Shoah und Kolonialismus

Eine Debatte über die Macht der Geschichtsschreibung

„2001 haben Nathan Sznaider und Daniel Levy ein Buch über den Holocaust geschrieben, das Erinnerungen im globalen Zeitalter hieß. Dort konnten sie zeigen, wie der Holocaust durch seine mediale Verbreitung zunehmend zu einem global verfügbaren Gefäß der Erinnerung wurde, zu einer Art Schablone, auf die sich andere Gruppen beziehen mussten, wollten sie denn, dass ihre Leidenserfahrung gehört wurde. Um der Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels Gehör zu verschaffen, wurde der Vergleich mit dem Holocaust oftmals bemüht. Heute ist von den Vereinigten Staaten aus die ‚schwarze‘ Erfahrung wiederum selbst globalisiert worden – von ‚Black Lives Matter‘ haben im Westen sehr viele Menschen schon einmal gehört.“ (Mark Terkessidis, Wesen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute, Hamburg, Hoffmann und Campe, 2019).  

Wird Erinnerung „globalisiert“, bleiben Vergleiche nicht aus. Zu Vergleichen gehören Statistiken, aus Vergleichen entstehen Bewertungen und nicht zuletzt ein Streit um die Frage, wem Gehör gebührt. Wer wird beachtet, wer nicht? Opferkonkurrenzen und Opferhierarchien können entstehen. Ebenso ist es mit der Beachtung der Täter*innen. Wer war Täter*in, wer hatte welchen Anteil an den Verbrechen? Täterkonkurrenzen sind die andere Seite der Medaille der Opferkonkurrenzen. Das Elend der Vergleiche ist Gegenstand mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrender Debatten um Erinnerungskultur, die nicht zuletzt auch Debatten um Berechtigung und Wirksamkeit von Geschichtspolitik sind. Wer verfügt über die Macht zur Geschichtsschreibung?

Nicht nur ein Streit in historischen Fakultäten

Es ist wohlfeil, den in Deutschland grassierenden Antisemitismus Muslim*innen zuzuschreiben. Ebenso wohlfeil ist es, die Shoah mit anderen Verbrechen der Menschheitsgeschichte und insbesondere der deutschen Geschichte zu vergleichen. Historische Vergleiche an sich sind sicherlich hilfreich, doch oft kommt es auf den Tonfall, vielleicht sogar bloß auf einen bestimmten Zungenschlag, immer jedoch auf die historische Einordnung und das Interesse der Vergleichenden an. Jenny Hestermann und Johannes Becke leiteten ihren in der Jüdischen Allgemeinen veröffentlichten Essay „Die Linke und der neue Historikerstreit“ mit der These ein, dass die aktuelle Debatte über das Verhältnis von der Erinnerung an die Shoah und der Erinnerung an den Kolonialismus, an den deutschen Historikerstreit der Jahre 1986 und 1987 erinnere. Sie sprechen von einem „Historikerstreit 2.0“.

Anlass dieses Streits sind Einlassungen des australischen Historikers Anthony Dirk Moses auf dem Schweizer Portal „Geschichte der Gegenwart“, der die Praxis der Erinnerung an die Shoah in Deutschland in die Nähe einer religiösen Überzeugung rückte, indem er von einem „Katechismus der Deutschen“ sprach. Die Auseinandersetzungen um den Historiker Achille Mbembe anlässlich seines vorgesehenen Auftritts bei der Ruhrtriennale 2020, der dann nicht stattfand, waren vielleicht Vorboten dieses Streits. Die ZEIT veröffentlichte im Juli 2021 mehrere Texte zum Thema, ein Streitgespräch zwischen Volkhard Knigge und Anthony Dirk Moses, einen Essay von Saul Friedländer, einen Text von Michael Rothberg, der ebenfalls die Parallele zum „Historikerstreit“ zog“ sowie einen weiteren Text von Thomas E. Schmidt.

Ich gehe zunächst davon aus, dass niemand in Frage stellt, dass es eigentlich schon lange erforderlich gewesen wäre, sich den Verbrechen des deutschen Kolonialismus zu stellen. Dies geschieht zurzeit in Ansätzen, in Debatten um die Umbenennung von Straßen und Plätzen, in den Debatten um den Umgang mit Ausstellungsstücken im Berliner Humboldt-Forum, die nachweislich auf fragwürdigen Wegen dort hineingekommen sind, die Rückgabe diverser Kulturgüter wie der Benin-Bronzen oder die Vergangenheit und Zukunft des „Luf-Bootes“, über das Götz Aly schrieb („Das Prachtboot – Wie Deutsche die Kunstschätze der Südsee raubten“, Frankfurt am Main, Fischer, 2021). Lesenswert sind die Analysen von Mark Terkessidis in seinem Buch „Wessen Erinnerung zählt?“

Andererseits stelle ich mir die Frage, warum all diese Debatten über die Verbrechen des Kolonialismus von manchen Expert*innen genutzt werden, um die Praxis der Erinnerung an die Shoah zu hinterfragen oder diese sogar grundsätzlich in Frage zu stellen. Beifall ist solchen Relativierungen offenbar gewiss, von der extremen Rechten wie von der extremen Linken. So wie eine linksextremistische Kleinpartei, die MLPD, im Bundestag auf ihren Plakaten „Freiheit für Kurdistan und Palästina“ fordert, fordern Rechtsextreme, allen voran Propagandist*innen der Identitären Bewegung und der Thinktank aus Schnellroda, endlich mit der Erinnerung an die Shoah abzuschließen und sich doch lieber an die Großtaten deutscher Geschichte zu erinnern, welche auch immer das sein mögen. Über Kolonialismus will von der rechten Seite auch niemand reden, sodass sich dieser Zweig der Relativierungen selbst diskreditiert, aber was hat es mit der Anschlussfähigkeit von Erinnerung an kolonialistische Verbrechen und Relativierung der Shoah auf sich?

Auf der linken Seite ist solches Denken nicht neu. Thomas Haury hat in einem in der Reihe „Bausteine“ des Netzwerks „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ veröffentlichten Band mit dem Titel „Antisemitismus von Links – Facetten der Judenfeindschaft“ (Berlin 2019) das anti-kolonialistische beziehungsweise anti-imperialistische Weltbild linker Gruppen der 1960er bis in die 1980er Jahre aus der „Dimitroffschen Faschismus-Definition“ abgeleitet, in der „Antisemitismus (…) nur kurz erwähnt als Ablenkungspropaganda der Herrschenden und die Vernichtung der Juden als ein weiteres Beispiel für die Brutalität finanzkapitalistischer Diktatur“ erscheint.

