Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine
Erster Teil: Vom Werden, Wesen und Wirken der Science Fiction
„In ihrer Verwurzelung mit den Wirklichkeiten des heutigen Lebens sind die Fantasien selbst eines zweitklassigen Autors moderner Science Fiction unvergleichlich reicher, kühner und fremdartiger als die utopischen und millenianischen Vorstellungen der Vergangenheit.“ (Aldous Huxley, Literature and Science, 1963)
Das Literaturgenre Science Fiction (SF) mit seinen vielfältigen Verzweigungen in der bildenden Kunst, in Film, Fernsehen, Musik, Theater, Hörspiel, Games u. v. m. ist ein zentrales Phänomen der aktuellen populären Weltkultur. Der folgende Essay ist der Auftakt einer dreiteiligen Reihe. Sie will Werden, Wesen und Wirken der Science Fiction mit ihren Wechselwirkungen auf unsere reale Lebenswelt darstellen. Wurzeln und Entwicklungen der SF sollen aufgezeigt und die Bedeutung der SF für das Denken und Fühlen der Moderne soll offengelegt werden. Der erste Teil der Reihe beschreibt Grundsätze, der zweite Teil politische Dimensionen der SF vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte, der dritte befasst sich mit realen und fiktiven Geschichten, die belegen, wie nachhaltig die SF unsere Lebenswirklichkeit beeinflusst.
Der universalhistorische Hintergrund
Wir leben in einer noch nie dagewesenen Situation. Zum grundlegenden Verständnis der Science Fiction gehört vorab und unabdingbar die Erkenntnis, dass die Menschheit seit über 200 Jahren in einem andauernden revolutionären kulturellen Wandel lebt. Dieser historische Hintergrund ist die Grundvoraussetzung für die Welt, in der wir heute leben, und nicht zuletzt für die Existenz der Science Fiction.
Unter „Kultur“ beziehungsweise „kulturell“ ist die Gesamtheit aller vom Menschen gemachten Dinge und Vorgänge zu verstehen (Wissenschaft, Technik, Ökonomie, Politik, Soziales, Globalisierung, Medien, Kunst, Religion, Ethik, Moral, Sitten, Rituale, Kriminalität, Klimawandel usw. usf.). Mit „revolutionärem kulturellem Wandel“ ist eine fundamentale Veränderung aller Lebensbereiche in modernen Gesellschaften etwa ab dem Jahr 1800 gemeint, die von einem immer größeren Tempo des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bestimmt wird.
Einzuordnen sind meine Ausgangsthesen in eine universalhistorische Dimension. Politischer und sozialer Wandel sind an sich nichts Neues, sie hat es immer schon gegeben. Gäbe es sie nicht, gäbe es keine menschliche Geschichte. Gleichwohl hat sich in der Regel dieser Wandel über die Jahrtausende beziehungsweise Jahrhunderte hinweg sehr langsam, ja ausgesprochen gemächlich vollzogen, sodass ganze Generationenstränge davon gar nichts oder nur am Rande etwas mitbekommen haben. Das ist prinzipiell anders geworden. Heute spielen sich gravierende Umbrüche innerhalb eines einzigen individuellen Lebens ab.
Setzt man etwas ungenau den Beginn des Industriezeitalters mit dem Jahr 1800 an, dann hat sich die Menschheitskultur bis heute, das heißt innerhalb von nur gut 200 Jahren mehr verändert als in zweihunderttausend Jahren zuvor. (Wenn überhaupt, könnte man als anderes Beispiel für eine grundständige Veränderung in der Menschheitsgeschichte den Übergang von den Jägern und Sammlern zur Ackerbau- und Viehzucht-Gesellschaft nennen.) Verengen wir den Fokus und messen wir die Zeit vom Beginn der ersten Hochzivilisationen an (etwa vor 7000 Jahren), dann hat es seit 7000 Jahren nicht einen einzigen derart radikalen kulturellen Wandel gegeben, der auch nur ansatzweise mit dem der letzten 200 Jahre vergleichbar wäre. Der Grund dieser Entwicklung liegt in einer explosionsartigen Entfaltung von Wissenschaft und Technik und der damit verbundenen Wertschöpfung.
Zur Veranschaulichung nur zwei Beispiele.
