Strategiewechsel

Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen

„Du bist die Aufgabe. Kein Schüler weit und breit. (Franz Kafka, zitiert nach Michael Wolffsohn, Nie wieder? in: Jüdische Allgemeine 24. März 2022)

David Baddiel veröffentlichte 2021 in London das Buch „Jews Don’t Count“. Der Untertitel spezifizierte diese bewusst provozierende Aussage: „How Identity Politics Failed One Particular Identity“, eine Identitätspolitik, in der jüdische Identitäten offenbar keine Rolle spielen. Der Carl Hanser Verlag, der die deutsche Übersetzung veröffentlichte, schluckte. David Baddiel berichtet im Vorwort der deutschsprachigen Ausgabe, dass der Titel für das deutsche Publikum entschärft werden musste. Er schloss eine grundlegende Frage an: „In diesem Buch stelle ich der progressiven Linken die Frage: Warum habt ihr die Juden vergessen?“ Und er schiebt eine mögliche Antwort hinterher: „In Deutschland können die Juden offenbar nicht vergessen werden, aber es ist möglich, dass die deutsche Art der Erinnerung selbst eine Abwesenheit herstellt.“ Die radikal-extremistische Rechte vergaß „die Juden“ – immer der bestimmte Artikel – nie, aber die Linke?

Anti-Antisemitismus – ein deutsches Theaterstück

Offiziell vergisst in Deutschland niemand. Erinnert wird an ausgewählten Tagen, so am 27. Januar oder am 9. November, an die Ermordung von Jüdinnen*Juden durch den Nationalsozialismus. Dieser wird in der Regel als Urheber der Shoah benannt, nicht jedoch personalisiert. Die Täter*innen waren offenbar keine konkreten Menschen, wer war eigentlich wirklich in der Zeit von 1933 bis 1945 Nationalsozialist*in? Den Beleg, dass es nicht viele gegeben haben kann, lieferte die Entnazifizierung der späten 1940er und frühen 1950er Jahre, als selbst hart gesottene Nazis unbehelligt blieben.

Richard von Weizsäcker sprach in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985 auch ganz pauschal von Befreiung. Täter*innen unter den Deutschen? Das kann, das konnte, das durfte nicht sein. Wer die Täter*innen waren, dass sie – so Christopher Browning – ganz normale Menschen waren, spielte in von Weizsäckers Rede keine Rolle. Immer mehr Deutsche halten ihre Eltern, ihre Großeltern, diversen Studien zufolge für „Gerechte unter den Völkern“, die wahrhaft Schuldigen aber waren offenbar anonyme Mächte, die auch die Deutschen quälten. Antisemitismus? Den gibt es doch nur noch bei Rechtsextremist*innen und Muslim*innen. So gut sich die meisten Deutschen in ihrer Erinnerungskultur eingerichtet haben, so sehr gelingt es ihnen immer wieder, die eigenen Antisemitismen zu externalisieren. Ein Gegenbild: Walter Scheel sprach bereits zehn Jahre vor Richard von Weizsäcker von Befreiung, aber er sagte auch, dass „die Deutschen nicht fähig waren, selbst dieses Joch abzuschütteln, dass erst die halbe Welt zerstört werden musste, bevor Adolf Hitler von der Bühne der Geschichte gestoßen wurde.“

Judith Coffey und Vivien Laumann präsentieren in ihrem Buch „Goynormativität“ eine ähnliche These wie David Baddiel. Das Buch erschien 2021 im Berliner Verbrecher Verlag. Es wurde von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert und dürfte daher auch genau die Zielgruppen erreichen, die sich der Kritik der beiden Autorinnen stellen sollten. Die Autorinnen belegen an vielen Beispielen, dass die bisherigen Strategien gegen Antisemitismus offenbar nicht funktionieren. Im Untertitel fordern sie daher: „Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen“. Gleich zu Beginn benennen sie das Problem: „Antisemitismus ist und bleibt eine aktuelle und allgegenwärtige Bedrohung“. Und einige Absätze weiter: „Antisemitismus ist Normalzustand in Deutschland“. Sie schreiben, es „kann nicht oft genug betont werden, dass Antisemitismus als eigenständiges Herrschaftsverhältnis mit historisch und aktuell tödlichen Konsequenzen ernst genommen werden muss. Dazu ist allerdings eine Beschäftigung mit der Geschichte, Ideologie, Wirkungsweise und den Folgen von Antisemitismus notwendig.“ Aber genau daran fehlt es viel oft, in der Gesellschaft, in der Schule, in den Medien, im Alltag.

