Rule Britannia

Oder die Macht der Vorstellung – fast schon ein Nachruf?

„Rule Britannia! Britannia rule the waves, / Britons never will be slaves” (Text: James Thomson und David Mallet, Musik: Thomas Augustine Arne).

Dieses Lied kennen in England alle. Es ist etwas mehr als 280 Jahre alt und gilt als inoffizielle Nationalhymne. Der zitierte Refrain folgt nach der ersten Strophe als Gesang der Schutzengel. Aber Boris Johnson kennt sich auch in der sakralen Architektur aus: „Wir sind der fliegende Pfeiler in der gotischen Architektur. Sie stützen das Gebäude von außen“. Das sagte er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung am 23. Juni 2022. Das ist ja mal eine Aussage! So also sieht Mr Johnson die Rolle Englands – aber wer ist jetzt genau „wir“? Großbritannien? United Kingdom? Inklusive Nordirland? gegenüber „Europe“?

Was dachte Mr Johnson in Salisbury?

Was hat sich der premierministernde Mr Johnson bei diesem Bonmot wohl gedacht? Ist er selbst darauf gekommen, als er vor der Kathedrale von Salisbury stand?

Die, die diese großartige Kathedrale bauten, und es waren mehrere Generationen, hatten erst relativ spät erkannt, dass der Vierungsturm extrem einsturzgefährdet war. Die Fundamente der Kathedrale sind auf Sand errichtet, die Wände drohten unter dem Gewicht des mächtigen Turmes wegzubrechen. Das Desaster konnte durch geschickt korrigierte Säulenführung in der Vierung innen und – eben durch diese elegant und filigran wirkenden Stützpfeiler außen in einer meisterlichen Leistung von Ingenieurskunst, Bauleitung und praktischer Umsetzung durch erfahrene Bauleute verhindert werden.

Beachy Head, Sussex

Warum jetzt dieser gewagte Ausflug in die sakrale Architektur? Mr Johnson ist geübt darin, Ikonographien und Narrative zu bedienen, vor allem Ikonen und Erzählungen, die das Archipel in der Nordsee zumindest für einen Teil seiner Bewohner*innen zu „Britannia“ machen. Die „fliegenden“ Pfeiler, unverzichtbar für das Gesamtgebäude, aber außen anliegend, werden so zu einem Hinweis auf Mr Johnsons großes Vorbild Winston Churchill.

Winston Churchill schrieb am 15. Februar 1930 in der Saturday Evening Post: “We see nothing but good and hope in a richer, freer, more contented European Communality. But we have our own dream and our own task. We are with Europe, but not of it. We are linked but not compromised. We are interested and associated but not absorbed.” (zitiert nach David Poyser, Churchill and the European Union, August 2020).

Dieses Zitat wurde vor allem seitens der Vote Leave Campaigner und später der parlamentarischen Wortführer für den Brexit immer wieder bemüht, um die Eigenständigkeit der Insel, aber auch eine korrigierende und supervidierende Rolle gegenüber dem Kontinent zu demonstrieren. Man weiß ja, wie Demokratie geht, man hat sie ja erfunden: schließlich ist The Parliament eines der ältesten der Welt.

Chartwelll House, Landsitz von Sir Winston Churchill

Wie Churchill sein Statement gemeint hat, bleibt umstritten. In seiner Rede vom 19. September 1946 in der Universität Zürich sprach er sich für die United States of Europe aus und stellte sich damit in eine bereits Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentierte Tradition. Die Beweggründe für den Wunsch nach einem Vereinten Europa waren sicher durch die Zeitläufte von unterschiedlichen Motiven geprägt. Churchill sah ein Vereintes Europa nach dem Zweiten Weltkrieg als Bollwerk zwischen den Einflusssphären der Vereinigten Staaten von Amerika und Russlands. Der Aufstieg der USA ging einher mit dem unaufhaltsamen Niedergang der Rolle Großbritanniens in der Weltpolitik und der Auflösung des Empires. Das sollte man vor Augen haben. Es ist überliefert, dass Churchill ein Vereintes Europa natürlich unter Führung Großbritanniens sah.