- Stichwort Mobilität: Die Menschen hatten bis zum Tod Goethes (1832) genauso wie z. B. die Menschen im antiken Mesopotamien vor 5000 Jahren lediglich drei Alternativen der Fortbewegung. Sie bewegten sich zu Fuß, benutzten Pferde mit und ohne Wagen oder schwammen bzw. ruderten oder segelten mit dem Schiff. Erst das Aufkommen der Lokomotive und des Dampfschiffs, später dann des Autos, des Flugzeugs und der Rakete, machten Geschwindigkeiten und eine Mobilität möglich, die zuvor undenkbar gewesen waren.
- Stichwort Nachrichtenwesen: Es dauerte mehr als ein halbes Jahr, bis Königin Isabella von Spanien erfuhr, dass Kolumbus Amerika entdeckt hatte (1492). Etwa 350 Jahre später brauchte es immer noch zwei Wochen (!), bis die Nachricht vom Attentat auf US-Präsident Lincoln in Europa angekommen war (1865). Aber es verging nur etwas mehr als eine Sekunde, bis alle Menschen wussten, dass Neil Armstrong auf dem Mond spazieren gehen konnte (1969). Die ungeheure Geschwindigkeit der Informationsübermittlung und -verarbeitung, die sich mit einer sintflutartigen, allgegenwärtigen Fülle kombiniert, hat in einem angesichts der Weltgeschichte lächerlich kurzen Zeitraum zu völlig veränderten Formen der Kommunikation und Wahrnehmung geführt.
Hinzu kommen andere Bedingungsfaktoren – hier vor allem die Computer- und die Biotechnologie. Überragend sind vier Namen, die der Menschheit erschütternd neue Perspektiven aufzeigten: Charles Darwin, der der Evolution eine rationale Grundlage verschaffte, Sigmund Freud, der die übernatürlichen Dämonen aus der Psyche des Menschen vertrieb, und Albert Einstein, der Erklärungsmodelle für das natürliche Universum anbot, die sich auch aktuell immer wieder bestätigen. Ich nenne noch den leider weniger bekannten Ferdinand de Saussure, der der Sprache ein linguistisches Fundament gab. Das waren Jahrtausend-Geniestreiche, die zeitlich gesehen praktisch gleichzeitig das Licht der Welt erblickten und das Denken und Fühlen der Moderne radikal neu prägten.
Versuch einer Definition der SF
Richten wir den Scheinwerfer auf die SF selbst. Bei der einfachen Frage „Was ist Science Fiction?“ könnte man auf die wörtliche Übersetzung „erdichtete Wissenschaft“ verweisen. Besonders aufschlussreich ist das nicht, da nur eine plakative Verkürzung durch eine andere ersetzt wird. Man muss also tiefer gehen, und das führt zu vielen Antworten von höchst unterschiedlicher Qualität und Gewichtung. Ohne an dieser Stelle auf die seit Jahren ausgiebig geführte Diskussion zum Thema einzugehen, ergibt sich meines Erachtens bei kritischer Sichtung bisheriger Antworten folgendes Ergebnis.
Einige Antworten sind schlicht falsch, andere bleiben definitorisch unsicher bis diffus, dritte wiederum sind zu eng oder zu weit gefasst, vierte schließlich kapitulieren und begegnen der Frage nur noch mit Ironie (etwa so: „SF ist das, was in den Bücherregalen als SF angeboten wird.“). Das hat auch bei einigen zu der Ansicht geführt, dass die SF nicht definierbar sei. Nach einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit der SF vertrete ich die Auffassung, dass eine Definition der SF sehr wohl möglich ist, sogar in einem einzigen Satz. Eine etwas ausführlichere Kurzdefinition sieht dann wie folgt aus:
- Science-Fiction ist der Zweig der Literatur, der vor dem Hintergrund der Aufklärung, der rasanten Entfaltung von Wissenschaft und Technik und einer expandierenden Industriegesellschaft entstanden ist. Die SF beschäftigt sich mit den sich daraus ergebenden Möglichkeiten und mit den Reaktionen und Aktionen von Menschen auf diese Möglichkeiten.
- Das wissenschaftlich-technische und/oder soziale Novum wird zum Gegenstand der Literatur und optional durchgespielt. In der Schaffung optionaler, fiktiver Welten wird das Novum verfremdet und erhält eine eigenständige Aussagekraft, die wiederum mit der Realität wechselwirkt.