Diese Sicht setzt sich in Ideologie und Vorgehen von BDS fort. Wenn Israel nicht mehr als jüdischer Staat, sondern ausschließlich als kolonialistischer, imperialistischer Akteur gebrandmarkt wird, kann jemand, der dies bekämpft, nicht mehr als Antisemit*in bezeichnet werden. Thomas Haury spitzt diese These zu: „Nach 1967 wurde der Palästinakonflikt nur noch wahrgenommen als ein Bestandteil des revolutionären Kampfes der unterdrückten Völker der ‚Dritten Welt‘ gegen den Imperialismus. Wenn man aber im Palästina-Israel-Konflikt ein sich wehrendes ‚Opfer-Volk‘ sucht, so findet man hierfür die palästinensische Seite; Israel dagegen muss zum imperialistischen bösen Täter werden.“ Das daraus erklärbare Verhalten der UNO habe ich in meinem Essay „Wandel ohne Annäherung“ anhand der Arbeiten von Axel Feuerherdt und Florian Markl dargestellt.

Jenny Hestermann und Johannes Becke: „Bei allen Unterschieden hinsichtlich ihrer politischen Motivation ist der argumentative Schulterschluss zwischen der postkolonialen Linken und der völkischen Rechten Anlass zu großer Sorge. Die Intervention von Moses sollte dennoch ernst genommen werden: Erstens wendet sie sich an ein wachsendes Unwohlsein unter linken deutschen Intellektuellen, die auf dem Weg zum ‚Europäer‘ oder gar zum ‚Weltbürger‘ ihre eigene Familiengeschichte zunehmend als Ballast empfinden – wie befreiend mag es da sein, den Nationalsozialismus als eines von vielen Kolonialprojekten zu verstehen, um ihn anschließend mit derselben Selbstverständlichkeit ablehnen zu können wie das zionistische Projekt (…).“ Und damit sind wir beim Kern der Auseinandersetzungen, die Bezeichnung des Staates Israel als kolonialistisches Projekt.

Kolonialismus und Völkermord

Sebastian Conrad zitiert in seinem Essay „Erinnerung im globalen Zeitalter: Warum die Vergangenheitsdebatte gerade explodiert“ (im Augustheft des Merkur) einen Text des Historikers Michael Stürmer aus den 1980er Jahren, in dem dieser den Genozid der Deutschen an den Herero und Nama als Partisanenkrieg beschreibt, in dem hinterhältige afrikanische Partisanen deutsche Soldaten überfallen, gefoltert und ermordet hätten, ein Text, den wir heute als klassisches Beispiel einer Täter-Opfer-Umkehr beschreiben würden, der – so Sebastian Conrad – heute in dieser Form nicht mehr schreibbar wäre.

Ich bin mir nicht so sicher, ob es nicht doch noch Autor*innen gibt, die zumindest denken, was Michael Stürmer damals schrieb. Kern eines solchen Textes ist die einseitige Sicht der Geschichte ausschließlich aus deutscher Perspektive, eine Perspektive, die wir auch heute noch – sicher nicht in der Verherrlichung eines Völkermordes – wohl aber in der Ignoranz deutscher Verbrechen in deutschen Schulbüchern oder in medialen Darstellungen nach wie vor finden. Insofern ist es ein Erfolg, dass es heute eine ausführliche Debatte um die deutschen Verbrechen in den Kolonien des Kaiserreichs gibt. In den 1960er und 1970er Jahren herrschte in den Schulen noch die Ansicht vor, dass es eigentlich gar keine deutschen Kolonien gegeben habe. Die diversen nach afrikanischen Ländern und deutschen Expeditionsleitern – so möchte ich sie einmal euphemistisch nennen – benannten Straßen und Plätze wurden als exotisches Beiwerk wahrgenommen, aber nicht als Belege deutscher Verbrechen. Die Berliner Kongokonferenz von 1884 und 1885 kam im Geschichtsunterricht der Schulen nicht vor. Ich vermute, daran hat sich auch heute nichts geändert.

Sebastian Conrad schließt an Marianne Hirsch an, die 2012 in der Columbia University Press (New York) eine Arbeit mit dem Titel „The Generation of Postmemory – Writing and Visual Culture after the Holocaust” veröffentlichte. Für den Begriff der „Postmemory“ kenne ich keine brauchbare deutsche Übersetzung, jede Übersetzung dürfte als Parallelbegriff zu Posthistoire oder Postmoderne in die Irre führen. Der Begriff belegt aber, dass es eben nicht nur eine Erinnerung und nicht nur einen Gegenstand von Erinnerung gibt. Sebastian Conrad bezeichnet die aktuelle Debatte um die (nicht nur) deutsche Erinnerungskultur optimistisch als „Rückzugsgefechte“. Vielleicht sind sie das, vielleicht ist es aber auch viel gefährlicher, und eine Erinnerung wird gepflegt, um jede andere zu verdrängen. Auf jeden Fall ist Vorsicht geboten, denn manches Bekenntnis kann durchaus auch als unredlich interpretiert werden, denn wenn beispielsweise der Deutsche Bundestag den Völkermord an den Armeniern im Jahr 2016 als Völkermord bezeichnet, was er ja auch war, verbinden manche damit die Absicht, die Türkei an den Pranger zu stellen, um sich selbst in der eigenen als belastend empfundenen Erinnerungsarbeit etwas Luft zu verschaffen.

