflage im Berliner Verbrecher Verlag 2019) und Umberto Eco gerade in der Fluidität seiner Erscheinungsformen.

Der eigentliche Gegner einer liberalen Demokratie heißt „Autoritarismus“. Dies klingt durchaus an, wenn Giorgia Melonis Fratelli d’Italia als „Postfaschisten“ bezeichnet werden, mit Betonung auf „post“. Aber für was stehen Giorgia Meloni oder Marine Le Pen eigentlich? Für was – so ließe sich ergänzen – steht ein Herbert Kickl? Unterscheiden sich die Politik von Giorgia Meloni oder Marine Le Pen, die Thea Dorn in der ZEIT im September 2022 als Politik der „Löwenmüttern“ charakterisierte, von der Politik von Parteiführern der PiS in Polen, der FIDESZ in Ungarn, der FPÖ in Österreich und der AKP in der Türkei? Und wo steht die deutsche AfD? Timothy Garton Ash kommentierte die Ergebnisse der italienischen Wahl am 2. Oktober 2022 im Tagesspiegel: „Die italienische Demokratie ist heute weniger gefährdet als die US-amerikanische.“ Seine Analyse der Politik Giorgia Melonis: „Die Ideologie von Giorgia Meloni mag reaktionär und nationalistisch sein, aber sie hat wenig oder gar nichts von der Verherrlichung kriegerischer Gewalt und heroischer Opfer zu tun, die für den Faschismus charakteristisch ist, ganz zu schweigen von der tatsächlichen Gewalt im In- und Ausland.“

Die Praxis der italienischen Ministerpräsidentin scheint Timothy Garton Ash Recht zu geben, nicht zuletzt in ihrer europa-, NATO- und ukrainefreundlichen Außenpolitik, in der sich auch Teile ihrer Innenpolitik orientieren. Selbst der Brachialkurs aus der Zeit des damaligen Innenministers in der Migrationspolitik hatte ein Ende. Matteo Salvini wurde auf ein mehr oder weniger nebensächliches Ressort abgeschoben. Melonis Avancen an die Europäische Volkspartei ergänzen das Bild und so mancher konservative Politiker wie beispielsweise Manfred Weber von der CSU, der nach wie vor darunter leidet, dass nicht er, sondern Ursula von der Leyen Chefin der EU-Kommission wurde, scheint sich mit einer engeren Zusammenarbeit anfreunden zu können. Aber „Faschistin“? Wegbereiterin einer faschistischen Renaissance in Italien?

Das, was Demokratie in den meisten europäischen Staaten wirklich gefährdet, ist eine Spielart des „Autoritarismus“, die sich auf allerlei national konnotierte historische Vergangenheiten berufen mag, aber letztlich nichts anders plant, als sich den Staat als Beute zu sichern und dafür zu sorgen, dass niemand mehr in der Lage ist, die eroberte Beute streitig zu machen. Wem gehört der Staat? Darauf antwortet Viktor Orbàn regelmäßig: ihm und seiner Partei, denn diese hat nun einmal die Mehrheit im Parlament. Wie diese zustande kam spielt keine Rolle. Auch Gerichte und Medien wurden nach Mehrheitswillen auf Linie gebracht. So sehr unterscheidet sich Orbáns Argumentation nicht von der des Recep Tayyip Erdoğan, der nach seiner Wahl am 28. Mai 2023 dieselbe klare Antwort gab: der Staat gehört ihm, eine Trennung zwischen seiner Partei und den Staatsorganen ist im Grunde nicht mehr möglich. Es kommt nicht von ungefähr, dass Viktor Orbán allen autoritären Kräften in Europa als Vorbild dient. Dies hat sich auch nach dem 24. Februar 2022 nicht geändert. Lediglich sein prorussischer Kurs isolierte ihn. Seine Idee einer „illiberalen Demokratie“ steht nach wie vor bei autoritär gesinnten Parteien hoch im Kurs, nicht zuletzt in Polen.

Die Identifikation des Staates mit einer Partei bestimmt das politische Klima in Polen. Grzegorz Makowski beschreibt dies in seiner Analyse vom 16. Mai 2023 mit dem Titel „Der Staat unter der Regierung von Recht und Gerechtigkeit – ein Staat des Zentralismus, Etatismus und der ‚grand (sic!) corruption‘“. Die Strategie der führenden Regierungspartei: Abbau der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung, Konzentration der Medien und ihre Nutzung zur Propaganda der Partei, Zentralisierung der Zivilgesellschaft, parteipolitische Besetzung der Führungspositionen in Behörden, Wirtschaft und Justiz: „Dieser Staat konzentriert auf der einen Seite immer mehr Kompetenzen und Ressourcen in den Händen der Exekutive. Es ist ein Staat, der immer stärker in die Wirtschaft und andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens eingreift, die in einer gesunden Demokratie autonom sein sollten, wie etwa das zivilgesellschaftliche Handeln. Gleichzeitig ist es ein Staat, der Mechanismen schafft, mit denen er intransparent und unverantwortlich gegenüber seinen Bürgern handelt, indem er die Gleichgültigkeit seiner Funktionäre kaschiert und Korruption nicht ahndet – anstatt sich zu reformieren, seine wachsende Bedeutung mit Mechanismen der good governance auszustatten, ein Potential an Experten und Strategien aufzubauen und den öffentlichen Dienst zu stärken.“

In den Tagen, in denen ich diesen Essay schreibe, gehen Hunderttausende in Polen auf die Straße, um gegen ein neues Gesetz zu demonstrieren, das angeblich gegen den Einfluss Russlands gerichtet wäre, in Wirklichkeit jedoch Tür und Tor zur Disziplinierung der Opposition öffnet. Piotr Buras schrieb in einem Gastkommentar für ZEIT Online am 31. Mai 2023: „Die neue Kommission wird enorme Befugnisse haben: Sie wird zum Beispiel erklären können, dass eine bestimmte Person unter russischem Einfluss gegen die Interessen Polens gehandelt habe. Sie kann Strafen verhängen, etwa dass jemand eine öffentliche Funktion für bis zu zehn Jahre nicht mehr ausüben darf. Es gibt aber keine genaue Definition dessen, was ein solches kriminelles Verhalten darstellt. Die Kommission erhält somit uneingeschränkten Ermessensspielraum bei der Einstufung bestimmter Personen als russische Agenten – ohne die Möglichkeit, dass man gegen die Urteile Berufung einlegen kann.“ Geschaffen werden soll ein „Sondergericht“, über dessen Zusammensetzung und Praxis allein die Regierung bestimmt. Im Visier ist vor allem der führende Oppositionspolitiker Donald Tusk. Das Verfahren erinnert durchaus an ähnliche Verfahren in der Türkei, die beispielsweise dazu führten, dass der populäre Bürgermeister von Istanbul bei der letzten Wahl nicht gegen den Präsidenten antreten konnte, und dass andere Politiker*innen der Opposition gleich auf lange Jahre hinter Gitter gebracht wurden. Auch Haftstrafen sollen nach dem neuen polnischen Gesetz möglich sein. Piotr Buras: „Für Aktivisten der Zivilgesellschaft, für Denkfabriken oder Journalisten eine deutliche Warnung – und der Versuch, diejenigen zum Schweigen zu bringen, deren Meinung von der offiziellen Linie abweichen könnte.“