- Deshalb hat die SF stets einen Bezug zu ihrer jeweiligen wissenschaftlich-technischen, aber auch zur politisch-sozialen Wirklichkeit und zum natürlichen Universum, so fantastisch ihre Welten auch sein mögen. Dieses Strukturmerkmal unterscheidet sie von der Fantasy bzw. von der allgemeinen Phantastik.
- Alles in allem ist die SF die Reaktion der Literatur (im weiteren Sinne der Kunst) auf einen revolutionären kulturellen Wandel, der in der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte einzigartig ist.
Als Definition der SF in nur einem einzigen Satz schlage ich vor:
„Science Fiction ist die metaphorisch-mythische Antwort der Literatur (im weiteren Sinn der Kunst) auf die revolutionären, durch Wissenschaft und Technik bedingten Umbrüche in der menschlichen Gesellschaft seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute.“
Genese der SF: Von der Proto-SF zum eigenständigen Genre
Wie schon dargelegt, ist die Genese der SF mit der industriellen Revolution untrennbar verbunden. Hier liegt der Grund, warum die SF als eigenständiges Genre erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts besteht. Vorher gab es keine SF. Was es zuvor durchaus gab, waren Geschichten und Romane mit einer besonderen Sorte fantastischer Elemente, die sich bereits auf Wissenschaft und Technik bezogen.
Das impliziert, dass der eingangs angesprochene revolutionäre kulturelle Wandel seine deutlichen Vorboten bereits ab dem Beginn der frühen Neuzeit hatte. Die Renaissance, die Entdeckung Amerikas, die kopernikanische Wende, die Reformation, die Aufklärung und vieles mehr, sie alle zeigen, dass wir im Grunde seit über 500 Jahren in einer „permanenten Revolution“ leben, die dann in der industriellen Revolution einen neuen, bisher ungeahnten „Quantensprung“ erreichte und sich bis heute mit steigender Geschwindigkeit und anderen Quantitäten und Qualitäten fortsetzt.
Unter literarischen Aspekten wird seit dem Erscheinen der großen Utopien von Morus (1516), Campanella (1623) und Bacon (1627) von einer Proto-SF gesprochen – angelehnt an den Begriff Protoplasma. So wie das Protoplasma noch keine fertige Zelle ist, so war die Proto-SF noch keine originäre Gattung. Sie transportierte ihre Inhalte teilweise rudimentär und stückwerkhaft innerhalb anderer, voneinander getrennter Genres. Schwerpunkte sind hier der utopische Staatsroman, der abenteuerliche Reiseroman, der romantische Schauer und die belehrende Wissenschaftserzählung. Aus diesen Hauptströmungen synthetisierte sich ab 1800 die SF zu einem identifizierbaren und eigenständigen Genre.
Zur Entstehung des Gattungsbegriffs Science Fiction
Der heute weltweit gültige Gattungsbegriff Science Fiction setzte sich erst ab dem frühen 20. Jahrhundert im angloamerikanischen Raum durch, in Deutschland sogar erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Gleichwohl entsprachen inhaltlich und formal die Produkte der Zukunftsliteratur des 19. sowie des frühen 20. Jahrhunderts dem, was wir Science Fiction nennen, obwohl zu dieser Zeit noch kein Mensch von SF gesprochen hat. So kommen wir zu der fast paradox klingenden Erkenntnis, dass das Genre schon einhundert Jahre alt war, als es seinen eigentlichen Namen bekam. Der Pionier der US-amerikanischen Magazin-SF Hugo Gernsback erfand – ausgehend von Versuchen wie „scientific romance“ oder „scientification“ – das Label Science-Fiction. (Es gab wohl schon hier und da Vorläufer, die aber unter dem Aspekt der Popularisierung des Begriffs zu vernachlässigen sind. Diese geht eindeutig auf Gernsback zurück.)
Im deutschsprachigen Raum brauchte man wesentlich länger. Jahrzehntelang schwirrten viele Etiketten durch den Erzähläther wie z. B. „Zukunftsroman“, „utopischer Roman“, „utopisch-technischer Zukunftsroman“, „Zukunftsbild“, „Phantasiebild“ oder schlicht „Phantasie“. Angesichts des zeitweiligen Begriffsdurcheinanders ist der Gebrauch einer einheitlich, international gültigen Bezeichnung begründet und sinnvoll, zumal Science Fiction einen inhaltlich und formal umfassenderen und komplexeren Kosmos impliziert, als es die bis dahin üblichen Bezeichnungen zu leisten vermochten.