Jüdinnen*Juden diskutieren anders über den Antisemitismus als Deutsche, die keine Jüdinnen*Juden sind. Während Jüdinnen*Juden „bereits als Kind (…) wissen, dass man zu den Verfolgten und Ermordeten gehört hätte, wäre man 50 Jahre früher geboren“, haben sich die Deutschen in einem „Gedächtnistheater“ (Michal Y. Bodemann) eingerichtet, in dem Juden*Jüdinnen „gleichzeitig hyperpräsent sind im öffentlichen Diskurs, vor allem im Verhältnis zu ihrer relativ kleinen Zahl, gleichzeitig aber überhaupt nicht als reale Personen in ihrer realen Vielfalt und Widersprüchlichkeit wahrgenommen werden.“ Judith Coffey und Vivien Laumann berichten von der CDU-Aktionswoche „Von Schabbat zu Schabbat – Jüdisches Leben in Deutschland“ vom Juli 2020. CDU-Politiker*innen spielten so etwa in der Art lebender Bilder, wie es sie in Revuen der 1920er Jahre gab, jüdische Feiertage vor: „Annegret Kram-Karrenbauer mit Chanukkia, Bundesgeschäftsführer Stefan Hennewig mit Mazzot für Pessach, Stefan Evers mit Kippa und Tallit für Jom Kippur.“

Erica Zingher nannte dies in der taz „eine gängige Inszenierung, in der der Fantasiejude Projektionsfläche für Folklorevorstellungen der Deutschen wird“ (so zitiert bei Judith Coffey und Vivien Laumann). Auch ein solch ausgestellter Philosemitismus kippt mitunter ins antisemitische Klischee. Eine*r der Autor*innen, die nicht müde werden, diese binäre Konzeption einer sich in „Deutsche“ und „Juden“ aufteilenden Welt als Kern des Problems zu betonen, ist Max Czollek. Judith Coffey und Vivien Laumann: „Czollek betont, dass die Minderheit, in diesem Fall die jüdische, von einer unbenannten und unsichtbaren Dominanzposition aus befragt wird, die er als deutsch bezeichnet.“ Sie zitieren ferner einen Text von Max Czollek und Sasha Marianna Salzmann mit dem Titel „Spielt euer Theater doch alleine!“

Eine äußerst fragwürdige Rolle spielen in diesem Theaterstück Linke und Liberale. Sie halten sich im Grunde für unverdächtig, jemanden diskriminieren, diffamieren, angreifen zu wollen. Sie sind – so würden viele heute sagen – woke. „Aus Opposition zu einer Abwehrstrategie der deutsch-gojischen Dominanzgesellschaft, die darin besteht, Antisemitismus durch die Projektion auf Muslim_innen zu externalisieren, wird die Auseinandersetzung mit Antisemitismus an sich verweigert – anstatt sich mit den Abwehrstrategien der Dominanzgesellschaft auseinanderzusetzen und die Kämpfe gegen Antisemitismus und Rassismus miteinander zu verbinden.“ Die als Gemeinschaft wahrgenommenen Muslim*innen, die auch sie in der Wirklichkeit nicht sind, wird als zu verteidigendes Gegenbild zu den mit der israelischen Besatzungspolitik getriggerten Bildern einer kolonialistisch-imperialistischen jüdischen Gemeinschaft von jedem Antisemitismus freigesprochen. „Beim ideologischen Disput der politischen Fraktionen in der Haltung zu Israel / Palästina wird über die Definition von Antisemitismus gestritten, als ginge es vor allem darum, Unschuldige vor ungerechtfertigten Antisemitismusvorwürfen zu bewahren. Gleichzeitig ist die Offensichtlichkeit, mit der linker Antisemitismus in den letzten Jahren wieder verstärkt in Erscheinung tritt, erschreckend.“

