Selbstwirksamkeit schafft Resilienz

Ein Gespräch mit Marina Weisband (nicht nur) über die Bundestagswahl 2025

„Demokratie ist ja letzten Endes die Herrschaft durch uns alle. Das jedoch widerspricht unserer Sozialisierung als passive Konsumenten. In der Schule drückt sich das darin aus, dass wir gesagt bekommen, wann wir wo zu sitzen und worauf wir 45 Minuten unsere Aufmerksamkeit zu lenken haben. Und genauso verhalten wir uns dann auch in Bezug auf Politik, von der wir erwarten, dass sie ‚liefert‘ – ganz so, als seien wir Kunden, die etwas bestellt hätten. Demokratische Politik ist aber kein Bestellkatalog, sondern ein Aushandlungsprozess.“ (Marina Weisband, „Einstiegsdroge in die Demokratie“, in einem Telefoninterview mit Till Schmidt am 3. September 2024, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 12. Oktober 2024)

Im Frühjahr 2024 erschien „Die neue Schule der Demokratie“, dass die Psychologin und Publizistin Marina Weisband gemeinsam mit Doris Mendlewitsch geschrieben hatte (Frankfurt am Main, S. Fischer, 2024). Das Buch stellt das von ihr geleitete aula-Projekt vor, Untertitel: „Wilder denken, wirksam handeln“. Der Untertitel erinnert an den Arthur Schnitzler zugeschriebenen und in manchen fortschrittlichen Bewegungen gerne zitierten Aufruf kennen: „Lebe wild und gefährlich!“ Es ist zurzeit nicht ungefährlich, sich öffentlich für die freiheitliche Demokratie und gegen faschistische Tendenz zu engagieren. Um dies erfolgreich zu tun, müssen wir – so Marina Weisband –von „Konsumenten“ zu „Gestaltern“ werden. Politik für Kinder und Jugendliche muss zu einer Politik von und mit Kindern und Jugendlichen werden. Kinder und Jugendliche sind keine Objekte, sondern Subjekte der Politik. Dies gilt nicht nur für Kinder und Jugendliche, dies gilt für uns alle. Auf der didacta 2025 sollte Marina Weisband zur Bildungsbotschafterin gekürt werden. Sie lehnte dies ab, weil die didacta die AfD auf der Messe mit eigenem Stand zugelassen hatte.

Folgen und Gefahren einer Selbstentmächtigung

Norbert Reichel: Ich schlage vor, dass wir unser Gespräch mit Ihrer Einschätzung der Ergebnisse der Bundestagswahl beginnen.

Marina Weisband: Es war nicht die große Zäsur in der deutschen Geschichte. Ich denke, das wird die nächste Wahl sein. Bisher war ich vom Wählen als Vorgang fasziniert. Als ich nach Deutschland kam und als ich zum ersten Mal gewählt habe, hat mich das völlig geflasht. Den Wahltag habe ich immer als eine Art Feiertag gestaltet. Ich habe mich hübsch angezogen und bin mit meinem Mann, später dann auch mit meiner Tochter, zum Wahllokal gegangen. Aber ich habe noch nie so ungern gewählt wie dieses Mal. Der Grund: Diese Wahl war für keine Partei, für keine Seite, für kein Medium eine Wahl, die etwas mit Zukunftsthemen zu tun gehabt hätte. Zukunft fand bei dieser Wahl nicht statt. Das ist das Erschreckende für mich. Der Aufstieg des Populismus, die ökonomischen Schwierigkeiten, vor denen wir jetzt stehen, alles, was die Weltlage um uns herum begleitet, ergibt sich auch ein Stück daraus. Wenn niemand mehr Angebote macht, wie wir in Zukunft leben können, sind wir nur noch in einem Dagegen gefangen. Und das ist nie ein kluger Ausgangspunkt für Politik.

Norbert Reichel: Diese Entwicklung ließ sich schon bei den Europawahlen feststellen. Kurz zuvor hatten wir über Ihr Buch zum aula-Projekt gesprochen. Grüne und SPD machten eigentlich nur Wahlkampf gegen Rechts, CDU / CSU Wahlkampf gegen die Ampel, die FDP irgendwie auch und damit auch gegen sich selbst. Denselben Fehler machte Kamala Harris in ihrem Wahlkampf gegen Donald Trump, zumindest in der zweiten entscheidenden Phase des Wahlkampfes.

Marina Weisband: Es fehlt an Ideen, es fehlt an Politik. Wir haben keine Politik, wir haben Verwaltung. Politiker:innen schauen, wo sind die Mehrheiten, und sie eifern diesen Mehrheiten technokratisch hinterher. Wenn die Leute Abschiebungen wollen, schauen sie, wie wir möglich viele Abschiebungen machen. Auf der anderen Seite haben wir Leute, die vorgeben, Ideen zu haben, aber in Wirklichkeit nur eine diffuse Unzufriedenheit äußern. Positive Ideen sehe ich wenig: Was will ich eigentlich erreichen, wenn ich meine Lebenszeit im Bundestag einsetze? Das ist ein sehr grundlegendes Problem für die Demokratie.  

Norbert Reichel: Den Wahlerfolg der Linken, die bei der Europawahl mehr oder weniger vor der Auflösung stand, führe ich darauf zurück, dass sie die einzige Partei war, die auf ihren Plakaten konkrete Themen benannte und das auch noch recht witzig formuliert.

Marina Weisband: Das ist das eine. Die Linke war aber auch die einzige Partei, die es geschafft hat, die politische Energie, die gegen Rechts auf der Straße war, politisch aufzunehmen und umzusetzen und in weiten Teilen glaubwürdig zu vertreten: „Wir sind eine antifaschistische Partei“. Das beißt sich da, wo sie Putins Faschismus übersehen, da sind sie nicht konsequent. Die Grünen hätten diese Energie ebenfalls abgreifen können. Sie waren die Partei, die das Hauptziel der Angriffe war. Aber statt sich hinzustellen und zu sagen, ja, wir sind die antifaschistische Partei, wir sind der Hauptgegner von rechtsgerichteten Bewegungen, von autoritären Bewegungen, hat Robert Habeck, mir unerklärlicherweise, diesen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, sodass die Leute, die keinen Rassismus wählen wollen, auch davon nicht überzeugt waren.

Norbert Reichel: Den Vorschlag hatte Robert Habeck meines Erachtens ohne Not geschrieben.   

