Sinnvoll(es) lernen – mit allen Sinnen

Ein Gespräch mit Myrle Dziak-Mahler, Kanzlerin der Alanus Hochschule Alfter

„Wer bildet eigentlich die Bildung? Welche Kräfte wirken im Alltag? Sind es die Programme? Ist es vor allem die Bildungspolitik? Woher kommen jene dominierenden Effekte, die eigentlich niemand will? Etwa die Erschöpfung vieler Jugendlicher? Erschöpfung neuerdings sogar bei Kindern? Wie und was also bildet die Gesellschaft? Gesellschaft nicht als Supersubjekt verstanden, sondern als Umgebung, als Lebensweise. Und was wird möglich, wenn sich Menschen erlauben, eigene Wege zu gehen, wenn sie Bündnisse schließen? Was heißt es, eine Geschichte nicht nur zu haben, sondern eine zu sein?“ (Reinhard Kahl, Erschöpfung, Resonanz und das „Wunder von Bremen“, in: Max Fuchs / Tom Braun, Hg., Die Kulturschule und kulturelle Schulentwicklung, Band 3, Weinheim und Basel, Beltz Juventa, 2016)

Myrle Dziak-Mahler, Foto: Marc Thürbach

Auf die Fragen, die Reinhard Kahl in einem vor wenigen Jahren erschienenen Beitrag stellte, haben wir noch lange keine befriedigenden Antworten gefunden. Aber es gibt Menschen, die sich an den Antworten versuchen. Zu diesen Menschen gehört Myrle Dziak-Mahler, Kanzlerin der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter, einem Ort direkt hinter der westlichen Bonner Stadtgrenze. Myrle Dziak-Mahler begann ihre berufliche Zeit als Lehrerin in einem Projekt mit schulmüden Jugendlichen, sie weiß aus ihrer Zeit als Lehrerin um die Herausforderungen, aber auch um Grenzen und Schwierigkeiten einer inklusiv ausgerichteten Bildung. Fünf Jahre lang bildete sie an der Universität Köln Geschichtslehrer*innen aus, zehn Jahre leitete sie das dortige und bundesweit größte Zentrum für Lehrer*innenbildung. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet, beispielsweise mit dem Universitätspreis der Universität Köln. Sie gehört zu den regelmäßigen Kolumnist*innen der Zeitschrift Pädagogik.

Die Alanus Hochschule – ein kurzes Portrait

Norbert Reichel: Die Alanus Hochschule ist etwas ganz Besonderes.

Alanus-Hochschule, Foto: Nora Bunke

Myrle Dziak-Mahler: Die Hochschule ist eine von acht Kunsthochschulen in Nordrhein-Westfalen, jedoch die einzige private Hochschule. Als staatlich anerkannte Hochschule vergibt sie Bachelor- und Masterabschlüsse und hat in den Bildungswissenschaften das Promotionsrecht. Zu den künstlerischen Fachbereichen gehören Bildende Künste mit Malerei und Bildhauerei, Darstellende Künste mit Schauspiel und Eurythmie sowie der Fachbereich Architektur, der – vergleichbar in Deutschland nur mit dem Angebot der Technischen Universität Cottbus – Senftenberg – ein starkes künstlerisches Element enthält. Wir bilden auch Kunsttherapeut*innen aus. Die Bereiche Betriebswirtschaftslehre (BWL) und Philosophie haben zwei für unsere Zukunft bedeutende Schwerpunkte: Nachhaltigkeit und Social Entrepreneurship. Schon im Namen der Hochschule signalisieren die Begriffe „Kunst und Gesellschaft“ die angestrebte Vielfalt der Studienangebote.

Norbert Reichel: Wer studiert an der Alanus-Hochschule und wer sind die Lehrenden?

Myrle Dziak-Mahler: Es gibt etwa 1.900 Studierende. Das ist für eine Kunsthochschule sehr viel. Zum Vergleich: An der Kunstakademie Düsseldorf haben wir etwa 800 Studierende. Verglichen mit den großen Fachhochschulen in der Umgebung, Rhein-Sieg und Köln, ist unsere Hochschule natürlich sehr klein.

Die Lehrenden in den künstlerischen Bereichen sind Künstler*innen, die durch herausragende künstlerische Leistungen eine Professur erlangt haben. Das ist der Weg im Bereich der Künste. In der Architektur aber haben wir z.B. auch Lehrende, die über den klassischen akademischen Weg ihre Professur erlangt haben. So ist es auch in den wissenschaftlichen Bereichen. Die dort lehrenden Professor*innen haben ihre Professur auf dem klassischen Weg über Promotion und Habilitation oder eine Juniorprofessur erworben.

Norbert Reichel: Im künstlerischen Bereich vertreten Sie fast alle Sparten. Als großer Kino-Fan darf ich nach der Sparte Film fragen.

Myrle Dziak-Mahler: Film und Video werden zurzeit im Bereich Bildende Künste ausgebaut. Es gibt aber auch schon jetzt Abschlussarbeiten mit Videoinstallationen. Aber Film als solches, im klassischen Sinne wie dies beispielsweise die Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf tut, bieten wir nicht an.

Norbert Reichel: Gibt es Ausstellungen der Arbeiten der Professor*innen und der Studierenden?

Bild einer Ausstellung, Foto: Nora Bunke

Myrle Dziak-Mahler: Viele unserer Professor*innen stellen in einschlägigen Galerien aus. In Berlin gibt es gerade eine große Ampel-Installation von unserem Bildhauerei-Professor Paul Petri, die auch im STERN vorgestellt wurde, passend zum Start der Ampel-Koalition. Unsere Studierenden nehmen auch an Wettbewerben teil, bei denen ausgestellt wird. Jedes Jahr gibt es eine Ausstellung mit Arbeiten der Absolvent*innen im Schloss Alfter. Das ist quasi eine „Leistungsshow“.

Ich kam nicht als Künstler*in an die Alanus Hochschule, sondern als „Kunst-Userin“, als Interessierte. Es bereichert eine Hochschule wahnsinnig, wenn die Kunst einen so großen Raum einnimmt. Ich habe in dem knappen Jahr, in dem ich hier bin, gespürt, wie es mein Leben, mich und wie die Hochschule die Gesellschaft bereichert.

Norbert Reichel: Gibt es auch Literatur im Angebot?