Großbritannien trat erst 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei. Ganz freiwillig und von allseits großer Begeisterung begleitet war dieser Schritt auch dann nicht. Der „Verlust“ der Kolonien durch deren Unabhängigkeit vom „Mutterland“ führte in Großbritannien zu erheblichen wirtschaftlichen Einbrüchen und zu Versorgungsschwierigkeiten, vor allem auch im Dienstleistungsbereich. Angesichts dieser Tatsache schien es ratsam, sich der Europäischen Gemeinschaft einzufügen. Mit großem Bewusstsein für die eigene nationale Identität.

Und da sind wir bei des Pudels Kern oder einer der zentralen Ikonen alias Nebelkerzen der regierenden Bilderproduzent*innen. Was ist diese „nationale Identität“? Britannien? Groß Britannien? Ein Narrativ. Ein Konstrukt. „Nations themselves are narrations“, schreibt Edward Said in “Culture and Imperialism” (New Yorik 1993).

Und Laurie Pennie bringt es in ihrem im Juni 2020 veröffentlichten Essay „Tea, Biscuits, and Empire: The Long Con of Britishness“ auf den Punkt: “This is a story about a border war. Specifically a border war between two nations that happen, at least in theory, to be precisely the same place. One of them is Britain, a small, soggy island whose power on the world stage is declining, where poverty, inequality, and desaster nationalism are rising, where the government has mangled its response to a global pandemic so badly that it’s making some of us nostalgic for the days when all we did was panic about Brexit. The other is BRITAIN! – a magical land of round tables, and boy wizards and enchanted swords and moral decency, where the sun never sets on an Empire run by gentlemen, where witty people wear frocks and top hats and decide the fate of nations over tea and biscuits.”

Der Brexit – eine gut geplante Kampagne

Der Brexit! War nur der Anfang! Er bediente die Identitätskrise eines Landes, oder besser einer Regierung, zunächst der Regierung David Camerons, dem es gelang, einen innerparteilichen Auflösungsprozess zu einem europäischen Problem zu machen, indem er 2015 ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft versprach. Wir erinnern uns: Nigel Farages UKIP fischte den Tories auf der rechten Seite die Wähler*innen weg, mit dreist nationalistischen, rassistischen und die Realität einer multikulturellen Gesellschaft negierenden Kampagne. Nigel Farage vor Postern mit Flüchtenden, die wie die Welle eines Tsunami zu Tausenden erst nach Europa einwandern und dann die Insel überschwemmen würden, Nigel Farage jovial mit einem Pint in den Pubs, mit Matteo Salvini, mit Steve Bannon.

Dorfladen in Alfriston, Kent

Wer sich 2015 auf der Insel bewegte, konnte Nigel Farage und seiner UKIP nicht einmal im kleinsten Dorf am Rande von Cornwall entkommen, wo sein Wahlprogramm den Untergang der bekannten Welt auf der Tür zum Lebensmittelladen verkündete. David Cameron stand unter Zugzwang, versprach für den Fall der Wiederwahl der Tories in die Regierungsverantwortung das Referendum – und trat sofort nach Bekanntgabe des Wahlerfolgs von allen Ämtern zurück, als es Ernst wurde. Theresa May, die nächste Premierministerin, einst Befürworterin der Fortsetzung der Mitgliedschaft in der EU, wurde zur unglücklich agierenden „Lady Gaga“ eines Deals, den sie nie gewollt hatte, und eines öffentlichen Spektakels, in dem sie einfach keine Chance hatte. Im Hintergrund wurde eine ganz andere, lange vorher gesetzte Agenda verfolgt, die der Vorherrschaft weißer patriarchaler Männer aus der Oberschicht.

Die Kampagne, als deren Gesicht Mr Johnson ausgesucht wurde, hat ihre Wurzeln im 1955 gegründeten Institute of Foreign Affairs, zu dem, ah ja, Jacob Rees-Moog, Dave Davies und Gisela Stuart gehör(t)en. Systematisch wurden Parteispenden für die Conservatives gesammelt, umgeleitet, propagandistische Beeinflussung strategisch geplant und durchgeführt. Die 1983 gegründete und sinnigerweise European Research Group genannte Tory Guerilla Gruppe gegen konstruktive Politik mit der EU weist fast identisches Personal auf: Michael Gove, Jacob Rees-Moog, Gisela Stuart und Daniel Hanan. Und auch Dominic Cummings, inzwischen geschasster Berater von Mr. Johnson mischt mit. Kurze Rückschläge im Gesamtplan werden hingenommen.

