Russische Exilkultur in Deutschland

Ein Gespräch mit Felix Sandalov, Direktor der StraightForward Foundation

„Das Beispiel der Buchbranche zeigt, wie Verbote in den Alltag eindringen. Die Rechte für einen vielversprechenden Titel, etwa die Biographie eines internationalen Stars oder eines prominenten Staatsoberhaupts, werden bereits in einem Stadium verkauft, in dem von dem Buch nicht mehr existiert als ein Exposé. Bis das Buch in Übersetzung erscheint, können drei bis vier Jahre vergehen, eine Zeitspanne, in der sich das gesellschaftliche Klima und die politische Lage erheblich verändern können. Verlage in Russland mit einem großen Portfolio können heute nicht mehr drucken, was sie noch vor kurzem gerne veröffentlicht hätten, oder nachdrucken, was sie verlegt haben. Angela Merkels Autobiographie Freiheit, die wenig schmeichelhafte Charakterisierungen von Vladimir Putin enthält, wird in Russland nicht mehr erscheinen, obwohl der Verlag die Rechte für die Veröffentlichung bereits erworben hatte.“ (Felix Sandalov, Schwierige Gegenöffentlichkeit)

Felix Sandalov ist Direktor der StraightForward Foundation, die unzensierte russische Non-Fiction-Bücher zugänglich macht. Bevor er nach Deutschland kam, war er Cheflektor des russischen Verlags „Individuum“, über den derzeit im Zusammenhang mit dem sogenannten „Fall der Verleger“ berichtet wird – der Verhaftung von Mitarbeitenden des Verlags im Mai 2025, die für die Verbreitung der Bücher verantwortlich sind. Der Vorwurf lautet „Extremismus“ – so bezeichnet der russische Staat inzwischen die Veröffentlichung von Büchern mit homosexuellen Figuren, da die LGBT-Community seit November 2023 offiziell als „extremistische Bewegung“ gilt.

Felix Sandalov. Foto: privat.

In seinem Beitrag „Schwierige Gegenöffentlichkeit“ für das Osteuropa-Magazin hat Felix Sandalov mit vielen Zahlen und konkreten Beispielen beschrieben, wie sich die Spielräume in den russischen Verlagen zunehmend verengten, sodass ihm letztlich nur die Möglichkeit blieb, das Land zu verlassen. Die StraightForward Foundation nimmt regelmäßig in Berlin und in Prag an Buchmessen unzensierter russischer Literatur teil. In Russland ist dies nicht mehr möglich, die Gefahr ist für Autor:innen und Verleger:innen zu hoch, wenn sie etwas veröffentlichen, das Putin, die Regierung und deren Vorgehen kritisch betrachtet. Die Situation hat sich schrittweise immer weiter verschärft.

Vom Journalisten zum Verleger

Norbert Reichel: Bevor Sie nach Deutschland umzogen, haben Sie in Russland mehrere Jahre lang als Cheflektor für den Nonfiction-Verlag „Individuum“ gearbeitet

Felix Sandalov: Ich habe für diesen Verlag sechs Jahre lang gearbeitet. Meine Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, hatte viel mit der Lage des Journalismus in Russland zu tun. Ich war selbst eigentlich Journalist und habe für verschiedene Medien gearbeitet, beispielsweise für „Afischa“, eine große und wichtige Quelle für Young Urban Professionals. Ich habe lange beobachten müssen, wie die Möglichkeiten des Journalismus immer weiter eingeschränkt wurden. Alle diese Medien wurden am Ende vom Staat kontrolliert, zunächst von verschiedenen Oligarchen gekauft, dann Schritt für Schritt mehr und mehr kontrolliert. Im Jahr 2015 habe ich mein Buch über den russischen Nonkonformismus in der Kunst und insbesondere über die Punkmusik der 1990er-Jahre veröffentlicht, weil mich das Thema Solidarität, die Selbstorganisation von Menschen in schwierigen Verhältnissen und die Tatsache, dass gerade solche Bedingungen in Russland die eindringlichste und kraftvollste Kunst hervorbringen, sehr interessiert. Für dieses Buch mit dem Titel Formationen habe ich später den Andrei-Bely-Preis für herausragende geisteswissenschaftliche Forschung erhalten.

Nach 2016, nach der Besetzung der Krim durch Russland, habe ich Moskau verlassen. Zuvor bin ich ein Jahr durch Südasien gereist, Indien, Thailand, Vietnam, Laos, Cambodia und andere Länder besucht. Ich habe diese Reise genutzt, um meine Zukunft zu überdenken.