Die führende polnische Regierungspartei „Prawo i Sprawiedliwość“ (PiS) liegt in den Umfragen vor den Wahlen zum Sejm bei etwa 35 Prozent. Ob dies in der für den Herbst 2023 anstehenden Wahl zur Mehrheit reicht, bleibt abzuwarten. So sicher im Sattel wie Orbán in Ungarn sitzt die Nomenklatura in Polen (noch) nicht, in Ungarn hat die Opposition nach verschiedenen Veränderungen im Wahlverfahren kaum noch eine Chance, eine Wahl zu gewinnen. Das ist in Polen – und übrigens auch in der Türkei – anders. In Italien liegen ungarische oder polnische Zustände zumindest zurzeit fern jeder Realität. Selbst in Österreich, obwohl die dortige FPÖ deutlich anti-demokratischer auftritt als die vergleichbaren Parteien in Frankreich und Italien. Die FPÖ lässt sich auch am ehesten mit der deutschen AfD vergleichen, die sich zunehmend radikalisiert und in einigen Themenbereichen, nicht zuletzt Migration, Identitätspolitik und Klimaschutz mit relativ geringem Aufwand die anderen Parteien vor sich herzutreiben versteht. In Frankreich profitiert der Rassemblement National vom Starrsinn eines Präsidenten, der meint, eine Rentenreform durchsetzen zu können, von deren Unpopularität er vorher eigentlich hätte wissen müssen. Er hatte es ja schon einmal versucht und war gescheitert.

Umgeben von Feinden

Ähnliche Entwicklungen sieht Eva Illouz in Israel angesichts des Bündnisse Benjamin Netanjahus mit rechtsextremen Parteien. Ihr Buch „Undemokratische Emotionen“ (Berlin, edition suhrkamp, 2023) bezeichnet sie als „Fallstudie in der Hoffnung, dass sich seine Befunde entweder verallgemeinern oder zumindest mit denen anderer Länder vergleichen lassen.“ Ihre These: „Netanjahus begeisterte Zustimmung zu autoritären antisemitischen Machthabern ist Ausdruck eines tiefen Wandels der Identität des Staates von einem Repräsentanten des Volkes zu einem Staat, der sich durch Annexionen, die Verletzung des Völkerrechts, Ausgrenzung und Diskriminierung vergrößern will. Der Populismus, der in seinem Zentrum steht, ist kein Faschismus. Aber er ist die Präambel dazu.“

Für diese These hat Eva Illouz eine meines Erachtens einleuchtende Erklärung. Rechte Parteien profitieren von der „Wahrnehmung einer feindlichen Welt“, die aber auch nur „feindlich“ ist, weil sie es die gesamte Zeit und immer wieder behaupten, „eine Wahrnehmung, die zentral für Orbáns, Erdoğans oder Netanjahus politisches Verständnis der Nation ist. Alle diese Politiker beschreiben ihre Nation und sich selbst als Opfer und als stark und erzeugen damit zwei gegensätzliche Bilder desselben Gegenstands.“ Die „Opferrolle“ ist ihre „Ressource“, „Ressentiment“ ihre „Waffe“.

Eva Illouz definiert dieses „Ressentiment“: „Sein Haupteffekt besteht darin, dass die Enteigneten ihre Wunden wiederkäuen und nach Rache verlangen, statt sich zusammen mit anderen Gruppen auf eine Veränderung der herrschenden Zustände zu konzentrieren. Gruppen werden anfällig für eine Manipulation durch Führungsfiguren, die ein Interesse daran haben, ein historisches Unrecht in ein nicht wiedergutzumachendes zu verwandeln (…). Der Führer wird zu der Person, die die alten Wunden zu rächen verspricht, und damit zu einem Vater, einem Bruder, jemandem, der nicht nur zur Gruppe gehört, sondern sie auch beschützt.“

Die Feinde, vor denen beschützt werden soll und muss, sind nicht nur Gruppen, die sich außerhalb der eigenen unmittelbaren Identität definieren, beispielsweise in Polen Russ*innen und Deutsche, in Ungarn Geflüchtete, in beiden Ländern Muslim*innen und alle aus dem nahöstlichen Raum zuwandernden Menschen, in Israel Araber*innen, in der Türkei diejenigen, die keine Muslim*innen sind, Kurd*innen, Alevit*innen, auch Christ*innen, in einer nicht zu unterschätzenden Zahl von Ländern pauschal gesprochen die Menschen des sogenannten „Westens“. Feind*innen sind auch Angehörige der eigenen Volksgruppe, die dieses „Ressentiment“ nicht teilen und für Minderheitenrechte, Demokratie und Liberalismus eintreten. Eva Illouz: „Populistische Führer scheinen also viele Dinge gleichzeitig hinzubekommen: Sie spalten, stacheln auf und kreieren fiktive Feinde, die angeblich die Nation untergraben und warten dann mit dem Angebot einer Wiederherstellung der kollektiven Einheit auf, zu deren Auseinanderbrechen sie mit ihrem Nationalismus beigetragen haben.“ Angst regiert, es ist – so Eva Illouz unter Bezug auf Thomas Hobbes, „die Angst vor dem Tod und der Wunsch nach Bequemlichkeit“. Carl Schmitt lässt grüßen: Politik ist eine Sache zwischen Freund und Feind.

Nun gibt es erhebliche Unterschiede im Grad der Bedrohung in den genannten Ländern. Ängste in Israel haben angesichts der ständigen Angriffe palästinensischer Terrorgruppen einen realen Grund, rechtfertigen aber in keiner Weise den Abbau des Rechtsstaats in Israel, wie ihn die aktuelle Regierung zu betreiben versucht. In Polen und in Ungarn, auch in der Türkei sieht dies anders aus. Möglicherweise säße Erdoğan angesichts seiner Modernisierungsprogramme vor allem in den Provinzen fern der großen Städte sogar sicherer im Sattel, wenn er die zurzeit eingesperrten Oppositionellen gar nicht erst hätte einsperren lassen, möglicherweise gilt dies auch für die PiS in Polen mit ihren Sozialprogrammen, die auch ohne nationalistische und illiberale Gesetzgebung zur Demontage des Rechtsstaates Mehrheiten hätten finden können, vielleicht auch in Ungarn. Das ist alles spekulativ. Der Kern liegt jedoch in der Frage, warum autoritär-repressive und illiberale Politik weit rechts gewendeter Parteien Konservative und Mitte-Positionen zu gewinnen vermag.