Myrle Dziak-Mahler: Im engeren Sinne nicht, allenfalls im Rahmen des Schauspiels. Literaturaffin ist das Institut für philosophische und ästhetische Bildung. Dieses bietet unter anderem ein Studium Generale der Geisteswissenschaften mit Themen, die sich als Gesellschaftsgestaltung charakterisieren ließen. Wir legen Wert darauf, dass unsere Studierenden interdisziplinär ausgebildet werden. Daher gibt es bei uns ein breit angelegtes Studium Generale, um das uns auch andere Universitäten beneiden. Wenn man*frau beispielsweise BWL studiert, kann man*frau auch Malerei-Seminare besuchen und umgekehrt. Die Studierenden nehmen diesen breiten interdisziplinären Ansatz sehr gerne an. Ein Beispiel für unsere Innovationen: wir haben eine Art Zweifach-Bachelor eingerichtet, in dem man*frau Schauspiel und BWL studiert. Das haben wir gemeinsam mit unseren Unternehmenspartnern entwickelt. Sie bestärkten uns darin, dass eine solche Kombination sehr interessant sei. Es ist ein Testlauf. Das erste Studienjahr war sofort voll.

Norbert Reichel: Geht das in die Richtung Kulturmanagement oder mehr in die Richtung, wie ich ein Unternehmen mit kulturellen, künstlerischen Methoden weiterentwickeln könnte?

Myrle Dziak-Mahler: Das hängt ein Stückweit auch von den Studierenden ab. Beide Richtungen sind offen. Die Studierenden können sich nach dem Bachelor-Abschluss entscheiden, für welchen Master-Studiengang sie sich entscheiden. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, auch die Möglichkeit, das für die Bereiche Marketing oder Unternehmenskommunikation zu nutzen. Zurzeit wissen wir noch nicht, wie sich die Studierenden entscheiden werden, wir wissen auch nicht genau, was die Unternehmen abrufen werden.

Norbert Reichel: Wohin gehen die Studierenden in der Regel nach dem Studium?

Myrle Dziak-Mahler: Bisher waren das die jeweiligen Künste sowie Wirtschaft, Bildung oder Therapie. Bei den neuen Studiengängen ist das noch offen. Im zweiten Semester sind wir hier noch im Anfang. Das war der erste Studiengang, den ich als Kanzlerin in der Akkreditierung begleitet habe. Die Gutachter*innen haben unser Vorhaben sehr gut aufgenommen.   

Norbert Reichel: Beim Thema Bildungswissenschaften ließe sich meines Erachtens auch an solche Cross-Over-Studiengänge denken.

Myrle Dziak-Mahler: So ist es. Wir haben in den Bildungswissenschaften drei Bereiche. Ein Bereich ist die Kindheitspädagogik, die wir schon sehr lange anbieten. Das Angebot gibt es in Vollzeit und in Teilzeit, in dem Fall als weiterbildendes Studium. Wir bieten Bachelor und Master an. Das ist für mich, die ich von Haus aus Lehrerin bin, eine tolle Sache, dass auch im Bereich der frühkindlichen Bildung die akademische Ausbildung einen Stellenwert erhält. Ein weiterer interessanter Bereich: wir bilden Kunstlehrer*innen für die Gymnasien und Gesamtschulen aus. Kunst ist das einzige Fach, das in NRW als Doppelfach studiert werden kann.

Norbert Reichel: War das nicht auch in Musik so?

Myrle Dziak-Mahler: Leider nicht mehr. Das wurde vom Land für das Fach Musik abgeschafft. Ich weiß das noch aus meiner alten Tätigkeit an der Universität Köln. Dort haben wir eng mit der Hochschule für Musik und Tanz zusammengearbeitet, eine sehr spannende Hochschule. Wir bieten das Doppelfach Kunst mit dem Abschluss Master of Education an. Interessant ist der spezielle Weg dahin. Es geht über den Bachelor in Kunst, Pädagogik, Therapie (kurz KPT) Man*frau studiert eine Kombination der drei genannten Bereiche. Es ist möglich, darauf drei verschiedene Master-Studiengänge aufzubauen, in der Bildenden Kunst, in den Bildungswissenschaften für das Lehramt oder in den Therapiewissenschaften. KPT ist ein sehr attraktiver und stark nachgefragter Bachelor-Studiengang. Wir legen sehr viel Wert auf die künstlerische Ausbildung. Wir bilden nicht Lehrer*innen mit einem Fach aus, sondern Künstler*innen, die wir pädagogisch qualifizieren.

Der dritte Bereich ist die Waldorfpädagogik. Es gibt auch ein Graduiertenkolleg speziell für diesen Bereich. Es ist möglich, sich über pädagogische Praxisforschung sowie über den Master of Education dafür zu qualifizieren.

Der Sinn des Lernens – eine Entdeckungsreise

Norbert Reichel: Wie wurden Sie als Lehrerin Kanzlerin einer Hochschule?

Myrle Dziak-Mahler: (lacht) Das kann ich gar nicht so genau sagen. Viel Zufall. Aber ich glaube, es hat damit etwas zu tun, dass ich vor meiner Zeit als Lehrerin Ökonomie an der Universität Bremen studiert habe. Ich habe dann auch Deutsch und Geschichte auf Lehramt studiert. Aber mich hat schon immer alles interessiert, was mit Führung von Menschen, Organisations- und Personalentwicklung zu tun hat. Ich interessiere mich dafür, Menschen wachsen zu sehen und Menschen in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Das ist das, was mich am Beruf der Lehrerin interessierte.

Als ich älter wurde, stellte ich fest, das interessiert mich nicht nur bei jungen, sondern auch bei erwachsenen Menschen, bei Studierenden und jetzt auch bei den über 200 Kolleg*innen hier an der Hochschule. Ich möchte erreichen, dass sie Spaß an dem haben, was sie tun, dass sie motiviert sind, dass sie das empfinden, was wir heute oft „Purpose“ nennen, dass sie einen Sinn in dem sehen, was sie tun. Es geht darum, das, was man*frau so den ganzen Tag tut, als sinnstiftend zu erleben. Es wurde mir im Laufe der Jahre immer klarer, dass es das ist, was mich treibt. Dann wird der Weg von der Lehrerin über die Lehrkräftebildung an der Universität Köln zur Kanzlerin an der Alanus Hochschule schlüssig. Ich glaube, dass es keine andere Hochschule bundesweit gibt, bei der eine Lehrerin Kanzlerin ist. Aber es gibt ja auch kaum eine andere Frau, die Myrle heißt.

Norbert Reichel: Sie haben als Lehrerin Deutsch und Geschichte studiert.

Myrle Dziak-Mahler: Ich habe diese beiden Fächer für das Lehramt der Sekundarstufe II mit Erweiterung für die Sekundarstufe I studiert.

Norbert Reichel: Das war mal ein Modell in Nordrhein-Westfalen, das es schon lange nicht mehr gibt. Nach dem Regierungswechsel im Jahr 2005 kehrte Nordrhein-Westfalen zur schulformbezogenen Lehrer*innenausbildung zurück, die heute erhebliche Probleme beim flexiblen Einsatz von Lehrkräften in unterschiedlichen Schulformen verursacht.