SF als Unterhaltung
Ein die SF konstituierendes Charakteristikum ist ihre symbiotische Verquickung mit der Kategorie der Unterhaltung. Schauen wir uns das Verhältnis von SF und Unterhaltung genauer an.
Jede Belletristik, jedes Sachbuch, ja jede Form des Geschriebenen (zum Beispiel sogar Gebrauchsanweisungen) müssen einen gewissen Unterhaltungswert haben, um Aufmerksamkeit zu erregen. Je höher er ist, desto attraktiver sind die jeweiligen Texte für die Lesenden. Sind sie öde und sterbenslangweilig, wird sich niemand mit ihnen über erste Versuche hinaus befassen. Allerdings ist das, was Menschen als unterhaltsam empfinden, höchst unterschiedlich. Der Unterhaltungswert, so könnte man auf den ersten Blick meinen, scheint eine rein subjektive Angelegenheit zu sein. Genau deshalb gibt es eine Vielzahl von Genres. Sie alle leben von den sehr unterschiedlichen Vorlieben und Erwartungen des Publikums. Obwohl also jeder zuerst einmal für sich selbst entscheidet, was er als unterhaltsam empfindet und was nicht, geht es doch nicht so individuell-autonom zu, wie man bis hierhin glauben könnte.
Tatsächlich ist die Subjektivität der Unterhaltung nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass unsere Vorlieben, Geschmäcker und ästhetischen Empfindungen kulturell vorgeprägt und erlernt sind. Darauf beruht die Existenz einer populären Massenkultur mit überindividuellem Charakter. Sie bildet nicht nur den Zeitgeist und das politisch-gesellschaftliche Klima mit den Wünschen und Ängsten der Menschen ab, um die damit verbundenen Erwartungen zu bedienen, sondern sie regelt und lenkt sie auch bis zu einem gewissen Grad. Somit funktioniert die populäre Massenkultur (auch) als soziale Institution, die durch ihre vorgegebenen Regelwerke grundlegende gesellschaftliche Übereinstimmungen bzw. Ablehnungen legitimiert, bestätigt und verfestigt.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Die populäre Kultur als soziale Institution ist kein von obskuren Geheimbünden gesteuertes Instrument, das die Massen manipulierend im Griff hat. Verschwörungstheorien sind hier wie immer fehl am Platze. Wie es auch bei den alten Mythen der Fall war, so handelt es sich bei der modernen Populärkultur um ein grundlegendes sozialpsychologisches Phänomen, das politisch-soziale Normen setzt. Zum Funktionieren einer komplexen Gesellschaft ist das notwendig. Trotzdem gilt, dass die Leitbilder der populären Kultur und die ihrer Mythen das gesellschaftliche Bewusstsein keineswegs ausschließlich bestätigen und verfestigen. Sie sind auch veränderbar. Dazu bedarf es spürbarer Veränderungen im Denken und Fühlen der Menschen, die sich aus veränderten Lebensbedingungen ergeben. Zumeist erfordern derartige Prozesse längere Zeiträume, damit sich andere Inhalte und Botschaften verstärkt durchsetzen bzw. alte ersetzen können.
Was bedeutet das für die SF?
Die SF ist aktuell ohne jede Frage neben den großen anderen Genres (Krimi, Thriller, Horror, Fantasy, Mystery, Romanze, Sex, Abenteuer, Sport, Humor etc. – der Wildwestroman ist schon länger marginalisiert) ein nicht mehr wegzudiskutierender, fester und allgemein anerkannter Bestandteil der populären Massenkultur. Das war in Deutschland vor 60 Jahren noch anders und davor sowieso. Interessanterweise nimmt die SF innerhalb der Literaturgenres und darüber hinaus (Film, Fernsehen, Comics, Games, SF-Art, Musik etc.) eine Sonderstellung ein. Diese beruht auf vier Dynamiken.
- Die SF baut innerhalb der sozialen Institution Unterhaltung ihre Wirkmächtigkeit immer weiter aus. Das ist wichtig für die Erkenntnis, dass die SF real unsere Lebenswirklichkeit durchdringt.
- Die SF gehört im Vergleich zu anderen Genres zum wichtigsten Mythenproduzenten der Moderne. Der Einfluss der SF-Mythen auf alle Facetten des alltäglichen Lebens, auf Denkfiguren, Bilder, Sprache, Styling, Ästhetik und vieles mehr ist unabweisbar. Davon wird noch die Rede sein.