Krawallig an die Macht?

Rechte Parteien haben kein Monopol auf ein solches Verhalten. Manch konservative Partei kopiert es. Liane Bednarz, nach eigener Aussage eine Konservative und Mitglied der CDU, sprach am 5. Juni 2023 in der ZEIT von „Krawallkonservatismus“: „Alles, was Krawallkonservativen nicht passt, gilt ihnen als ‚moralisch‘. Der Begriff wird verwendet bei Identitätsfragen, Migrationsthemen, Klima- und Umweltpolitik, den Grünen sowie Genderdebatten.“ Damit „übernehmen sie den von rechts kommenden Jargon des Moralbashings und werfen damit lustvoll um sich.“

Andreas Glas veröffentlichte am 9. Juni 2023 in der Süddeutschen Zeitung einen Essay zur Strategie der CSU und der Freien Wähler im aktuellen bayerischen Wahlkampf: „Vielleicht also flüchtet sich die CSU aus Ratlosigkeit in einen verbalen Wettbewerb mit der AfD, ohne sich das selbst einzugestehen. Bei der Migration achtet die CSU ja penibel auf ihre Wortwahl, aber geht es um das geplante Heizgesetz (‚Heizungssozialismus‘), um Drag-Queen-Lesungen (‚Sexualkunde‘), um Meinungsfreiheit (‚Sprechverbote‘) oder ganz grundsätzlich um die Grünen (‚Umerziehungsfantasien‘), dann unterscheidet sich ihr Sound kaum von dem der AfD.“ Natürlich – das stellt Andreas Glas klar – ist die CSU mit der AfD nicht vergleichbar, deren bayerischer Landesverband auch vom Verfassungsschutz beobachtet wird: „Wer die CSU mit der AfD gleichsetzt, hat den Schuss nicht gehört. Doch die Penetranz, mit der beide Parteien den Kampf gegen die grüne Energie- und die ‚linke Identitätspolitik‘ führen, vernebelt den Blick für die Unterschiede.“

Wenn sich an diesem kulturkämpferischen Verhalten nichts ändere – so Liane Bednarz – werde „der Konservatismus untergehen“, zumal er nicht ehrlich darauf verweist, dass Konservative selbst ihre eigenen Moralvorstellungen haben, von denen sie gerne möchten, dass sie von der Mehrheit, möglichst von allen geteilt werden, beispielsweise „in Gender- und Abtreibungsfragen“. Ihre Empfehlung: „Statt Linksliberalen, gewiss nicht immer zu Unrecht, übermäßige ‚Wokeness“ und ‚Cancel Culture“ vorzuhalten, sollten Konservative, die das krawallkonservative Bashing mitmachen, sich selbstkritisch fragen, welchen Anteil sie daran haben, dass der Diskurs in Deutschland immer feindseliger wird.“ In den USA sehen wir, dass Anhänger*innen der Republikaner und der Demokraten kaum noch miteinander reden können.

Letztlich stellt sich die Frage, wie weit sind rechts verortete Politiker*innen bereit zu gehen, wenn sie einmal Regierungsverantwortung übernehmen konnten? Wie weit sind rechte Parteien bereit, Opposition, Presse, Gewaltenteilung zu schikanieren, zu inhaftieren, zu verbieten? Wie weit sind sie bereit, alle, die anders denken oder einfach nur anders aussehen als sie, zu deportieren und zu ermorden? Wie gefährlich ist ihr Verbalradikalismus und wie stark ist der Wille, ihn tatsächlich auch in die Tat umzusetzen? Wie stark ist die liberale Demokratie in der jeweiligen Bevölkerung verankert? Und nicht zuletzt: Wie sehr sind Konservative bereit, gemeinsam mit Linken und mit Liberalen für die Demokratie zu kämpfen?

In den USA sehen wir in einigen Staaten, dass Konservative zu einem solchen gemeinsamen Kampf nicht mehr bereit sind. Angesichts der Präsidentschaftskandidatur von Ron DeSantis, dem Gouverneur von Florida, wird deutlich, wie sich das, was Liane Bednarz „Krawallkonservatismus“ nennt, als Regierungspolitik verfestigt. Krawallig ist diese nicht mehr, es geht angesichts der Mehrheiten in den jeweiligen Parlamenten und der ohnehin herausgehobenen Position des jeweiligen Gouverneurs recht gesittet zu. Es werden einfach Gesetze erlassen, in denen das, was angeblich nicht zum konservativen Weltbild gehört, schlichtweg verboten wird. Prominentes Beispiel ist das sogenannte „Don’t-Say-Gay“-Gesetz, offiziell der „Stop WOKE Act“ genannt, das immerhin einen heftigen Streit mit dem Disney-Konzern auslöste, der jedoch die republikanische Mehrheit ungeachtet ihrer Wirtschaftsnähe nicht zu beeindrucken scheint. „Critical Race Theory“, Geschlechtsidentitäten – all dies soll es in Schulen nicht mehr geben. Während in Deutschland der Beutelsbacher Konsens verlangt, dass alles, was in der Gesellschaft strittig ist, auch in der Schule als strittig behandelt werden solle, wird der Streit aus der Schule in Florida verbannt. Es kann nur eine Wahrheit geben.

Wer die Macht hat, kann auch eine entsprechende Fortbildung der Lehrkräfte organisieren. Wie dies geschieht beschreibt Adam Hochschild in seinem Essay „History Bright and Dark“ in der New York Review of Books vom 25. Mai 2023. Lehrkräfte erhalten $ 3.000, wenn sie an einer Fortbildung mit dem Hillsdale 1776 Curriculum teilnehmen. In dieser Fortbildung lernen sie beispielsweise, dass man nicht von „slaves“ sprechen sollte, sondern von „persons“, um die Gefühle weißer Menschen, die pauschal als Nachfahren von Sklavenhaltern bezeichnet werden könnten, nicht zu verletzen. Wenn Demokraten ein entsprechendes Curriculum in umgekehrter Richtung mit Inhalten der „Critical-Race-Theory“ anböten und finanziell unterstützen, wäre sofort von „Umerziehung“ die Rede. Kritische Fragen werden jedoch im eleganten Plauderton entschärft, ein von Adam Hochschild zitiertes Beispiel: „Der Kontakt zwischen eingeborenen nordamerikanischen und europäischen Zivilisationen führte gleichermaßen zu Vorteilen und Beeinträchtigungen, gleichermaßen für Eingeborene und für Kolonisten“, dies habe zu vielen „Missverständnissen“ geführt (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch NR). Diese und andere Beispiele nennt Adam Hochschild „History wars“, „Geschichtskriege“. Von solchen Gedanken und Praktiken sind CDU und CSU weit entfernt. Gleichwohl besuchten drei führende CSU-Politiker*innen im Mai 2023 Ron DeSantis. Andreas Scheuer war einer davon und sagte: „Ich teile die Analysen von DeSantis“. Auf dem Campus von Hillsdale stehen Statuen von Ronald Reagen und Margaret Thatcher.