Myrle Dziak-Mahler: Zu meiner Zeit war es schwer, als Lehrer*in überhaupt eine Stelle zu bekommen.

Norbert Reichel: In den 1980er Jahren wurde etwa zehn Jahre lang niemand eingestellt, nicht nur in Nordrhein-Westfalen, auch in anderen Ländern mussten ausgebildete Lehrkräfte sich etwas anderes suchen oder ihr pädagogisches Leben mit Stunden- und Zeitverträgen fristen. Das sollten wir nicht vergessen. Heute wären wir froh, wenn wir diejenigen, die damals etwas anderes fanden, im Schuldienst hätten. Aber manchmal gibt es etwas Gutes im Schlechten. Davon profitierten Sie, bevor Sie das Referendariat aufnehmen konnten.

Myrle Dziak-Mahler: Bevor ich das Referendariat aufnahm, hatte ich die Möglichkeit, als Förderlehrerin in einem Projekt für schulmüde Jugendliche zu arbeiten. Das war aus der Not geboren, weil wir damals auch um einen Referendarplatz kämpfen mussten. Die Reihenfolge war für mich im Nachhinein betrachtet mehr als sinnvoll. Ich war froh, dass ich als Lehrerin arbeiten konnte. Mir war es auch nicht wichtig, ob im Staatsdienst oder anderswo.

Atelier in der Alanus-Hochschule, Foto: Nora Bunke

Ich hatte die Möglichkeit, beim Internationalen Bund in einer Jugendwerkstatt in einem Projekt des Landes für schulmüde Jugendliche in Köln-Kalk zu arbeiten. Das war ein Wendepunkt in meiner beruflichen Entwicklung. Ich habe mit Sozialpädagog*innen und Meister*innen zusammengearbeitet, es gab Werkstätten für Tischlerei eine Näherei, eine Metallwerkstatt. Ich habe als Lehrerin gelernt, mit den Leiter*innen der Werkstätten in einem multiprofessionellen Team zu arbeiten. Ich habe aber auch gelernt, was es für die Schüler*innen bedeutet, die Inhalte so aufzubereiten, dass sie ihnen sinnvoll erscheinen. Anders waren sie gar nicht erreichbar. Dort habe ich erlebt, wie wichtig und wie gut es für die Schüler*innen ist, wenn verschiedene Professionen zusammenarbeiten

Im Zentrum: der pädagogische Bezug

Norbert Reichel: Ich darf nach den schulmüden Jugendlichen fragen. Was hilft, was nicht?

Myrle Dziak-Mahler: Es hilft, bei den Jugendlichen zu sein. Es hilft auch – so platt es klingt – sie zu fördern und zu fordern, ihnen zu helfen, das zu entdecken, was sie können und was ihnen einen Sinn gibt. Bei ihnen zu sein, hat nichts mit dem normalen Lehrplan zu tun. Der Lehrplan musste etwas mit den Dingen zu tun haben, für die sie sich in der Werkstattarbeit interessierten. Daran konnte der Lehrstoff angedockt werden. Nur so konnte ich sie erreichen, nur das machte Sinn für sie. Insbesondere bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund war es wichtig, dass sie jemanden hatten, der*die an sie glaubte. Wir hatten damals in den 1990er Jahren viele junge Menschen, die mit oder ohne Familie vor dem Jugoslawienkrieg geflohen waren. Dann kamen Russlanddeutsche und Menschen aus Afghanistan. Sie brauchten alle jemanden, der*die ihnen sagte, dass sie gut sind, dass sie es schaffen. Wer allerdings in gewaltvolle oder von Drogen bestimmte Milieus abgeglitten war, war durch unsere Angebote kaum noch erreichbar. Wir mussten manche Schüler am Morgen entwaffnen. Die waren in einer anderen Welt.

Norbert Reichel: Das Wichtigste scheint mir zu sein, dass ein persönlicher Bezug zwischen Erwachsenen und jungen Menschen entsteht. Das ist im Grunde nichts anderes als die uralte pädagogische Weisheit des pädagogischen Bezugs nach Hermann Nohl. Das haben wir damals in unserem pädagogischen Studium so gelernt, aber es fehlte in der Regel die praktische Relevanz, wie Sie sie in dem beschriebenen Projekt erlebten. Dabei ist es ja eigentlich egal, welche Profession die jeweiligen Erwachsenen besitzen. Hauptsache, es glaubt jemand an die jungen Leute.

Myrle Dziak-Mahler: Sie haben recht. Das kann jede beliebige Person sein, das kann ein*e Nachbar*in sein, ein*e Lehrer*in, eine Sozialarbeiter*in. Wichtig war für mich gerade deshalb der andere Blick, den ich in den Gesprächen mit den Leiter*innen der Werkstätten erfuhr. Von ihnen konnte ich erfahren, was die Schüler*innen interessierte, worauf sie Lust hatten. Darauf konnte ich meine Unterrichtsinhalte und -methoden aufbauen.

Als Lehrer*in war ich für den Unterricht in Gruppen ausgebildet. Lerngruppen, die ich zu einem bestimmten durchschnittlichen Lernerfolg zu bringen hatte. Von den Sozialarbeiter*innen habe ich den Blick auf den einzelnen Menschen gelernt, habe gelernt, auf den Familienzusammenhang, die Freund*innen zu schauen, die sie tagsüber oder am Abend trafen, auf das Wohnumfeld, auf alles, was diese Menschen als Mensch, als Individuum ausmachte. Diesen Blick gab es im Lehramtsstudium nicht.

Norbert Reichel: Den Hinweis finde ich interessant: Lehrer*innen sehen Kinder als Gruppenwesen?

Myrle Dziak-Mahler: Ja. Ich habe das an der Universität Köln auch selbst so getan. Ich habe fünf Jahre Geschichtslehrer*innen ausgebildet und habe mit ihnen Unterrichtsentwürfe besprochen, die sich an Gruppen richten. Ich kann nicht sagen, ob das auch in der Ausbildung für die Grundschulen so ist, in der Sekundarstufe I und II ist es so.

Norbert Reichel: Nur bei der Ausbildung von Lehrkräften für die Förderschule scheint es etwas anders zu sein. Für sie spielt der Begriff der sogenannten Zielgleichheit keine Rolle. Es ist eigentlich absurd anzunehmen, dass alle Schüler*innen einer Lerngruppe dasselbe Ziel erreichen sollen, und dass von vornherein angenommen wird, dass einige dieses Ziel erst gar nicht erreichen können und daher auszuschließen sind.