Aber vielleicht hat Sebastian Conrad recht und es geht wirklich nicht um das „Ob“, sondern das „Wie“: „Das Ergebnis muss dabei keineswegs eine Konkurrenzsituation sein, die Verdrängung einer Erinnerung durch eine andere. So hat ja auch die Bundestagsresolution zum Genozid an den Armeniern im Jahr 2016 nicht zu einer Relativierung oder Verharmlosung des Holocaust geführt. Es kann nicht darum gehen, ob der Holocaust oder der Kolonialismus das schlimmere Übel waren; ein vergleichender Opferwettstreit steht nicht auf der Tagesordnung. Was aber in einer historischen und vergleichenden Perspektive deutlich wird: Die grundlegenden und strukturellen Veränderungen, die mit Globalisierung und digitalisierter Wissensökonomie einhergehen, bringen auch ein verändertes Erinnerungsregime hervor, überall, auch in Deutschland. Die Frage ist nicht mehr, ob – sondern wie man sich darauf einlässt.“

„Die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung“

Monika Schwarz-Friesel hat in einem ihrer jüngsten Vorträge den Antisemitismus mit all seinen Stereotypen christlicher und europäischer Provenienz als „Die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung“ charakterisiert. Und in der Tat: Wenn jemand etwas lange genug behauptet und ständig wiederholt, wird es immer schwieriger, sich dem beanspruchten Wahrheitsgehalt zu entziehen, so unzutreffend dieser auch sein mag. Katharina Nocun und Pia Lamberty dokumentieren in ihrem Buch „Fake Facts – Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen“ (Köln, Quadriga-Verlag, 2021), wie dies funktioniert. Sie wählen im Text in der Regel den Begriff der „Verschwörungserzählungen“, da der Begriff der „Verschwörungstheorie“, den sie noch im Titel verwenden, die Inhalte dieser Erzählungen unangemessen aufwerte: „Verschwörungserzählungen haben aufgrund ihrer identitätsstiftenden Funktion die Kraft, Gruppenkonformität zusätzlich zu verstärken. Denn sie führen zu einem stärkeren Freund-Feind-Bild und einer stärkeren Verschmelzung mit der eigenen Gruppe.“ Diese Erkenntnis ließe sich auf jeden Bildungsprozess anwenden. Wenn in Schulbüchern israelische Geschichte ausschließlich als Konflikt zwischen der arabischen beziehungsweise palästinensischen und der jüdischen Seite dargestellt wird, verschwinden die langen Vorgeschichten – es ist nicht nur eine! – aus dem Blickfeld. Und wenn in den Medien Israel dafür kritisiert wird, dass es auf Angriffe aus Gaza, aus dem Libanon reagiert, delegitimiert dies das Recht Israels auf Selbstverteidigung.

Katharina Nocun und Pia Lamberty referieren ein 1971 vom Psychologen Henri Tajfel (1919-1982) und seinen Kolleg*innen durchgeführtes Experiment, das „Minimale Gruppenparadigma“. Menschen neigen dazu, bei zufälliger Zuordnung zu einer Gruppe eine Art Gruppenidentität auszubilden und Mehrheitsmeinungen zu der ihren zu machen. Katharina Nocun und Pia Lamberty verweisen ferner auf Solomon Asch (1907-1996), der Tajfels Experimente ergänzte und feststellte, dass „Gruppendruck“ wirke, indem sich hohe Anteile der Versuchsteilnehmenden einer „Mehrheitsmeinung“ anpassten, „obwohl diese offensichtlich falsch war. (…) Diese Studie zeigt, dass wir alle von Verzerrungen unserer Wahrnehmung betroffen sind und in einigen Fällen sogar unsere Meinung an die jeweiligen Umstände anpassen.“ Das gilt nicht zuletzt für antisemitische „Erzählmuster“. Katharina und Pia Lamberty zitieren weitere Untersuchungen der Anti-Defamation League (ADL) und des Jüdischen Weltkongresses, die belegen, „dass antisemitische Mythen auch bei gebildeten Menschen und in hohen Einkommensschichten Fuß fassen.“

In Lehrbüchern für Schulen arabischer Länder werden „Die Protokolle der Weisen von Zion“ und vergleichbare Schriften als historische Wahrheiten präsentiert. Insofern ist es kein Wunder, dass dies von den Schüler*innen auch geglaubt werden. Damit ist noch lange kein Beweis erbracht, dass der Antisemitismus in Deutschland – wie vor allem von einer Partei behauptet – ein Import aus den arabischen Ländern wäre. Diese Annahme ist historisch falsch, denn das, was sich in den arabischen Ländern in Schulbüchern und in den diversen Medien findet, hat in hohem Maße den Charakter eines Imports aus Europa, sodass von einem Re-Import gesprochen werden müsste, wenn Menschen aus diesen Ländern sich in Europa antisemitisch äußern oder betätigen.

Eine weitere These des Buches von Katharina Nocun und Pia Lamberty ist der „Proportionality Bias“, „dass ‚große Dinge‘ stets ‚große Ursachen‘ haben müssen. Das bedeutet: Wenn uns als mögliche Erklärung für ein dramatisches Ereignis zwei Alternativen präsentiert werden, von denen eine trivial und die andere spektakulär ist, bevorzugen wir Letztere.“ Möglicherweise entspricht die aktuelle Debatte um die Verbrechen des Kolonialismus genau diesem Muster. Israel muss als koloniales Projekt dämonisiert werden, um das Bestreben palästinensischer Organisationen, Israel zu vernichten, die Raketen aus Gaza, Selbstmordanschläge und andere terroristische Akte zu legitimieren. Für manche Deutsche ergibt sich daraus eine willkommene Schuldverschiebung, nach dem Motto: die Israelis sind auch nicht besser als wir es damals waren und so erhalten NS-Vergleiche Konjunktur. Antisemitismus wird auf der eher linken Seite des politischen Spektrums als Antikolonialismus anschlussfähig.

Schlüsseljahre konservativ- identitärer Revolutionen

Eine wichtige Rolle spielen bei kollektiven Erinnerungsprozessen Jahreszahlen. Amin Maalouf, der seit langer Zeit in Frankreich lebt, kennt die Entwicklungen in der Levante aus eigener Anschauung, beispielsweise war er am 5. Februar 1979 persönlich anwesend, als Ajatollah Khomeini die Islamische Republik Iran ausrief. Er dokumentiert die Entwicklungen in der Levante und deren Auswirkungen und Verknüpfungen in Europa in seinem Buch „Le naufrage des civilisations – essai“ (Paris, Grasset, 2019). Er erlebte, dass seine Familie aus Ägypten in den Libanon fliehen musste und erlebte dort alle Wechselfälle der Politik in einem mehr oder weniger scheiternden Staat, dessen Geschichte immer wieder von diversen Terror-Organisationen bestimmt wurde, die von libanesischem Boden aus operierten. Ein Schüsselereignis war das von christlichen Akteuren des Libanon durchgeführte und von der israelischen Armee unterstützte Massaker in den beiden palästinensischen Lagern Sabra und Chatila im Jahr 1982. Ari Folmans Film „Waltz with Bashir“ aus dem Jahr 2008 rekonstruiert die Erinnerungen eines israelischen Soldaten. In Tel Aviv demonstrierten 400.000 Menschen gegen das damalige Vorgehen der israelischen Armee. Es ist ein Verdienst Amin Maaloufs, dass er durch solche Hinweise immer wieder die Verhältnisse zurechtrückt.

