Schrott Fiction
Ein recyceltes Sub-Genre der Science Fiction
„Guiyu ist eines der weltweit größten Recyclingzentren für Elektronikschrott. Die Arbeiter dort verwerten täglich tonnenweise Elektromüll, und zwar mit den bloßen Händen, ohne Sicherheitsvorkehrungen oder eine ordentliche Ausbildung. Auf einem der bekanntesten Fotos aus Guiyu ist ein höchstens fünfjähriger Junge zu sehen, der auf einem Berg von ausrangierten Platinen, Computerteilen und bunten Kabeln sitzt. Er sieht so fröhlich aus, dass man meinen könnte, er wäre in Disneyland und nicht auf einer Müllhalde.“ (Qiufan Chen, im Nachwort seines Romans „Die Siliziuminsel“, München 2019)
Was passiert, wenn in einem Roman Schrott auftaucht? Wahrscheinlich nicht viel, weil Schrott eines von vielen Motiven ist. Schrottplätze sind immer wieder Schauplätze von Romanhandlungen – in gewissen Serien nehmen sie sogar den Platz eines Ankers ein. Man denke an die Jugendkriminalbuchreihe „Die drei ???“, in der die drei Protagonisten ihr Detektivbüro auf einem Schrottplatz betreiben. Die Wahl des Ortes hat hier sicherlich nicht nur mit der Verwandtschaft eines der drei Detektive mit dem Schrottplatzbetreiber zu tun, denn auf einem Schrottplatz lässt sich gut Wertvolles verstecken, ohne dass wir es sofort finden können. Sprich: Die Detektei der jugendlichen Ermittler kann an diesem Ort gut unbemerkt existieren.
Ziemlich viel Schrott drin
Meine Hypothese zielt jedoch auf die Rolle von Schrott in der Science-Fiction-Literatur ab. Hier war vor allem der Roman „Die Siliziuminsel“ des chinesischen Autors Qiufan Chen aus dem Jahr 2013 bedeutend. In einem Gespräch mit dem Literaturkritiker Martin Zähringer aus Berlin für den Memoranda Science Fiction Podcast kamen wir auch auf Chens Roman zu sprechen und merkten lapidar und scheinbar zweideutig an: „Da ist ziemlich viel Schrott drin.“ Aber die Bemerkung sollte als motivische Fülle verstanden werden, nicht als abschätzige Bemerkung, denn der Roman ist alles andere als trivial.
In dem Roman schildert Chen, der auch lange für Badoo, das chinesische Google, gearbeitet hat, eine Siedlung am Rande einer Millionenmetropole, deren es viele in China gibt. Er zoomt an einzelne Schicksale heran, hebt sie für einen erzählerischen Augenblick hervor und ordnet sie dann in den gesellschaftlichen Zusammenhang ein. In dieser Art Müll-Kolonie am Rande einer Millionenstadt bestimmen Clans die Ordnung. Die Protagonistin sucht einen Weg zwischen der unausweichlichen Sozialstruktur und einer Improvisationskultur, die ein tägliches Überleben erst möglich macht. Chen referiert hier lokale Verhältnisse, die er in den globalen Kontext einordnet. In der Weltwirtschaft nimmt sein Heimatland China eine bedeutende Rolle ein, was billige Massenproduktion angeht, aber auch im E-Mobil-Bereich ist China auf bestem Weg, Europa und Nordamerika zu überholen. Der rasante wirtschaftliche Aufschwung zeitigt negative Konsequenzen, die von der Staatsmacht gerne verschwiegen oder heruntergespielt werden. Chen zielt jedoch mehr noch auf eine anthropologische Erforschung der gegenwärtigen und zukünftigen Zivilisationen, als auf Sozialkritik. Letztere könnte in China auch leicht zu Repressionen vonseiten der Behörden führen.