Man fühlt in Moskau die Einflüsse des Kreml sehr stark. Ich bin daher nach Kazan gezogen, in die Hauptstadt von Tatarstan, eine tolle Stadt, die mir sehr gefallen hat. Das war meine innere Emigration. Dort habe ich fast zwei Jahre als Cheflektor gearbeitet. Mit dem Aufkommen der sozialen Netzwerke gerieten alle traditionellen Medien weltweit in den Niedergang. Doch in Russland kam zu dieser allgemeinen Krise noch die politische Verfolgung Andersdenkender hinzu. Sie folgen dir immer, sodass du irgendwann nicht mehr weiter für deine Sache rennen kannst.

Am Ende musste ich auch diese Stelle verlassen und versuchte eine Branche zu finden, in der man mehr Freiheit hatte. Und tatsächlich war dies die Buchbranche. Das zweite Buch, das wir herausgegeben haben, war ein Buch von Oleg Nawalny, dem Bruder von Alexei Nawalny. Oleg hatte sein Leben im Gefängnis beschrieben. Sie sind beide verhaftet worden und wurden in einem Schauprozess, einer rein politischen Sache, verurteilt. Oleg verbrachte drei Jahre im Gefängnis. Damals war es noch möglich, ein solches Buch in Russland zu veröffentlichen. Heute ist das nicht mehr denkbar. Während meiner Zeit bei „Individuum“ war für mich offensichtlich, dass Verleger vielleicht mehr Freiheit hatten, aber man konnte davon ausgehen, dass die Regierung, wenn sie mit den Medien fertig war, sich auch die Buchbranche vornehmen würde. So kam es auch. Sie haben alle Medien „gereinigt“ und nahmen sich dann die Buchbranche vor. Natürlich greifen sie in erster Linie diejenigen an, die kommerziell erfolgreich sind und bei der Jugend gefragt sind.

Als der Krieg gegen die Ukraine im Februar 2022 anfing, haben wir uns entschieden, den Verlag zu verkaufen, soweit es diese Möglichkeit gab. Sie haben es an Eksmo, den großen Verlag in Russland und tatsächlich ein Monopol, verkauft. Ich selbst habe schon im Jahr 2021 Russland verlassen und bin nach Deutschland gezogen, zunächst über ein Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung. Zunächst hatte ich noch den Plan, wieder nach Russland zurückzukehren, habe aber nach dem 24. Februar 2022 meine Pläne verändert. Auch mein Chef, Besitzer des Individuum-Verlags, musste Russland verlassen. Er ist jetzt in Serbien. Es waren diese ständige Beobachtung, diese Drohungen. Ich sah schon, dass ich der nächste oder wenn nicht der übernächste sein würde. Ich hatte keine Lust, meine Freiheit zu riskieren. Deswegen habe ich mich entschieden, in Deutschland zu bleiben. Am 14. Mai 2025 kam ein weiterer Beweis: In Moskau wurden zehn Mitarbeitende festgenommen, die sowohl für Individuum als auch für Popcorn Books tätig sind – letzteres ist ein Schwesterverlag mit Schwerpunkt auf Belletristik. Drei von ihnen – Pawel Iwanow, Artjom Wachljajew und Dmitri Protopopow – wurden am 15. Mai unter Hausarrest gestellt. Man wirft ihnen „Extremismus“ vor: nämlich das „profitorientierte Erstellen und Verbreiten von Literatur, die die LGBT-Ideologie propagiert“, welche in Russland mittlerweile offiziell als „extremistisch“ gilt.

Dieser Vorwurf ist so absurd, dass es schwerfällt, ihn ins Deutsche zu übersetzen – jeder einzelne Begriff darin ist eine Verdrehung der Realität. Angeklagt wurden Menschen, die keinerlei Einfluss auf die Inhalte der Bücher hatten, sondern ausschließlich für Vertrieb und Buchhaltung zuständig waren.

Über den Beginn dieser Geschichte, den sensationellen Erfolg des Buches „Sommer mit Pionierkrawatte“ von Elena Malisowa und Katerina Silwanowa (russisch beim Verlag Popcorn, in Deutschland unter dem Titel „Du, und ich und der Sommer“ bei Blanvalet erschienen), und die erbitterte Reaktion der Behörden auf die Popularität dieses queeren Romans, der in der UdSSR spielt, habe ich mit meiner Kollegin Elisabeth Schimpfössl für die New York Times geschrieben.