Myrle Dziak-Mahler: Die Leiterin der Textilwerkstatt in dem Schulmüdenprojekt war Sonderpädagogin mit dem Schwerpunkt Textiles Gestalten. Sie hatte diesen anderen Blick. Ich hatte ihn als Gymnasial- und Gesamtschullehrerin nicht. Aber dieser andere Blick war so wertvoll.

Niemand sollte unterschätzen, wie auch die eigene Vergangenheit die Ausbildung prägt. Menschen, die ein Studium aufnehmen, kommen in der Regel aus einer anderen Welt als viele ihrer Schüler*innen. Ich selbst komme nicht aus einem Akademikerhaushalt, aber einem mit hoher Bildungsaffinität. Es gab Bücherwände zu Hause. Dass ich Geschichte studiert habe, hat sicher etwas mit den historischen Büchern meines Vaters zu tun, die er geradezu aufgesaugt hatte. Aber in Köln-Kalk, in Köln-Chorweiler, dort, wo ich gearbeitet habe, war das ein völlig anderes Bild.

Atelier in der Alanus-Hochschule, Foto: Nora Bunke

Mich überzeugt, was Aladin El-Mafaalani in seinem Buch „Mythos Bildung“ (2020 bei Kiepenheuer & Witsch erschienen) aus soziologischer Perspektive schreibt, dass Bildung unter dem Aspekt gesehen wird, dass sie sich lohnen muss. Heißt im Umkehrschluss: „Wenn sich Bildung nicht lohnt, gehe ich auch nicht zur Schule.“ Das trifft genau die Erfahrungen, die ich gemacht habe. Wenn ich in seinem Buch lese, fühle ich mich in die 1990er Jahre zurückversetzt und denke, dass ich das erlebt habe, mir es aber nicht habe erklären können. Dieses Buch sollte lesen, wer in Schule arbeitet, um die Milieus zu verstehen, aus denen viele Kinder kommen.

Norbert Reichel: Bedenklich ist meines Erachtens, dass das, was Aladin El-Mafaalani kritisiert, für die Zeit vor 30 Jahren ebenso gilt wie für die heutige Zeit. Ein Leiter einer Förderschule mit dem Schwerpunkt „Lernen“ hat mir vor etwa 20 Jahren einmal gesagt, dass manche seiner Schüler*innen nur am Freitag kämen. Das sei der Tag der Schülerfirma. Das interessiere sie, das helfe ihnen. Ein anderes Erlebnis, auch aus den 1990er Jahren: während einer Veranstaltung des ehemaligen GÖS-Programms in Bielefeld in der Ravensberger Spinnerei habe ich die damalige Schulministerin Gabriele Behler durch die Ausstellung der Projekte geführt, in der Mittagspause, damit sie in Ruhe schauen konnte und nicht von Hunderten von Menschen angesprochen wurde. An einem Stand stellte eine Förderschule ihre Firma vor, ein Junge, etwa 12 oder 13 Jahre alt, erzählte ihr druckreif, was sie in der Firma tun und wie das alles organisiert ist. Ich habe mich gefragt, was dieser Junge auf einer Förderschule zu suchen hatte. Sprechen wir die Kinder falsch an? Warum entdecken wir nicht, welche Potenziale sie haben, was sie können?

Myrle Dziak-Mahler: Ich glaube, dass das so ist. Aber wir dürfen uns nichts vormachen: das ist auch eine Ressourcenfrage. In unserem Modellprojekt hatten wir eine volle Lehrerstelle mit zwei Personen besetzt, eine davon hatte ich, wir hatten drei Meister und zweieinhalb Stellen für Sozialpädagog*innen für 54 Jugendliche. Ein Verhältnis von etwa 1:5. Ein Sozialarbeiter hatte auch das Kochen übernommen. Es wurde damals schon vegetarisch gekocht. Das Ernährungsthema war in den Lehrplan – so nenne ich das mal – integriert, Frühstück, Mittagessen. Es ging auch um einfache Kompetenzen und Einstellungen im Alltag, um Tischsitten, das Decken eines Tisches, das gemeinsame Frühstück, oder dass man*frau nicht mit einer Colaflasche über den Tag kommt. Alles Dinge, die viele Schüler*innen zu Hause nicht erlebten. Das war integraler Bestandteil des Alltags im Projekt.

Norbert Reichel: Das sind die Leitplanken, die Strukturen, die Kinder brauchen und die manche nur in der KiTa oder in der Schule lernen können und die ständig eingeübt und gepflegt werden müssen.

Myrle Dziak-Mahler: Wir hatten Jugendliche der siebten oder achten Klasse. Da ist schon viel ritualisiert, und da muss manches korrigiert werden! Wir brauchen für die jungen Menschen attraktive Angebote. Es musste sich für sie lohnen.

Dilemma der Inklusion

Norbert Reichel: Damit sind wir bei einer Grundsatzfrage der Inklusion.

Myrle Dziak-Mahler: Das ist richtig. (längere Pause) Da sind Sie bei mir an der richtigen Adresse. Ich bin davon überzeugt, dass wir eine Schule für alle brauchen. Allerdings muss es auch Unterstützungsformen in den Schulen geben. Wir können nicht sagen, wir machen einfach mal so Inklusion.

Norbert Reichel: So nach dem Motto: da sind 27 Kinder, die packen wir jetzt alle in eine Klasse. Zwei oder drei davon sind dann Kinder wie in dem von Ihnen beschriebenen Projekt. Die müssen ja nicht alle schulmüde sein, aber sie haben ihre Probleme, mit ihrem Verhalten, mit ihrer Einstellung zum Lernen, zum Verhalten in einer sozialen Gruppe, in ihrem häuslichen Umfeld. Und manche Lehrer*innen schauen nicht auf diese Kinder, sondern lediglich auf deren Wirkung auf die Gruppe. Ich denke, unter den gegebenen Bedingungen bleibt ihnen auch nichts anderes übrig.

Myrle Dziak-Mahler: Ich sage es ganz deutlich: ohne Unterstützung werden diese Kinder schulmüde und die Lehrkräfte überfordert. Wir brauchen generell Tandem-Beschulung. Ich kenne das aus der Gesamtschule Köln-Holweide.

Norbert Reichel: Eine der sechs Gesamtschulen in Deutschland, die nach dem meines Erachtens ziemlich faulen KMK-Kompromiss vom Mai 1982 auf einer Sonderliste standen und bestimmte pädagogische Innovationen beibehalten durften, so in Köln-Holweide das Team-Kleingruppen-Modell.

Myrle Dziak-Mahler: Das war schon lange Zeit eine Vorzeigeschule. Ich habe dort selbst ein Praktikum gemacht, meine Tochter hat dort Abitur gemacht.

Norbert Reichel: Leider hat die Stadt Köln Räume und Gelände ziemlich runterkommen lassen.