Mein Hauptinteresse an Chens Roman ist die Entwicklung einer Ortslehre, das heißt: einer Topologie, die vor allem reale und fiktionale Orte in der Literatur untersucht. Schrott fällt nicht allein auf Schrottplätzen an, er entsteht auch in unserem täglichen Umgang mit der Warenwelt. Der französische Philosoph Jean Baudrillard hat dazu bereits 1968 ausführlich geschrieben. In seinem Werk „Das System der Dinge – Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen“ (1968) geht er auf die Science Fiction als „Literatur des Zeugs“ ein. Er verweist auf die technischen Apparate und Gerätschaften, die die Seiten der (damaligen) Science-Fiction-Literatur füllen.
Interessant ist das Erscheinungsjahr des philosophischen Werkes, das sich mit Phänomenen der Popkultur beschäftigt. 1968 gilt als Zäsur der bundesdeutschen politischen Kultur, um sich aus einer falsch verstandenen deutschen Tradition zu lösen und sich für neue, postmoderne Konzepte zu öffnen. Der Aufbruch in die Postmoderne wurde leider vom Faschismus und Weltkrieg unterbrochen. So lässt sich auch eine gewisse Konstanz und Wiederholungsanfälligkeit bei der Science Fiction bemerken. Die klassische Heldenreise mit dem männlichen Protagonisten im Mittelpunkt wird noch lange Zeit auch die Science Fiction bestimmen. Technologische Spielereien, die Baudrillard in seinem Werk kritisch beschreibt, definieren Ende der 1960er beziehungsweise Anfang der 1970er Jahre die Science Fiction.
Literarischer Schrott in der Schrottwelt?
Technologie war immer schon Thema der Science Fiction; die Schrott Fiction rückt den Fokus noch stärker auf die fehleranfälligen Strukturen von Technologie. So etwa der Roman „Schrottwelt“ von Arthur Sellings aus den 1970er Jahren, der erst in den 1980er Jahren in deutscher Übersetzung erschienen ist. Darin schildert der britische Autor eine postapokalyptische Welt, eine zerstörte Welt nach dem Atomkrieg, ein in der damaligen Zeit nicht ungewöhnliches Thema verschiedener Filme und Romane. Im englischen Original trägt der Roman den Titel „Junkworld“, was mit „Schrottwelt“ übersetzt wurde. Wie können wir uns eine solche Schrottwelt vorstellen? Die öffentliche Ordnung ist zusammengebrochen und die Überlebenden improvisieren. Das staatliche Gewaltmonopol ist auf Kiezgrößen übergegangen. Wer Stärke und Manpower hat, hat das Sagen. Für die Genre-Kollekte Schrott Fiction ist der Roman erstmal allein durch seinen Titel interessant – aber wieso Schrottwelt? Was steckt dahinter?
Durch die Zerstörung der Infrastruktur verschieben sich die Wertvorstellungen der Menschen in Sellings‘ Roman. Täglich müssen sie ihre Wohnplätze gegen mögliche Eindringlinge verteidigen. Der große (globale) Überblick fehlt. Die Handlung beschreibt einen begrenzten Kreis in einem urbanen Umfeld. Der Protagonist Douglas Bryan schlägt sich durch einen harten Alltag, entwickelt eine Art zynischen Realismus, um sich auch mental gesund zu halten. Wirkliche Informationen darüber, was passiert ist und was die Zivilisation zur Schrottwelt hat werden lassen, erhält er nicht. Stilistisch ist dieser frühe Roman einer Schrott Fiction weniger interessant als der erwähnte Impulsgeber von Qiufan Chen. Inhaltlich lässt sich an die beschriebene absurde Atmosphäre anschließen: Wie bleiben wir angesichts multipler Krisen resilient? Wie kann es uns gelingen, sie zu bewältigen?