- Im engeren literarischen Bereich muss man den deutlich größeren Spielraum der SF gegenüber anderen Genres konstatieren. Selbstverständlich bewegt sich auch die SF in einem nicht willkürlich zu veränderndem Regelwerk. Trotzdem hat sie im Gegensatz zu anderen Genres weit mehr Nischen, ja regelrechte Kavernen aufzuweisen, die von intelligenten und begabten Autoren/innen immer wieder mit neuen Varianten, Stoffen und Geistessprüngen angereichert werden. Das hängt mit dem optionalen Wesen der SF zusammen, welches per se Ideenreichtum und kreative Phantasie erfordert.
- Hinzu kommt ein entscheidender Faktor: Die SF kann ohne die Entwicklungen der real existierenden Welt nicht Sie wird von ihr ständig gespeist. Es ist die wissenschaftlich-technische Welt selbst, die die Innovationen in der SF provoziert. Ob SF-Autoren/innen wichtig, bedeutend oder groß sind, zeigt sich in ihrem sensiblen, ideenreichen Umgang mit neuen, nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch politisch-sozialen Entwicklungen und der gekonnten bis meisterhaften literarischen Umsetzung.
SF versus Hochliteratur?
In diesem Zusammenhang muss etwas zum Verhältnis der SF zur gemeinhin als Hochliteratur etikettierten Variante des Geschriebenen gesagt werden. Zu den Mustern der Feuilletons gehört es, den Unterschied zwischen einer trivialen Unterhaltungsliteratur, zu der nach dieser Auffassung die SF gehört, und einer meilenweit darüberstehenden „Hochliteratur“ zu betonen. Diese Behauptung ist unhaltbar, weil sie im Wesentlichen von falschen und der Literatur sachfremden Prämissen ausgeht. (Dies habe ich in meinen Büchern ausführlich begründet.) Es kann, so meine ich, nur um gute oder schlechte Literatur gehen, niemals um niedere oder hohe Literatur. Gerade die SF macht das deutlich. Die sogenannte Hochliteratur (die ich als artifizielle Literatur bezeichne) ist von ihr in einem Maße beeinflusst worden, die die konservativ-elitäre Literaturkritik zum Teil bis heute nicht wahrhaben will.
Einige deutschsprachige und ausländische Belege
E. T. A. Hoffmann (Die Automate, Der Sandmann), Paul Scheerbart (Die große Revolution, Lesabéndio), Christian Morgenstern (Zeitgedichte), Alfred Kubin (Die andere Seite), Georg Kaiser (Die Dramen Gas I und Gas II), Paul Gurk (Tuzub 37), Alfred Döblin (Berge Meere und Giganten) und Franz Werfel (Stern der Ungeborenen) stehen für eine SF, die im Rahmen des Mainstreams geschrieben wurde. SF-Elemente finden sich bei Goethe (der Homunkulus im Faust), Franz Kafka (Die Verwandlung, In der Strafkolonie), Erich Kästner (das Gedicht Der synthetische Mensch) und dem Nobelpreisträger Thomas Mann (Passagen in Doktor Faustus). Weitere Literaturnobelpreisträger wie Gerhart Hauptmann (Die Insel der großen Mutter), Hermann Hesse (Das Glasperlenspiel) und Günter Grass (Die Rättin) kommen hinzu.
Zu nennen sind Hermann Kasack (Die Stadt hinter dem Strom), Walter Jens (Nein. Die Welt der Angeklagten), Arno Schmidt (Die Gelehrtenrepublik), Ernst Jünger (Heliopolis), Christoph Ransmayr (Die andere Welt), Friedrich Dürrenmatt (das Hörspiel Das Unternehmen der Wega und die Tragikomödien Die Physiker und Der Meteor), Marlen Haushofer (Die Wand), Nicolas Born (Lyrikband Das Auge des Entdeckers), Carl Amery (Der Untergang der Stadt Passau), Reinhard Jirgl (Nichts von euch auf Erden) und Juli Zeh (Corpus Delicti. Der Prozess).
