The Pursuit of Happiness

Rassismus und weißer Blick in Deutschland

„Wir wünschen uns, dass May Ayim zur Pflichtlektüre in deutschen Schulen wird, dass uns in Schulen die Verbindungslinien von May Ayim zum Genozid in Namibia, zu Anton Wilhelm Amo, zur N-Wort-Debatte in deutschen Kinderbüchern, zum Rassismus im Bildungssystem, zur Geschichte der deutschen Wiedervereinigung usw. aus Schwarzer Perspektive nahegebracht werden. Wir wollen, dass Lehrer_innen Bücher von Schwarzen Menschen lesen und Handbücher und Unterrichtsmaterialien von Schwarzen Menschen einsetzen, um mit uns zu May Ayim und darüber hinaus zu lernen.“ (Die Black Diaspora School, in: Natasha A. Kelly, Hg., Sisters and Souls – Inspirationen durch May Ayim, Hamburg / Berlin, Orlanda Buchverlag, 2018)

Wenn ein weißer Mann in etwas fortgeschrittenen Alter, welches manche „alt“ zu nennen belieben, über Rassismus schreibt, ist eine relativierende Vorbemerkung vielleicht angezeigt. Dieser Mann hat keinerlei Erfahrungen mit rassistischen Übergriffen auf seine Person, er kann lediglich versuchen, die Perspektive rassistisch angegriffener Menschen anzunehmen und mit Empathie zu begegnen. Er hat die in Deutschland übliche eurozentrische Bildung genossen, die Sprachen von Ländern gelernt und studiert, die die Menschen kolonisierten, für die dies die Sprachen der Kolonialherr*innen waren und sind, er muss sich mit dem Erbe der Täter*innen in seiner Bildung, in seiner Sozialisation auseinandersetzen. Er muss damit rechnen, dass sein Versuch, sich des Themas „Rassismus“ anzunehmen, mit einigen Schwierigkeiten verbunden sein mag und Widerspruch provoziert.

Jeder Dialog – ein Risiko

Und dennoch muss er dieses Risiko eingehen. Wie soll sonst eine auf gegenseitigem Respekt und auf Solidarität beruhende Demokratie entstehen, wenn niemand versucht, über seinen*ihren Schatten zu springen, wenn niemand das Risiko eingeht, sich zunächst vielleicht sogar um Kopf und Kragen zu reden? Wer nicht spricht, wird keine Dialogpartner*innen finden. ManuEla Ritz, Autorin der Bühnenstücke „Homestory Deutschland“ und „seelenwärts“, in denen May Ayim und Audre Lorde tragende Rollen spielen, schreibt in dem von Natasha A. Kelly herausgegebenen Sammelband „Sisters and Souls (Hamburg / Berlin, orlanda, 2018): „Wäre Verstehen eine deutsche Tugend, mehr wert als hartnäckig und blind auf eigenen Ansichten zu bestehen, wüssten wir alle, dass Schwarz und Weiß mehr sind als Farben einer Haut.“ Arbeiten wir daran, dass es eine „deutsche Tugend“ (und nicht nur eine deutsche) wird!

Gloria Boateng ist Lehrerin und Autorin des Buchs „Mein steiniger Weg zum Erfolg – Wie Lernen hilft, Hürden zu überwinden und warum Aufgeben keine Lösung ist (Hamburg, Leichte Sprache Verlag, 2019). In einem von der Süddeutschen Zeitung dokumentierten Gespräch benannte sie die „Mauern“, die entstehen, wenn der Einstieg in ein Gespräch misslingt: „Mein Gefühl ist, dass sich viele von der Debatte angegriffen fühlen. Sie sagen dann ‚Ich bin kein Rassist‘ und fahren ihre Mauer hoch. Deshalb kommt man nicht weiter und muss immer wieder an derselben Stelle anfangen. (…) „Nicht die Mauer hochfahren und sagen: Wir sind es nicht! Deutschland ist nicht rassistisch! Sondern anzuerkennen: Ja, viele Menschen in diesem Land verhalten sich rassistisch. Und dann können wir von diesem Punkt aus weitergehen: Wie sehen eigentlich die Übergänge aus? Welche Kinder bekommen nach Klasse 4 welche Empfehlungen? Und warum? Ich zum Beispiel habe eine Hauptschulempfehlung bekommen. Wäre es danach gegangen, hätte ich nie studiert. Meine einzige Chance war, dass ich mich geweigert habe. Ich habe gesagt, ich gehe da nicht hin, also mussten sie eine andere Schule für mich suchen.“

2020 – Jahr der Zeitenwende gegen Rassismus?

Meine einleitenden Sätze werden hoffentlich nicht als die rhetorische Figur verstanden, die Ernst Robert Curtius in seinem Standardwerk „Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter“ den „Topos der affektierten Bescheidenheit“ nannte. Aber Bescheidenheit, Demut und Solidarität sind anzuraten, wenn man*frau sich dem Thema nähert, das in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder in Deutschland immer wieder auf der Tagesordnung erschien, an Aufmerksamkeit gewann, diese aber auch wieder verlor, ein Thema, das im Jahr 2020 mit dem Mord US-amerikanischer Polizisten an George Floyd eine neuerliche mediale Aufmerksamkeit erhielt, die sich von den Phasen der sporadischen Aufmerksamkeiten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte zu unterscheiden scheint.