Norbert Reichel: Auch 3sat berichtete.

Felix Sandalov: Dieser Akt staatlichen Terrors zielt offensichtlich darauf ab, die Buchbranche im Land einzuschüchtern. Meinen drei Freunden und Kollegen drohen nun Haftstrafen zwischen 7 und 12 Jahren. Wir wollen diesem Fall größtmögliche Öffentlichkeit verschaffen.

Die Wahrheit veröffentlichen

Norbert Reichel: In Deutschland entstand dann die StraightForward Foundation.

Felix Sandalov: Mir war klar, dass sich die Zensursituation nur weiter verschärfen würde – und dass man dem etwas entgegensetzen muss. Wir hatten Kontakte zu verschiedenen Autoren, ich hatte die Expertise, wie man ein gutes Non-Fiction-Buch schreibt. Was in diesem Bild noch fehlte, war die Beziehung zu ausländischen Verlagen. Wir mussten darüber nachdenken, was uns von anderen Exil-Verlagen unterscheidet. Wir sind eher ein Labor, ein Inkubator. Wir wollten unsere Bücher in verschiedenen Sprachen verbreiten. Russisch ist für uns ein Nebenprodukt. Unsere Autoren schreiben in Russisch, wir lektorieren in Russisch, aber unser Ziel ist es, diese Manuskripte durch Übersetzungen so weit wie möglich zu verbreiten. In den westlichen Ländern fehlt die Expertise für Russland. Sie ist – so nenne ich das mal – ein wenig zurückgeblieben. Während sich das Land in ein schwarzes Loch verwandelt, aus dem immer weniger verlässliche Signale und immer mehr Desinformation und Lügen nach außen dringen, muss man mit aller Kraft die Zahl glaubwürdiger Quellen erhöhen und die Analyse der Ereignisse fördern.

Norbert Reichel: Vor allem im Bereich der Sachbücher?

Auswahl von Büchern bei der Buchmesse Anfang Mai auf dem Bebelplatz in Berlin. Foto: privat.

Felix Sandalov: Es geht um politische Sachbücher. In unserer Satzung steht, dass wir Schriftstellern helfen wollen, die ihre Bücher in Russland nicht mehr veröffentlichen können. Mit Belletristik ist es nach meinem Eindruck noch möglich, auch etwas Oppositionelles, etwas Kritisches gegen die Regierung zu veröffentlichen. Belletristik kann man maskieren, indem man über ein Fantasieland schreibt oder die Handlung in die Zukunft verlegt. Mit Sachbüchern ist das nicht möglich. Man muss bei der Wahrheit, bei der Wirklichkeit bleiben und die Dinge bei ihrem richtigen Namen nennen. Und genau dafür kann man mit einer Geldstrafe belegt werden, den Status eines „ausländischen Agenten“ oder einer „unerwünschten Organisation“ erhalten – oder sogar eine echte Haftstrafe.

Viele Autorinnen sahen sich gezwungen, das Land zu verlassen, und das traf auch Verlegerinnen. Doch viele bleiben in Russland – und man muss sie als Geiseln des Regimes betrachten.

Norbert Reichel: Welche Themen habt ihr im Programm?

Felix Sandalov: Etwa die Hälfte der Bücher in unserem Katalog beschäftigt sich mit dem Krieg um die Ukraine. Aus verschiedenen Perspektiven. Es ist der größte Krieg in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Es geht um Kriegsverbrechen, die Geschichte des Donbas, die verschleppten Kinder aus der Ukraine. Die andere Hälfte befasst sich mit der Lage der Menschenrechte in Russland, der Schwäche der Regierung, darüber, dass und wo es Putin nicht gelingt, alles unter seine Kontrolle zu bringen. Dazu gehört beispielsweise das Buch von Andrej Zacharow über die digitale Beobachtung in Russland. Er hat Putins geheime Familie und seine Tochter entdeckt, die zuvor vor der Öffentlichkeit verborgen wurden. Darüber wurde auch in deutschsprachigen Medien berichtet. Ein Thema war auch die Heuchelei der Regierung. Putin inszeniert sich als jemand, der die sogenannten „traditionellen Werte“ schätzt, aber in der Realität ist das nur Propaganda.