Schrott Fiction lenkt als Aufmerksamkeitslupe das Augenmerk auf schräge Formulierungen, gescheiterte Strukturen, abgebrochene Prozesse, kollabierte Kräne und komplexe Krisen. Was heißt in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeitslupe? Texte schärfen das Bewusstsein über ein bestimmtes Thema und öffnen eine Vorstellungswelt. In Bezug auf die vorgestellte Schrott Fiction rücken Strukturen in den Vordergrund, die einerseits vertraut und andererseits neuartig wirken. Diese Ambivalenz begründet sich in dem betont offenen Literaturbegriff, den die Schrott Fiction begrifflich erarbeitet. Ähnlich wie eine Philosophie der Hermeneutik, die sich um die verschiedenen Bedeutungsebenen eines Textes verdient macht, kann Schrott Fiction Unterhaltung bieten, auch bewusst Trash-Elemente annehmen, also bewusst schlecht schreiben oder übertriebene Bilder und Metaphern wählen, aber sie ist eben auch in der Lage, ökonomische und ökologische Wirklichkeiten in einem sozialen Kontext darzustellen.
Wie das vor sich gehen kann, kann ebenfalls Thema von Schrott-Fiction-Storys sein. Erzählt dieses Sub-Genre auch etwas über seine eigene Entstehung? Ja, kann es. Indem wir über diese Schutthalden, Schrottplätze, Müllberge lesen, lesen wir auch über die Auswirkungen eines ungebremsten Produzierens und Konsumierens. Die Kinder der Revolution werden quasi von der Maschinerie aufgefressen, die verantwortlich für diese Masse ist. Täglich werden neue Bücher lektoriert, gesetzt, angedacht, geschrieben und schließlich gedruckt oder sonst veröffentlicht. Die Digitaltechnologien erleichtern die Produktion von literarischen Werken. Die Hemmschwelle, selbst zu schreiben, fällt. Selbst für Fans eines Sub-Genres, die sich spezialisieren, wird es zunehmend schwerer, auf ihrem Gebiet Schritt mit der Produktion zu halten.
Wiederaufbereitungsanlage Science Fiction
Schrott Fiction interessiert sich für die Schreibweisen der neueren Science Fiction. Der Theaterwissenschaftler und SF-Autor Michael Wehren hat im Reader „Das Science Fiction Jahr 2024“ ein Sammelinterview mit mehreren SF-Schaffenden und Autor:innen geführt; es zeichnet sich eine Tendenz in der zeitgenössischen SF ab, die das eigene Schreiben in den Fokus nimmt. Science Fiction schreiben heißt nicht nur, wichtige Themen der Zukunft abzuhandeln, sondern aus der Gegenwart heraus Schreibweisen zu entwickeln, die einen kritischen Blick auf unser Klimaproblem werfen.
Wir sind bereits in der Post-Apokalypse angelangt beziehungsweise in Prozesse eingewoben, die uns vor Herausforderungen stellen. Im Dezember 2024 hat der Schweizer Verlag für Philosophie (und vereinzelte Belletristik) Diaphanes in seiner Berliner Filiale ein dreitägiges Symposium zu „Waste“ abgehalten – einerseits der Müll, der Ausschuss, andererseits auch das Verschwenderische oder das Verbrauchte, auch im menschlichen Körper. Den denkerischen Hintergrund bilden hierbei Vertreter der französischen Avantgarde wie Antonin Artaud, Georges Bataille oder Gilles Deleuze. Die Rede war von inneren Wüsten, toxischen Müllbergen, kreativem Überschuss, apokalyptischen Landschaften und posthumanen Visionen. Hier wird etwas die Vergangenheit der klassischen Moderne, der Postmoderne und der Science-Fiction-Literatur beschworen. Müllberge sind tatsächlich reale Gegenwart unseres Planeten, und die Literatur wie auch die Kunst können sich bewusst damit auseinandersetzen und damit Stellungnahmen zu unserem Überleben abgeben.