Zwei Iren und eine Schottin seien hier stellvertretend für all die genannt, die versuchen, das Geschehen auf der Insel zu verfolgen, zu analysieren und die Zeitläufte doch noch zu beeinflussen, genannt und empfohlen, alle mit durchaus drastischem Statement schon im Titel: Peter Geoghegan, „Democracy for Sale – Dark Money and Dirty Politics“, Finton O’ Toole „Three Years in Hell – The Brexit Chronicles“ (beide Bücher erschienen 2020 in London) sowie die Essays von A.L. Kennedy, aus denen ich noch zitieren werde.

Die Kampagne der Vote Leaver folgte planmäßig dem simplen wie erfolgreichen Rezept: vereinfache was kompliziert ist mit Hilfe wenigen eingängigen Schlagworten (vor dem Votum: „Get Back Control“, nach dem Votum: „Get Brexit Done!“), meide Erklärungen und Transparenz, das ist zu kompliziert, bleibe im Vagen, aber den Zuhörenden zugewandt, nutze Ikonen und Erzählungen, die alle sofort verstehen (roter Bus gleich geniales und über Jahrzehnte verlässliches Transportmittel nicht nur in London, das Nationale Gesundheitssystem NHS gleich in den 1930er und 1950er Jahren bahnbrechendes und weltführendes Gesundheitssystem und nun von der EU bedroht), nutze die Facebookschwärme und alle Medien, denn was alle sehen und hören, kann doch nicht falsch sein.

Manch eine*r, die staunend vor einem der vielen Bildschirme saß oder durch die Einkaufszonen ging, mag sich über die knalligen Broschüren und effekthaschenden, aber inhaltsleeren Auftritte von Mr Johnson und Mr Farage (die keine Freunde wurden) und ihrer Mitstreiter*innen an den großen Sohn der Insel, Edward Blair alias George Orwell, erinnert gefühlt haben. 1984 war auf einmal sehr real. Und doch: Niemand hat wirklich geglaubt, dass so ein Mist tatsächlich durchkommen würde. Aber 37,4% der wahlberechtigten Bürger*innen haben das Ergebnis, knapp wie es war, entschieden. Die jungen Brit*innen blieben zu Hause, die alten wählten, allen voran die älteren Engländer*innen.

Und Laurie Pennie hat leider Recht: der Brexit war ein Spaziergang verglichen mit dem, was nach dem Referendum kam. Die Inszenierung hatte ein dankbares und laut applaudierendes Publikum gefunden. Und wurde fortgesetzt wie eine schlechte Sitcom. Die Inhalte: Großbritannien, Make Britain Great Again, Britishness, Buy British, das Empire, Land of Hope and Glory. Man muss nur erstmal den Brexit schaffen. Der Feind kommt von außen, wie seit tausend Jahren immer vom Kontinent.

The Empire is back, really?

Während die eine Hälfte der Inselbewohner*innen fahnenschwenkend alte „Traditionen“ beschwört, schlägt die andere Hälfte die Hände vors Gesicht und versucht, sich aus der Schockstarre zu lösen.

Kirche in Fritton, Norfolk, Bauphasen vom 9. bis zum 14. Jahrhundert, angelsächsisch im Chor, in der Apsis normannisch

Großbritannien? Ein Narrativ. Das Empire – ebenso ein Narrativ wie das von Edward Elgar komponierte Kirchenlied „Land of Hope and Glory“, das neben „God Save the Queen“, „Jerusalem“ und „Rule Britannia“ zum festen Bestand des Liedgutes auf der Insel gehört und so etwas wie eine weitere Nationalhymne darstellt. Eine treffende Beschreibung der Wirksamkeit dieses Liedgutes bieten Danny Dorling und Sally Tomlinson in „Rule Britannia – Brexit and the End of Empire” (London 2019).