Kulturkampf – es geht ums Ganze

Es ließe sich auch darüber debattieren, was manche Linke bewegt, eigentlich „rechts“ besetzte Felder zu bespielen. Sahra Wagenknecht ist in Deutschland vielleicht die prominenteste Persönlichkeit einer solchen Praxis. Ihre Positionierung erinnert mitunter an die von Zeev Sternhell in „Faschistische Ideologie“ beschriebenen „Bekehrten“ der 1910er, 1920er und 1930er Jahre, deren prominentester der italienische Diktator Benito Mussolini war. Aber nicht nur Konservative und Linke neigen dazu, sich an „rechten“ Themen zu orientieren, auch die Parteien, die von sich in Anspruch nehmen, die „Mitte“ zu repräsentieren, in Deutschland vor allem CDU, CSU, SPD und Grüne (bei der FDP bin ich mir nie so sicher, wie diese Partei einzuordnen wäre, auch wenn sich ihr Vorsitzender gerne zum Anwalt der „hart arbeitenden Mitte“ erklärt). Sie unterscheiden sich vielleicht darin, wie offen sie ihre Affinität zu „rechten“ Themen vor sich hertragen. Nur wenige würden Ron DeSantis mit einem Besuch beehren.

Markus Linden benennt in der Juni-Ausgabe 2023 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ die Dialektik zwischen „rechtem“ und „linken“ Denken bereits im Untertitel seines Essays „Reaktionäre Reaktion“: „Wie die Kritik an linker Identitätspolitik in rechtes Identitätsdenken kippt“. Die „Woke-Bewegung“ wird zum stärksten Gegner (von wem eigentlich?) erklärt, gegen den nur „Nationalismus“ helfe. Hendrik Küpper und Carsten Schwäbe ergänzen in derselben Ausgabe der „Blätter“ in ihrem Essay „Rot gegen Grün statt Rot-Rot-Grün“ mit dem Hinweis auf die Affinitäten zu „rechter“ Politik bei den sich links wähnenden, aber letztlich bürgerlichen Parteien SPD und Grüne. Die These von Küpper und Schwäbe: „Kartellparteien suchen Regierungsoptionen, nicht Macht zur Veränderung“. Es begann mit Gerhard Schröders wirtschafts- und sozialpolitischer Annäherung an den britischen und US-amerikanischen Neoliberalismus, über die schon Franz Walter im Jahr 2010 in seinem Buch „Vorwärts oder abwärts?“ schrieb (Frankfurt am Main, edition suhrkamp). Irgendwann geht es nur noch um den Machterhalt: Das Primat der Vorherrschaft im linken Lager ist das Anliegen der Parteien und wird – wie Küpper und Schwäbe am Fall Franziska Giffey belegen – schließlich zum Anliegen einer Person: „Vor dem Land und der Partei kommt die Person“. Ergebnis: „Die Entwicklung ehemals linker Parteien zu neumittigen Konkurrenz- und Kartellparteien führt somit im Ergebnis dazu, dass rechte Positionen gestärkt werden.“

Gleichwohl ist die Affinität auf der konservativen Seite zu „rechten“ Themen und Praktiken größer. Thomas Biebricher fragt in seinem Buch „Mitte / Rechts – Die internationale Krise des Konservatismus“ (Berlin, Suhrkamp, 2023) nach den Affinitäten zwischen „konservativer“ und „rechter“ Politik. Seine Analyse stimmt mit den Thesen der beiden zitierten Essays aus den „Blättern“ überein. Er konzentriert sich auf die Entwicklungen konservativer Parteien in Italien, Frankreich und Großbritannien und schließt mit einem Ausblick auf Deutschland. Er nennt zu Beginn die „Grundannahme des vorliegenden Buches, zugespitzt formuliert, dass den Dynamiken der rechten Mitte nicht zuletzt und vor allem deshalb Aufmerksamkeit gebührt, weil sich hier das Schicksal der liberalen Demokratie entscheidet.“

Konservative Parteien verorten sich traditionell in der Mitte, die Biebricher „eine politische Normvorstellung (nennt), die dementsprechend normativ aufgeladen ist.“ Es geht um die „Magie der Mitte als politischer Sehnsuchtsort“, die „Mitte“ ist „ein imaginierter und normativ überhöhter Raum“, der Begriff des „Konservatismus“, den als erster François-René de Chateaubriand 1818 mit der Zeitschrift „Le Conservateur“ in die politische Debatte einführte, ist „eine Art Anti-Ideologie“, die vielleicht auch darin gipfelt, dass konservative Parteien – zumindest in Deutschland – dazu neigen, an Vorlagen linker oder linksaffiner Regierungen vor allem „handwerkliche Fehler“ zu kritisieren und sie damit zu entpolitisieren. Gerhard Schröders Diktum, es gäbe keine rechte oder linke, sondern nur gute Wirtschaftspolitik, folgt diesem konservativen Muster.

Thomas Biebricher führt die Affinität „konservativer“ Kräfte für „rechte“ Positionen auf eine „Sollbruchstelle zwischen liberalen und konservativen Elementen“ zurück, die sich in der Abwägung von Wahlchancen manifestiere. Konservative Politiker*innen orientierten sich zunehmend an genuin „rechten“ Themen. Die eigenen Machtoptionen scheinen sich nur noch über einen „Kulturkampf“ verwirklichen zu lassen. Kernthemen sind dabei Migration und Wokism: „Wenn es die Woke-Aktivisten nicht gäbe, dann müsste man sie aus konservativer Sicht geradezu erfinden, kann man sich an ihnen doch im Namen hoch respektabler Vorstellungen abarbeiten, während sie gleichzeitig eine Möglichkeit bieten, die Linke in die Defensive zu drängen, indem man sie vor unannehmbare Alternativen stellt.“ Anders gesagt: jede Anti-Diskriminierungspolitik wird delegitimiert, weil sie letztlich nur „woken“ Partikularinteressen diene, nicht aber dem „Volk“ als Ganzem. Putin, Orbán oder Erdoğan haben es zwar leichter, weil sie ihre Gegner*innen als vom Ausland gesteuert und gleichzeitig als jüdisch, homosexuell, multikulturell anprangern können. Dies ist im demokratisch-liberalen „Westen“ nicht so einfach, aber dennoch gibt es „eine polarisierende Eskalationsdynamik“, weil „es in kulturellen Konflikten regelmäßig ums Ganze“ (geht), was immer höhere Einsätze rechtfertigt“.