Ich erlaube mir zu ergänzen: nicht „erst in den letzten Jahren“, sondern schon seit den 1960er Jahren. Spätestens seit dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 positionierten sich Linke beziehungsweise Menschen, die ihre eigene politische Agenda als links bezeichneten, im Namen einer anti-imperialistischen Agenda gegen Israel. Sie verdammten Israel als Besatzungs- und Kolonialmacht, waren und sind aber kaum in der Lage, antisemitische Anwandlungen in ihrer Argumentation zu erkennen und zu hinterfragen. Die aktuelle Debatte über die Verbrechen des deutschen Kolonialismus schließt an diese anti-imperialistische Sichtweise an. Es scheint nicht um die deutschen Verbrechen beziehungsweise das Recht der afrikanischen Opfer dieser Verbrechen zu gehen, sondern um ihre imperialistische Grundlage, die schonungslos und ahistorisch auf Israel angewendet wird. Mit diesem „Kolonialframing“ werden anti-israelische Kampagnen wie BDS von linken Akteur*innen gerechtfertigt und selbst offener Antisemitismus dieser Bewegung zumindest billigend in Kauf genommen. „Zum Einsatz kommt meist ein Mechanismus, den wir das ‚Zensur-Argument‘ nennen. Dabei werden Antisemitismusvorwürfe als Angriffe auf die Meinungsfreiheit gewertet.“ Dies gilt – so Judith Coffey und Vivien Laumann – nicht nur für BDS, sondern auch für die Initiative GG 5.3 Weltoffenheit, die den Beschluss des Deutschen Bundestages gegen BDS als Gefahr für die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit betrachtet. „Es kann nicht oft genug betont werden, dass diese Resolution kein Verbot mit sich bringt, keinen Boykott von BDS und schon gar keine Zensur.“

Linke und leider auch manche Liberale trennen Antisemitismus von dem, was sie „Israelkritik“ nennen. In ihren Kreisen wird die sicherlich sehr allgemein gehaltene und durchaus diskutable Definition des Antisemitismus durch die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), der sich eine Mehrheit im Deutschen Bundestag anschloss, vehement abgelehnt. Sie wird nicht mehr diskutiert, sodass jeder Weg versperrt zu sein scheint, diese Definition – wie vielleicht auch andere Definitionen – des Antisemitismus zu konkretisieren und aus dieser Konkretisierung zu lernen. Judith Coffey und Vivien Laumann identifizieren folgende Fragen: „Wieso werden Antisemitismus und Jüdischsein in intersektionalen Debatten so oft nicht berücksichtigt? / Wie kann das Verhältnis von Weißsein und Jüdischsein gedacht werden? / (…) Wie kann es sein, dass Antisemitismus in weiten Teilen der Linken nicht als aktuelles und ernstzunehmendes Problem gilt?“

Methode Gojnormativität

Den „Normalzustand“ des Antisemitismus, seine ständige unterschwellige wie offensichtliche Präsenz im deutschen Alltagsleben bezeichnen Judith Coffey und Vivien Laumann als „Gojnormativität“. In dieser Formulierung findet sich durchaus ein Hauch von Ironie. Kein Deutscher käme auf die Idee, sich selbst als „Goj“ zu verstehen, auch Jüdinnen*Juden pflegen die Menschen, die keine Jüdinnen*Juden sind, nicht als „Gojim“ anzusprechen. Deutsche sind jedoch sehr wohl versucht, sich als „Norm“, als „normal“ zu empfinden, einfach weil sie die Mehrheit sind, und machen sich damit selbst zu „Gojim“. „Gojnormativität bedeutet, dass die gojische Position unhinterfragt als ‚normal‘ angenommen wird.“ Die beiden Autorinnen behaupten nicht, dass sich auf dem Begriff eine „geschlossene Theorie“ aufbauen ließe. „Bezogen auf verschiedene Themenkomplexe dient uns Gojnormativitätskritik als Brille, mit der wir uns Diskurse rund um Juden*Jüdinnen anzusehen versuchen.“

Judith Coffey und Vivien Laumann präsentieren ihre Methode in neun Kapiteln unter verschiedenen Aspekten. Thema sind die Binarität von „Jude und Goj“ in den diversen Debatten, „Intersektionalitätsdebatten“, die Frage von „Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten“, Dilemmata der Erinnerungskultur, der Schuldabwehr einschließlich der „Abwehr von Antisemitismuskritik“, Wege in und aus der „gojischen“ beziehungsweise „gojonormativen Komfortzone“. Das Buch schließt mit einem Aufruf: „Für solidarische Bündnisse und Allianzen gegen Antisemitismus“. Die beiden Autorinnen beschreiben im Anschluss an Mirjam Wenzel „die Wahrnehmung von Juden*Jüdinnen in Deutschland als vorstrukturiert durch das ‚mediale Dreieck‘ Antisemitismus, Schoa und Israel.“ Je nach Gesprächssituation lässt sich alles, was Menschen über Juden*Jüdinnen sagen möchten, mit diesen drei Begriffen triggern. „In diesem engen Rahmen erscheinen Juden_Jüdinnen als tot, als Opfer (der Schoa bzw. allgemein von Antisemitismus oder – je nach politischem Standort – als Täter_innen oder Bedrohte (Israel), selten aber in anderen Bezügen, in anderen Rollen, oder zu anderen Themen.“