Großbritannien? De facto handelt es sich geographisch um je nach Zählung vier bis fünf unterschiedlich große Inseln eines Archipels in Nordsee bzw. Nordatlantik. Geologisch gehört dieses Archipel zur Eurasischen Platte.

Politisch gesehen besteht das United Kingdom seit dem Act of Union 1707. 1740 schrieb ein Schotte, Thomas Arne, die Hymne „Rule Britannia“ und kassierte dafür eine Pension von 100 Pfund jährlich vom Prince of Wales, der damals Friedrich Ludwig von Braunschweig-Lüneburg hieß. Soviel zur historischen Dekonstruktion von Bildern und Vorstellungen zu Britishness.

Das Empire, zusammengeraubt und geschossen, hatte seine größte Ausdehnung 1830. Die Geschichte des Empires ist die Geschichte von Ausbeutung, Plünderung, von willkürlich gezogenen Grenzen und von Sklavenhandel. Da war dieses Empire nicht allein, Frankreich, Belgien, die Niederlande, Deutschland und Italien, Spanien und Portugal bereicherten sich auf ähnliche Weise.

Nach der Auflösung des Empires, die nach dem Zweiten Weltkrieg ziemlich schnell erfolgte, sollte der Commonwealth of Nations die Tradition und die Verbindungen aufrecht halten. Die Überlegenheit der weißen „Rasse“ war damit natürlich nicht in Frage gestellt.

Und das ist der Zwiespalt, in dem sich die Insel seit Jahrzehnten befindet: wem gehören die Erinnerungen, die Geschichte, die Tradition, wer hat die Deutungshoheit und die Macht zur Durchsetzung von Bildern, die politische Entscheidungen beeinflussen?

Mr Johnson und die Seinen, die in den Genuss einer adeligen Abstammung und einer das Establishment stabilisierenden Bildung gekommen sind lassen die alten „Traditionen“ wieder hervorkommen und inszenieren mit den bekannten und leider in den Schulcurricula weitergegebenen Requisiten ein gefährliches Spektakel. Und sie kommen damit durch – so schreibt es Owen Jones in „The Establishment – And how they get away with it” (London 2015).

A.L. Kennedy spricht am 20. Juni 2022 in seinem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung vom „sanften Putsch“ – durchaus ein Gegensatz zu Donald Trumps capitolstürmenden Truppen vom 6. Januar 2020 –, der durch den premierministernden Mr Johnson und seine Partygenoss*innen – die deutsche Übersetzung schafft die schöne Doppelbedeutung von „Party“ leider nicht – das „wahre und alte Gesicht“ des Empire wieder zum Vorschein bringt. Die treffende Überschrift der Autorin: „1:0 für Team Chaos“.

Post Office in Moulton, Essex

Die Grundidee der Inszenierungen folgt, wie schon in Sachen Brexit, dem Muster „Make Britain Great Again“. Mr Johnson und die Seinen, machen die Regeln und können sie wie Heinrich der VIII. jederzeit brechen. „Great“ und reich werden dabei nur die Partypeople, dem National Health Service fehlt inzwischen nicht nur das Geld, sondern auch das Personal, in vielen Familien wird das Haushaltsgeld knapp, die Supermärkte können ihr Sortiment nicht bereithalten.

Der regierenden Clique ist das egal. Niemand tritt zurück. Niemand übernimmt wirklich Verantwortung, es sei denn am Rednerpult. Wie gefährlich und Menschen verachtend dieses Regierungsspiel ist, zeigt sich in der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ihrer Mitglieder, allen voran Innenministerin Priti Patel, deren indischstämmige Eltern in den 1960er Jahren aus Uganda nach Hertfordshire migrierten. Priti Patel unterzeichnete am 17. Juni 2022 die Ausweisung Julian Assanges in die USA.

Brandgefährlich

Das Feuer im Grenfell Tower vom 14. Juni 2017: „The trauma is still there’: Horror over fire in high rise flats near Grenfell Tower“ – so schrieb The Independent – war bereits mahnendes Zeichen für den Umgang einer Gesellschaft mit ihren Mitgliedern, zu denen sich auch die Citizens des Commonwealth zählen konnten. Bis spätestens der Windrush Scandal 2018 auch das Narrativ des fürsorglichen Commonwealths endgültig zerstörte. Menschen, die schon Jahrzehnte im Vereinigten Königreich lebten, mussten ihre Existenz mit kaum erbringbaren Auflagen beweisen, für jedes Jahr.