Myrle Dziak-Mahler: Ist auch so. Aber immerhin: zwei Drittel der Unterrichtsstunden wurden im Tandem durchgeführt, es gab Zugang zu Schulpsycholog*innen, es gab Sozialarbeiter*innen an Bord. Das gibt es natürlich nicht zum Nulltarif oder sagen wir mal zum 0,1-Tarif, wie es Nordrhein-Westfalen versucht hat.

Norbert Reichel: In den anderen Ländern verhält es sich nicht anders. Ich habe ohnehin den Eindruck, dass wir bei der Inklusion in den vergangenen zehn Jahren einem falschen Bild gefolgt sind. In der Öffentlichkeit wird Inklusion immer mit dem Bild des Kindes im Rollstuhl, einem seh- oder hörbehinderten Kind verbunden oder mit einem Kind mit Down-Syndrom. Diese Kinder zu integrieren ist meines Erachtens mit relativ wenig zusätzlichem Aufwand möglich. Da genügt in der Regel eine Schulassistenz, die sich auch je nach Bedarf durchaus um mehrere Kinder kümmern kann.

Die Kinder, für die Inklusion schwierig ist, das sind die Kinder mit den sogenannten Förderschwerpunkten „Lernen“ und „Emotionale und soziale Entwicklung“ (ESE). Ich tue mich schwer, diese KMK-Euphemismen zu verwenden, aber das sind nun mal die Begriffe. Wenn ich von diesen Kindern ein oder zwei in der Klasse habe und nicht weiß, wie ich mit deren Bedarfen und Bedürfnissen umgehe, sprengt das oft die ganze Gruppe. Diese Kinder haben die Planer*innen der Inklusion in den Ministerien gar nicht auf dem Schirm. Die einen sagen dann sehr schnell, diese Kinder gehören nicht in die Klasse, nicht in die entsprechende Schulform, und das Ergebnis ist beispielsweise – wie jetzt in Nordrhein-Westfalen – das so gut wie inklusionsfreie Gymnasium. Die anderen fordern Ressourcen, die sie weder haben noch bekommen. Denn selbst wenn sie die Stellen haben, finden sie kein Personal auf dem Markt. Und die versprochene Tandem-Besetzung steht dann in der Regel nur auf dem Papier.

Myrle Dziak-Mahler: Die Ressourcen sind das eine, das andere ist die Expertise. Es geht nicht nur darum mehr Personal zu haben. Sie müssen sich vorstellen, dass Sie an einer Schule dann vielleicht einige autistische Kinder haben, einige sehr emotionale Kinder, die auch durchaus sehr kreativ sein können, zwei Kinder mit Lernschwierigkeiten, im Guten und im Schlechten, das löst sich nicht von selbst. Ich brauche schon eine Menge an Expertise. Deswegen habe ich mich aufgrund meiner positiven Erfahrungen an der Gesamtschule Holweide schon zu Beginn der Inklusionsdebatte sehr für inklusiven Unterricht ausgesprochen. Ich hatte viel Kontakt mit dem Eltern-Verein mittendrin e.V. Inzwischen habe ich auch Verständnis dafür, dass es bestimmte Formen gibt, bei denen es wichtig ist, dass diese Kinder einen geschützten Raum haben.

Norbert Reichel: Das ist vielleicht der entscheidende Begriff: geschützter Raum. Manche Kinder sind in einer Klasse, in der Schule, in der sie ständig mit Hunderten von Leuten konfrontiert sind, einfach verloren. Sie brauchen diesen geschützten Raum, zumindest zeitweise. Und für manche Kinder ist vielleicht doch nach wie vor eine Förderschule der Ort, an dem sie diesen Schutz finden. Das heißt natürlich nicht, dass das so bleiben muss.

Myrle Dziak-Mahler: Wir sind mit der Inklusionsdebatte noch nicht da, wohin wir sollten und wollen. Das betrifft nicht nur die politische Ebene, sondern auch uns in der praktischen Arbeit. Ich würde die Inklusion nicht mehr so uneingeschränkt vertreten wie ich dies vor zehn Jahren noch getan habe. Ich würde schon sagen: Obacht! Wir müssen genau hinschauen. Aber ich komme natürlich von der Universität Bremen und habe bei Georg Feuser studiert. Das ist noch die alte Schule der „Behindertenpädagogik“.

Norbert Reichel: So hieß das damals. Da gab es noch Behindertenpädagogik und Ausländerpädagogik, Begriffe, die heute niemand mehr verwenden würde, obwohl inhaltlich eine Menge gute Ideen dahintersteckten.

Myrle Dziak-Mahler (lacht): So hieß das damals.

Künstler*innen in die Schule!

Foto: Nora Bunke

Norbert Reichel: Mitunter müsste lediglich das Framing der Begriffe verändert werden. Es heißt ja oft genug in Sonntagsreden und KMK-Erklärungen, wir müssten die Potenziale entdecken statt immer nur auf die Defizite zu schauen. Aber das sagt sich so leicht. Wenn ich mir die Debatten um Inklusion, um Multiprofessionalität anschaue, dann denke ich, dass Künstler*innen eine wichtige Rolle spielen könnten. Es gibt immerhin einige attraktive Programme wie in Nordrhein-Westfalen das Programm „Kultur und Schule“ oder die „Kulturagenten“ (der Name des Programms wurde von den Initiatoren, der Kulturstiftung des Bundes und der Stiftung Mercator, seinerzeit nicht gegendert, obwohl auch viele Frauen als „Kulturagent*innen“ arbeiten, das Programm wird in mehreren Ländern auch fortgeführt).

Diese Programme haben zunächst keine sozialpädagogische Dimension und wir sollten uns auch davor hüten, künstlerische Projekte sozialpädagogisch zu instrumentalisieren. Der Eigenwert der künstlerischen Arbeit muss sichtbar bleiben und sollte im Vordergrund stehen.

Myrle Dziak-Mahler: Ich kann aktuell aus einem ganz konkreten Projekt berichten. Es handelt sich um ein Projekt, dass die Dr. Hans Riegel Stiftung finanziert. Es geht um Kinder im Ahrtal, die von der Flutkatastrophe betroffen sind. Die Initiative kam von der Stiftung. Das Projekt bestätigt, dass künstlerische Projekte traumatisierten Kindern, dort im Ahrtal, aber auch bei geflüchteten Kindern, die in das deutsche Schulsystem integriert werden sollen, sehr helfen.

Norbert Reichel: Das betrifft nicht nur die Kinder, die etwa in der Mitte der 2010er Jahre als Geflüchtete zu uns kamen, sondern bereits die Kinder, die in den 1990er Jahren während der Jugoslawien-Kriege kamen.