Konservative, Neue Rechte und manch Bürgerliche und sogar Linke können sich auf eine restriktive Migrationspolitik und eine anti-woke Kommunikation verständigen. Einen Unterschied gibt es allenfalls noch beim Thema „Europa“, aber immerhin haben sich einige rechte Parteien ihre Positionen verändert. Einen Austritt aus der EU fordert der Rassemblement National nicht mehr und auch Giorgia Meloni hat sich für manche überraschend schnell mit der EU arrangiert. In Polen und in Ungarn beschränkt sich die Nomenklatura auf eine anti-europäische, in Polen primär anti-deutsche Rhetorik, aber niemand käme auf die Idee, die finanziell lukrative EU zu verlassen. Allerdings fällt auch auf, dass in Thomas Biebrichers Buch ebenso wie in den anderen hier genannten Analysen das Thema des Klimaschutzes keine Rolle spielt.

Verlorene Feindbilder

Wie konnte eine solche Konstellation entstehen? An den Beispielen Italiens und Frankreichs beschreibt Thomas Biebricher das Dilemma des verlorenen Gegners: „In einer Ära, in der die klassischen Feindbilder verloren gegangen sind, müssen sie entweder als Untote am Leben erhalten werden, wie im Fall von Berlusconi der Kommunismus oder in Sarkozys Wahlkampf die Achtundsechziger, oder es müssen neue erschaffen werden, seien sie auch noch so phantasmagorisch wie etwa die 367 Vollverschleierung tragenden Frauen (in Frankreich, NR). Anstelle des CDU-Slogans der 1953er Wahl „Alle Wege führen nach Moskau“ führen jetzt alle Wege in den Islamismus und jede*r Migrant*in ist persönlich nichts anderes als die Vorhut einer islamistischen Eroberung des europäischen Kontinents. PEGIDA lässt grüßen. In manchen Ländern, nicht zuletzt in Ungarn, kommt ein subtiler Antisemitismus hinzu, der sich vor allem an dem Multimilliardär und Mäzen George Soros festmacht. Aber auch in anderen Ländern schwirrt die Anklage der sogenannten „Globalisten“ durch die politische Landschaft.

Ohne Gegner und Feinde ist der Konservatismus hilf- und machtlos: „Angesichts der zumeist nebulös bleibenden Ordnungsvorstellungen, die sich aus einer normativen Natürlichkeit herauslesen lassen, bleibt der Konservatismus also in gewisser Weise auf seine Gegner angewiesen, deren Angriffe die schemenhaften Vorstellungen überhaupt erst zu klaren Positionen und Gegenpositionen vereindeutigen.“ Konservatismus agiert – so Thomas Biebricher – vor allem „reaktiv“, seine Positionen entstehen „kontextspezifisch“, Gerd Koenen, der vielleicht beste deutsche Kommunismus-Experte, würde sagen: „Kontext schlägt Text.“

Italien, das lange Jahre die größte kommunistische Partei eines „westlichen“ Landes hatte, den PCI, sieht Thomas Biebricher als „Avantgarde und Labor“ eines rechtsgedrehten Konservatismus. Es verschwand nicht nur der PCI, sondern auch die klassische Systempartei, die Democrazia Cristiana (DC), die sich vor allem aus der anti-kommunistischen Ideologie erhielt, obwohl diese schon unter dem PCI-Vorsitzenden Enrico Berlinguer zu wanken begann und schließlich nach mehreren Häutungen im heutigen Partito Demokratico (PD) keinerlei Spuren mehr hinterlässt. Es gibt in Italien noch eine kommunistische Kleinpartei, die Rifondazione Communista, aber deren Einfluss eignet sich allenfalls als Popanz, den Silvio Berlusconi allerdings aufzubauschen verstand. In Frankreich wurde die konservative Partei geradezu pulverisiert. Übriggeblieben sind „Les Républicains“ (LR), die erfolglos versuchten, Parolen des Rassemblement National (RN) zu kopieren, aber letztlich als ehemals „gemäßigte Konservative“ eine „aussterbende Art“ sind wie die christdemokratischen Parteien in Italien und anderen europäischen Ländern, ungeachtet kurzer Erholungsphasen auf niedrigem Niveau, wie beispielsweise in den Niederlanden. Die deutsche Christdemokratie hat sich inzwischen auf einem noch potenziell mehrheitsfähigen, aber für ihre Ansprüche bescheidenem Niveau eingerichtet. Heute gilt der CDU ein Erfolg über 30 Prozent auf Bundesebene als Erfolg, wenn nur SPD und Grüne deutlich dahinter liegen.

Die Gefahr, in die sich Konservative mit ihrem Flirt mit der Neuen Rechten begeben, fasst Thomas Biebricher in einem Satz: „Das Abkippen ins Autoritäre bleibt dem Konservativen als Potenzial unweigerlich eingeschrieben.“ Ich würde dieses Potenzial auch auf eine gewisse Hilflosigkeit zurückführen. Werte werden beschworen, beispielsweise „christliche Werte“ oder eine „Leitkultur“, die alle, die sich ihr verpflichtet fühlen, nach ihren persönlichen Bedürfnissen definieren können, konkret werden sie erst, wenn ein Bedrohungsgefühl hinzukommt. Thomas Biebricher sieht das eigentliche konservative Problem darin, „dass Konservative typischerweise nicht eigentlich das Bestehende zu verteidigen versuchen, wie es ihrem Selbstverständnis entspricht, sondern das Vergehende.“ Im Fall der englischen Oberschicht wäre es das längst Vergangene, eine Welt des „Rule Britannia“. Auf Deutschland bezogen: „Der Grat zwischen dem schlechtgelaunten Kulturpessimisten, der vor der Eiche-Natur-Schrankwand das (An-)Klagelied der Moderne intoniert und über den Untergang des Abendlandes trauert, und dem Pegidisten, der gegen diesen Untergang auf die Straße zu gehen müssen glaubt, ist ein schmaler.“

Es soll in der Familie bleiben

Dort wo es keine feste – ganz wertfrei formuliert – „Ideologie“ mehr gibt, schwindet die Unterscheidbarkeit zwischen den Parteien. Rettung kommt aus der Familie. Diese Familie lässt sich unterschiedlich weit fassen. Sie kann sich regional definieren wie es Umberto Bossi mit der Lega Nord tat (oder auch die CSU in Bayern), sie kann ein ganzes Land erfassen, indem sie sich nationalistisch definiert wie es Bossis Nachfolger Matteo Salvini tat, dem es gelang, eine Regionalpartei, die Süditalien für ein rückständiges „Afrika“ hielt, zu einer nationalen Partei umgestaltete, die die Italianità gegen alle äußeren Kräfte, gleichviel ob in Brüssel oder jenseits des Mittelmeeres situiert, verteidigt. Ähnliches gelang den englischen Konservativen, als sie den Brexit, der letztlich ein englisches Oberschichtenprojekt war, landesweit durchsetzten, auch in den Regionen, die mehrheitlich zu den Remainern tendierten. Gegner sind – außer bei Berlusconi, der aber zunehmend an Einfluss verliert – nicht mehr die Kommunisten, sondern die Eliten, die wahlweise in Rom, Brüssel oder Berlin zu finden sind und die den angestammten Way of Life behindern.