Amin Maalouf benennt zwei zentrale Kontexte, aus denen sich die gesamte weitere Entwicklung ableiten lässt. Der erste Kontext betrifft den Anfang der 1950er, der andere das Ende der 1970er Jahre. Wesentlicher Akteur des ersten Kontextes ist Winston Churchill. Es ist keine Frage, dass ohne Winston Churchills Engagement die USA nicht in den Zweiten Weltkrieg eingegriffen hätten. Die Welt sähe ohne das US-amerikanische Engagement im Zweiten Weltkrieg sicherlich anders aus. Winston Churchill war allerdings auch dafür verantwortlich, dass sich 1952 Gamal Abdel Nasser gegen liberale Politiker durchsetzte. Winston Churchill ging es ausschließlich um die britischen Interessen. Amin Maalouf nennt den ägyptischen Politiker Mustafa An-Nahhas Pascha (1879-1965) „einen moderaten Patrioten, einen westlich gesinnten Patrizier, einen wagemutigen Modernisierer“, der, hätte er sich durchsetzen können, der arabischen Geschichte einen anderen, einen liberalen, demokratischen Verlauf hätte geben können. Im Jahr 1953 griffen die Amerikaner nicht zuletzt auf Betreiben von Winston Churchill im Iran ein und ersetzten den liberalen Politiker Mohammed Mossadegh (1882-1967) durch Mohammad Reza Pahlavi (1919-1980). Es ging um die Sicherung der iranischen Ölquellen im Sinne britischer Interessen.

Der zweite Kontext betrifft das Jahr 1979, ein Jahr des Umbruchs. 1979 wurde Margaret Thatcher (1925-2013) Premierministerin im Vereinigten Königreich, 1979 übernahm Deng Xiaoping (1904-1997) die Führung der kommunistischen Partei Chinas und des Staates, 1978 wurde der polnische Kardinal Karol Woytiła (1920-2005) zu Papst Johannes Paul II., der Vietnamkrieg wurde 1975 mit einer Niederlage der USA beendet, die Sowjetunion marschierte 1978 in Afghanistan ein, einer der Kämpfer, die sich diesem Einmarsch widersetzten, war der junge Osama Bin Laden (1957-2011). 1979 sorgte die vietnamesische Armee für das Ende des Terrorregimes der Roten Khmer in Kambodscha, anschließend marschierte China in Vietnam ein und zeigte, dass sich Vietnam nicht auf sowjetische Hilfe verlassen könne. 1979 wurde in Pakistan Zulfikar Ali Bhutto (1928-1979) hingerichtet, im Iran übernahm Ajatollah Ruhollah Musawi Khomeini (1902-1981) die Staatsführung und schuf den islamisch- theokratisch verfassten Iran. In Italien wurde 1978 Aldo Moro (1916-1978) ermordet, ein Mord, der – so Amin Maaloufs Einschätzung – auch das Ende der Hoffnung auf eine Öffnung christlich-konservativer Kräfte bedeutete, mit liberal orientierten Kommunisten, die eigentlich keine Kommunisten mehr waren, auch die Entwicklung des Kommunismus in den sich kommunistisch verstehenden Staaten zu beeinflussen – vielleicht eine Variante des von Willy Brandt und Egon Bahr eingeleiteten friedlichen „Wandels durch Annäherung“, vielleicht auch eine Neuauflage der Hoffnungen des „Prager Frühlings“.

Jede dieser Personalien, jedes dieser Ereignisse prägt die heutige Welt in höchstem Maße. Amin Maalouf spricht von „L’année du grand retournement“, dem „Jahr der großen Wende“. Er diagnostiziert eine nachhaltig wirkende Rechtsverschiebung im Zuge des Neo-Liberalismus, eine Verhärtung des Nah-Ost-Konflikts, die Dominanz des Islamismus iranischer Prägung und fasst all diese Entwicklungen unter dem Begriff der „konservativen Revolution“ zusammen („révolution conversative“). Es ging nach seiner Analyse nicht gegen die Auswüchse eines übertriebenen „Egalitarismus“ („égalitarisme“), sondern gegen jede „Gleichheit“ („égalité“) schlechthin. Die „konservativen Revolutionen“ sind eng mit „identitären Gefühlen“ („sentiments identitaires“) verbunden. Eine zentrale Rolle spielt dabei immer wieder die Religion. Gilles Kepel gab einem Buch zu Beginn der 1990er Jahre den Titel „La revanche de Dieu“ („Die Rache Gottes“, deutsche Fassung bei Piper erschienen). Immer wieder – so Amin Maalouf – wird in „identitären Diskursen“ („les discours identitaires“) „die religiöse Zugehörigkeit“ („l’appartenance religieuse“) hervorgehoben, die die Welt in ein „Wir“ und „die Anderen“ aufteile, eine bipolare, binäre, geradezu manichäistische Sicht der Dinge, die von den Gläubigen gefordert und die durchgesetzt werde. Eben dies ist der „Schiffbruch“ („le naufrage“), von dem Amin Maalouf spricht.  