Marina Weisband: Ich verstehe die Strategie dahinter nicht. Wenn es eine gab.

Norbert Reichel: Vielleicht eher nicht. Ich habe den Eindruck, die demokratischen Parteien, auch die Grünen, verhielten sich in diesem Wahlkampf wie Getriebene.

Marina Weisband: Es gibt im Moment zwei politische Strömungen. Die eine hechelt Umfragen hinterher, die andere hat verstanden, dass man Mehrheiten erzeugen kann. Die Parteien der politischen Mitte, von der Linken bis zur CDU, sind damit beschäftigt, herauszufinden, was die Leute wollen, ohne zu verstehen, dass Mehrheiten nicht auf Bäumen wachsen und schon gar nicht gottgegeben sind. Wir bekommen keine Eingebungen, woher auch immer. Es ist die Aufgabe von Politiker:innen, ihre Standpunkte zu argumentieren, sich Mehrheiten zu schaffen. Es ist die Aufgabe von Medien, diese Mehrheiten nicht nur abzubilden. Medien formen Mehrheiten. Wenn ich 24/7 nur noch über kriminelle Migranten schreibe, brauche ich mich nicht zu wundern, dass viele Menschen dieses Thema für wichtig erachten, auch wenn es viele Themen gibt, die für ihr tägliches Leben wichtiger sind.

Norbert Reichel: Bei Rechtsextremisten heißt es immer, das war ein Einzeltäter, bei migrantischen Tätern, das war die ganze Gruppe. Das eigentliche Problem ist das unkoordinierte Wissen von Sicherheitsbehörden. Alle wussten irgendetwas, aber es wurde nicht zusammengeführt. Wäre dies geschehen, wäre so mancher Mord verhindert worden. Und warum müssen so viele Zugewanderte Monate, wenn nicht Jahre warten, bis ihre Abschlüsse anerkannt, ihre Verfahren abgeschlossen werden können? Das sind nur zwei der Fragen, die wir beantworten müssten.

Marina Weisband: Wenn wir über Migration sprechen, sagen mir viele, auch Grüne, ja, es gibt ja wirklich echte Probleme, ja, das stimmt. Aber warum reden wir nicht darüber, dass Kommunen viel zu viel Verantwortung und viel zu wenig Geld haben? Warum reden wir nicht über psychologische Prävention? Wir sprechen schon lange nicht mehr über Prävention von Fluchtursachen, nicht über Kooperation von Behörden, nicht über die Anerkennung von Abschlüssen von Migrant:innen oder über Arbeitserlaubnisse von Asylbewerber:innen oder geduldete Personen. Alles hat sich nur auf das Thema Abschiebungen versteift. Weder die Medien noch die Parteien der Mitte widersprechen. Als wenn Abschiebungen zu mehr Sicherheit führen würden! Diese Annahme wird jedoch als Erzählung unangetastet gelassen und nicht hinterfragt. Weil alle so getrieben sind, so furchtbar ängstlich. Alle haben so viel Angst! Und Angst ist so ein schlechter Berater.  

Norbert Reichel: Genau dies hat Maximilian Schafroth in seiner Rede auf dem Nockherberg am 11. März 2025 mindestens fünf Mal gesagt, ihr lasst euch alle nur von der Angst treiben. Die anwesenden Politiker:innen, allen voran Markus Söder, waren nicht so begeistert.

Marina Weisband: Es gibt gute psychologische Untersuchungen, was gerade ökonomisch unsichere Situationen bewirken. Hintergrund des Problems: Wir sind in einer Negativspirale aus ökonomischer Unsicherheit, wählen also angstgetrieben und kurzsichtig. Daraus entsteht eine kurzsichtige und angstgetriebene Politik, von der hauptsächlich Leute profitieren, die Gelder von unten nach oben verteilen, was aber die ökonomische Lage nicht stabilisiert, weil eine solche Politik nicht strategisch und perspektivisch gedacht wird.

Norbert Reichel: Politiker:innen werden zum Spiegelbild angstgetriebener Bürger:innen und sie selbst sind für diese wachsende Angst verantwortlich, die sie gerne als „Sorgen der Bürger“ adressieren, denen man gerecht werden müsste. So entsteht eine Art negative Selbstwirksamkeit.

Marina Weisband: Das heißt, unsere ökonomische Zukunft wird noch unsicherer und diese Unsicherheit führt weiterhin dazu, dass wir kurzsichtige Politik machen. Ich denke aber, wir haben den Anspruch, dass die Menschen, die sich um die höchsten Positionen in diesem Land bewerben, nicht auf diesen Mechanismus hereinfallen, sondern dass sie so professionell sind, dass sie tatsächlich worst cases durchdenken, sich darauf vorbereiten, langfristige strategische Ziele setzen und diese erklären können. Stattdessen heißt es immer wieder: „Das können wir den Menschen nicht zumuten.“ Doch: Das ist buchstäblich deine Berufsbeschreibung. Wenn du als Politiker:in meinst, den Menschen das, was du willst, nicht erklären zu können, hast du deinen Beruf verfehlt.    

Norbert Reichel: Politik wird auf einen Lieferdienst reduziert.

Marina Weisband: Genau das. Die Ampel liefert nicht mehr, als wären wir Kund:innen von irgendetwas, das wir nicht bestellt haben. Das ist auch eine Selbstentmächtigung. Ach, die Zeiten sind so schlimm und die da oben machen gar nichts. Und dann sitzen wir hier und sind so hilflos und können nur beten, dass – keine Ahnung – die SPD irgendetwas macht. Wir machen uns selbst zu Kindern. Völlig unnötig.

Als Zivilgesellschaft haben wir viel Stärke. Wir haben auch die Verantwortung und wir können nicht immer warten, bis der Politiklieferservice irgendein gutes Produkt bereitstellt.

Die prekäre Lage der Zivilgesellschaft

Demonstration in Tbilissi. Foto: Tsotne Tchanturia.

Norbert Reichel: Ich nenne einmal Gegenbilder: Die Demonstrationen, die wir zurzeit in der Slowakei, in Georgien, in Serbien oder in Argentinien erleben, demnächst mit Sicherheit auch in den USA. Da gibt es zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen eine autoritäre Politik, die nur das Wohl der Reichen und Mächtigen betreibt. In Deutschland habe ich den Eindruck, dass es zwar immer wieder anlassbezogenen zivilgesellschaftlichen Widerstand mit eindrucksvollen Demonstrationen gegen Rechts gibt, aber doch eine verlässliche und wirksame Strategie fehlt, vielleicht auch ein klares Ziel, wie Gesellschaft werden könnte.