Vielleicht noch ein Beispiel. Es gab vor Kurzem einen Bericht aus dem Kreml, der zeigte, wie Putin die kleine Kapelle im Kreml besuchte. Er ging hinein, machte aber kein Kreuzzeichen. Das ist jedoch für orthodoxe Menschen Pflicht. Für Menschen mit einem echten religiösen Gefühl ist es auch eine automatische Geste. Dass er es nicht machte, zeigt, dass es kein echtes Gefühl ist, wenn er von Religion spricht, sondern nur Propaganda. Es gibt viele Christen in Russland, er spricht zu ihnen wie ein Populist, aber er spielt die Rolle wie ein schlechter Schauspieler. Es ist im Grunde ähnlich wie bei Donald Trump, der einen frommen Menschen auch nur spielt, obwohl er es nicht ist. Sie glauben nicht an das Christentum und man kann es sehen, dass sie es nicht ehrlich meinen.

Andrej Zacharow schreibt in dem Buch – es ist schon fertig – über die digitale Beobachtung in Russland die dem chinesischen Staatsmodell ähnelt, aber raffinierter und subtiler organisiert ist. In China wird alles von der Regierung direkt kontrolliert. In Russland gibt es immer etwas Anarchie, auch wegen der Korruption. Alle Beamten möchten gerne Geld und Macht. Man kann alle Dateien kaufen. Sie sind nicht wie in Europa gesichert.

Die Regierung hatte geplant, Alexej Nawalny zu vergiften. Sie folgten ihm an verschiedene Orte. Sie schauten, wohin er fliegt. All diese Dateien kann man auf dem Schwarzmarkt finden. Nach der Vergiftung, die Nawalny überlebt hatte, haben Investigativjournalisten und sein Team ebenso Dateibanken von KGB-Leuten gekauft. Es ist zum Beispiel schon merkwürdig, wenn jemand drei oder vier Tickets für dasselbe Flugzeug kauft. Das zeigt, dass es sich um einen Agenten handeln muss. Zwei Mal kann schon geschehen, aber mehr ist sehr verdächtig.

Diese Anarchie in Russland ist für den technologischen Fortschritt, für Künstliche Intelligenzen interessant. Die Regierung nutzt es gegen Aktivisten, aber die Aktivisten können es auch gegen die Regierung nutzen. Zacharows Buch behandelt dieses Thema. Wir haben uns noch nicht entschieden, ob wir es auf Russisch veröffentlichen. Wir haben auch noch keinen deutschen Verlag gefunden. Es gibt einen niederländischen Verlag, der großes Interesse hat. Wir sind noch in den Anfängen der Planung. Das deutsche Verlagswesen ist für uns wohl eines der schwierigsten. Zu meinem großen Bedauern bestehen die größten Hindernisse im Konformismus der deutschen Verlage, in ihrer konservativen Haltung, im fehlenden Interesse an Geschehnissen außerhalb der engen Deutschland- und US-zentrierten Diskurse, in einem jahrelangen Mangel an originellen verlegerischen Entscheidungen – und in einer nur oberflächlichen Solidarität mit Kolleg:innen, die über wohlklingende Worte nicht hinausgeht.

Über Russland aufklären

Foto: privat.

Norbert Reichel: In der deutschen Öffentlichkeit scheint mir wenig Wissen über Russland vorhanden zu sein. Ebenso wenig über die Ukraine.

Felix Sandalow: Vor dem Krieg – es tut mir leid, es so sagen zu müssen, aber es ist die Wahrheit – waren ukrainische Autoren in deutschen Verlagen sehr schlecht repräsentiert. Nach Beginn des Krieges änderte sich das. Es gab mehr Übersetzungen. Es waren auch Bücher, die schon längere Zeit vergriffen waren und wieder aufgelegt wurden. Das dauerte nicht lange an. Jetzt ist es für die meisten Menschen nicht mehr so interessant. Sie haben nicht mehr vor Augen, was da geschieht. Gleichzeitig erlebt der Buchdruck in der Ukraine – trotz des Krieges – eine Blütezeit: Es erscheinen zahlreiche beeindruckende Bücher auf Ukrainisch, von denen jedoch nur sehr wenige ins Deutsche übersetzt werden.

Anstelle einer systematischen Auseinandersetzung ziehen es viele deutsche Verlage vor, einzelne schöne, aber wenig substanzielle Gesten zu setzen.  Ich wundere mich darüber, dass es in Deutschland ein so starkes Interesse an dem Thema Gulag gibt. Das war auch schon früher so. Dieser Trend bleibt. Aber wir können die heutige Lage nicht mit dem Stalinismus erklären. Der Gulag betraf eine viel größere Zahl von Menschen. Der Kern der politischen Repression ist jedoch derselbe. Es gibt diese Hochsicherheitsgefängnisse im Norden, in Sibirien, aber in Deutschland beschäftigen sich alle nach wie vor mit den 1930er und 1940er Jahren und wollen einfach nicht mehr darüber wissen, was heute geschieht.