Arabische Demütigung – enttäuschte Hoffnungen

Und die Araber, die arabische Bevölkerung der Levante? Gamal Abdel Nasser vermittelte Hoffnung, das Gefühl, eine panarabische Einheit wäre möglich, die Briten, die Amerikaner, die Israelis wären besiegbar. Die Besetzung des Suez-Kanals im Jahr 1956 beispielsweise war ein deutliches Zeichen gegen die Besetzung durch Dritte. Israel wurde in diesem Kontext zur Kolonialmacht, die es nicht war, aber als die es nicht zuletzt in Reaktion auf die europäische Herkunft vieler Bürger*innen gelesen wurde. Der Diskurs Nassers war kein islamischer Diskurs, er ließ beispielsweise den führenden Ideologen der Muslimbruderschaft, Sayyid Qţib (1906-1966), einsperren und hinrichten, es war ein nationalistischer Diskurs. Doch dann kam das Jahr 1967. Das Jahr der Niederlage war nicht mehr allein 1948, es war jetzt 1967, denn dieses Jahr war die Niederlage des Politikers, der panarabische und panislamische Einheit, die Wiedergutmachung vergangener Niederlagen, eine Revision von 1948 versprach, es war die persönliche Niederlage Gamal Abdel Nassers und es war die kollektive Niederlage der arabischen Communities. Vergleichbare Hoffnungen konnte nach dieser Niederlage kein arabischer Staatschef mehr vermitteln.

Das Jahr 1967 bestätigte die ohnehin schon latent, oft sogar manifest vorhandenen Gefühle ständiger Demütigung. Die Araber der Region fühlten sich von der Geschichte vernachlässigt, von fremden Mächten schikaniert und ausgeschlossen. Mit dieser Erfahrung wurden sie „reif, um sich unter den Fahnen der Religion einzuschreiben“ („Ils étaient mûrs pour s’enrôler sous les étandards de la religion.“). Amin Maalouf: „Denn das Schlimmste für einen Verlierer ist nicht die Niederlage selbst, sondern das daraus abgeleitete Syndrom des ewigen Verlierers.“ („Car ce qu’il y a de pire pour un perdant, ce n’est pas la défaite elle-même, c’est d’en concevoir le syndrome de l’éternel perdant.”) Das Jahr 1979 hingegen zeigte mit dem Vorbild des Iran eine Perspektive, sich aus dieser Demütigung zu befreien, den „politischen Islamismus“ („l’islamisme politique“). Diesen vertrat der Iran, dem es in den folgenden Jahren gelingen sollte, sich zu einem Vorkämpfer der palästinensischen Sache zu erheben. Allerdings mit einer Einschränkung: das Jahr 1979 war auch das Jahr, in dem sunnitische Terroristen die Große Moschee in Mekka besetzten. Das Ergebnis: ein Streit um das richtige Verständnis der Religion und mit der Zeit bekannten sich alle palästinensischen und sonstigen Terrorgruppen der Region von Al-Kaïda bis zum Daësh zum Islam, präzise formuliert: zu ihrem jeweiligen Verständnis des Islam, neben dem sie kein anderes gelten ließen und nach wie vor nicht gelten lassen. Sunnitische Terroristen und iranischer Staatsterrorismus konkurrieren um den ersten Platz muslimischen Selbstbewusstseins.

Andererseits sind – so Amin Maalouf – nicht nur die Araber die Verlierer, auch die Israelis haben etwas verloren: sie gerieten 1967 in die „Falle ihres Sieges“, der Schritt für Schritt die israelische Politik gegenüber den Menschen in den besetzten Gebieten verhärtete und radikalisierte. 1975 setzte sich Shimon Peres gegen Yitzchak Rabin durch. Die Armee schritt nicht gegen die Gründung von Ofra, der ersten jüdischen Siedlung westlich des Jordan, ein. Die Gründung weiterer jüdischer Siedlungen in den im Juni 1967 besetzten Gebieten wurde und wird nach wie vor hingenommen und ist inzwischen wohl nicht mehr rückholbar. Auf beiden Seiten vermischen sich bei der Legitimation des jeweiligen Vorgehens nationale und religiöse Diskurse. Und wenn nationale beziehungsweise nationalistische Ansprüche religiös begründet werden, geht es schließlich nur darum, wer sich im Glauben, in der Religion als treuer als der andere erweist. Das war die Strategie des Daësh, das ist die Strategie des Iran, und das steckt meines Erachtens auch hinter den Versuchen des türkischen Staatspräsidenten, sich an die Spitze einer antiisraelischen, sprich antijüdischen Bewegung aller Muslim*innen zu setzen, nicht bedenkend, dass es in den arabischen Regionen lange Zeit eine osmanische Besetzung gab, an die sich dort niemand gerne erinnert. Doch dies lässt sich möglicherweise durch die religiöse Rhetorik überdecken. Die Berufung auf den Islam könnte unbeschadet unterschiedlicher Auffassungen über den Inhalt dieser Religion den Iran, die Türkei, die arabischen Staaten und die diversen palästinensischen Organisationen einen. Einen anderen Kitt gibt es nicht. Wie lange und unter welchen Umständen dieser Kitt halten könnte, ist eine offene Frage. Besonders stabil wirkt der Kitt nicht, wie auch die jüngst abgeschlossenen Verträge Israels mit diversen arabischen Staaten belegen. Möglicherweise erweisen sich die expansive Politik des Iran in der Levante als der bessere Kitt und der türkische Staatspräsident als Opfer seiner eigenen Hybris, dem es schwerfallen dürfte, sich zwischen Israel, dem Iran, Saudi-Arabien und Russland als dominierende Macht zu beweisen.

Amin Maalouf befasst sich ausführlich auch mit den Folgen des europäischen und amerikanischen Neoliberalismus. Diese spielen für die Entwicklungen in der Levante nur eine kleine Rolle, wohl aber für die Entwicklung der Begründungen von Politik. Evangelikalen Gruppen ist es gelungen, ihre religiösen Vorstellungen als leitende Ideen der Politik durchzusetzen, auch sie – im Sinne Gilles Kepels – als selbsternannte Rächer Gottes und mit großem Einfluss in Brasilien und anderen südamerikanischen Staaten sowie in Afrika. Ohne ihren Einfluss wäre beispielsweise die Wahl eines Jair Messias Bolsonaro nicht erklärbar. Der Neoliberalismus trägt allerdings auch dazu bei, dass das Kolonialismusargument, und damit das eigentlich stärkste Argument der Gegner Israels, gestärkt wird.