Marina Weisband: Eine Demonstration auf der Straße ist zwangsläufig immer ein kurzfristiger Akt. Wenn sich solche Demonstrationen über mehrere Monate hinziehen, geschieht dies immer aus Verzweiflung. Ich habe das 2014 auf dem Maidan erlebt, als Menschen drei Monate lang auf der Straße gewohnt haben. Das lag einfach daran, dass sie buchstäblich nichts mehr hatten, wohin sie zurückkehren konnten. Das ist in Deutschland noch anders.

Ich werfe den Demonstrierenden nicht vor, dass sie nicht buchstäblich als Teilzeitjob auf der Straße stehen. Das wäre auch nicht nachhaltig. Wenn ich von zivilgesellschaftlichem Engagement spreche, spreche ich von Demonstrationen als der kurzfristig sichtbarsten Variante. Ich spreche aber auch von Engagement in Gewerkschaften, in Parteien, in Verbänden, ich spreche von Vernetzung, ich spreche von kommunalpolitischem Engagement. Es gibt zehntausend Arten, wie wir uns in der Gesellschaft engagieren können. Jede Verbindung von Menschen, die sich miteinander solidarisieren, sei es, weil sie im gleichen Verein sind, in der gleichen Gewerkschaft, wo auch immer, all das wird Faschismus schwächen und nimmt uns Angst. Denn wir uns zusammenfinden, haben wir weniger Angst. Das sind alles notwendige Mittel. Der Protest auf der Straße allein ist die Spitze des Eisbergs, aber es noch nicht das Bilden nachhaltiger Strukturen, um einem Regime zu trotzen, das dann fünf oder zehn Jahre regiert.   

Norbert Reichel: In Deutschland und in den meisten europäischen Staaten geht es nicht darum, einem Regime zu trotzen, sondern der Gefahr zu trotzen, dass es ein solches Regime geben könnte. Ist das nicht eine völlig andere Situation?

Marina Weisband: Nicht ganz. Denn wenn diese Gefahr besteht, muss man davor die Strukturen schaffen, die einen solchen Prozess überleben können. Denn sobald eine autoritäre Regierung an der Macht ist, ist es dafür zu spät. Denn dann nimmt sie einem die Mittel, sich gegen sie zu vernetzen. Das ist das Allererste, das eine autoritäre Regierung tut. Wir erleben zurzeit in den USA, wie dort Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt wird, wie Versammlungsfreiheit eingeschränkt wird. Wir hatten jetzt die erste Verhaftung eines jungen Mannes ohne Angabe von Gründen oder des Vorwurfs einer konkreten Straftat. Es ging nur um seine Einstellung, seine Teilnahme und seine Rolle bei der Organisation pro-palästinensischer Demonstrationen.

Norbert Reichel: Hinzu kommt eine Art Damnatio Memoriae von Menschen, die der Trump-Regierung nicht passen. Betroffen sind im Pentagon sogar Kriegshelden der Vergangenheit. Oder die DEI-Kampagnen mit der Streichung von Mitteln für alle, die sich wissenschaftlich mit „Diversity, Equity, Inclusion“ befassen.

Marina Weisband: Man muss sich anschauen, was die Leute der Trump-Regierung als DEI bezeichnen. Dazu gehört dann jede Person, die nicht ein weißer Mann ist. Der Peak der Kampagne war zuletzt das Logo einer Firma, das ein Baby enthielt, das aus Guatemala stammte. Es wurde als „DEI-Baby“ bezeichnet. Dann heißt es, das Baby wäre nur für die Quote da, es hätte es nicht aufgrund einer Qualifikation auf das Bild geschafft.

Ich frage, was ist aus euren Augen ein „qualifiziertes Baby“. Das ist doch purer Rassismus: Unqualifiziert ist alles, was nicht weiß ist. Die Erzählung ist überall die gleiche. Wir dürfen sie nicht isoliert betrachten. Wir dürfen nicht so tun, als wenn das, was in Russland seit 25 Jahren, heute in den USA und in vielen europäischen Ländern geschieht, etwas Verschiedenes wäre. Es drückt sich sicherlich unterschiedlich aus, aber die Bewegung, die dahintersteckt, ist nicht nur strukturell das Gleiche. Es sind auch dieselben Akteure. Sie tauschen Geld aus. Sie tauschen Personal aus. Sie sind international eng vernetzt. Auch in den sozialen Netzwerken.

Warum bereite ich mich so sehr darauf vor, dass die Stimmung in Europa kippt? Unsere politische Willensbildung basiert massiv auf sozialen Netzen. Auch unser klassischer Journalismus. Die sozialen Netze gehören privaten Multimilliardären, die sich inzwischen mit dem amerikanischen Faschismus gleichschalten. Das wird Einfluss auf unsere Wahlen haben. Wir müssen dies als Gefahr erkennen. Ich sage hier nicht, alles ist verloren. Aber wir können nicht gut kämpfen, wir können nicht zielgerichtet dagegenhandeln, wenn wir das Problem nicht analysieren.

Das Problem: Unser politischer Diskurs beruht auf privaten Plattformen, die dazu gemacht sind, Stimmung zu manipulieren. Und diejenigen, die Stimmung gerade manipulieren, sind auf den Rechtskurs eingeschwenkt.

Norbert Reichel: Die BILD-Zeitung machte das als Printmedium in Deutschland schon immer. Sie brauchte keine sozialen Medien, war im Grunde selbst eines avant la lettre.

Marina Weisband: Man könnte behaupten, es war schon immer ihre Aufgabe. Die BILD, die WELT versuchen, neue FoxNews zu werden. Es gibt auch Blüten, die übertragen werden, wo Worte Bedeutung verlieren. Dort beginnt Orwell. Wenn zu mir beispielsweise jemand sagt, der da ist Antisemit, weiß ich nicht mehr, ob das jemand ist, der in seiner Freizeit Juden verprügelt, oder ob es jemand ist, der sagt, in Gaza sollen nicht so viele Kinder bombardiert werden. Die Rechte versucht zu definieren, dass jeder, der für Netanjahu ist, kein Antisemit sein kann, und jeder, der gegen die Regierung Netanjahu ist, ein Antisemit sein muss. Das führt dazu, dass Trump über den jüdischen Senator Chuck Schumer gesagt hat, er war mal Jude, jetzt ist er Palästinenser. Wir kommen in begriffliche Umdeutungen. Das müssen wir beobachten und benennen, sonst fallen wir darauf herein.