Die Methode der „Gojnormativität“ soll diese Verengung der Debatte aufbrechen. „Gojnormativität“ ist eine Methode, mit der nicht die Welt in „Gojim“ und „Juden*Jüdinnen“ aufgespalten wird, sondern die jüdische Perspektive in diesen Debatten sichtbar gemacht werden soll, denn genau diese fehlt: „Die Perspektiven von Juden_Jüdinnen werden kaum gehört oder ernstgenommen.“ Dies gilt selbst für in Deutschland veröffentlichte Forschungsarbeiten, in deren Literaturverzeichnissen jüdische Autor*innen oft fehlen. Fehlt auch jüdischen Wissenschaftler*innen die Sichtbarkeit, die viele Jüdinnen*Juden im Alltag vermeiden? Marina Weisband sagt es in ihrem mit Eliyah Havemann verfassten Buch „Frag uns doch! Eine Jüdin und ein Jude erzählen aus ihrem Leben“ (Frankfurt am Main, S. Fischer, 2021) deutlich, deutlicher geht es eigentlich nicht: „Die Bedrohungslage macht uns unsichtbar. Und das ist auch die Absicht hinter den Drohungen. Seit 2021 trage ich nicht mal mehr meine Davidsternkette. Es ist zu gefährlich geworden.“ Eliyah Havemann trägt in Deutschland über seiner Kippa eine Mütze. Aber wenn sich Juden*Jüdinnen unsichtbar machen, ist es auch wieder nicht recht. Judith Coffey und Vivien Laumann: „Der Vorwurf, Juden_Jüdinnen seien unsichtbar und würden dadurch im Verborgenen ihr Unwesen treiben, ist ein altes antisemitisches Bild, das in verschiedenen Kontexten aktiviert wird.“

Wenn wir „Gojnormativität“ als Methode, sich dem Phänomen des Antisemitismus zu nähern, verstehen wollen, hilft meines Erachtens die Analogie zu den „Queer Studies“. Andreas Kraß schreibt in dem von ihm herausgegebenen Band „Queer Denken – Queer Studies“ (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2003, das kursive „e“ ist kein Schreibfehler!): „Queer Theory und Queer Studies verstehen sich nicht als eigene akademische Disziplin, sondern als Frageperspektive, die alle kulturwissenschaftlichen Fächer übergreift.“ Im Jahr 2022 sollte ich erwähnen, dass Andreas Kraß in den Jahren der COVID-19-Pandemie wohl einen anderen Titel für das Buch gewählt hätte, ein weiteres Zeichen dafür, wie es anti-demokratischen Kräften gelingen kann, Begriffe einer emanzipatorischen Politik zu okkupieren und zu entwerten. Interessant ist jedoch die Herleitung des von Andreas Kraß formulierten methodischen Ansatzes der „Queer Theory“ aus den Schriften von Judith Butler. Sie zeigte bereits zu Beginn der 1990er Jahre „dass die heterosexuelle Zuordnung nicht eine natürliche Gegebenheit, sondern der Effekt einer kulturellen Konstruktion ist, die sich durch den Prozess performativer Wiederholung unablässig reaffirmiert.“

Judith Butler eignet sich in doppelter Hinsicht als exemplarische Gewährsperson für den Ansatz der „Gojnormativität“. Die Ansätze der „Queer Theory“ und der „Gojnormativität“ weisen beide einen Ausweg aus der Falle, in die manche intersektionelle Studien hineintappen, wenn sie – oft sicherlich unbewusst – Hierarchien und Konkurrenzen unter den Minderheiten konstruieren, deren Anliegen sie eigentlich sichtbar(er) machen sollten. Auf der anderen Seite ist Judith Butler ein Beispiel für jemanden, der*die in diese Falle tappte. Ihre Positionen zu Israel triggern antisemitische Positionen. Sie hat in ihrer Unterstützung für BDS Hamas und Hisbollah zu anti-imperialistischen, linken Gruppierungen erklärt und damit nicht nur Staatsbürger*innen Israels, sondern letztlich alle Jüdinnen*Juden aus der Gemeinschaft derjenigen ausgeschlossen, die sich für Demokratie und Menschenrechte, gegen Imperialismus, Kolonialismus und Apartheid einsetzen.