Der Zerrissene

Omar Kamil hat das Verhältnis von Shoah und Kolonialismus im arabischen Diskurs der Jahre 1945 bis 1967 untersucht (Omar Kamil, Der Holocaust im arabischen Gedächtnis – eine Diskursgeschichte 1945-1967, Göttingen, Vandenhoeck & Rupprecht 2012, 2. Durchgesehene Auflage 2018). Er schreibt nicht über die Vorgeschichte, nicht über die Geschehnisse und Zusammenhänge der Zeit zwischen erster und zweiter Alija, Balfour-Declaration und Staatsgründung Israels. Sein Thema ist die arabische Perspektive im Kontext der Rezeption der Werke von drei europäischen Intellektuellen aus dem Kreis der ehemaligen Kolonialmächte Frankreich und Großbritannien. Sein Fazit: „Die Vorstellung eines historischen Kampfes der Araber gegen den europäischen Kolonialismus und dessen zionistische Ausformung in Palästina stiftet bis heute das Masternarrativ der Araber, dessen Setzung es nicht zulässt, andere nicht damit zu vereinbarende Narrative wie die Anerkennung des Holocaust zu integrieren.“

Die drei Kapitel tragen die Überschriften „Toynbee in Montreal“, „Sartre in Kairo“ und „Rodinson in Beirut“. In den Kapiteln werden weitere arabische Intellektuelle vorgestellt, die sich im Umfeld der Protagonisten der drei Kapitel bewegten. Jean-Paul Sartre (1905-1980) genoss in den arabischen Staaten ein zunächst hohes Ansehen, beispielsweise aufgrund seiner etwa drei Wochen vor dem 5. Juni 1967 veröffentlichten Textsammlung in „Les temps modernes“ zum Status Israels: „Israël, fait colonial?“ Den ersten Essay dieser Sammlung mit dem programmatischen Titel hatte Maxime Rodinson (1915-2004) geschrieben. Das Fragezeichen dürften manche Leser*innen übersehen haben, wie die spätere Rezeption zeigte. Die Position von Jean-Paul Sartre war jedoch bei allen Vorbehalten israelfreundlich oder vielleicht passender formuliert von Verständnis geprägt. Omar Kamil: „Der Sechstagekrieg 1967 offenbarte Sartres Dilemma: die Zerrissenheit zwischen zwei unterschiedlichen Geschichtserfahrungen – der des Algerienkrieges und der des Schicksals der Juden Europas. Sein Kampf gegen den Kolonialismus stand nun seinem projüdischen Engagement unauflösbar gegenüber.“

Sicherlich lässt sich das Vorgehen Frankreichs im Algerienkrieg (oder in Vietnam und anderen französisch kolonisierten Regionen dieses Planeten) nicht mit der Besiedlung Palästinas durch Jüdinnen*Juden, die aus Europa und aus arabischen Ländern vertrieben wurden, miteinander vergleichen. Die diversen Phasen der Alija waren keine kolonialistische Kampagne, die sich in Israel beziehungsweise Palästina ansiedelnden Jüdinnen*Juden vertraten keine Kolonialmacht. Die arabische Perspektive in der Region war jedoch eine andere, die in Palästina aus Europa einwandernden Juden*Jüdinnen bei allen Widerständen wurden vor allem von Seiten der britischen Kolonialmacht als Kolonisator*innen wahrgenommen wurden. Mittelfristig, vor allem im Zuge der Staatsgründung wurden Jüdinnen*Juden aus den sich bildenden arabischen Staaten vertrieben und suchten ihre Zuflucht in Palästina beziehungsweise Israel, sodass sich in und auf Israel der gesamte anti-kolonialistische Impetus arabischer Politiker konzentrierte. Dabei spielten Ägypten mit Gamal Abdel Nasser und der Algerienkrieg eine Schlüsselrolle.

Omar Kamil illustriert die Dramatik der algerischen Erfahrung mit Schriften Jean-Paul Sartres aus der Zeit nach 1954, dem Jahr der vernichtenden Niederlage Frankreichs in Vietnam. Am 27. Januar 1956 sprach Jean-Paul Sartre auf einer „Veranstaltung des Comité d’action des intellectuels contre la poursuite de la guerre en Algérie“ über „den Kolonialismus als Ausbeutungssystem“, 1957 veröffentlichte Henri Alleg (1921-2001) das Buch „La question“, in dem er angesichts der „Foltermethoden“ französischer Soldaten in Algerien „die französische Republik mit Nazideutschland“ verglich. Jean-Paul Sartre schrieb das Vorwort zu diesem Buch ebenso wie zur Bibel der antikolonialistischen Befreiungsbewegungen „Les damnés de la terre“ von Frantz Fanon (1925-1961). In diesem Buch „stilisierte Fanon die antikoloniale Befreiungsbewegung zum ‚revolutionären Subjekt‘.“ Anders gesagt: das in der „Internationalen“ Eugène Pottiers als „damnés de la terre“ (deutsche Übersetzung von Emil Luckhardt entsprechend: „Verdammte dieser Erde“) besungene Proletariat war jetzt – in den 1950er und 1960er Jahren – die Bevölkerung der sich befreienden Kolonialstaaten. Im Zweiten Weltkrieg brach nicht nur das III. Reich zusammen, es brachen auch die großen Kolonialreiche der Briten, der Franzosen und aller anderen europäischen Kolonialmächte zusammen.

An Jean-Paul Sartres antikolonialistischem Engagement besteht kein Zweifel. Der Vergleich zwischen den Geschehnissen in Algerien und in Palästina belegt jedoch eindrucksvoll, wie sich die verschiedenen Argumentationsstränge, die verschiedenen politischen Konflikte der 1950er und 1960er Jahre miteinander vermischten, sodass schließlich kaum noch jemand in der Lage war, sie zu entwirren. Und daran scheiterte Jean-Paul Sartre mit seinem Bekenntnis zum Existenzrecht Israels. Viele Intellektuelle und Politiker der arabischen Länder – dies belegen wiederum die diversen UN-Resolutionen gegen Israel – wollten dieses politische Knäuel auch gar nicht entwirren, sondern betrachteten dies als eine Art gordischen Knoten, der sich nur mit Gewalt auflösen ließe. Kolonialismus war Kolonialismus war Kolonialismus. Omar Kamil: „Arabische Intellektuelle blieben nicht wie Sartre zwischen Kolonialgewalt und Judenvernichtung zerrissen. Sie trugen keine Schuldgefühle gegenüber den Opfern des Holocaust mit sich und in ihr Geschichtsbild rückte der Jude allein als Besatzer und Kolonialist Palästinas der Jude als Opfer der Nationalsozialisten dagegen wurde ausgeblendet.“