Die Familie braucht einen Patriarchen, einen Chef. Thomas Biebricher referiert, wie sich die konservativen Parteien Frankreichs zunehmend am Präsidenten orientierten und auch jeweils mit ihm untergingen. Die eigentlich konservative Partei, „Les Républicains“ wurden zwischen dem „Rassemblement National“ und Macrons Neugründungen, „La République en Marche“ und „Renaissance“, zerrieben. Welche Zukunft „Renaissance“ nach dem Ende der Präsidentschaft Macrons haben wird, bleibt fraglich, ist angesichts der Vorgeschichte allerdings auch absehbar. Es ist durchaus denkbar, dass der nächste Kampf um die französische Präsidentschaft sich zwischen Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon abspielt, vor allem dann, wenn sich dazwischen niemand findet, der oder die in der Lage wäre, eine Art Aufbruchstimmung zu bewirken. Dies gelang Macron zu Beginn seiner ersten Präsidentschaft, durchaus vergleichbar mit der Wirkung Barack Obamas. Eine Partei würde sich bei Erfolg schon gründen lassen.

Eine wichtige Rolle spielte bei der französischen Entwicklung Jacques Chirac, er „verordnete seiner Partei in den achtziger Jahren eine gehörige Dosis Neoliberalismus und verabschiedete sich damit von der eher dirigistischen Orthodoxie, die Zustimmung zur Gemeinsamen Europäischen Akte ließ sich ebenfalls als schleichende Ent-De-Gaullisierung interpretieren“. Er vertrat „eine Art mitfühlenden Neo-Gaullismus“, der seltsam unkonkret wurde, distanzierte sich immerhin von der in sich widersprüchlichen „Vergangenheitspolitik“ seines Vorgängers François Mitterands, indem er die „französische Mitschuld an der Shoah“ anerkannte. Sein Nachfolger Nicolas Sarkozy konzentrierte die Partei auf seine Person und punktete vor allem mit anti-migrantischen Ressentiments, indem er Stadtteile der Pariser Banlieue mit dem „Kärcher“ aufzuräumen versprach: „Sarkozy hatte die Themen des FN endgültig im Mainstream etabliert, was auf lange Sicht zur Implosion der rechten Mitte führen sollte.“

Die Profiteurin heißt Marine Le Pen. Gleichzeitig schufen Chirac und Sarkozy mit ihrem neoliberalen Kurs eine offene Flanke, die keine Linke mehr zu füllen wusste, denn dem Zerfall der konservativen Parteien dieser beiden Präsidenten folgte mit dem Scheitern des letzten sozialistischen Präsidenten François Hollande auch der Zerfall des Parti Socialiste (PS). Auch die Kommunisten verschwanden, manche finden sich vielleicht noch in Jean-Luc Mélenchons „La France Insoumise“, aber wie gesagt: es profitierte Marine Le Pen: „Wenn man heute Marine Le Pen über die Sorgen der ‚kleinen Leute‘ reden hört, fällt es schwer zu glauben, dass der FN lange eine dezidiert neoliberale Partei war.“ Sie schafft es sogar inzwischen, mit ihren anti-islamischen Parolen Allianzen zwischen der Rechten und Feministinnen zu schaffen. Sie hat in ihren Auftritten mehr mit Sahra Wagenknecht gemein als diese vielleicht wahrhaben möchte.

Thomas Biebricher präsentiert ein ausführliches Bild der Kämpfe und Spaltungen innerhalb der konservativen Parteien, die letztlich dazu führten, dass die stärkste konservative Partei der Rassemblement National ist, der sich mit seiner Namensänderung von einer kämpferischen Partei zu einer die französische Nation geradezu familiär vereinigenden Partei entwickelte. Die „dédiabolisation“, die Marine Le Pen versprach, scheint gelungen. Wer sich auf der extremen Rechten bewegen möchte, muss sich schon an Eric Zemmour halten, bei dem ungeachtet seiner eigenen Herkunft auch antisemitische Verschwörungserzählungen wieder ihren Platz haben.

Ähnlich scheint es sich in Italien zu entwickeln. Mit dem Namen „Fratelli d’Italia“ zitiert die Partei den ersten Vers der italienischen Nationalhymne. Gegendert wird hier nicht, aber eine Familie sind die Italiener*innen allemal. Thomas Biebricher beschreibt Silvio Berlusconi und seine „Forza Italia“, die er nach dem Schlachtruf der Tifosi, der italienischen Fußballfans, benannte, als genuine Nachfolgepartei konservativer Parteien wie der Democrazia Cristiana. Er wandte sich gegen den sogenannten „Pentopartita“, die vormalige Koalition, schuf Allianzen mit Bossis und später Salvinis Lega und nicht zuletzt mit der postfaschistischen Alleanza Nazionale (AN) von Gianfranco Fini. Dieser war auch der erste aus einer faschistischen beziehungsweise postfaschistischen Partei hervorgegangene Politiker, der versuchte, die Partei für Mitte-Politik anschlussfähig umzugestalten, er war im Grunde auch ein Vorbild für Marine Le Pens „dédiabolisation“. Giorgia Meloni begann ihre politische Karriere in seiner Jugendorganisation, sie profitierte schließlich von der Fast-All-Parteien-Regierung unter Mario Draghi, die vorerst letzte der diversen Experten-Regierungen Italiens, an der die Fratelli d‘Italia sich als einzige Partei nicht beteiligten. Salvinis Lega und Berlusconis Forza Italia werden zunehmend zu Randerscheinungen einer rechten Regierung. Giorgia Meloni ist inzwischen die unbestrittene Matriarchin (sie würde vielleicht von sich selbst ganz ungegendert als „Patriarch“ sprechen) dieser Regierung und ihrer Partei.