„Jude“ als „Metapher“

David Nirenberg verfolgt in seinem Buch „Anti-Judaismus – Eine andere Geschichte des westlichen Denkens“ eine ähnliche Linie wie die Autorinnen von „Gojnormativität“. Die deutsche Ausgabe erschien 2015 in München bei C.H. Beck, die amerikanische 2013 in New York und London bei W.W. Norton & Company. Der amerikanische Originaltitel formulierte das Anliegen des Autors prägnanter als der deutsche: „Anti-Judaism – The Western Tradition“. Er ließ im Untertitel keine Ausflüchte mehr zu, wie sie der deutsche Verlag bei der Formulierung des Untertitels zumindest andeuten ließ. Es ist schon ein Unterschied, ob ich eine Ideologie – als solche wage ich den „Anti-Judaismus“ zu bezeichnen – als „Tradition“ verstehe, die sozusagen zur DNA einer Gesellschaft gehört, oder lediglich als eine unter vielen miteinander konkurrierenden Denkschulen.

David Nirenbergs Kernthese sieht Antisemitismus beziehungsweise Anti-Judaismus als „Metapher“: „Mein Buch wird den Antijudaismus als Maske behandeln, das heißt als eine pädagogische Furcht, die einigen Schlüsselkonzepten und -fragen in der Geschichte des Denkens bleibende Form gibt. (…) Die Methode wie die Metapher sollen uns dabei helfen, die potenzielle Bedeutung von Ähnlichkeiten zu erkennen, die wir über weite Zeiträume hinweg zu sehen glauben, und uns zugleich vor der allzu menschlichen Tendenz schützen, Brücken der Kausalität zu bauen, die für die zwangsläufig schwachen Fundamente unseres Wissens zu schwer sind.“

David Nirenberg spannt einen großen Bogen über die Jahrhunderte und Jahrtausende abendländischer und orientalischer Geschichte. Er beginnt mit der Antike, referiert „Weltdeutung mithilfe des Judentums“ in der Frühen Kirche, im Mittelalter, in der Zeit der Inquisition, der Reformation, christlicher Politik im Kontext von Thomas Hobbes, der Aufklärung, revolutionärer Gedanken nach 1789 und schließlich in der deutschen Philosophie der Zeiten von Immanuel Kant und Karl Marx. Ein herausragendes Kapitel illustriert all diese Entwicklungen am Beispiel von Shakespeares „The Merchant of Venice“ (erstmals im Jahr 1600 gedruckt). Anti-Judaismus und Antisemitismus wirken auch ohne die Präsenz realer Jüdinnen*Juden, weil nämlich das Wort, der Begriff „Jude“ als „Metapher“ für all das gilt, was einer Gesellschaft als feindlich gesinnt gilt.

„Der Jude“ ist in diesem Kontext der exemplarische Feind im Sinne eines Carl Schmitt, in manchen religiös gefassten Schriften das Böse schlechthin. In diesem Sinne erfolgt „eine Verschiebung der Last der Verantwortung für die Intoleranz vom Christen- auf das Judentum. (…) Der Jude als paradigmatischer Stammvater der religiösen Verfolgung und der Jude als exemplarisches Opfer dieser Verfolgung (…).“ Im Rekurs auf die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (1944) schlussfolgert David Nirenberg, „dass antisemitische Ideen ihre Macht weniger aus ihrer Beziehung zur Realität bezogen als aus ihrer Immunität gegenüber Realitätsüberprüfungen.“ Jüdinnen*Juden können als Opfer und als Täter*innen zugleich zitiert werden und verlieren darüber jede individuelle Identität als Menschen, sie werden zu einem Typus, der mit dem bestimmten Artikel, als „der Jude“ beziehungsweise „die Juden“ fixiert werden kann.

Möglicherweise ließe sich die Quintessenz der Bücher von David Nirenberg sowie von Judith Coffey und Vivien Laumann auch mit den Ansätzen von Susan Sontag zur Beschreibung von Krankheiten beschreiben. Das Judentum wurde in seiner Geschichte oft genug als Urheber von Pandemien bezeichnet, in den Jahren 2020 bis 2022 im Kontext der COVID-19-Pandemie auch als angeblicher Urheber von die Menschheit bedrohenden Impfstoffen. Antisemitismus funktioniert auch ohne reale Juden bestens. Judith Coffey und Vivien Laumann: „Antisemitismus ist also nicht bloß ein Vorurteil oder eine Unterform von Rassismus, sondern ein eigenes Herrschaftsverhältnis, das Gesellschaften strukturiert und einer eigenen spezifischen Analyse bedarf. Als Herrschaftsverhältnis wirken antisemitische Strukturen auf abstrakter und konkreter Ebene zugleich. Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen bis hin zu Morden widerfahren konkreten Menschen und die antisemitischen Handlungen und Taten werden von konkreten Menschen verübt. Die Elemente und Strukturen antisemitischer Ideologien funktionieren als abstraktes Strukturprinzip auch ohne Juden_Jüdinnen. Ein klassisches Beispiel dafür sind Verschwörungsideologien und Versatzstücke, die sich oftmals chiffrierter Bilder oder Umweltkommunikationen bedienen.“