In Redaktionen muss es eine Bewegung geben, dass wir nicht mehr etwas unbesehen von X als Nachricht zitieren, weil wir damit einer Institution die Freiheit geben, dass sie uns selbst und unsere Freiheit abschafft. 

Unsere Pflicht als Demokraten

Norbert Reichel: Sie haben in Ihren Büchern, Ihren Vorträgen und Statements immer wieder eine Strategie gegen diesen pro-autoritären Rechtskurs eingefordert. Wie könnte diese Strategie aussehen? Die Linke profitierte bei der Bundestagswahl vom 23. Februar 2025 unter anderem von der Reichweite von Heidi Reichinnek in den sozialen Medien? Dazu kamen ein intensiver Haustürwahlkampf und inhaltlich anspruchsvoll und witzig gehaltene Plakate, die fast alle die viele Menschen bewegenden sozialen Themen sichtbar machten. Der linke Bundestagskandidat aus Bonn, Jürgen Repschläger, sagte mir vor einigen Tagen, man wolle jetzt zur Vorbereitung der Kommunalwahlen im September systematisch in die Stimmbezirke gehen, in denen die AfD viele Stimmen erhalten hätte.

Marina Weisband: Das ist eine gute Strategie, eine gute Strategie. Das andere ist etwas, das die AfD seit Jahren macht, ganz besonders in Ostdeutschland. Sie gleicht dort viele Strukturen aus, die der Staat und die demokratische Zivilgesellschaft vernachlässigt haben. Sie stellen ehrenamtliche Trainer:innen in Sportvereinen, sie engagieren sich in der Freiwilligen Feuerwehr, sie helfen Leuten bei der Ausfüllung von Bürgergeldanträgen. Sie versuchen, Stellen zu besetzen, die ganz vielen Menschen in ihrem Leben ganz praktisch helfen. Das haben andere politische Akteure verpasst. Ein zweiter Punkt: Wir brauchen zivilgesellschaftliche Vernetzung, Vernetzung an der Basis. Da werden Gewerkschaften eine ganz zentrale Rolle spielen.   

Norbert Reichel: Für all diese Tätigkeiten wird oft der Begriff der „Kümmerer“ verwendet. Aber hat man diese Strukturen nicht alle schon lange aufgegeben? Kann man die überhaupt flächendeckend wieder neu schaffen? Nicht nur in Ostdeutschland. Man muss sich nur die Wahlergebnisse im Ruhrgebiet nördlich der A 40 anschauen. Früher leisteten das dort die SPD-Ortsvereine, gemeinsam mit Gewerkschaften, AWO und Vereinen. Davon ist heute kaum noch etwas übrig. Auch ein Ergebnis der Parteireform von Schröder und Müntefering. Und nicht zuletzt einer falsch verstandenen Digitalisierung. Früher besuchte der Kassierer die Leute für den Parteibeitrag, man trank einen Kaffee oder ein Bier zusammen, heute erfolgt dies per Einzugsermächtigung oder Dauerauftrag. All diese persönlichen Kontakte waren aber wichtig für den Zusammenhalt. Traditionelle SPD-Bezirke leiden darunter, dass die Wahlbeteiligung dort deutlich gesunken ist, in Köln-Chorweiler zum Beispiel auf 19,5 Prozent.

Demonstration in Mount Kisco (NY). Foto: Michael Kleff.

Marina Weisband (mit leicht resignierender Stimme): Wir müssen diese Strukturen neu bauen. (wieder im üblichen engagierten Sprechmodus) Die Leute bekommen als erstes das mit, was ihren Alltag betrifft, das, was sie fühlen, und wer ihre Bedürfnisse merkt. Das müsste eigentlich ein Weckruf für eine soziale Politik sein. Das sind soziale Aufgaben, die da übernommen werden. Die AfD macht das, um Stimmung zu machen, weil das in ihren Strategiepapieren so drinsteht. Aber das sind Aufgaben, die ein gesunder Staat leisten muss. Das gehört zu meinem zweiten Punkt. Wir müssen uns zivilgesellschaftlich organisieren und vernetzen. Das Trainieren einer Fußballmannschaft ist auch politisches Engagement, die Hilfe beim Ausfüllen eines Bürgergeldantrags ist auch politisches Engagement, das Einkaufen für die ältere Nachbarin ist politisches Engagement.

Und wenn die Leute etwas Rassistisches sagen, sollten wir nicht versuchen, sie mit Fakten zu widerlegen. Das machen viele Akademiker:innen gerne. Sie predigen und glauben, wenn die Leute nur mehr wüssten, wären sie auch gleich weniger rassistisch. Das ist nicht so.

Die Menschen annehmen – die Ideologie ablehnen

Norbert Reichel: Bildung ist leider nicht die Lösung, oder?

Marina Weisband: Die Lösung ist, den Menschen annehmen und seine Ideologie ablehnen. Beides in einer radikalen Art. Ich rede nicht über deinen Rassismus, aber ich werde dich fragen, wie es dir geht. Und ich werde dich ernst nehmen.

Norbert Reichel: Es hilft nichts, wenn ich jemanden, der faschistische oder faschistoide Ansichten vertritt, als faschistisch bezeichne. Das werden die Angesprochenen sofort abstreiten und das Argument umdrehen und mich als den eigentlichen Faschisten brandmarken. Das macht Putin ja auch recht erfolgreich, wenn er Selenskyj als Faschisten oder gleich als Nazi bezeichnet.

Marina Weisband: Wie ich vorgehe, hängt von der individuellen Beziehung und der jeweiligen Situation ab. Ich mache das seit vielen Jahren mit meinen Verwandten. Es ist nicht immer leicht. Wenn jemand rassistische Ansichten äußert, sage ich immer klar: Darüber möchte ich mit dir nicht reden.