Die Schrott Fiction konzentriert sich vor allem auf diese Materialermüdungen, auf Verfallsprozesse und auch auf menschlichen Größenwahn, den Anthropozentrismus wirtschaftlichen Wachstums – der Mensch trennt sich vom ökologischen Zusammenhang ab und produziert für seinen Egoismus. Auch in der aktuellen Politik ein offenbar recht attraktives Modell. Die Science-Fiction-Literatur und mit ihr die Schrott Fiction sind besonders geeignet, da sie es vermögen, spannende Szenarien zu entwerfen, Möglichkeitsräume zu eröffnen, die realistischer oder künstlerischer Literatur schwerer zugänglich sind. Künstlerische Literatur verändert die beobachteten Phänomene, um daraus einen ästhetischen Mehrwert zu generieren.
Realistische Literatur nimmt die beobachteten Phänomene als realistischen Hintergrund des Plots. Die Science-Fiction-Literatur hingegen setzt sich zwischen diesen Positionen: Die Realität ist verändert, um ein Planspiel durchzuführen – Wie sieht unsere Welt in vierzig oder fünfzig oder gar hundert Jahren aus? Und die künstlerische Bearbeitung ergibt sich aus der Sprache und dem Worldbuilding, das heißt dem Bauen von fremden, zukünftigen oder sonst wie anderen Welten. An diesem Hebel setzt die Schrott Fiction an: Was bereits vorhanden ist, wird noch multipliziert und wir stoßen auf eine „Schrottwelt“, wie sie der britische Autor Arthur Sellings im Jahr 1970 schildert. Schrott Fiction untersucht, wie das Zusammenleben funktioniert. Und wie beschreibe ich die Ideen und Probleme in einer Sprache, die möglichst viele Menschen und Nicht-Menschen erreichen kann? Diese sprachliche Herausforderung müsste sich von (akademischer) Philosophie, vor allem von deren verklausulierter Terminologie, lösen. Hierfür gibt es einige Techniken:
Der US-amerikanische Autor William S. Burroughs etwa faltet vorhandene literarische Texte zusammen – er kopiert die entsprechenden Seiten aus den Werken und faltet das Papier. Dann nimmt er die Schere, schneidet an der Falz entlang und legt die so entstandenen Bruchstücke neu zusammen. Mit etwas Glück lesen wir einen sinnvollen Text. Bei der Schrott Fiction könnten wir anders vorgehen: Wir verknüpfen scheinbar disparate Inhalte (auch aus verschiedenen Medien, wie Zeitung, Grafik, Comic, Sound etc.) und erhalten dann ein Panorama der Zivilisation, die sich durch Gefräßigkeit auszeichnet. Wer kann sich vorstellen, mit nur einem Buch durchs ganze Jahr zu kommen? Zwei Filme? Drei Schallplatten? Entgegen der Lifestyle-Beratung, das eigene Leben auf das Wesentliche zu reduzieren, agieren Kunstinteressierte und -schaffende anders: Sie informieren sich weiterhin über die Produktion neuer Werke.
Ein Kunst-Kontinuum
Science Fiction ist als ein Kunst-Kontinuum zu verstehen, das heißt, diese Produktion wird so schnell nicht zum Ende kommen. Das hat der Literaturwissenschaftlicher Leslie Fiedler bereits Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre erkannt. In seinem Aufsatz „Cross the Border – Close The Gap“ (1968) beschreibt er die Aufbruchssituation in der damaligen Literatur. Sie löst sich vom klassischen Kanon und er rückt Genre-Literatur in den Fokus der Analyse. Dort vermutet Fiedler die interessantesten Entwicklungen, was das Verhältnis von Realität und Fiktion angeht.