Dreh- und Angelpunkt Shoah

In den Debatten um die Sichtbarkeit und die Rechte von Minderheiten wird gelegentlich vorgetragen, dass sich nur Betroffene zu Diskriminierung und Diffamierung äußern könnten und dürften. Judith Coffey und Vivien Laumann teilen diese Position nicht: „Wir gehen weder davon aus, dass nur Juden*Jüdinnen oder Personen mit jüdischen Bezügen etwas zu Antisemitismus zu sagen haben, noch dass die Analysen von Betroffenen automatisch richtig sind. Dennoch macht es einen Unterschied, aus welcher Position eine Person zum Thema Antisemitismus spricht.“ Dies sollte im Grunde eine hermeneutische Binse sein, ist es aber leider nicht. Wer sich nicht Klarheit verschafft, „aus welcher Position“, mit welcher Geschichte, unter welchen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen er*sie sich zu einem Thema äußert, landet bei Schein-Wahrheiten, die einem binären Freund-Feind-Schema folgen.

Deutsche, die keine Juden*Jüdinnen sind, tun sich schwer, die richtigen Bezeichnungen zu finden. Sie fragen ständig, wer Jude, was jüdisch wäre. Das tun natürlich auch Juden*Jüdinnen selbst. Fragen sind legitim, es kommt auf den Kontext an, in dem sie gestellt und diskutiert werden. Judith Coffey und Vivien Laumann „bezeichnen Jüdischsein als eine ambivalente Identität, die sich einfachen Definitionen entzieht. Doch wir halten es für wichtig, die darin enthaltenen Ambivalenzen genauer zu benennen und aufzudröseln.“ Dazu gehört auch die Dekonstruktion verschämter „gojischer“ Formeln wie die von den „Menschen jüdischen Glaubens“ oder „jüdischen Mitbürgern“. Möglicherweise ist diese Ambivalenz Grund einer Debatte, die die Duden-Redaktion auslöste, als sie neben dem Wort „Jude“ den folgenden Hinweis platzierte: „Gelegentlich wird die Bezeichnung Jude, Jüdin (…) als diskriminierend empfunden. In diesen Fällen werden dann meist Formulierungen wie jüdische Menschen, jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger oder Menschen jüdischen Glaubens gewählt.“

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, kritisierte diese Wortwahl: „Das Wort ‚Jude‘ ist für mich weder ein Schimpfwort noch diskriminierend“. Sein Verband heiße bewusst Zentralrat der Juden und nicht der ‚jüdischen Mitbürger‘, betonte er. Jude oder Jüdin ist die Bezeichnung, die Augenhöhe signalisiert wie zum Beispiel ‚Katholik‘ oder ‚Protestant‘. Das ist besser als Formulierungen aus vermeintlich großzügiger Toleranz gegenüber Menschen, von denen man sich letztlich doch abgrenzen will.“ Die Duden-Redaktion kündigte Überarbeitung an. Mehrere Zeitungen berichteten, so auch der Berliner Tagesspiegel am 8. Februar 2022 und die Jüdische Allgemeine am 7. Februar 2022. Eliya Havemann schreibt in seinem Vorwort zu „Frag uns doch!“: „Heute bin ich beides: Jude und jüdischen Glaubens.“

Diese Unsicherheiten der Mehrheitsgesellschaft beziehen sich auch auf die Shoah. Mark Terkessidis referiert in seinem Buch „Wessen Erinnerung zählt?“ Ergebnisse des 2001 erschienenen Buches „Erinnerung im globalen Zeitalter“ von Nathan Sznaider und Daniel Levy: „Dort konnten sie zeigen, wie der Holocaust durch seine mediale Verbreitung zunehmend zu einem global verfügbaren Gefäß der Erinnerung wurde, zu einer Art Schablone, auf die sich andere Gruppen beziehen mussten, wollten sie denn, dass ihre Leidenserfahrung gehört wurde. Um der Geschichte des transatlantischen Sklavenhandels Gehör zu verschaffen, wurde der Vergleich mit dem Holocaust oftmals bemüht.“ Die Erinnerung an die Shoah erweist sich als instrumentalisierbar und gleichzeitig als Maßstab.