In einer Talkshow ist das anders. Ich werde dort keinen AfD-Vertreter treffen, weil ich solche Anfragen ablehne. Ich lehne sie nicht ab, weil ich nicht bereit bin, mit Menschen zu sprechen, die andere Ansichten haben. Aber die Talkshow ist in ihrer Struktur ungeeignet. Ich kann dort niemanden überzeugen, denn der Beruf eines AfD-Vertreters in einer Talkshow ist es, dass er mir nicht recht gibt. Er muss gewinnen. Und wenn wir beide mit dem Anspruch hineingehen, eine Diskussion gewinnen zu müssen, kann kein sinnvoller Austausch entstehen. Eine Talkshow ist etwas Performatives, eine Kampfarena. Wenn ich in eine Kampfarena gehe und dort darüber diskutiere, ob allen Menschen Würde zusteht, stelle ich dies selbst in Frage, selbst, wenn ich klar und deutlich vertrete, dass allen Menschen Würde zusteht. Aber ich mache das an dieser Stelle debattierbar, etwas, das nicht debattierbar ist.

Norbert Reichel: Manche plädieren dafür, Begegnungen im Alltag zu organisieren, damit Menschen ihre Vorurteile abbauen könnten.

Marina Weisband: Ich will nicht dafür werben, dass queere Leute und Trans-Leute notwendigerweise mit Leuten Kontakt halten sollen, die ihre Existenz ablehnen, und nett zu ihnen sein sollen. Das ist nicht meine Absicht. Viele von uns haben aber Kontakt zu jemanden, der abdriftet. Die beste Vorsorge gegen dies Abdriften ist, wenn wir dazu die Ressourcen haben, einfach menschlich da zu sein. Das Schöne ist, man findet dann auch viele In-Groups. Ich bin mit vielen AfD-Wählenden einig darin, dass wir mehr demokratische Mitbestimmung brauchen. Sie bilden sich natürlich ein, dass die AfD dafür sorgen wird. Das wird sie ganz sicher nicht. Aber im Ziel bin ich mir mit ihnen einig. Oder wenn mir eine junge Frau sagt, sie hat Angst, wenn auf der Straße so viele Ausländer sind. Ich frage dann, kann es sein, dass du ein Problem hast mit Armut und Sexismus? Dann sind wir schnell auf einer Linie: Ja wir müssen beides bekämpfen. Das sind eher die Ansätze, die viel besser funktionieren als von der Kanzel zu predigen.

Gleichzeitig brauchen wir ein AfD-Verbot. Wir werden immer etwa 20 Prozent latente Rassisten in der Gesellschaft haben. Das hatten wir schon immer. Das werden wir nicht ändern können. Wir können aber verhindern, dass sie an die Macht kommen. Das ist unsere Pflicht als Demokraten.

Norbert Reichel: Sie leben in Münster, der Stadt, die immer die niedrigsten AfD-Ergebnisse hat, immer einstellig, dieses Mal erstmals leicht über fünf Prozent, aber mit ganz wenig Zugewinnen.

Demonstration gegen den Iran. Foto: Frauen_Leben_Freiheit.

Marina Weisband: Münster ist ein Ort der Glückseligkeit. Wäre Münster nicht in Deutschland, hätte ich keine Zweifel, ob ich hierbleiben kann. Das liegt erstens daran, dass die Stadt im Vergleich zu anderen Städten relativ wohlhabend ist. Zweitens ist sie sehr gebildet, eine Universitätsstadt mit 40.000 Menschen an der Universität in einer Stadt von etwa 300.000 Einwohner:innen. Das verbindet uns auch mit den Protesten in der Slowakei. Da demonstrieren viele Studierende, Dozent:innen, gebildete Menschen. Wir sollten Bildung nicht unterschätzen. Bildung ist ein ganz großer Schutzfaktor für Demokratie. Deswegen versuchen autoritäre Kräfte auch, Bildung abzuschaffen.

Norbert Reichel: Zumindest staatliche Bildung. Wie jetzt auch in den USA.

Marina Weisband: Sie versuchen Bildung zu verhindern, gerade für arme Menschen, für Frauen und Mädchen.

Norbert Reichel: Oder sie instrumentalisieren Bildung für ihre Zwecke. In Russland gibt es jetzt in den Schulen das Fach „Gespräche über wichtige Dinge“, in denen gelehrt wird, warum es richtig ist, dass Russland in die Ukraine einmarschiert ist, warum es wichtig ist, das Militär zu unterstützen. In Orwell’schem Newspeak ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg dann „Patriotismus“. Putin hat es geschafft, einen autoritären Staat in einen totalitären Staat zu verwandeln, der der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschen Reich immer ähnlicher wird. Und wer sich das Vorgehen der Regierung in Florida und einigen anderen Staaten anschaut, wird feststellen, dass dort in den Schulen mehr oder weniger alles, das nicht dem Meinungsspektrum (sofern es überhaupt ein Spektrum ist) konservativster Republikaner entspricht, aus Lehrplänen und Schulbibliotheken entfernt wird. Sklaverei wird zum Beispiel zur beruflichen Qualifizierung von Afrikaner:innen umgedeutet. Es gibt in den USA auch schon lange Schulen, in denen die Evolutionstheorie nicht mehr gelehrt werden darf.

Marina Weisband: All das ist nicht Bildung, sondern Propaganda.

Norbert Reichel: Auch so eine Umwertung im Sinne des Newspeak. Bei der Wagenknecht-Demonstration am 3. Oktober 2024 sagte jemand ganz treuherzig, Putin wolle doch nur dasselbe wie wir: „Bildung und Infrastruktur“.

Marina Weisband: Nein, das will er nicht. Die größten Teile von Russland haben weder Bildung noch Infrastruktur. Nirgendwo sonst gibt es so wenige Häuser wie in Russland, in denen es zum Beispiel eigene Toiletten gibt. Außerhalb von Moskau und St. Petersburg. Das können wir uns hier gar nicht vorstellen, wie wenig Infrastruktur es in Russland gibt. Ich weiß nicht, ob es eine ehrliche Idealisierung ist, an die die Menschen wirklich glauben, oder ob sie sich diese Geschichten selbst erzählen müssen. Wir dürfen nicht darauf hereinfallen.

Wir dürfen aber auch nicht so tun, als sei mit der Abschaffung von Faschismus bereits die Investition in Bildung und Infrastruktur getätigt.

Zivilgesellschaft braucht Sicherheit

Norbert Reichel: Zivilgesellschaft braucht staatliche Garantien. Wie könnten die Parteien und die Regierung zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte unterstützen? Einerseits finanziell, andererseits aber ist es vielleicht in unseren Zeiten viel wichtiger zu sichern, dass zivilgesellschaftliche Akteure keine Angst haben müssen sich zu äußern, nicht befürchten müssen, von denen, die ihre Ansichten nicht teilen, angegriffen zu werden. Solche Angriffe sind zurzeit in einigen Regionen Alltag, Hausbesuche, Adressen werden ins Internet gestellt, körperliche Angriffe bis hin zu schwerer Körperverletzung. Das Ziel solcher Aktionen ist immer Einschüchterung.