Nun also der Ruanda Coup. Das UK zahlt 120 Millionen Pfund an Ruanda, in dem alles andere als Frieden herrscht, um unerwünschte Zufluchtsuchende aufzunehmen. A.L. Kennedy: „Um die ‚schrecklichen Menschenschmuggler‘ zu besiegen, werden wir zu noch schrecklicheren Menschenschmugglern.“ Ins Ruanda von Paul Kagame: die Anträge sollen dann dort bearbeitet werden. Man könnte es für eine böse Farce halten. Es ist bitterer Ernst und betraf mehr als 100 Menschen. Für viele konnte der Abschiebestopp mittels Einlegen von Rechtsmitteln erwirkt werden. Im Flieger, der für die Abschiebung bereitstand, saßen zum Schluss immer noch sieben Menschen. Es gab Demonstrationen, Prince Charles, die britischen Grünen, der UNHCR, einige Grenzbeamte und hochrangige Geistliche der Church of England setzten sich für die von der Abschiebung Betroffenen ein. Die ganze Dramatik schildert A.L. Kennedy in ihrem bereits zitierten Essay „1:0 für Team Chaos“. Erst als sich der Europäische Gerichtshof einschaltete, konnten die sieben das startbereite Flugzeug verlassen. Ihr weiteres Schicksal bleibt offen. Nur am Rande: die Ruanda-Idee hat Vorbilder, manche erinnern sich vielleicht daran, was hinter dem sogenannten „Madagaskar-Plan“ stand, manche wissen, auf welche Inseln Australien oder Dänemark Geflüchtete deportierten.

A.L. Kennedy analysiert scharf und unerbittlich: Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes basiert auf der Europäischen Menschenrechtskonvention und den dort getroffenen Vereinbarungen, die das Vereinigte Königreich 1950 in Rom mitunterzeichnete.

Mr Johnson ist das offenbar völlig entfallen. Stattdessen beobachten wir einen premierministernden, rechtmäßig wegen der Übertretung der Gesetze während des Lockdowns verurteilten Politiker, dem nach dem nur knapp gescheiterten Misstrauensvotum seitens der eigenen Partei und dem Verlust zweier bislang sicherer Sitze bei Nachwahlen das Wasser bis zum Halse steht. Da kommt der Feind am besten von außen, damit das Licht und die Aufmerksamkeit woandershin fällt. Und wieder greift die Inszenierung vom übellaunigen und übergriffigen Europa, diesmal in der Gestalt des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Es braucht nicht einmal mehr die große Kulisse, allein das Wort „Europa“ oder „europäisch“ reicht inzwischen, um die getreuen Gazetten in Stellung zu bringen und die Volksseele zum Kochen.

Briefkasten aus der Zeit Georg V., Milton Abbas, Dorset

Fliegender Pfeiler an Kathedralen? Mr Johnson fuhr während der Brexitkampagne mit einem Bulldozer durch eine Wand, die solide aussehen sollte, aber nur aus Styroporblöcken bestand. Sollte das eine Anspielung auf die Berliner Mauer sein, Freiheit für das Volk?

Das sind alles eingängige große Bilder, die nie und nirgendwo wirklich passen. Aber immer rufen sie irgendwelche Assoziationen hervor, die sich das Publikum dann im eigenen Kopf zurechtstellt. Leichtes Spiel für jemanden, der mit Geschichten und Bildern sein Geld verdient, der allerdings aus seinem Job beim DailyTelegraph flog, weil seine Geschichten doch zu hohl waren.

Die Insel ist auf dem besten Weg von einer geachteten und viel kopierten parlamentarischen Demokratie zu einem totalitären Versuchslabor zu werden. Es sei denn, es gelingt, diese Regierung abzuwählen.

A.L.Kennedy: „Nur Widerstand kann uns noch retten.“

Beate Blatz, Köln

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juli 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 3. Juli 2022, die Rechte der Bilder liegen bei der Autorin.)