Die UN-Völkermordkonvention wurde am 9. November 1948 beschlossen und trat am 12. Januar 1951 in Kraft. Artikel II definiert als „Völkermord“ eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: 1. Tötung von Mitgliedern der Gruppe; 2. Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; 3. vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; 4.Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; 5. gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“ Diese Definition trifft auf die Shoah ebenso zu wie auf Kolonialismus, Sklaverei und Zwangsarbeit. Es ließe sich sogar darüber nachdenken, ob die Trennung von lateinamerikanischen Kindern von ihren Eltern, wie sie Donald J. Trump an der mexikanischen Grenze verfügte, den Kriterien der UN-Konvention entsprach. Und in den Tagen, in denen ich diesen Essay schreibe, gilt dies wohl auch für das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine.

Es reicht leider in manchen Debatten, Begriffe wie Völkermord, Holocaust oder Apartheid zu verwenden, um zu beeindrucken. Konkrete Belege sind dann gar nicht mehr erforderlich. Eben dies geschieht in Debatten, in denen Israel angeklagt wird. Judith Coffey und Vivien Laumann: „Auf Israel wird die antisemitische Zuschreibung von Macht und Privilegien übertragen, die sonst klassischerweise auf Juden_Jüdinnen projiziert wird.“ Dies wird dann oft mit anti-imperialistischen und anti-kolonialistischen Diskursen verbunden, in denen Juden*Jüdinnen durchweg als Weiße dargestellt werden, die die Nachfolge der Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts angetreten hätten. Die beiden Autorinnen sprechen von einem „Prozess des Kolonialframings“, in dem Juden*Jüdinnen „als super-weiß dargestellt werden. „Juden*Jüdinnen werden so endgültig von Opfern der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialist*innen zu einem Kollektiv von Täter*innen umdefiniert“, sie sind weiß und „machtvoll“, und daher nach Auffassung derjenigen, die dies tun, keine „Opfer“.

Verfälschte Erinnerung

„Deutsche unter den Opfern“ – das ist ein gängiger Topos der medialen Berichterstattung über welche Katastrophen in dieser Welt auch immer. Je höher die genannte Zahl, umso mehr Aufmerksamkeit erreicht die Nachricht. Es gab auch deutsche Opfer des Nationalsozialismus, und es sollten auch nicht vergessen werden, dass deutsche Jüdinnen*Juden, die von den Nationalsozialist*innen ermordet wurden, Deutsche waren. Judith Coffey und Vivien Laumann schreiben in einem Kapitel mit dem Titel „Besiegt oder befreit? Der kleine Unterschied“: „Zur Entkonkretisierung der Erinnerung passt auch die Stilisierung des 9. Novembers zum ‚Schicksalstag der Deutschen‘.“ Der 9. November 1938 war alles andere als ein „Schicksalstag der Deutschen“. Es ist wohlfeil, die Hinrichtung von Robert Blum (1848), das Ausrufen der Republik durch Philipp Scheidemann (1918), den Hitler-Putsch (1923), die Pogromnacht gegen die deutschen Jüdinnen*Juden (1938) und den Fall der Berliner Mauer (1989) miteinander zu verbinden. Gemeinsam ist einzig und allein das Datum, verbindbar sind vielleicht die Daten von 1918 und 1989, weil sie mit dem Fall eines anti-demokratischen Regimes verbunden sind, aber die anderen Daten? Die Hinrichtung eines Demokraten, der Putsch gegen eine Demokratie, ein Pogrom gegen Juden*Jüdinnen?

Und wie ist es mit dem 8. Mai 1945? Hätten die Deutschen bei einem anderen Kriegsverlauf eine „Befreiung“ gewünscht, wünschten sie die überhaupt im Jahr 1945 oder waren sie es einfach leid, Ziel von Bombenangriffen der Alliierten zu sein? Möglicherweise dürften viele weiße Fahnen, die in den Tagen und Wochen vor dem 8. Mai in deutschen Dörfern gehisst wurden, als Zeichen des Überdrusses verstanden werden. Sie waren aber auch der Einstieg in eine deutsche „Opfererzählung“: „Zentrale Motive dieser Erzählung sind der Komplex rund um die Flucht und Vertreibung von Deutschen mit Nazihintergrund aus den ehemals von Nazideutschland besetzten Regionen, der Mythos von der mutwilligen Zerstörung Dresdens durch die Alliierten, das Leiden am ‚Bombenkrieg‘. Diese Erzählung, die sich auch in Kulturproduktionen widerspiegelt (u.a. in ‚Unsere Mütter, unsere Väter‘, ‚Dresden‘, „Die Flucht‘) betont die Leiden der gojischen Deutschen und deutet diese von Angehörigen der Täter_innengesellschaft zu Opfern um. Plötzlich waren auch die Deutschen Opfer, die befreit werden wollten. Außen vor bleibt, dass ein Großteil der deutschen Bevölkerung bis zuletzt hinter dem nationalsozialistischen System und seinen Ideologien stand und nicht von den Alliierten befreit, sondern besiegt wurde.“