Myrle Dziak-Mahler: Ich habe aber den Eindruck, dass dies in den 1990er Jahren nicht so gesehen wurde. Inzwischen hat sich das verändert. Traumata werden heute eher ernst genommen, der Blick der Gesellschaft, auch der Blick der Expert*innen hat sich geweitet.

Aber zurück zu Ihrer Frage zu den künstlerischen Projekten: ich sehe alle unsere künstlerischen Bereiche, auch die im stadtplanerischen Bereich, in der Architektur, bieten sehr viele Anknüpfungspunkte. Gerade in diesen Zeiten wird sichtbar, was künstlerische Arbeit bedeutet, welchen Wert sie hat, wo doch in der Pandemie die Darbietungen der künstlerischen Arbeit sehr eingedampft wurden. Es ist uns vor Augen geführt worden, wie bedeutsam es für Schulen ist, wenn dort auch Professionen wirken, die originär nichts mit dem Lehramt zu tun haben. Nicht (nur) Kunstlehrkräfte, sondern Künstler*innen, Architekt*innen – wenn sie in der Schule mitwirken dürften, wäre das eine riesige Bereicherung.

In den 1970er Jahren war ich in Bremen auf einem Gymnasium, das eine Kooperation mit dem Theater hatte.  Wir haben die gesamte Zeit der Mittelstufe einen Tag im Monat mit Schauspieler*innen verbracht. Im Studium habe ich das Interesse am Theater fortführen können und meine Erste Staatsarbeit zu diesem Thema geschrieben. Die Schulzeit hat mich in Hinsicht Theater sehr inspiriert, das hatte einen unglaublichen Wert.

Norbert Reichel: Und warum sollten Schüler*innen das nicht auch heute erleben? Vielleicht wird das für manche dann sogar ein Schlüsselerlebnis für ihr späteres Leben, für die Berufswahl. Und auf jeden Fall dürfte es viel Selbstwirksamkeit vermitteln, Mut und Zuversicht, auf die eigene Kreativität und die eigenen Fähigkeiten zu vertrauen.

Es gab schon in den 1970er Jahren Initiativen auf Bundesebene, Künstler*innen an die Schulen zu bringen, aus denen dann die Jugendkunstschulen entstanden sind. Das hat sich mit der Zeit leider etwas auseinanderentwickelt. Heute haben wir oft die Kunstlehrkräfte auf der einen Seite und die Künstler*innen in den Jugendkunstschulen auf der anderen Seite. Erst durch den Ausbau des Ganztags in den 2000er und 2010er Jahren rückten beide Seiten wieder näher zusammen. Einige Jugendkunstschulen gestalten ganz aktiv und bewusst Angebote in Ganztagsschulen.

Myrle Dziak-Mahler: Wichtig ist aus meiner Sicht, dass die Angebote über einen längeren Zeitraum laufen. Und: wir waren an dem Tag nicht in der Schule, sondern gingen an den außerschulischen Lernort Theater, wir haben den ganzen Tag mit den Künstler*innen zusammen verbracht. Einen dieser Künstler habe ich irgendwann wiedergetroffen. Er war in Köln Leiter des Theaters im Bauturm.

Ich habe Ähnliches später als Lehrerin an der Gesamtschule in Bergisch Gladbach versucht. Es stieß aber auf geteiltes Echo. Die Schulleitung unterstützte mich – auch weil wir Preise gewannen und dann in der Zeitung berichtet wurde. Andere Kolleg*innen fanden das weniger gut, sie beschwerten sich, dass ihr Unterricht ausfiel, weil Myrle mal wieder irgendetwas mit Künstler*innen machte.

Norbert Reichel: Ist das nicht ein lösbares Problem? Das lässt sich doch im Stundenplan einplanen! Es gibt so viele Möglichkeiten, Blockstunden, Epochenunterricht und was auch immer, um solche Konkurrenzsituationen zu vermeiden. Und gerade in einer Ganztagsschule eröffnen sich doch Perspektiven.

Myrle Dziak-Mahler: Richtig, aber so einfach ging alles nicht, es war eingefahren. Ich merkte als junge Lehrerin, dass es nicht so einfach ist, ein Anliegen gegen die Rahmenbedingungen durchzubringen. So bin ich eben am Samstag mit meinem Sohn auf dem Arm zu den Theaterproben gegangen. Das ist nicht schlimm, Engagement ist gut. Aber es gibt ein Problem mit Rahmenbedingungen, die verhindern, dass solche Aktivitäten in die Schule als regelmäßiges und verlässliches Element integriert werden. An den Rahmenbedingungen muss sich dringend etwas ändern.

Norbert Reichel: Und an den Einstellungen. Nur wenn die sich ändern, werden meines Erachtens auch die Rahmenbedingungen flexibler. Dazu gehören individualisierte Lernzeiten, Freiheiten in der Stundentafel, Block- und Epochenunterricht, mehr Lebensnähe, ich denke im besten Sinne Ganztagsbildung: gemeinsam lernen, gemeinsam aufwachsen.

Myrle Dziak-Mahler: In einem Jahrgang haben wir versucht, den Stundenplan zu verändern. Es ging um den Schwerpunkt Geschichte der Naturwissenschaften. Die Lehrer*innen der Naturwissenschaften, Geographie, Geschichte, wir haben uns zusammengetan und die Themen aufeinander abgestimmt. Das war so eine Art fächerverbindender Unterricht. Die inhaltliche Verbindung organisierten wir Lehrer*innen. Es gab natürlich auch Grenzen. Es war ein Projekt in der damaligen Jahrgangsstufe 11. Sie fiel nicht in die Qualifizierungsphase. In der wurde das dann nämlich schon wieder schwierig. Viele Kolleg*innen äußern Vorbehalte, dass sie den Lehrplan nicht durchbekämen, was aber aus ihrer Sicht notwendig wäre, um die diversen Vergleichsarbeiten, Kursarbeiten etc. hinzubekommen.

Norbert Reichel: Und mit der Pandemie verschärft sich das meines Erachtens. Erkämpfte Flexibilität verschwindet wieder.

Myrle Dziak-Mahler: Das, was zurzeit angesichts der Pandemie in der Regel diskutiert wird, entspricht nicht den Erfahrungen der Lehrkräfte. Es kommt eben nicht nur auf Deutsch, Mathe, Englisch an. Diese sogenannten „Aufholprogramme“ vergessen das Wesentliche: die Kinder.