Bei den Autoren aus anderen Ländern seien stellvertretend für viele andere genannt: Aldous Huxley (Schöne neue Welt), Georg Orwell (1984), Karel Čapek (das Theaterstück R.U.R. oder der Roman Der Krieg mit den Molchen), Ray Bradbury (Fahrenheit 451, Die Mars-Chroniken), die Nobelpreisträgerin Doris Lessing (Canopus im Argos), Ursula K. Le Guin (Die linke Hand der Dunkelheit), James Tiptree Jr.- das ist Alice B. Sheldon (die Story Das eingeschaltete Mädchen), J. G. Ballard (Die Kristallwelt), Stanislaw Lem (Solaris), Philip K. Dick (Valis), Kurt Vonnegut (Die Sirenen des Titan), William Gibson (Neuromancer) und Philip Roth (Verschwörung gegen Amerika).
Die nur kleine, aber bezeichnende Auswahl unterstreicht: Eine strikte Trennung zwischen SF und sogenannter Hochliteratur gibt es nicht.
Strukturelle Eigenschaften der SF im Spiegel der Zeit
Wie alle Belletristik ist die SF selbstverständlich auch ein Spiegel ihrer jeweiligen Zeit. Sie reflektiert den Zeitgeist, indem sie noch stärker als andere Genres mit Spekulationen und Gedankenexperimenten jongliert. Ausgangspunkte sind immer zeitgenössische Neuerungen (das jeweilige Novum), die sich um sie herum anbahnen oder herauskristallisieren. Eine Methode ist die Extrapolation, eine andere das reine Ausspinnen von phantastischen Möglichkeiten. SF kann Hard-SF sein (starke Orientierung an der Science) oder Soft-SF, die sich nur am Rande für rein wissenschaftliche Fakten interessiert.
Die SF ist keine Prophezeiungs-, sondern eine Optionsliteratur. Ihre mythenbildende Kraft entsteht aus ihrer Fähigkeit, das Novum einer realen Welt in einer weitergedachten, erfundenen Welt zu einem Leben zu erwecken, das sowohl eine erzählimmanente Eigendynamik annimmt, als auch den Ausgangspunkt, die reale Welt, nicht nur abbildet, nicht nur in ihrem Kern offenlegt, sondern eventuell sogar verändert. Folglich ist ein strukturelles Wesensmerkmal der SF in erster Linie nicht die Vorhersage, sondern das Spiel mit der Möglichkeit. Anders: Das Bild, dass der Spiegel reflektiert, ist nicht mehr dasselbe, das aufgenommen wurde. Es hat sich substanziell verändert und macht so einen Schritt über die Abbildung hinaus.
Einer der wesentlichen Gründe, warum die SF in ihrer Geschichte immer überzeugender und erfolgreicher geworden ist, ist die Tatsache, dass die Wirklichkeit in vielen Bereichen die SF überholt hat. Das vermeintlich Undenkbare, zuerst als Option in der SF antizipiert, nimmt weitaus konkretere und oft erschreckendere (oder auch anmutigere) Gestalt an, als je vermutet wurde. Das Gegenstück zur Utopie, die Dystopie, literaturhistorisch eine Erfindung der SF, ist eine zentrale Form, in der sich diese Art der SF-Spiegelwelt materialisiert. An dieser Stelle überschreiten wir die Grenze zur Wirklichkeitsmaschine.
INTERMEZZO: Eine ganz persönliche Geschichte
Als eine Art Intermezzo folgt nun eine ganz persönliche Geschichte, die aber doch ursächlich mit unserem Thema zusammenhängt.