Marina Weisband: Das erste wäre, dass die CDU keine Kleinen Anfragen mehr stellen sollte, in denen die Gemeinnützigkeit von Organisationen in Frage gestellt wird, die das Grundgesetz verteidigen.

Norbert Reichel: Die Antwort der Bundesregierung auf diese Anfrage ist lesenswert.

Marina Weisband: Das allerallererste: Zivilgesellschaftliche Organisationen brauchen Rechtssicherheit. Das zweite wäre die Verabschiedung eines Demokratiefördergesetzes im Deutschen Bundestag. Das stand schon in zwei Koalitionsverträgen, wurde aber immer noch nicht realisiert. In gemeinnützigen Nicht-Regierungsorganisationen gibt es viele Menschen, die im Ehrenamt arbeiten, die wichtige Aufgaben übernehmen, die eigentlich auch staatliche Aufgaben sein könnten. Es gibt nur wenige hauptamtlich tätige Menschen. Die Organisationen brauchen eine langfristige Perspektive. Stattdessen hangeln sie sich von Jahr zu Jahr. In den ersten fünf Jahren von aula musste ich mich jedes Jahr im Oktober arbeitssuchend melden, weil ich nicht wusste, ob wir im Januar genug Spenden zusammenbekommen, um unser Personal zu finanzieren. Es gibt zwar immer Anschubfinanzierungen, aber es gibt keine verlässliche Fortsetzung. Dann heißt es, dass man ein Business-Modell haben sollte, aber das haben gemeinnützige Organisationen per Definition nicht.

Norbert Reichel: Sie sind qua Definition Non-Profit-Organisationen, sonst wären sie auch nicht gemeinnützig. Die Förderung gemeinnütziger Organisationen ist keine Wirtschaftsförderung.

Marina Weisband: Richtig! Es gibt aber keine Organisation, die sich darauf spezialisiert, angelaufene gemeinnützige Projekte weiter zu fördern. Jeder will ein neues Projekt. Das führt dazu, dass viele fähige Menschen in Deutschland damit beschäftigt sind sich zu überlegen: Wie formuliere ich die Fortführung meines Projekts so, als wäre es eine Neuerfindung, obwohl ich eigentlich nur die Arbeit, die vor Ort gebraucht wird, fortsetzen möchte. Aber das ist die Gesetzeslage.

Norbert Reichel: Hinzu kommt, dass die Förderung von Demokratieprojekten als freiwillige Leistung gilt, die jederzeit eingestellt werden kann, wenn das Geld fehlt. In den letzten Bundeshaushalten und in vielen Landeshaushalten wurden die Mittel für solche Projekte deutlich reduziert, selbst für große Einrichtungen wie Bundes- und Landeszentralen für die politische Bildung. Das sind schon größere Einrichtungen mit einer Grundfinanzierung, das sind viele Demokratieprojekte vor Ort nicht. Wir bräuchten eine institutionelle und auf mehrere Jahre ausgelegte verlässliche staatliche Förderung, kurz: ein Demokratiefördergesetz, das Bund und Länder in die Pflicht nimmt. Der Kinder- und Jugendförderplan in Nordrhein-Westfalen wäre ein mögliches Vorbild. Er enthält verlässliche Zahlen für den Zeitraum einer Legislaturperiode.

Marina Weisband: Das zu erreichen, ist sehr sehr schwer.

Parteien müssen attraktiver werden

Norbert Reichel: Zur Zivilgesellschaft gehören auch die Parteien.

Marina Weisband: Die Parteien könnten Engagement erhöhen, wenn sie selbst attraktiver werden. Das bedeutet vor allem: Mehr Durchlässigkeit für Neueinsteiger:innen. An der Basis einer Partei fühlt man sich oft als Hilfskraft für Leute, die schon 30 Jahre oder mehr Würstchen gewendet haben, den nächsten Schritt ihrer Karriere machen können.

Norbert Reichel. Schön zugespitzt formuliert, aber so ist es.

Marina Weisband: Parteistrukturen befördern nicht immer die Fähigsten nach oben auf die Kandidatenlisten. Ich habe es bei den Piraten erlebt, teilweise auch bei den Grünen, welch enorme Vorteile es hätte, sich von der Denke zu verabschieden, ach, der oder die ist schon so lange dabei, die haben das verdient. Stattdessen müsste es heißen: Wer ist die fähigste Person, damit wir unsere gemeinsamen Ziele erreichen. Wir müssen fragen, wer die Ideen, die wir haben, am besten formulieren kann, wer charismatisch ist, wer Verständnis hat. Das wäre die Person, die wir nach vorne stellen sollten.

Norbert Reichel: Bei SPD, CDU und CSU war es im Grunde schon lange so, jetzt auch bei den Grünen, dass Führungspositionen so gut wie ausschließlich mit Personen besetzt werden, die schon in jungen Jahren die Plakate geklebt haben, auf den Mitgliederversammlungen ständig präsent waren, schließlich Mitarbeiter:innen von Abgeordneten waren und dann eines Tages eben selbst dran waren, in einem Ministerium, in Fraktionen. Oft sind das Menschen, die nie etwas anderes kennengelernt haben als ihre eigene Partei und über keinerlei Lebens- und Berufserfahrung außerhalb der Politik verfügen.

Marina Weisband: So koppelt man sich von der Gesellschaft ab. Ein solches System ist kaum geeignet, die Fähigsten in die Positionen zu befördern, in denen sie am besten wirken können. Die Kriterien, nach denen Politiker:innen auf Kandidaturlisten gelangen, sind völlig andere und nicht wirklich geeignet, die Gesellschaft und die Partei vorwärts zu bringen. Es gibt immer die Idee: Der hat sich das verdient! Viele Jahre dabei zu sein ist nicht die wichtigste Qualifikation, um eines der wichtigsten Ämter in diesem Land zu bekleiden.

Norbert Reichel: Manchmal braucht es vielleicht einen Knall, damit die Leute etwas begreifen. Ich fand schon interessant, wie Ricarda Lang nach ihrem Rücktritt argumentierte. Sie sagte, es sei einfach falsch so zu tun, als habe man für alles die richtige und ein für alle Mal beste Lösung. Das ist aus meiner Sicht ein ganz zentraler Punkt, um gegen den Konsumismus in der Politik anzugehen.