Norbert Reichel: Das merken wir an den Meldungen über Depressionen bei Kindern, über Suizide. Ich frage mich, warum wir die Unterrichtsinhalte nicht an der Pandemie orientiert haben, beispielsweise im Hinblick auf die Geschichte des Impfens, zur Geschichte der Pandemien der Vergangenheit und in der Literatur. Im Mathematikunterricht hätte ich all diese Statistiken, den R-Wert, die Inzidenzen, die exponentielle Modellierung von Infektionszahlen und was sich da alles beobachten lässt, thematisiert. Das lässt sich sicher nicht in allen Klassen schaffen, aber es hätte viel mehr Transparenz erzeugt und manche öffentliche Diskussion wäre vielleicht anders gelaufen. Und die Kinder hätten gemerkt, wie wichtig Mathematik ist, um unsere Welt zu verstehen, und nicht zuletzt, dass Modellrechnungen keine Prognosen und schon gar keine Prophezeiungen sind.

Zurück zur künstlerischen Bildung: ich verwende lieber den Begriff der künstlerischen Bildung als den in Schule üblichen der kulturellen Bildung. Kultur ist mir ein viel zu allgemeiner Begriff, dazu gehören dann auch Esskultur, Streitkultur, all das, was auch bestimmten Gruppen, beispielsweise in einer bestimmten Religion oder mit einer bestimmten Herkunft zugeschrieben wird und mit kultureller Bildung im eigentlichen Sinne nur wenig zu tun hat, es sei denn, es wird zum Gegenstand künstlerischer Arbeit.

Myrle Dziak-Mahler: Künstlerische Bildung – das hat etwas mit Zugängen zur Welt zu tun. Es ist ein anderer Zugang zur Welt, ein anderes Welterklärungsmodell als beispielsweise Geschichte oder Literatur sie bietet. Das, was für mich attraktiv ist, ist es nicht unbedingt für andere. So kann jemand seine*ihre eigene Sicht auf die Welt entwickeln. Aber da fehlen uns in der stark kognitiv geprägten Schule oft die Angebote.

Nicht auf die „Stoffe“ kommt es an – Ausbildung neu denken

Norbert Reichel: Wir beide trafen uns im Oktober 2021 in Bonn anlässlich der Premiere eines Films von Selma Brand über die Gottfried-Kinkel-Grundschule in Bonn-Oberkassel. Sie waren Teilnehmerin einer Podiumsdiskussion, die ich moderiert habe. Mir gefiel sehr, als Sie sagten, Sie seien froh, dass wir nicht über „Stoffe“ diskutierten. Ich denke bei „Stoff“ ja auch eher an Suchtprobleme als an Lehrpläne.

Myrle Dziak-Mahler: Oder an ein Sofa.  

Norbert Reichel: Ein Begriff, der von allen, die Schule gestalten wollen, in der Politik, an den Hochschulen, in der Ausbildung von Lehrkräften wie von Sozialpädagog*innen, in den Medien immer wieder verwendet wird, ist der Begriff der individuellen Förderung. Ich spreche lieber von individualisierender Förderung. Das ist das, was Sie aus Ihren Erfahrungen vertreten, der Blick auf das einzelne Kind statt auf den Durchschnitt einer Gruppe. Und wenn einige Kinder nicht mitkommen, kommt der Ruf nach homogenen Lerngruppen. Das, was Sie vertreten, ist jedoch etwas ganz anderes: im Grunde brauchen wir individualisierende Lernzeiten. Es bringt wenig, wenn alle Schüler*innen im Gleichschritt lernen sollen. Und die Ausbildung der Lehrer*innen ist ein ganz trauriges Kapitel.

Myrle Dziak-Mahler: Das sehe ich auch so. Unser Problem: Wir bilden keine innovativen jungen Leute aus. Notwendig wäre es, dass wir Lehrkräfte so ausbilden, dass sie auf neuestem wissenschaftlichen Stand mit innovativen und kreativen Ideen in die Schule gehen. Das gelingt uns nicht. Es gelingt uns gerade einmal, sie für das System vorzubereiten, das wir jetzt vorfinden. Ich könnte mir gut vorstellen, dass wir die Ausbildung der Lehrer*innen ganz anders aufstellen. Zunächst geht es darum, dass jemand überhaupt Lehrer*in werden will. Erst später entscheiden sich dann die angehenden Lehrer*innen, für welche Altersgruppe und welche fachlichen Ausrichtungen sie tätig werden wollen.

Norbert Reichel: Erst die Pädagogik, dann das Fach.

Myrle Dziak-Mahler: Vor allem mit der anderen Sicht anfangen. Gerade im Gymnasial- und Gesamtschulbereich habe ich bei den angehenden Lehrkräften in der Mehrheit die Vorstellung erlebt, sie säßen im Leistungskurs Geschichte mit hoch motivierten und interessierten jungen 18jährigen, die Geschichte studieren werden.

Norbert Reichel: So wie das auch viele Hochschulprofessor*innen denken. Die wollen junge Nachwuchsprofessor*innen ausbilden.

Myrle Dziak-Mahler: So denken viele. Was soll man*frau auch sonst mit Geschichte anfangen? Aber dann sitzen sie in der sechsten Klasse einer Gesamtschule, in der das Fach Geschichte Teil des Fachs Gesellschaftswissenschaften ist. Was mache ich denn dann?

Ich kann mir gut vorstellen, dass wir ein neues Studium „Lehramt“ einführen. Mit dem Abschluss eines Bachelors „Lehramt“. Sechs Semester mit regelmäßigem Praxiskontakt, vielleicht sogar als duales Studium. Die Studierenden lernen dann von Anfang an Unterschiede in verschiedenen Klassenstufen, in verschiedenen Zusammensetzungen ihrer Schüler*innen, auch sozialpädagogische Inhalte. Mit der Zeit ließe sich das dann mit bestimmten fachlichen Ausrichtungen verbinden, Sprachen, Gesellschaftslehre, Naturwissenschaften, Künste. Sie sollten die Fachinhalte pflegen können, die sie wichtig finden, aber der Schwerpunkt der Ausbildung ist erst einmal das „Lehramt“. Das ergibt viel mehr Pädagogik, Bildungswissenschaften, Psychologie, Soziologie, auch Philosophie. Vielleicht werden dann aus ihnen auch Lernbegleiter*innen, die viel mehr können als bloß Wissen zu vermitteln.   

Norbert Reichel: Wir sollten uns auch endlich von dem fragend-entwickelnden Unterricht verabschieden, den viele Lehrkräfte immer noch pflegen, weil sie nichts anders gelernt haben. Mich hat das immer an das Verstecken von Ostereiern erinnert. Lehrer*in weiß was und die Kinder müssen es herausfinden. Jürgen Baumert, einer der – ich erlaube mir den Begriff – PISA-Päpste der ersten Stunde, hat mal gesagt, das wäre die anstrengendste Art zu unterrichten, die letztlich Lehrkräfte erheblich belastet und auch krank macht.