Familiengeschichten wurden mit der Zeit zurechtgebogen. „Anders ausgedrückt: Die Zahl der ‚Judenretter‘ steigt und steigt.“ Juden*Jüdinnen werden in diesem Diskurs vor allem dazu gebraucht, „das eigene nationale und geläuterte Selbstbild“ zu bestätigen und Deutschland in der Welt als das Land zu präsentieren, das nun wirklich mit seinen Verbrechen der Vergangenheit aufgeräumt hat. Die Deutschen setzen die Norm, wie welcher Opfer gedacht wird. Die Erinnerung wird an die Überlebenden beziehungsweise die Nachkommen der Opfer delegiert, verräterisch ist der Wunsch nach Versöhnung, den Judith Coffey und Vivien Laumann als „Versöhnungskomplex“ beschreiben, in dem von Jüdinnen*Juden „gerne Vergebung eingefordert“ wird. Jüdinnen*Juden, die nicht vergeben, werden „Wut- oder Rachegedanken“ unterstellt.

Das Thema der Sichtbarkeit beziehungsweise Unsichtbarkeit von Jüdinnen*Juden erhält eine neue Dimension. Unsichtbar werden die Täter*innen und mit ihnen die Nachkommen der Opfer. Dies gilt auch für die Subsummierung von Antisemitismus unter dem Oberbegriff des Rassismus. Es gibt rassistische Ausprägungen von Antisemitismus, aber dies ist nur eine Teilmenge in der Tradition von Antisemitismus und Antijudaismus: „Antisemitismus als eine Form von Rassismus zu fassen, führt also nicht nur zu einer Unsichtbarmachung weiter Teile antisemitischer Ideologie, sondern im Endeffekt auch zu einer Unsichtbarmachung ihrer Opfer / Betroffenen. (…) Dass es an manchen Stellen des linken Diskurses Widerstände dagegen gibt, könnte eher mit der Abwehr der Auseinandersetzung mit Antisemitismus in Zusammenhang stehen.“ Judith Coffey und Vivien Laumann sehen durchaus „Gemeinsamkeiten zwischen rassistischer und antisemitischer Unterdrückung“, fordern jedoch, dass auch die Spezifika von Antisemitismus und Rassismus bedacht und benannt werden müssen.

Wer setzt die Norm? Das ist die zentrale Frage. Es geht im Grunde darum, wer den „kulturellen Code“ (Shulamit Volkov) bestimmt. Das Gegenbild zur „Gojnormativität“ ist die „Christonormativität“, die selbst diejenigen prägt, die sich nicht als Christ*innen verstehen. „Gojnormativität“ ist die Methode, mit der die Normsetzungen der Mehrheitsgesellschaft dekonstruiert werden können, letztlich ein Aufruf zu einem Strategiewechsel beim Kampf gegen Antisemitismus. Dies ist allerdings nur beziehungsweise erst möglich, wenn die Perspektiven von Jüdinnen*Juden ernst genommen und sichtbar werden. Marina Weisband: „Was aber unsichtbar ist, kann nicht normalisiert werden. Eine Selbstverständlichkeit entsteht durch Gerüchte und Rätselraten jedenfalls nicht. Nur durch offenen Dialog.“ Die Art und Weise, wie in der Mehrheitsgesellschaft über Juden*Jüdinnen und Judentum gesprochen wird, macht dies Juden*Jüdinnen jedoch nicht leicht. Noch einmal Marina Weisband: „Ja, eigentlich sollte es kein großes Ding sein, aber heute erzähle ich mal davon. Ich muss manchmal ein Merkmal herausstellen, absondern, um endlich darüber reden zu können. Um die vielen Wunden, die zwischen der nicht jüdischen und jüdischen Gesellschaft in Deutschland eben trotzdem noch irgendwie schwelen, verheilen lassen zu können. Das machen viele so. Uns vorzuwerfen, dass wir nicht ‚einfach normal sein können‘, ist deshalb ein wenig zynisch. Wir wollen ja normal sein. Wir wollen uns dabei bloß nicht verstecken.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im April 2022, Internetzugriffe zuletzt am 23.3.2022. Judith Coffey und Vivien Laumann gendern per Unterstrich. Das habe ich in aus ihrem Buch zitierten Passagen so belassen. Für den Hinweis auf das Buch von David Nirenberg danke ich Henning Flad.)