Demonstration in Bratislava. Foto: privat.

Marina Weisband: Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Aber das wird abgestraft. Nicht zuletzt von der Presse. Es gibt viele Anreize von Seiten der Presse, die Politik behindern, auch seitens der Wähler:innen. Ich habe es in meiner Zeit bei den Piraten selbst erlebt, wie ich angefangen habe, Politikersprech zu benutzen. Immer mehr. Obwohl ich das nicht wollte. Ich wusste, dass jeder meiner Halbsätze zu einer Überschrift hochgejazzt werden konnte, für die sich dann alle meine Kolleg:innen an Infoständen rechtfertigen müssen. Ich weiß aber auch, dass die Journalist:innen, mit denen ich geredet habe, auch nicht wollten, dass ich Politikersprech benutze, aber sie haben Redaktionen im Nacken, die von ihnen verlangen: Schaffe eine interessante Schlagzeile. Damit die Finanzierung stimmt. Das ganze System wollte, dass Politiker:innen hohle Phrasen dreschen, und alle haben darauf hingearbeitet, dass genau das passiert.

Norbert Reichel: Die ganze Welt in 100 Zeichen.

Marina Weisband: Vielleicht braucht es wirklich einen Knall, weil es so schwierig ist, Menschen davon zu überzeugen, dass sich etwas verändern muss. Seit 15 Jahren beiße ich mir in die Ellbogen, weil Menschen das nicht begreifen. Ich fürchte, dass – wenn es einen Change by Design gibt – auch einen Change by Catastrophe gibt. Das Problem ist nur, eine Demokratie zu zerstören ist 100mal leichter als sie aufzubauen. Oder wieder aufzubauen. Wir riskieren gerade diese Zerstörung. Wir laufen darauf zu. Wir sind gerade im Prä-Faschismus.

Deshalb sage ich, wir müssen alles tun, um uns gegen diese Entwicklung zu wehren. Aber wir müssen auch heute schon, Samen in die Erde pflanzen, um uns auf übermorgen vorzubereiten. Denn morgen könnte wirklich dunkel sein.

Argumente für ein AfD-Verbot

Norbert Reichel: Ich hoffe, dass es bei dem Konjunktiv bleibt.

Marina Weisband: Das hoffe ich auch. Ich lebe von Hoffnung. Gleichzeitig mit der Hoffnung bereite ich mich auf das Schlimmste vor. Ich bereite mich darauf vor, dass wir scheitern könnten. Wir müssen es in unsere Köpfe bekommen, dass auch das nicht das Ende von allem wäre. Geschichte geht weiter. (Sie spricht emotional sehr bewegt.) Meine Familie hat Kinder in den Holocaust hinein geboren. Und deshalb bin ich hier. Es gibt ein Übermorgen.

Und deshalb brauchen wir ein AfD-Verbot. Wir müssen alle Politiker:innen schütteln, wir müssen gerade auch Medienschaffende schütteln. Und wir müssen uns in der Gesellschaft engagieren. Und wenn all das nicht reicht, müssen wir das Übermorgen vorbereiten.

Norbert Reichel: Ich fand Ihre Argumentation zum AfD-Verbot sehr schlüssig. Wir alle wissen, das ist ein mehrjähriges Verfahren, aber in dieser Zeit ist diese Partei mit dem Verbotsverfahren beschäftigt.

Marina Weisband: Ich verlange doch nicht mehr als dass diese Frage dem Gericht gestellt wird. Wir diskutieren die ganze Zeit nur darüber, ob wir die AfD verbieten sollen oder nicht. Darum geht es doch gar nicht. Der Antrag im Bundestag bedeutet doch nicht, dass die AfD jetzt sofort verboten würde. Es geht darum, dass sich das Bundesverfassungsgericht damit auseinandersetzen muss. Während dies geschieht, muss die AfD darauf achten, dass sie keine verfassungswidrigen Sachen sagt.  Natürlich wird der Vorstand in dieser Zeit sanfter reden. Aber gleichzeitig hat die AfD eine radikale und radikalisierte Basis, die dann anfängt, den Vorstand zu fragen, warum erzählt ihr eine so weichgekochte Scheiße. Seid ihr etwa gar nicht mehr dafür, alle Ausländer rauszujagen? Aber das darf der Vorstand dann nicht sagen. Das führt zu Spaltungen in der Partei. Das ist aber das Beste, was uns passieren kann, dass sich die Partei selbst zerlegt. Aber wir tun nichts dazu. Stattdessen erzählen wir nur ihre Geschichten.

Norbert Reichel: Das war im Wahlkampf sehr deutlich. Alle Parteien – mit Ausnahme der Linken – haben eigentlich nur die AfD-Geschichte erzählt.

Marina Weisband: Das macht mir gerade Magenschmerzen. Dass wir in der Politik und in den Medien so wenig Personal haben, das in der Lage ist, diese Struktur zu durchschauen und ihr einen Riegel vorzuschieben. Das macht mich traurig. Und das lässt mich denken: Vielleicht brauchen wir eine Katastrophe, damit wir diese Art von Denken nicht auch noch befördern. 

Das hört sich nicht gut an, aber ich möchte auch auf keinen Fall in Doom verfallen. Wir müssen uns rückversichern: Nachrichten hören sich immer negativer an als die Weltlage wirklich ist. Mit negativen Nachrichten verdienen die Medien ihr Geld.

Öffentliche Räume gegen den Autoritarismus schaffen

Norbert Reichel: Ein sprunghafter Trump ist natürlich viel interessanter als jemand, der soziale Gerechtigkeit verkündet und das dann auch noch umsetzt.

Marina Weisband: Robert Habeck – um dieses Beispiel zu nennen – ist es gelungen, die drohende Energiekrise nach der Vollinvasion Russlands in der Ukraine abzuwenden. Wir sind aus russischem Gas ausgestiegen. Das war eine krasse Leistung. Waren die Zeitungen über Jahre voll davon? Nein, natürlich nicht, weil es eine positive Sache war. Wir können das abhaken und weiter machen.

Norbert Reichel: Stattdessen wurde Robert Habeck mit dem sicherlich alles andere als gut ausgearbeiteten ersten Entwurf des sogenannten Heizungsgesetzes verbunden. Das zog sich bis in den Wahlkampf hinein. Gas, Kohle, Atomkraft wurden von Politiker:innen und manchen Medien gegen jedes bessere Wissen als Lösungen verkauft, die sie nun wirklich nicht sind.