Nur wie schaffen wir es, dass das Modell, das Sie vorschlagen und das ich sofort unterstützen würde, Wirklichkeit wird. Wenn die Kultusminister*innen auf die Idee kämen, es vorzuschlagen, hätten wir sicherlich erst einmal einen Religionskrieg. Elternverbände, Lehrerverbände, selbst die, die sich für fortschrittlich halten wie die GEW, werden sich wehren.

Myrle Dziak-Mahler: Es müsste erst einmal die Möglichkeit geben, das zu diskutieren. Aber ich bin mir nicht sicher, ob bei den Entscheider*innen angekommen ist, was wir in Zukunft bräuchten. Es reicht eben nicht, das ein oder andere Reförmchen anzuschieben. Andererseits: in Nordrhein-Westfalen haben wir schon einige wichtige Schritte gemacht. Dazu gehört die Umstellung auf Bachelor und Master, dazu gehört das Praxissemester, die damit seit der Änderung des Lehrerausbildungsgesetzes von 2009 gegebene hohe Verzahnung des Studiums mit der Schulpraxis. Das ist schon ein Schritt in eine verdammt gute Richtung. Das haben andere Bundesländer mit viel Interesse beobachtet.

Es gibt auch die Verpflichtung, dass erste und zweite Phase zusammenarbeiten. Da gab es schon die ersten Religionskriege. Die ersten Begegnungen zwischen Hochschullehrer*innen und Fachleiter*innen konzentrierten sich erst einmal darum, den jeweilig anderen in seiner*ihrer Professionalität zu akzeptieren. Wir haben Sitzung über Sitzung gebraucht, um nur ein Ziel zu erreichen: dass ein Verständnis dafür da ist, dass auch die andere Seite einen hoch professionellen Job macht. Die Hochschulleute halten erst einmal die Praxisleute für theoriefeindlich, die Praxisvertreter*innen sagen, da sollen die doch erst einmal in die Praxis kommen, da ist alles ganz anders. Wir zeigen euch mal, wie Schule so richtig ist.

Systemisch haben wir das sicher heute überwunden, aber die einzelnen Menschen haben es noch nicht alle überwunden, schon organisatorisch nicht. Solange wir den Vorbereitungsdienst an das Studium antackern, fördern wir immer noch die Vorstellung, da hat man*frau etwas studiert und jetzt wird man*frau erst richtig Lehrer*in. Aus der Zweiphasigkeit müsste aus meiner Sicht eine Einphasigkeit werden, wie in den neuen Modellstudiengängen in der Medizin. Dann könnten alle Beteiligten ihre jeweiligen Blickwinkel auf das System Schule zusammenbringen. Wir bilden zurzeit sechseinhalb Jahre aus, das sind 78 Monate! Sechs Semester zum Bachelor, vier Semester zum Master, achtzehn Monate im Referendariat. Wenn wir die bisherigen beiden Phasen in einer Phase geschickt verzahnen würden, ließe sich viel erreichen. Es entstünde auch mehr Kohärenz. 

Norbert Reichel: Es gäbe für eine solche Reform neben der Medizin einen weiteren Präzedenzfall. Die Ausbildung von Psychotherapeut*innen wird einphasig. Es ist nicht mehr nötig, für teures Geld nach dem Studium eine langjährige psychotherapeutische Zusatzausbildung zu absolvieren. Die psychotherapeutische Kompetenz kann von Anfang an im Studium erworben werden. Warum soll das nicht bei Lehrkräften möglich sein? Es würde auch Ressourcen sparen.

Myrle Dziak-Mahler: Aber das ist und bleibt ein Kraftakt. Das kann nicht ein Land alleine versuchen. Das geht nur mit allen zusammen.

Norbert Reichel: Gab es nicht mal in Bremen und in Bielefeld eine einphasige Ausbildung für Lehrer*innen?

Myrle Dziak-Mahler: Das gibt es leider nicht mehr, es wurde ebenso wie die einphasige Jurist*innenausbildung eingestampft. Es bringt auch nichts, ein Modellprojekt zu machen. Denn niemals wird sich Bayern einer Sache anschließen, die in Bremen ausprobiert wurde. Es gibt einen sehr hohen Gesprächsbedarf, auch mit den Verbänden, denn wenn die Lehrerverbände Kopf stehen, geht gar nichts mehr.

Norbert Reichel: Das steht schon bei Tucholsky, passt auf mit den Gesinnungen, denn sonst beschweren sich die Innungen.

Myrle Dziak-Mahler: Guter Spruch. Zurzeit versteht offenbar niemand, was für ein Hebel die Ausbildung der Lehrer*innen ist und wie die Gesellschaft davon profitieren würde.

Norbert Reichel: Zurzeit erleben wir, dass es eine Menge engagierter Lehrer*innen und Schulleiter*innen gibt, dass in vielen Schulen Lehrkräfte, Sozialpädagog*innen, Künstler*innen und viele andere gut zusammenarbeiten, nicht nur im Ganztag, auch in noch nicht zum Ganztag verbundenen Arbeitsgemeinschaften, aber wenn dann die Aktiven in den Ruhestand gehen, die Schule wechseln, brechen mitunter in den Schulen ganze Strukturen zusammen. Innovation hängt viel zu stark von einzelnen Personen ab. Wie erleben Sie diese Debatte im Gespräch mit anderen Expert*innen und Akteur*innen der Lehrer*innenausbildung?

Myrle Dziak-Mahler: Ich habe viel darüber nachgedacht, ob nicht die großen Stiftungen, die sich für Bildung engagieren, die Bertelsmann-Stiftung, die Robert-Bosch-Stiftung, die Telekom-Stiftung, die Vodafone-Stiftung und andere an einer solchen Reform Interesse hätten. Vielleicht wäre das ein Weg, Einfluss auf die Politik zu nehmen. An die Politiker*innen selbst ist nach meinen Erfahrungen schwer heranzukommen. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit der amtierenden KMK-Präsidenten, Britta Ernst, die mir sagte: Frau Dziak-Mahler, Sie wissen nicht, wie Politik funktioniert. Ich habe geantwortet: Ich verstehe das sehr wohl, aber ich kritisiere das. Ich habe einfach das Gefühl, dass Bildungspolitiker*innen nicht verstehen, was wir Kritiker*innen sagen. Ganz anders als wir beide heute. Wir müssen nicht immer einer Meinung sein, aber wir wissen, wovon wir sprechen. Ich komme mir bei vielen Bildungspolitiker*innen vor, als spräche ich Chinesisch oder Ukrainisch.   

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Februar 2022, Internetzugriffe zuletzt am 24. Januar 2022. Der Alanus-Hochschule danke ich dafür, dass sie mir die in diesem Text gezeigten Fotografien zur Verfügung gestellt hat.)