„Postfaschismus“

Ein wichtiger Baustein des Erfolgs Giorgia Melonis ist die Unterscheidung zwischen dem italienischen Faschismus und dem Nationalsozialismus. Diesen Wandel auf der Seite der italienischen Rechten leitete Gianfranco Fini ein: „So war es sicherlich kein Zufall, dass Fini nach seinem Achtungserfolg bei den Bürgermeisterwahlen in Rom 1993 ausgerechnet zum fünfzigsten Jahrestag des Fosse-Ardeatine-Massakers, bei dem die SS 1943 335 italienische Zivilisten ermordet hatte, eine Rede hielt. Der Anlass war damit einerseits antinazistisch konnotiert, er konnte aber auch im Sinne der AN-Geschichtspolitik gedeutet werden, gemäß der vor allem der Nationalsozialismus, weniger aber der italienische Faschismus als moralisch verwerflich anzusehen ist. Jedenfalls sprach Fini bei dieser Gelegenheit erstmals von einer postfaschistischen Bewegung, und auch wenn der genaue Gehalt dieses Begriffs nebulös blieb – und bis heute geblieben ist –, signalisierte seine Verwendung doch den Versuch, den Faschismus als eine abgeschlossene Epoche zu historisieren.“ Elf Jahre später gab er als Außenminister in Yad Vashem „ein Interview, in dem er den Faschismus unumwunden als ein ‚Übel‘ bezeichnete – und zwar schon vor 1938.“

Es ist durchaus denkbar, dass sich postfaschistische Parteien ähnlich entwickeln wie postkommunistische Parteien, es ist auch denkbar, dass sie die konservativen Parteien ablösen. In Italien und in Frankreich haben die beiden postfaschistischen Parteien mehr oder weniger ihren Frieden mit Europa und der Demokratie gemacht. „Dies schlug sich in weiteren semantischen Nuancierungen nieder: An die Stelle der Forderung nach einer ‚Überwindung des Regimes‘ trat der Anspruch, eine ‚Alternative zum System‘ darzustellen; dieses ‚System wiederum wurde dahingehend spezifiziert, dass damit nun das ‚sistema partitocrazia‘ gemeint war und nicht länger das liberaldemokratische System schlechthin.“ Autoritäre Tendenzen sind davon nach wie vor unberührt.

Welche Mischungen möglich sind, belegt die Entwicklung von Alessandra Mussolini, die ihre politische Karriere im noch offen faschistisch agierenden MSI begann, sich dann in der Alleanza Nazionale wiederfand, dort austrat, um die rechtsextreme Libertà d’Azione zu gründen, inzwischen aber über Forza Italia Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament ist. Ob sich ihre Positionen verändert haben, wäre eine spannende Frage. Die Verwischungen zwischen postfaschistischen und vormals konservativen Positionen verhindern letztlich ein abschließendes Urteil, wie ernst die pro-europäischen und pro-demokratischen Äußerungen sind und ob sich letztlich „rechte“ Politik auf eine anti-islamische und anti-migrantische Politik, ein durchaus konservatives Familienbild und einen mehr oder weniger radikal formulierten Anti-Wokism konzentriert.

Ähnlich agierte Marine Le Pen. Sie verbannte die mit ihrem Vater verbundenen Themen aus der Partei, was nicht heißt, dass es keine Parteimitglieder mehr gibt, die diese vertreten, aber antisemitische und die NS-Kollaboration verherrlichende Thesen hört man von ihr nicht.

Der Fall Großbritannien

In Großbritannien liegt der Fall etwas anders. Es ist mit dem Brexit gelungen, die Konkurrenten auf der rechten Seite mehr oder weniger bedeutungslos zu machen. David Cameron, der die Abstimmung einleitete, war ein Remainer, der sich – so Thomas Biebricher – selbst austrickste: „Und selbst wenn der Premier im Nachhinein viel harsche Kritik einstecken musste, darf man nicht vergessen, dass ein Votum für den Verbleib in der EU vermutlich beide Ziele erreicht hätte: Sowohl die Tory-Fraktion als auch Ukip wären damit um einen guten Teil ihres Agitationspotenzials gebracht worden.“ Thomas Biebricher sieht Cameron nicht als einen „Hazardeur wie Johnson“, aber auch seine „unbedingte Bereitschaft zur Inszenierung von Politik (…), war er doch regelmäßig bereit, immense Risiken einzugehen.“

Eine wichtige Rolle spielte auch der Umgang mit den LibDems während der gemeinsamen Regierungszeit. Die Tories verprellten und verloren den „Partner, mit dem sie die Herausforderung Ukip womöglich hätten meistern können, ohne in den Mahlstrom des Brexit hinabgezogen zu werden.“ Drei Themen bewegten die konservativen Hardliner, „die an der nach dem erzkonservativen Norman Tebbit benannten Tebbit-Dreifaltigkeit festhalten wollten: Steuern, Einwanderung, Europa. Genauer gesagt: Steuern senken, Einwanderung auf ein Minimum beschränken und Europa weitgehend den Rücken kehren.“ Das dritte Ziel wurde mit dem Brexit Realität, an zu radikalen Steuersenkungsplänen scheiterte Liz Truss, die Einwanderung kann nach wie vor nicht reduziert werden. Aber auch Labour hatte sich verändert, zunächst mit Tony Blairs New Labour, das seinen Frieden mit dem Neoliberalismus machte und mit dafür sorgte, dass auch andere sozialdemokratische Parteien sich neoliberal wendeten, so auch die deutsche Sozialdemokratie. Inzwischen hat Labour den Brexit akzeptiert.

Margaret Thatcher hatte es geschafft, die zentristisch gemäßigten „One-Nation-Tories“ zurückzudrängen, deren Eigenheit es war „sich den Entwicklungen der Zeit anzupassen, zu denen nicht zuletzt gehört hatte, dass dem Staat eine größere Verantwortung für die Gestaltung der Wirtschaft auferlegt wurde.“ Die Wende nach rechts, die eine Wende zum Neoliberalismus à la Friedrich August von Hayek oder Milton Friedman und den Chicago Boys war und ignorierte, dass Hayek den chilenischen Diktator Pinochet schätzte und aktiv unterstützte, schuf die Atmosphäre, vor der schon – so Thomas Biebricher – Benjamin Disraeli warnte, dass die Nation in eine Nation der Armen und eine der Reichen zerfallen könne. Thatcher stieß zwar anfangs auf heftigen Widerstand und drohte, die nächste Wahl zu verlieren, doch der der Falkland-Krieg rettete sie, anders gesagt: die nationale Karte. Damit war auch dieses Thema gesetzt, das sich schließlich nach Thatcher und nach Blair in den anti-europäischen Positionierungen der Tories wiederfand, die auch von einigen Labour-Politikern geteilt wurden wie beispielsweise bei Jeremy Corbyn, der – durchaus vergleichbar mit Jean-Luc Mélenchon in Frankreich – mit Brüssel und der EU grundsätzlich den Kapitalismus bekämpfte.