Russland bedroht die gesamte Europäische Union. Für mich macht es einen sehr irrsinnigen Eindruck, dass Politiker darauf achten, es auch direkt sagen, aber dass es in der Gesellschaft offenbar keine Rolle spielt. Man ignoriert es. Vielleicht denken alle, dass jemand anders kämpfen wird. Es ist eine sehr kurzsichtige Strategie.

Norbert Reichel: Welches Publikum versucht ihr zu erreichen?

Felix Sandalov: Es macht für uns keinen Sinn, russisches Publikum zu adressieren. Oppositionelles Publikum weiß ohnehin Bescheid. Wir wollen deutsche, englische, amerikanische Leser ansprechen. Wie es in dem Krieg um die Ukraine weitergeht und wie der Krieg ausgeht, hängt davon ab, was diese Leute denken, was diese Leute wählen. Manche denken, Putin wäre nicht gefährlich, das wäre nicht unsere Sache, sie wollen wieder billige Ressourcen kaufen und verstehen einfach nicht, dass sie damit diesen Diktator füttern.

Bürger:innen Russlands und Belarus’, die vor Verfolgung nach Europa geflohen sind, stoßen hier auf massiven Widerstand der europäischen Bürokratie: Sie werden an den Rand gedrängt, ausgebremst und zermürbt – während die Kinder hoher Putin-Funktionäre ihr Leben in europäischen Metropolen genießen, in Eliteschulen studieren und Immobilien sowie Unternehmen erwerben.

Ganz zu schweigen von den bekannten Fakten: etwa der Lieferung von Gas zur Niederschlagung von Demonstrationen aus Deutschland nach Russland, China und Belarus über Andorra, dem Export von Schießpulverbestandteilen oder dem umfassenden, leisen Verrat an der Ukraine – begleitet von lauten politischen Reden darüber, wie wichtig es sei, der russischen Aggression entgegenzutreten und gleichzeitig (widersprüchlich genug) wie bald Russland angeblich ohnehin zusammenbrechen werde.

Diese Doppelbotschaften – bekannt unter dem Begriff double bind – sind dafür bekannt, Schizophrenie und kognitive Störungen hervorzurufen. Es tut mir leid zu sehen, wie viele Menschen in diese Falle geraten. Unser Ziel ist es, ihnen eine andere Perspektive zu eröffnen – mit einer klaren, realistischen Einschätzung der Situation in Russland und ihrer Handlungsspielräume.

Unsere Bücher sind in physischer Form nur außerhalb Russlands präsent. Wir geben die Bücher weiter an Exil-Verlage, die außerhalb Russlands drucken und verkaufen. Das russischsprachige Manuskript veröffentlichen wir im Internet kostenlos, sodass alle es lesen können. Es ist nicht so einfach, gedruckte Bücher nach Russland zu bekommen. Es ist auch gefährlich. Es gibt Fälle, in denen jemand, der ein Buch von Alexej Nawalny außerhalb Russlands bestellt hat und es dann in Russland bekommen hatte, von der Polizei besucht wurde. Wir wollen niemanden gefährden, deshalb denken wir, dass elektronische Bücher weniger gefährlich sind. Man kann sie über VPN nutzen, hinterlässt dort keine Spuren und wenn man es gelesen hat, kann man es einfach löschen.

Norbert Reichel: In welcher Sprache schreiben eure Autoren?

Felix Sandalov: Alle schreiben auf Russisch. Wir übersetzen etwa die Hälfte eines Buches in Englisch für Verleger in verschiedenen Ländern. Englisch können alle lesen. Es kommt kaum vor, dass weniger Verleger in Deutschland auf Russisch lesen können. Sie haben in der Regel keine eigene Perspektive. Es ist vielleicht auch eine Generationensache. Viele Menschen, die mit der Slavistik verbunden sind, sind schon im Rentenalter. Die Jugend lebt in einem imaginären Amerika.

Die Partner

Norbert Reichel: Wie verhält sich StraightForward zu anderen oppositionellen Akteuren? Ich denke an Memorial, an Meduza, an den Sender Doschd, heute als TV Rain im Netz.