Schrott Fiction schreiben besitzt einen anderen Reiz: Die Möglichkeit, mit Strukturen zu spielen, ihren verborgenen Charakter als Schrott zu enthüllen – hierbei hilft Philosophie, die in verschiedenen Prägungen in der theoretischen Untersuchung dieses Genres auftaucht. Der britische Autor Michael Thompson schrieb mit „Rubbish Theory – The Creation and Destruction of Value“ (1979) eine Theorie des Mülls, in der er den Verbrauchswert von verschiedenen Waren einschätzt. Diese Theorie ist alles andere als einfach und steht einer literarischen Science Fiction eigentlich im Wege. Es gibt seit einigen Jahren, besonders im anglo-amerikanischen Raum, eine Tendenz der literarischen Speculative Fiction, auch Theorie in Romanhandlungen zu weben, wobei eher von einschrauben die Rede sein sollte. Dies führte zu einer eigenen Genre-Bezeichnung wie Theory Fiction, die etwa auf mehreren Hundert Seiten die Geschichte des Erdöls und der Menschen erzählt. Ergänzt von chemischen und geologischen Details. Das wirkt überstrapaziert und kommt nicht nur durch seine kompositionelle Gewagtheit in die Nähe der Schrott Fiction, sonst könnte zum allgemeinsprachlichen Schrott werden.
Es wäre an der Zeit, am konkreten Beispiel die stilistischen und philosophischen Aspekte der Schrott Fiction zu nennen:
- Das Setting ist wichtig: Es sind marginalisierte Orte unserer Zivilisation, Mischformen der Industrie und Natur, die aber auch inmitten unserer Städte zu finden sind, wie etwa – klassischerweise – Schrottplätze, aber auch Ruinen, Brachland und stillgelegte Fabriken. Es stellt sich hierbei natürlich die Frage, ob die Ausweitung des Schrott-Attributs über den klar definierten Schrott – also: unbrauchbar oder wertlos gewordenes Material, insbesondere Altmetall – sinnhaft ist.
- Die Protagonisten oder auch Nebenfiguren der Storys haben einen wie auch immer gearteten Umgang mit Schrott- oder Altmaterialien, oder aber nutzen Prothesen.
- Die Handlung beschreibt eine Anregung oder Konfrontation mit einem verbrauchten Material, das könnten auch gesellschaftliche Strukturen sein oder Metallträger eines Krans.
Probe aufs Exempel
Arthur Sellings‘ Roman „Schrottwelt“ weist den Schrott bereits als weltbildendes Phänomen im Titel auf. Es ist zu vermuten, dass in diesem Roman besonders viel Schrott Fiction zu finden sei. Ja und nein. Der Titel bezieht sich auf die Wertigkeit, die durch Staatspropaganda, aber auch Werbung auf die Welt vor dem Atomkriegsschlag gelegt wurde. Durch die Schrecken eines nuklearen Winters und des sich anschließenden Zerfalls der Zivilisation ergibt sich eine Umwertung der Werte. Der Protagonist Douglas Bryan war einst Künstler und muss sich nun gegen Straßenrowdies zur Wehr setzen – er verändert seinen Charakter zumindest insofern, als dass er schlagfertiger, im doppelten Wortsinn, wird. Obwohl nicht ganz klar ist, wie er sich vor dem Umbruch verhalten hat. Alle Informationen stammen aus seinem Mund.
Das erinnert nicht von ungefähr an einen der „Mad Max“-Filme, aus deren bunter Bildsprache die Schrott Fiction möglicherweise auch Anleihen nimmt. Aber bewusst wurde „Fiction“ als Determinans gewählt, denn ein „Schrott Punk“ wäre die Übertreibungsform des Cyberpunks – ohne das blinkende Chrom. Bei Schrott Fiction an Motorradgangs zu denken, mag enttäuschen, denn Schrott Fiction bleibt nicht an Accessoires hängen. Stattdessen entwickeln Schrott-Fiction-Schreibende ein Gespür für die Texturen, auch für die unter der Oberfläche vorhandenen netzwerkartigen Strukturen, die Spinnenfäden, die sich durch die Risse unserer Gebäude ziehen. Was in Sellings‘ Roman stichwortgebend startete, erschöpfte bald den analytischen Durst. Die Analyse wird durch die Synthese ergänzt – wie auch das Ursprungswerk für diese Genre-Exegese ein anderes war: Qiufan Chens „Die Siliziuminsel“. Die Struktur ist hier eine andere – bereits sprachlich verwendet Chen viel Energie auf die Darstellung der Welt am Rand.