Jean-Paul Sartre verlor Ende der 1960er Jahre an Einfluss in den arabischen Ländern. Dialog wurde zu Aggression und Verunglimpfung. Omar Kamil zitiert den algerischen Intellektuellen Suhail Idris: „Als Idris 1975 von der Erblindung Sartres erfuhr, äußerte er sarkastisch, eine solche Nachricht sei nichts Neues, da schon 1967 ein ‚dichter Schleier‘ die Augen Sartres daran gehindert hätte, den Zionismus zu durchschauen.“ Jean-Paul Sartre hingegen sah das Leid der Palästinenser*innen durchaus, wie er auch in seinen Texten und Interviews schon vor dem Sechstagekrieg bewies. Er bezeichnete sich selbst in einem „Interview mit dem israelischen Politiker und Historiker Simha Flapan (1911-1987) im Jahr 1966“ als „zwischen zwei gegensätzlichen Freundschaften und Treuepflichten zerrissen.“

An seiner Sicht auf die Shoah änderte diese Zerrissenheit nichts. Jean-Paul Sartre fragte schon in dem bereits zitierten Band „Israël, fait colonial?“ sein arabisches Publikum, „ob sie nicht verstehen könnten, dass für ihn die Israelis eben auch jene Juden seien, die Europa einst zu vernichten versucht hatte, und er daher eine wiederholte Gefährdung dieser Menschen fürchte. (…) Es kam zum Bruch mit Sartre. Das Idol der 1950er Jahre wurde mit dem Krieg 1967 zur Persona non grata in der arabischen Geistes- und Kulturwelt.“

Opferhierarchien

Besser als Jean-Paul Sartre erging es in den arabischen Ländern Arnold Toynbee (1889-1975) und Maxime Rodinson. Zur Position von Arnold Toynbee schreibt Omar Kamil: „Den Zionismus interpretierte Toynbee als Folge einer gescheiterten geistigen, sozialen und kulturellen Assimilation der westeuropäischen Judenheiten an ihre nichtjüdische Umwelt, nachdem europäische Nationalismen ausgesprochen antisemitische Züge angenommen hatten.“ Dies führte – so Arnold Toynbee zitiert nach Omar Kamil – „die jüdische Diaspora in der abendländischen Welt (…) zu einem eigenen Nationalismus“, der sich dann in der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 erfüllte. Arnold Toynbee erklärt die Staatsgründung „als eine Reaktion auf den auflebenden Antisemitismus in Europa, besonders aber auf die Verfolgung der Juden durch die deutschen Nationalsozialisten (…)“. Dies rechtfertige jedoch nicht, dass diese Reaktion „auf Kosten unschuldiger Dritter, das heißt der palästinensischen Araber“ erfolge. Arnold Toynbee „verglich das Schicksal der europäischen Juden im Nationalsozialismus mit dem der palästinensischen Araber unter dem Zionismus“. Die Texte Arnold Toynbees sprechen nicht von Vernichtung, aber von Vertreibung und gipfeln im Begriff der „Displaced persons“, zu denen Israelis palästinensische Araber*innen gemacht hätten. Mit diesem Begriff ist die Parallele zum Schicksal der (überlebenden) europäischen Jüdinnen*Juden offensichtlich.

Omar Kamil referiert die für die Auseinandersetzungen zwischen pro- und anti-israelischen Positionen bedeutende Debatte, die am 31. Januar 1961 an der McGill University in Montreal (Quebec) stattfand. Widerpart Arnold Toynbees war Yaacov Herzog (1921-1972), dessen Bruder Chaim (1918-1997) 22 Jahre später der sechste Staatspräsident Israels wurde. Arnold Toynbee leitete aus dem „Massaker, das jüdische Untergrundorganisationen gegen die Bewohner des palästinensischen Dorfes Deir Yassin im April 1948 verübt hatten“, ab, dass „die Vernichtung der Juden während des zweiten Weltkriegs nicht einzigartig gewesen sei.“ Er sagte wörtlich (zitiert nach Omar Kamil), „dass manche jener Massaker, die die israelischen Streitkräfte den Palästinensern angetan haben, durchaus in ihrer moralischen Qualität vergleichbar mit dem sind, was die Deutschen (den Juden) zugefügt haben.“ Die Gründung des Staates Israel nannte er einen „Raubüberfall“. Yaakov Herzog widersprach. Er betonte den „Unterschied zwischen einem realen, begründeten Konflikt und einer grundlosen, von einer Ideologie geleiteten Vernichtung, wie sie die Juden während des Zweiten Weltkriegs erfahren hatten. Verbrechen und Mord seien moralisch zwar immer zu verurteilen, historisch gesehen sei jedoch der Judenmord etwas Einzigartiges.“ Ferner sprach Yaakov Herzog über die „ununterbrochene Kontinuität jüdischen Lebens in Palästina“, er sagte, dass die „Rückkehr der Juden in das Land Israel als Bestandteil des religiösen und kulturellen Lebens der Juden in der Diaspora und somit als Inspiration jüdisch-nationaler Bestrebungen zu begreifen“ sei.

In dieser Debatte sieht Omar Kamil den Streit um „zwei europäische Geschichtserfahrungen: den Holocaust und den Kolonialismus“. Allerdings versucht er auch zu erklären, wie es zu den unterschiedlichen Auffassungen von Yaakov Herzog und Arnold Toynbee kommen konnte. Arnold Toynbee bewertete den Zionismus, den er zu Beginn noch als zivilisatorisches Projekt unterstützt hatte, seit etwa dem Ende des Ersten Weltkriegs als imperialistisches Projekt, während Yaakov Herzog unter dem Eindruck der Shoah argumentierte. In der arabischen Rezeption war Arnold Toynbee zunächst wegen seiner kritischen Haltung zum Islam „unbeliebt“, konnte jedoch nach der Debatte in Montreal an Ansehen gewinnen. Es folgten diverse Textsammlungen und Studien, die auch von staatlicher Seite, so in Ägypten, unterstützt und finanziert wurden.