Während eines Aufenthalts in New York Ende der 1980er-Jahre hatte ich ein ungewöhnliches Erlebnis. Ich stand mit anderen auf der Aussichtsplattform des Empire State Buildings. Es war schon dunkel. Tief beeindruckt betrachteten wir das überwältigende Panorama des von zahllosen Lichtern illuminierten Häuser- und Wolkenkratzermeers von Manhattan. Unser Begleiter, ein Angestellter der Planungsbehörde, erzählte viel Wissenswertes über die Politik der New Yorker Stadtverwaltung. Während er sprach, richtete ich meinen Blick nach oben, wo die erleuchtete, turmartige Spitze des Empire State Buildings in den nächtlichen Himmel ragte. In diesem Moment hatte ich urplötzlich eine Assoziation zu Fritz Langs SF-Film Metropolis (1927), und ich meinte: „Das alles erinnert mich an die Kulisse der Stadt Metropolis in Fritz Langs berühmtem Stummfilm.“
Zu meiner Überraschung ging er ganz ernsthaft auf meine Bemerkung ein. „Da haben Sie völlig recht. Das Empire State Building ist unter anderem nach diesem Vorbild erbaut worden, genauso wie Lang durch eine New York-Reise zu Metropolis inspiriert wurde. Übrigens sollte das Gebäude ursprünglich auch als Anlegestelle für Zeppeline dienen. Die transatlantischen Luftschiffe sollten hier oben andocken. Die Passagiere wären dort ausgestiegen und mit Fahrstühlen durch den Turm auf die Erde transportiert worden. Leider wurde daraus nichts.“
Ich war verblüfft, denn mir wurde schlagartig klar, dass es ein rein mediales SF-Fantasieprodukt (nämlich Langs Film) gewesen war, welches offensichtlich einen nennenswerten Anteil am Zustandekommen des Empire State Buildings (erbaut 1930/31) gehabt hatte. Eine erste Ahnung in Sachen SF-Wirklichkeitsmaschine flammte in mir auf. Im Laufe der Zeit verfestigte sie sich sogar, und so erfand ich bereits 2003 die Wendung „SF als Wirklichkeitsmaschine“ in meiner ersten großen Arbeit über die SF.
Etliche Jahre später erlebte ich in diesem Kontext eine erneute Überraschung. Mir fiel nämlich das voluminöse Sachbuch Niegeschichte in die Hände. 2019 hatte Dietmar Dath, FAZ-Literaturredakteur und einer der bedeutenden deutschen SF-Schriftsteller der Gegenwart, den Titel herausgebracht. Untertitel des Werks: Science Fiction als Kunst- und Denkmaschine. Ich merkte auf. Das lag genau auf meiner Linie. Nur – den Schritt, den ich für eine wesentliche Leistung der SF halte, hatte Dath nicht getan (ihn jedenfalls nicht ausdrücklich benannt). Wie dem auch sei. Die SF als Kunst- und Denkmaschine widerspricht in keiner Weise der SF als Wirklichkeitsmaschine. Ich stellte fest: Die Fährte verfolgten also unabhängig voneinander auch andere – offensichtlich weil an dem unterstellten Beziehungsgeflecht tatsächlich etwas dran ist.
Die DDR-SF: Ein einmaliges Literaturexperiment
Zum Schluss des ersten Teils soll noch von einem einmaligen Literaturexperiment die Rede sein, wie es nur die SF zustande gebracht hat. Dieses hätte so nie stattgefunden, würde die SF nicht über originäre Merkmale verfügen, die sie als Kunst-, Denk- und Wirklichkeitsmaschine ausweisen. Die Rede ist von der SF in der DDR, die wie der Staat, in dem sie existiert hat, auf ein vierzigjähriges Leben zurückblicken kann.
In der DDR lief die SF mehrere Jahrzehnte lang unter dem Begriff „wissenschaftliche Phantastik“, bis sich zu ihrem Ende hin auch dort das Label SF durchsetzte. Dabei lassen sich zwei Entwicklungen verorten, die einen außerordentlichen literaturgeschichtlichen Stellenwert haben.
- Zum einen kann man im Gegensatz zur westdeutschen bzw. überhaupt zur West-SF einen Wesenskern der DDR-SF festmachen, um den sich die einschlägigen Werke rankten. (Im Westen gab es diesen Kern nicht.) Der zentrale Nukleus bestand in der direkten wie auch indirekten Auseinandersetzungen der SF-Autoren/innen mit der der DDR zugrundeliegenden Staats-, Gesellschafts- und Geschichtstheorie. Doch während die herrschende Staatspartei SED diese von Anfang an zu einer nicht zu hinterfragenden Doktrin verdrehte, so bemühte sich die DDR-SF in ihren großen Werken um eine intellektuelle Durchdringung und kritische Durchleuchtung der vorgesetzten Utopie.
- Damit verbunden war eine Evolution in der Qualität der Auseinandersetzung. Erwartet man in einer Diktatur eigentlich die stete Reproduktion derselben Klischees, so nahm die DDR-SF von der Obrigkeit ungewollt einen anderen Weg. Das Spektrum des geistigen Gefechts reichte von der blauäugigen Bejubelung vor allem in den Anfangsjahren und dem Versuch, die Theoriediskussion vorsichtig zu nuancieren, über eine distanziert-skeptische Betrachtung bis hin zur oppositionellen Ablehnung.