Angesichts des Scheiterns der neoliberalen Wirtschaftspolitik und der Verhinderung weiterer Einwanderung blieb mit dem Europa-Thema in Großbritannien ein einziges Thema der vormals konservativen Identität übrig. Dieses Thema wurde mit dem Traum der Größe des Empire verbunden, der sich aber immerhin nicht militärisch realisierte wie in Russland unter Putin, wohl aber eben in einer radikalen Ablehnung all dessen, was sich nur irgendwie europäisch anfühlte.

Und in Deutschland?

Es fällt auf, dass sich in Frankreich und in Italien die konservativen und rechten Parteien von Bezeichnungen verabschiedeten, die einen Hinweis auf eine irgendwie geartete Weltanschauung hätten geben können. „Forza Italia“, „Fratelli d’Italia“, „Lega“, „Rassemblement National“, „Les Républicains“, es gab sogar mal den „Mouvement pour une Majorité Présidentielle”, Macron gründete „La République en Marche“ und „Renaissance” – all diese Begriffe verweisen allenfalls auf so diffuse Werte wie Kraft, Einheit, Bewegung, Wiedergeburt. Keine dieser Parteien enthält im Namen soziale, demokratische oder christliche Ziele. Bei den britischen „Tories“ gibt es zwar immer noch den eigentlichen Namen der „Conservative Party“, aber auch dieser Begriff ist diffus geworden.

In Deutschland ist dies (noch) anders. Es gibt eine sozialdemokratische, eine christlich-demokratische, eine freidemokratische und eine grüne Partei, die ihre wesentlichen Ziele und ihr Selbstverständnis im Namen tragen. Dies mag man auch für die Linke annehmen, nicht jedoch für die AfD, die sich lediglich als Alternative bezeichnet. Der Bezug auf Deutschland ist bei allen anderen Parteien mit Ausnahme der Grünen und der Linken gegeben, meint aber jeweils etwas anderes. Nun ist „Deutschland“ auch ein recht diffuser Begriff, denn es ist ein Unterschied, ob ich nur diejenigen als Deutsche zähle, die deutsche Namen haben, oder auch all diejenigen, die keine deutschsprachigen Namen, wohl aber die deutsche Staatsbürgerschaft haben, oder einfach alle Menschen, die in Deutschland leben. Hier liegt der harte Kern der Kontroversen zwischen rechten und mittigen Parteien, der aber von diesen aus wahltaktischen Erwägungen immer wieder auch aufgeweicht wird. Wer ist „deutsch“ und was ist „deutsch“?

Gehen deutsche konservative Parteien beziehungsweise die deutschen Parteien der Mitte einen ähnlichen Weg wie ihre Brüder- und Schwesterparteien in anderen Ländern? Thomas Biebricher sieht „durchaus gewisse Anzeichen, dass sich auch im deutschen Kontext ein entsprechender Wandel vollziehen könnte und die kulturkämpferische Strategie mit dem Feindbild der Woke-Ideologie womöglich größere Bedeutung erlangt.“ Die einzige Person, die ähnlich wie Berlusconi oder Sarkozy und Johnson eine Partei völlig auf sich auszurichten verstünde, wäre aus seiner Sicht allenfalls Markus Söder (auch Gerhard Schröder hätte Chancen auf eine solche Position gehabt, wenn ihn nicht Oskar Lafontaine demontiert hätte). „Statt den schillernden Sarkozys, Salvinis und Johnsons gab es hierzulande (…) die eher biedere Hausmannskost Kramp-Karrenbauer, Laschet und Merz.“ Thomas Biebricher zitiert Robin Alexander, demzufolge Wolfgang Schäuble gesagt haben soll: „Wenn wir uns Söder beugen, dann ist unsere CDU tot. Dann treten wir in vier Jahren als ‚Liste Söder‘ an.“ Das wäre dann das österreichische Modell der „Liste Sebastian Kurz“, die aber auch schon der Vergangenheit angehört und eigentlich nichts anderes geschafft hat, als die durch diverse Skandale geschwächte FPÖ wieder stark zu machen.

Ausgemacht ist eine rechtsgedrehte Entwicklung des klassischen CDU-Konservatismus nicht. Einerseits „bleibt festzuhalten, dass der Pfad des Kulturkampfes inklusive des Evergreens der Migrationspolitik und der Kritik an doppelter Staatsbürgerschaft etc. steil nach rechts abfällt und für Mitte-rechts-Parteien eine nicht zu unterschätzende Absturzgefahr birgt“, andererseits hat die CDU „neben den Kretschmers und Dobrindts auch die Daniel Günthers und Hendrik Wüsts, Ministerpräsidenten, denen es beispielsweise wohl kaum in den Sinn käme, die Pläne einer erleichterten Einbürgerung der Regierung als das ‚Verramschen‘ der deutschen Staatsbürgerschaft (Dobrindt) zu kritisieren, sondern die sich ausdrücklich für ein liberales Migrationsregime aussprechen (….).“

Aber auch die nicht nur in Bayern und den östlichen Bundesländern gepflegte Abneigung gegen das Gendern und die Diffamierung jeder Anti-Diskriminierungspolitik als „Wokism“ sollte niemand unterschätzen. Das ist nicht nur ein Anliegen des als seine eigene Satirefigur agierenden Hubert Aiwanger, der weiß, wie man Medien und Stammtische gewinnt. „Dazu kommt schließlich, dass Kulturkampf-Strategien maximale Aufmerksamkeit vonseiten der Medien versprechen – vor allem der sozialen, die so sehr auf Empörungs- und Entrüstungsamplituden gepolt, um nicht zu sagen algorithmisiert sind.“ Es gibt zwar keine Kommunisten mehr, die man bekämpfen könnte, aber es gibt das Gendern, Insekten im Essen, Windräder, Wärmepumpen und Winnetou. Und wie gesagt: Migration.

Als Fazit ließe sich noch einmal Eva Illouz zitieren. Es geht letztlich um Framing und Gefühle: „Die Politik ist mit affektiven Strukturen verwoben, ohne die wir nicht verstehen können, wie fehlgeleitete Ideologien die sozialen Erfahrungen der Akteurinnen durchdringen und ihre Bedeutung prägen.“ Und letztlich mit „Moral“ – denn diese ist ein weiterer Kampfbegriff der Kulturkämpfe unserer Zeit.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juni 2023, Internetzugriffe zuletzt am 10. Juni 2023.)