1961 war auch das Jahr des Eichmann-Prozesses. Der Prozess wurde von ägyptischer Seite in seiner Bedeutung unterschätzt. Omar Kamil berichtet, dass diverse Autoren in Ägypten, im Libanon, in Saudi-Arabien sich im Zuge des Prozesses zunehmend antisemitisch und judenfeindlich äußerten. Dazu lieferte Arnold Toynbee in der Montrealer Debatte die Argumente. Omar Kamil: „Die arabischen Reaktionen auf den Fall Eichmann waren von dem Bedürfnis geleitet, die Judenvernichtung durch das Hitler-Regime mit den Leiderfahrungen der Palästinenser zu vergleichen.“ Omar Kamil zitiert als moderate Stimme den Ägypter Ahmad Baha ad-Din (1927-1966), der zwar erkannte, das sich aus dem Nebeneinander der „Leiderfahrungen durch den Kolonialismus und ‚fremder‘ Leiderfahrungen durch den Holocaust“ ergab, daraus aber auch Begriffe ableitete, die eindeutig eine Opferhierarchie begründen sollten: „Kollision der Schicksale“ und „Konkurrenz der Gedächtnisse“.

Ein getrübter Blick

Wie schwierig es ist, gefühlte Opferkonkurrenzen zu dekonstruieren, zeigt das Beispiel des französischen Orientalisten Maxime Rodinson. Dieser „bezeichnete (…) die Gründung eines jüdischen Staates inmitten des arabischen Orients als ein Kolonialprojekt ohne rechtliche Grundlage.“ Maxime Rodinson war – in marxistischer Tradition – Internationalist und musste daher jede nationalistisch motivierte Staatsgründung ablehnen. Interessant für die arabische Rezeption war seine jüdische Herkunft. Er bemühte sich allerdings auch, „die jüdischen und arabischen Leiderfahrungen voneinander zu trennen und jegliche Deutungskonkurrenz von Holocaust und Kolonialismus beziehungsweise Palästinafrage zu vermeiden“. Ihm ging es eben nicht um Opferkonkurrenzen und Opferhierarchien, sondern um eine politische Perspektive zur Lösung des von ihm nationalistisch gelesenen Konflikts. Maxime Rodinson wies darauf hin, „dass eine arabische Übernahme antisemitischer Diskurse die Verteidigung der arabischen Sache in Europa schwächen würde“. Die Verwendung antisemitischer Klischees in arabischen Publikationen kritisierte er deutlich, bildete somit auch einen Gegenpol zu den diversen Veröffentlichungen der „Protokolle der Weisen von Zion“, die immer wieder neu aufgelegt und somit unbeschadet gelegentlich rückläufigen Interesses bis heute populär sind und diverse Neuauflagen erleben.

Omar Kamil verweist auf mehrere arabische Autoren, die diese differenzierte Position teilten, aber „scheiterten“: „Es entwickelte sich weder ein Unterscheidungsvermögen noch eine Grenzziehung zwischen den beiden Leiderfahrungen, sondern Relativierung oder Leugnung des Holocaust prägten die arabische Öffentlichkeit – eines der ‚hässlichsten Bilder‘ der modernen Geschichte der Araber.“ Diese Vermischung von „Leiderfahrungen“ bestimmt das Geschichtsverständnis und die Geschichtspolitik nicht nur in arabischen Ländern, sondern auch in Europa. Die Ablehnung israelischer Autor*innen in Europa, die sich nicht gegen die israelische Politik aussprechen, hat inzwischen ein Maß erreicht, das die Solidarität Deutschlands mit Israel als „Staatsräson“ (Angela Merkel) in Frage stellt.

Deutsche können nicht verlangen, dass andere europäische Staaten und arabische Staaten die deutsche Position teilen, doch machen sich Deutsche unglaubwürdig, wenn sie der Leiden der Opfer der Shoah zwar rituell gedenken, aber jede Auseinandersetzung mit der deutschen – ich ergänze im Sinne Hyam Maccobis – und christlichen Verantwortung für arabischen und anderweitigen Antisemitismus vermeiden. Omar Kamil kritisiert ein sich in Deutschland verbreitendes Verständnis der Shoah „in wohlmeinender Absicht als Menschheitsverbrechen“. Mit dem Begriff „Menschheitsverbrechen“ werde die Täter*innenschaft unzulässig verallgemeinert. „Genau dies wiederholt sich in der deutschen Forschung über die Wahrnehmung des Nationalsozialismus in der arabischen Welt“, und nicht nur in diesem Forschungszweig, sondern auch in Forschungen zur Verstrickung Polens, Ungarns, der Ukraïne, der Sowjetunion und anderer Staaten in die Shoah.

Eine differenzierte Analyse der arabischen Geschichte, meines Erachtens ein deutlicher Ausbau der Orientalistik und der Arabistik sowie eine Revision von Geschichtspolitik und Geschichtsunterricht, die gleichermaßen die Geschichte Israels wie die der arabischen Staaten, gleichermaßen die Genese der Shoah wie die des deutschen Kolonialismus bedenkt, die den arabischen beziehungsweise muslimisch gelesenen Antisemitismus aus den deutschen und christlichen Vorbildern ableitet und gleichzeitig den genuin arabischen Antisemitismus nicht leugnet, wäre ein Fortschritt. Ich lese das Buch von Omar Kamil als Aufforderung, Forschung und Bildung in diesem Sinne weiterzuentwickeln. Zurzeit erleben wir nur Konfrontationen: während die einen Israel und mit Israel das Judentum pauschal verdammen, verdammen andere pauschal den Islam.

Omar Kamil plädiert dafür, an „eine vergessene liberale Tradition in der arabischen Welt, die sich ausdrücklich gegen den Nationalsozialismus aussprach“ anzuknüpfen. „Durch die Kolonialerfahrung trübte sich jedoch dieser zunächst klare Blick, die Ereignisse in Algerien und der Kampf gegen den Kolonialismus in der übrigen arabischen Welt prägten die Wahrnehmung Europas.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im August 2022, alle Internetzugriffe am 4. August 2021. Für den Hinweis auf das Buch von Amin Maalouf danke ich Dr. Beate Blatz, für den Hinweis auf das Buch von Omar Kamil Prof. Dr Michael Kiefer. Die französischen Texte habe ich selbst übersetzt.)