Der Ausgangspunkt meiner Überlegungen wird in einer Gesellschaft verhandelt, die seit einigen Jahrzehnten einen ökonomischen Aufschwung erfährt und zu der sich die Industrienationen der westlichen Weltkugel verschieden positionieren, bis hin zu einem mehr oder minder offen ausgetragenen Handelskrieg. Für die Schrott Fiction stilprägend ist der chinesische SF-Roman aufgrund des Fokus auf Elektronikschrott-Recycling. Auf der titelgebenden Siliziuminsel wird Elektroschrott in großem Stil abgebaut, die drei lokalen Clans verdienen gut daran, bis eine US-amerikanische Umwelttechnologiefirma auf der Insel vorstellig wird und eine umweltschonende Lösung unterbreitet. Der Kontaktmann des US-Vertreters verweist auf den schnellen wirtschaftlichen Nutzen für diese Insel und ignoriert klimaschonende Aspekte. Dieser Grundkonflikt ermöglicht es dem Autor, eine Art Collage dieses Soziotops, bestehend aus Müll-Industrie und Sub-Gesellschaft, zu erstellen.
Wie geht Qiufan Chen vor? „Unzählige Werkstätten, jede kaum mehr als eine Hütte, säumten dicht an dicht wie Mah-Jongg-Steine die Straßen. Dazwischen waren nur schmale Wege freigelassen, damit die Müllwagen ihre Ladung abliefern konnten. Überall lagen Metallgehäuse, kaputte Displays, Leiterplatten, Plastikteile und Drähte verstreut wie Kothaufen, und dazwischen schwirrten die auswärtigen Arbeiter umher wie Fliegen, durchstöberten den Schrott und warfen alle Teile von Wert in Öfen oder Säurebecken, um sie zu zersetzen und Kupfer und Zinn oder kostbare, seltene Metalle wie Gold oder Platin zu gewinnen. Was übrig blieb, verbrannten sie, oder sie ließen es achtlos liegen und produzierten so noch mehr Müll. Niemand trug irgendwelche Schutzkleidung. Alles war in einen bleiernen Dunst gehüllt. Der weiße Dampf, der von dem erhitzten Königswasser in den Säurebädern aufstieg, vermischte sich mit der schwarzen Asche von dem PVC, dem Isolierdraht und den Leiterplatten, die ohne Unterlass auf den Feldern und an den Ufern des Flusses brannten. Die Brise, die vom Meer her kam, vermischte die beiden Kontrastfarben zu einem einheitlichen Grau und wehte sie unterschiedslos in die Poren eines jeden Lebewesens. Scott sah die Menschen, die im Müll lebten – die Einheimischen nannten sie Müllmenschen.“
Chen verfolgt mit dieser collagierten Wirklichkeitsdarstellung eine realistische Einschätzung von globalisierten Entsorgungsprozessen, die sich auf dieser besagten chinesischen Insel niederschlagen. Er orientiert sich im Grunde am traditionellen Industrieroman, wertet dessen Grundlage jedoch um. Der klassische Industrieroman hatte eine Verbesserung der Arbeitsverhältnisse im Auge; bei Chen hat die Industrie bereits versagt beziehungsweise zu Überfluss und Umweltschäden geführt. Die Umweltschäden überwiegen, die ökonomischen Vorteile sind nur kurzfristig und vor allem stark persönlich bezogen: Der Clan-Kontaktmann spricht von Restaurants und Wohnungen, die sich die Gastarbeiter auf der Siliziuminsel verdienen möchten. Chen schildert die komplexen Kontexte, die eine solche verschrottete Umgebung aufweist. Es gibt in den natürlich-sozialen Konstellationen keine naiven Zusammenhänge. Alle Verflechtungen sind zumindest kompliziert, wenn nicht katastrophisch-krisengeschüttelt.