Marina Weisband: Das eigene Denken ist immer von negativen Dingen bestimmt. Wenn ich vor Gefahren warne, macht das immer den Eindruck, als wäre alles schlecht. Natürlich ist nicht alles schlecht. Auch jetzt passieren viele gute Sachen. Und viele gute Menschen wachen gerade auf und vernetzen sich. Das ist genau das, was wir tun müssen. Ich möchte jedem, der zuhört, der liest, dringend dazu raten, selbst Teil dessen zu sein. Sei es in einer Mietergemeinschaft, sei es in einem Verein, sei es in einer Gewerkschaft. Tretet Gewerkschaften bei! Jetzt! Heute! Denn das sind die Strukturen, die sich gegen Autoritarismus effektiv wehren können.

Norbert Reichel: Gewerkschaften können natürlich auch ein Teil des Problems sein. Aber es gibt beim DGB inzwischen ein Bewusstsein dagegen. Ein gutes Beispiel ist das Projekt „Betriebliche Demokratiekompetenz“. Im Grunde das betriebliche Parallelprojekt zu aula. Sandro Witt, der dieses Projekt leitet, berichtete, dass sich in vielen Betrieben, in denen sie das Projekt durchgeführt hatten, Betriebsräte oder Auszubildendenvertretungen gebildet haben. Das sind erfolgreiche Institutionalisierungen. Alles mit Unterstützung der Betriebsleitungen.

Marina Weisband: Genau das müssen wir erreichen. Das haben die Rechten in den vergangenen Jahren gemacht! Das müssen wir auch tun, dafür sorgen, dass sich Dinge institutionalisieren!

Norbert Reichel: Der von der Rechten geplante Marsch durch die Institutionen kann noch gestoppt werden.

Marina Weisband: Wir müssen erreichen, dass aus einer Bewegung für die Demokratie eine Institution wird, und sei es eine informelle. Wo immer Menschen sich im Leben face-to-face vernetzen, dort entsteht Resilienz. Das Gute ist: Wir haben jetzt die Zeit und die Möglichkeit das aufzubauen. Das ist die sehr sehr gute Nachricht. In Deutschland sind wir immer noch massiv privilegiert gegenüber anderen europäischen Ländern. Wir haben eine Bundeszentrale für politische Bildung. Davon können Ukrainer:innen nur träumen. Wir haben gute Strukturen und wir haben eine Politik, die bei aller Kritik immer noch erstaunlich durchlässig ist. Abgeordnete lesen die Briefe von Bürger:innen. Bisher haben aber vor allem Rechte geschrieben. So kommt dann ein Politiker, auch bei den Grünen, zu dem Eindruck, alle wollten nur über Migration reden. Aber wenn wir Briefe über das schreiben, was uns umtreibt, dann ändert sich der Eindruck. Wir haben als Zivilgesellschaft ganz viel Macht, ganz viele Möglichkeiten, die andere Länder nicht haben. Wir sollten sie nutzen. Es ist nichts verloren. Wir versuchen, Autoritarismus zu verhindern. Und wenn Autoritarismus kommt, können wir ihn überleben.

Norbert Reichel: Wäre es nicht möglich, die sozialen Netzwerke mit unseren Botschaften und Fragen zu fluten? Das entnehme ich dem Erfolg von Heidi Reichinnek.

Marina Weisband: Das wird nicht funktionieren. Die Algorithmen verzerren systematisch. Ich hatte auf X zuletzt eine Viertelmillion Follower. Wenn ich aber etwas Prodemokratisches getwittert habe, haben das gerade einmal 200 Leute gesehen. Die anderen haben das nicht mitbekommen. Viele soziale Medien – nicht Bluesky, auch nicht Mastodon, aber Meta, X, TikTok – sind von Algorithmen gesteuert, die den Interessen des chinesischen Staates oder privater Milliardäre dienen. Die kannst du nicht in ihrem eigenen Haus besiegen.  

Norbert Reichel: Helfen European Digital Services Act und Netzwerkdurchsetzungsgesetz?

Marina Weisband: Nur sehr bedingt. Man könnte Plattformen wie Meta, X, TikTok höchstens vom europäischen Markt ausschließen. Das halte ich aber nicht für den besten Weg. Der beste Weg wäre, auf europäischer Ebene solche Unternehmen zur Interoperabilität zu zwingen. Das heißt: Ihr müsst eure Plattformen so gestalten, dass sie so sprechen, dass andere Plattformen das verstehen können. Das heißt, ich kann auf Mastodon sein und dort Inhalte auf Facebook lesen. Etwa wie mit E-Mail. Egal auf welchem Server man ist, man kann jede E-Mail lesen. Dann ist man nicht mehr auf eine Plattform angewiesen, um Leute zu treffen, die auf einer anderen Plattform sind.

Das wiederum erlaubt die Gründung einer neuen Plattform. Diese Plattform könnte allen gehören. Wir könnten eine europäische soziale Plattform haben, auf die alle drauf dürfen, auch außerhalb von Europa. Und die gehört einfach allen, die auf dieser Plattform sind. Sie muss nicht durch Werbung finanziert werden, sie muss nicht unsere Aufmerksamkeit an Werbetreibende verkaufen, sie kann uns nicht auf der Plattform gefangen halten. Sie muss uns nicht systematisch wütend machen. Sie gehört niemandem allein, der den Algorithmus politisch steuert. Wir verwalten sie demokratisch durch ein Gremium, das wir selbst wählen. Das wäre eine nachhaltige Lösung. In Bezug auf die sozialen Medien ist es die einzige nachhaltige Lösung. Ich will keine staatlichen Lösungen, das haben wir in China, ich will keine Lösungen, die privaten Milliardären gehören, denn das sind nicht meine Interessen, das sind nicht die Interessen der Gesellschaft. Wenn wir öffentliche Räume wollen, müssen wir dafür sorgen, dass diese Räume wirklich öffentlich sind.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2025, Internetzugriffe zuletzt am 19. März 2025. Das Titelbild zeigt ein Bild der Mahnwache der Omas gegen Rechts in Hannover am 20. Februar 2025 in memoriam Oded Lifshitz, Shiri, Ariel und Kfir Bibas. Foto: Bernd Schwabe. Wikimedia Commons.)