Felix Sandalov: Meduza ist unser Partner. Sie veröffentlichen viele unserer Bücher auf Russisch. Unser erstes Buch über die Wagner-Gruppe und Jewgenij Prigoschiin wurde von Meduza veröffentlicht. Wir haben auch ein Buch über Memorial gemacht, mit dem Memorial-Historiker Sergej Bondarenko. Ich schätze dieses Buch sehr, denn es ist keine Hagiographie, sondern fragt kritisch, warum es Memorial nicht gelungen ist, den Kampf gegen den Nationalismus zu gewinnen. Alles ist schon wieder da. Umfragen zeigen, dass es viele Menschen in Russland gibt, die sich inzwischen wieder pro Stalin äußern. Unter Stalin wurden Millionen getötet, die Repressionen haben unzählige Familien getroffen, aber der Wunsch nach einem starken Mann ist offenbar stärker.

Zu Beginn der 1990er Jahre war Memorial eine wichtige politische Kraft. Es gibt im Buch von Bondarenko ein Kapitel dazu: Darin geht es um einen Prozess gegen die kommunistische Partei, im Jahr 1991, ähnlich zu den Nürnberger Prozessen. Am Ende hatte es jedoch so gut wie keine Wirkung. Es war offensichtlich, dass in der neuen Regierung wieder dieselben Menschen arbeiteten, die schon für die Kommunisten gearbeitet hatten. Sie haben nur die Farbe gewechselt und haben kein Interesse, diesen aufklärenden Prozess zu unterstützen, weil dieser sie stören könnte, weil sie selbst betroffen sein könnten. Es hat auch keine Rolle gespielt, dass die kommunistische Partei verboten wurde. Die Sowjetunion wurde aufgelöst, das Verbot war Geschichte. Sie haben 1993 eine neue Partei gegründet, die KPRF, die Kommunistische Partei der Russischen Föderation.

Wir erleben heute einen Wendepunkt, einen Zeitpunkt, der auch eine andere Geschichte schaffen könnte. Aber es passiert nicht.

Norbert Reichel: Wie reagiert das Publikum? Ihr habt Literaturpreise, ihr habt Buchmessen in Prag und in Berlin.

Felix Sandalov: Die wichtigste Aufgabe eines Verlegers ist es, den Leseprozess, Literatur etwas mehr sexy, etwas modischer zu machen, beispielsweise mit dem Umschlag, mit dem Marketing, mit der richtigen Positionierung. Wir müssen uns vorstellen, dass es vor 50 Jahren Filme, Bücher, Hobbys gab, die man in der Freizeit anschauen, lesen, pflegen konnte. Jetzt gibt es zu viele andere Möglichkeiten sich zu unterhalten. Man muss heute sehr gebildet sein, um manche Bücher zu verstehen. Viele Bekannte aus verschiedenen deutschen Verlagen sagen mir, dass die Zahl der verkauften Bücher bei jungen Leuten zurückgehe, vor allem bei jungen Menschen unter 30 Jahren. Ich glaube nicht, dass es so schlecht ist, aber es gibt diesen Trend. Ich denke daher, dass russische Verleger im Exil das verstehen und daher versuchen, die jüngere Generation zu erreichen. Eigentlich hätte die jüngere Generation offensichtlich schon Zeit zu lesen, vielleicht auch weil sie noch keine Kinder haben, der Beruf ihnen noch Zeit lässt. Wir sehen viele Jugendliche auf unseren Messen.

Vor zwei Jahren gab es noch keinen russischen Buchladen in Berlin. In Berlin leben über 200.000 russische Menschen, vielleicht inzwischen noch viel mehr, auch die Menschen aus der Ukraine und aus Belarus, die Russisch lesen können. Es gibt schon einen Hunger nach russischer Literatur. Deshalb sind diese Buchmessen so wichtig. Es gibt Interesse, es gibt eine starke Steigerung. Wir werden sehen, wie es sich entwickelt. Für manche ist Literatur sicherlich ein Weg, sich als Migrant aus Russland in der deutschen Gesellschaft zurechtzufinden und beisammen zu bleiben. Literatur ist eine Art Klebstoff. Aber im Moment kreisen all unsere Gedanken darum, wie wir unseren Kolleg:innen aus der Verlagsbranche, die in Russland festgenommen wurden, helfen und sie aus diesem Mahlwerk namens russisches Gerichtssystem herausholen können.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2025, Internetzugriffe zuletzt am 11. Mai 2025. Titelbild: Hans Peter Schaefer, aus der Serie „Deciphering Photographs.)