Glitch-Ästhetik
Während in Qiufan Chens Roman die Realität stark fordert, verliert sich in Rudi Nuss‘ Debütroman „Die Realität kommt“ eben jene Realität in der Virtualität. Es ist kein leichtes Unterfangen, die Schrott Fiction in den digitalen Schrott, die sogenannte Glitch-Ästhetik, zu überführen. Die Materialität von Schrott, also: von verbrauchten Waren und Gegenständen, lässt sich nicht umstandslos in digitale Arten von „Schrott“ übersetzen. Die besonderen Auswirkungen von Materialien, die eine Ewigkeitsdauer beanspruchen, die wie Plastik nur nach langer Zeit abbaubar sind, und die in der Natur bleibende Umweltschäden hinterlassen, unterscheiden sich in ihrer Qualität und auch Quantität von Datenmüll. (Auch wenn natürlich der steigende Speicherbedarf zu materiellen Konsequenzen führt, wie zum Beispiel ganze Hallen für die Speicherkapazitäten.) Analysten, die wissenschaftliche Fakten zur genauen Bestimmung des planetaren Status-Quos sammeln, sind von den Mengen an Material überfordert. Als Zaubertrick werden künstliche Intelligenzen präsentiert, die Big Data durch große Rechenleistung bewältigen können. Kontexte und Zwischentöne gehen jedoch verloren. Oder anders gefragt: Können wir durch die Masse an Datenverarbeitung die wachsenden Schrottberge der Erde und des Weltalls in Griff bekommen?
Rudi Nuss präsentiert als Lösung Uralt-PC-Tower, die angeblich zu Sowjetzeiten entwickelt wurden und nun als materielle Artefakte einer Digitalkultur in einer überfüllten virtuellen Welt ihrer (Wieder-)Entdeckung harren. Dabei entgleist die von Nuss geschilderte virtuelle Realität durch eine Häufung von Adjektiven und Attributen; Nuss versucht, diese entwirklichte Realität zu schildern, indem er Wörter aneinanderreiht. Was wie übliche literarische Praxis klingt, wird in der Detailansicht deutlicher: Die animierte Welt wird in unserer materiellen Umgebung eingerichtet – und irgendwann ist sowohl die analoge wie auch digitale Welt vollgestellt. Das Problem der fortschreitenden Produktion. Wohin mit all den neuen Produkten? Die Schrott Fiction kennt keine Meisterin der Reduktion, auch keine Tiny-Apartments, es sei denn, es handelt sich um eine Baracke in Qiufan Chens Roman. Das Problem des Überflusses und daraus resultierend des Überdrusses führt zu einer Veränderung des literarischen Gleichgewichts. Was heißt das?
Pointiertes Schreiben fällt schwerer, die Ausgewogenheit der Argumente geht verloren, schräge Formulierungen und krumme Metaphern schleichen sich in die Texte, für Literaturkundige wiederholt sich die Geschichte: Hugo von Hofmannsthals instruktiver Text „Der Brief an Lord Chandos“ (1902) fasst gut zusammen, was Jahrzehnte später mit der Schrott Fiction fortgesetzt wird: Die Sprache zerfällt wie Pilze im Mund. Schrott Fiction versucht, einer Flucht der Realität entgegenzuwirken, aber wird dann von der Wirklichkeit eingeholt. Wirklichkeit meint hier das gesamte Spektrum urbanen Lebens. Literarisch wird diese Wirklichkeit durch eine Vielzahl von Methoden eingefangen:
- Einerseits eine Orientierung an der Gegenwart oder nahen Zukunft.
- Benutztes Material rückt in den Fokus, sowohl, was den Plot als auch was die materielle Oberfläche des Textes angeht.
- Die Textoberfläche besteht nicht immer aus Text allein, sondern wird von anderen Medien infiltriert.
- Schrott-Fiction-Texte gehen über ihre Ränder – sie greifen in die Realität ein und verändern die Wirklichkeit – sie sind Kontext-Generatoren.