Wenn auch keineswegs beabsichtigt oder gar gesteuert, konnte die DDR-SF am Ende des zweiten deutschen Staates ein erstaunliches Ergebnis vorweisen. Sie hinterließ einen literarischen Schatz, den sie im Laufe ihrer verschiedenen Phasen erschaffen hatte. Ich nenne hier als besonders hervorragende Autoren/innen Angela und Karlheinz Steinmüller, Johanna und Günter Braun und Erik Simon. Der Schatz wurde und wird zwar immer noch nicht angemessen gewürdigt, ist aber in seiner Bedeutung gerade auch für die deutsche Literaturgeschichte nicht wegzudiskutieren. Diese Art der SF als breit angelegte, ernsthafte Auseinandersetzung mit SF-Utopien gab es nur in der DDR. Insofern kann man von einem (unerwartet) gelungenen Literaturexperiment sprechen, das vorher und höchstwahrscheinlich auch nachher nicht noch ein zweites Mal stattfinden wird.
Hans Frey, Gelsenkirchen
Der zweite Teil folgt in der nächsten Ausgabe des Demokratischen Salons:
Zum Autor:
Der Lehrer Hans Frey war 25 Jahre lang für die SPD Abgeordneter im Landtag Nordrhein-Westfalen. Er errang regelmäßig ein Direktmandat in Gelsenkirchen. 2005 kandidierte er nicht mehr und widmete sich seiner Leidenschaft, der Science Fiction. Heute ist er einer der bedeutenden Chronisten und Experten der Science Fiction mit Verbindung zu verschiedenen Verlagen und vielen anderen Experten und Expertinnen der SF-Community.
Zur Editionsgeschichte des Essays:
Der Essay „Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine“, © 2023 by Hans Frey, ist in seinen drei Teilen eine überarbeitete und ergänzte Fassung eines erstmalig in „Gestaltbare Zukünfte“ erschienenen Textes. Es handelte sich dabei um das Abschlussheft des innovativen Praxisprojekts „Technikzukünfte in der deutschsprachigen Science-Fiction-Literatur“, Germanistisches Institut der Ruhr-Universität Bochum. Herausgeber und Redaktion: Dr. Markus Tillmann. © 2020 by Markus Tillmann und den jeweiligen Autoren/innen; Coverillustration © 2019 by Maikel Das. Eine ähnliche, an die Ursprungsfassung angelehnte Version erschien in DAS SCIENCE FICTION JAHR 2020, © 2020 by Hirnkost Verlag Berlin, Hrsg. Hardy Kettlitz & Melanie Wylutzki, unter dem Titel „Wie Science Fiction Geschichte macht“.
Zum Weiterlesen:
Neben zahlreichen Primär- und Sekundärwerken der SF, die nicht extra aufgeführt werden, beruht der Essay im Wesentlichen auf der von Hans Frey herausgegebenen und geschriebenen Reihe zur „Geschichte der deutschsprachigen SF-Literatur“. Die bereits erschienenen vier Bände sind alle in Berlin bei Memoranda erschienen, lieferbar und auch als EBook über den Buchhandel oder direkt über die Verlagsadresse erhältlich. Die Bände 1 und 2 wurden 2020 mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet. Die Bände im Einzelnen:
Band 1: Fortschritt und Fiasko – Vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs 1810-1918, 2018.
Band 2: Aufbruch in den Abgrund – Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur 1918-1945, 2020.
Band 3: Optimismus und Overkill – Von den Anfängen der BRD bis zu den Studentenprotesten 1945-1968, 2021.
Band 4: Vision und Verfall – Von der sowjetischen Besatzungszone bis zum Ende der DDR 1945-1990, 2023.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung in dieser Fassung im Demokratischen Salon im September 2023, Internetlinks zuletzt am 1. September 2023. Das Titelbild wurde von Thomas Franke zur Verfügung gestellt, der eine große Zahl von Science-Fiction-Literatur illustriert hat. Es zeigt einen Ausschnitt aus der von Thomas Franke illustrierten Neuausgabe von Arno Schmidts „Die Gelehrtenrepublik“. Die Rechte für dieses Bild liegen beim Illustrator. Siehe hierzu auch das im Demokratischen Salon erschienene Interview mit dem Titel „Parallele Welten – Synergetisch gebrochen“.)