- Sie sind nicht explizit politisch, durch ihre Materialanhäufung, durch die Konstellationen und auch Verstopfungen aller Art, durch Dilemmas der Zivilisation, die Masse, die Quantität, durch den erdrückenden Pavor werden sie aber soziopolitisch relevant. Es beginnt mit Nachbarn, die Sperrmüll auf den Gehweg stellen und endet mit Öltankern, die Havarie in Buchten erleiden und einen unerträglichen Teppich aus Öl und sonstigem Dreck hinterlassen. Ein Kieselstein kann eine Lawine auslösen oder die Übermüllung einer Großstadt das Ende des sozialen Friedens. Daher ist Schrott Fiction Zukunftsliteratur, die uns Aufmerksamkeit nahelegt. Mal mehr, mal weniger forsch.
Zusammenbrüche
Ähnlich wie Rudi Nuss beschreibt Aiki Mira in ihrem Roman „Proxy“ (2024) eine virtuelle Welt, die jedoch zusammenbricht und die drei Figuren in die analoge von der Klimakatastrophe gezeichneten Außenwelt treibt. Aiki Mira erzeugt durch die Sprache ein Gefühl von Verlust, das den Eindruck verbrauchter Materialien in einer überkommenen Welt vermittelt. Die virtuelle, künstliche Welt ist angesichts des Klimakollapses nicht mehr aufrecht zu erhalten und so bricht für eine Vielzahl von Menschen die Welt zusammen.
Aber die drei Protagonist:innen des Romans machen sich auf den Weg, diese verloren geglaubte Parallelwelt doch wieder zu finden. Aber die reale Welt ist bedrohlich, erweckt die Figuren aus ihrem virtuellen Schlaf und fordert viel von ihnen. Analoger Schrott kann auch weh tun, besonders, wenn er Ecken und scharfe Kanten besitzt. „Eisklötze schlagen Trichter in den Boden. Mit Entsetzen sieht Kawi zu. Starkregen, Sturmböen. Das Draußen zerbricht. Wolken werden zu Wasserfällen aus schwarzem Regen und blendend weißem Eis. Die Dünenlandschaft gleicht einem Morast. Überall Strudel, die das herumliegende Eisgeröll einsaugen. / Regen verschlingt die Landschaft. Und Kawi schaut zu, fixiert in einer Geste der Passivität, der Starre, der Selbstauslöschung. Zuerst sperrte sie sich in ihre Wohnung, dann in diesen Camper. Ein Mensch, der sich selbst eingepflanzt hat. / Die Eisgeschosse werden weniger, dafür nimmt das Wasser zu. Kawi spürt, dass der Camper mehr und mehr absinkt. Auch Dions und Tells Körper verschwinden im Schlamm, gehen unter. In jeder Schicht ihrer starren Hülle weiß Kawi, dass Dion und Tell in Gefahr sind. / Und Shozo? Der Vogel ist nicht mehr zu sehen, also fokussiert sie sich auf Tell. Ihre Blicke treffen sich, und im gleichen Moment weiß Kawi, dass sie real wird.“
Vielleicht scheitert auch das Projekt der Schrott Fiction und dieses Sub-Genre ist die Bankrotterklärung der Literatur vor der Realität. Diese Art von Literatur hat jedoch ausreichend Ideen, dass ein Aufgeben keine Option darzustellen scheint. Hierfür ist die Literatur einfach zu faszinierend. Und wir stehen noch am Beginn aller Dinge, was die Schrott Fiction anbelangt. Warten wir ab, was sich dort noch abzeichnen wird.
Dominik Irtenkauf, Berlin
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2025, Bei dem Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung eines Vortrags vom 16. November 2024 in der Tagung „Erzählte Zukünfte“ in Bochum. Eine Langfassung wurde in einer Tagungsbroschüre veröffentlicht. Internetzugriffe zuletzt am 1. Februar 2025. Titelbild: Thomas Franke, Ascheglühen (Ausschnitt). Bilder im Text: Dominik Irtenkauf aus der Serie „Lost Places“. Rechte jeweils beim Künstler.)