Aber manchmal ist die Zeit eben reif, und das möglicherweise auch durch den scharfen Kontrast zwischen dem Auftreten von #BlackLivesMatter und der höchst aggressiven Diffamierung dieser Bewegung durch äußerst rechts einzuordnende Politiker (fast ausschließlich Männer!) einschließlich des amtierenden US-Präsidenten. Auf der anderen Seite wäre die durch #BlackLivesMatter ausgelöste Solidarität und Mobilisierung nicht denkbar, wenn es in den vergangenen Jahren nicht auch die Filme, Dokumentationen und Statements von Spike Lee, Ava DuVernay und anderen gegeben hätte, wenn nicht biographische Essays über James Baldwin, Malcolm X oder auch Nina Simone beispielsweise durch den Streaming-Anbieter Netflix oder auch als DVD und bluray ein größeres Publikum erreicht hätten.

In Deutschland entstanden und wuchsen Netzwerke Schwarzer Menschen seit Mitte der 1980er Jahre dank des Wirkens von Audre Lorde während ihrer Berliner Zeit. Eine entscheidende Rolle spielte das von May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz herausgegebene Buch „Farbe bekennen – Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ (erstmals 1986 erschienen, inzwischen mehrfach neuaufgelegt, zuletzt 2020 im orlanda-Verlag). In dieser Zeit wurde auch die „Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland“ (ISD) gegründet.

Vielleicht ist das Jahr 2020 das Jahr des Beginns einer Zeitenwende im Kampf gegen jede Art von Rassismus. Immerhin wird wohl demnächst eine Berliner U-Bahn-Station umbenannt, leider noch nicht die dazugehörige Straße, für die die ISD den Namen von Anton Wilhelm Amo vorschlug. Im Deutschen Bundestag wird unter großer Anteilnahme der Presse diskutiert, dass der Begriff der „Rasse“ nicht ins Grundgesetz gehört. Mehrheiten für eine Änderung des Grundgesetzes zeichnen sich ab.

Die Umbenennung der Berliner U-Bahn-Station bedarf zwar noch längeren Nachdenkens und Verhandelns, denn die Alternative zum M-Wort ist nach Vorschlag der BVG der Name des antisemitischen Komponisten, nach dem die benachbarte Straße benannt ist. Aber auch ein ungeschickter Anfang ist ein Anfang, vielleicht auch ein Anfang für viele andere Stadtviertel und nicht zuletzt die große Zahl der M*****-Apotheken in Deutschland. Vielleicht denkt auch das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend darüber nach, ob der Name eines Antisemiten (und Polenfeindes) als Adresse ein gutes Signal ist.

Für die Änderung des Grundgesetzes hat das Deutsche Institut für Menschenrechte angeregt, das Wort „Rasse“ durch „rassistisch“ zu ersetzen. Damit würde deutlich, dass es zwar keine „Rasse(n)“ gibt, wohl aber „Rassismus“, sodass niemand behaupten könnte, mit der Streichung des Wortes „Rasse“ wäre auch „Rassismus“ abgeschafft. Ich möchte diesen Vorschlag gerne ergänzen und schlage vor, drei Begriffe, „antisemitisch, antiziganistisch, rassistisch“, ausdrücklich zu nennen, denn damit werden die drei Geißeln extremistischer Ignoranz gleichermaßen genannt. Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes würde dann lauten (Ergänzungen unterstrichen): „Niemand darf antisemitisch, antiziganistisch, rassistisch, wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“

Eine Garantie, dass ein verändertes Grundgesetz und die im Juli 2020 nach wie vor denkbare Abwahl des amtierenden US-Präsidenten den Rassismus des Alltags von einem auf den anderen Tag beseitigen, gibt es nicht, aber der Zeitpunkt, eine Zeitenwende gegen den Rassismus zu bewirken, ist ausgesprochen günstig. Und vielleicht gelingt es auch, all die Menschen zu überzeugen, die sich zurzeit noch heftig dagegen wehren, dass die Straße, in der sie leben, einen anderen Namen erhält und Schulen auch nach People of Color benannt werden, beispielsweise nach Anton Wilhelm Amo, James Baldwin, Audre Lorde oder May Ayim. Nach Schwarzen Menschen benannt sind nach Recherchen der ZEIT in Deutschland zurzeit nur eine Straße, das May-Ayim-Ufer in Berlin, sowie ein Platz, der Hilarius-Gilges-Platz in Düsseldorf.

Kommunalpolitiker*innen hätten noch viel zu tun. Und damit niemand vergisst, welche Verbrechen und sprachlichen Entgleisungen der bisherige Straßenname feierte, wäre eine erklärende Tafel hilfreich. ManuEla Ritz schreibt zur Umbenennung des ehemaligen Gröben-Ufers im Februar 2010 in May-Anim-Ufer: „Mit der Umbenennung einer Straße ändern sich nicht nur Straßenschilder und Anschriften. Mit der Umbenennung einer Straße verschieben sich auch Wissensstände und Wissenshoheiten.“ (in Natasha A. Kelly, Sisters and Souls).

Vielleicht verschwindet auf diese Weise auch das ein oder andere Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium. In Berlin, Hannover, Herten und Monheim gibt es seit einiger Zeit nach Rosa Parks benannte Schulen.

Racial Profiling ist Alltag

Alltagsrassismus hat viele Formen: Worte, Blicke, Gesten, Respektlosigkeit. Ich muss nach den vielen, in Büchern und im Internet gut zugänglichen Berichten zum Thema Alltagsrassismus annehmen, dass alle Schwarzen Menschen, alle People of Color, solche Situationen kennen, aus persönlichem Erleben, aus dem Erleben ihrer Bekannten, Verwandten und Freund*innen. Es sind alltägliche und tägliche Ereignisse, die aber von manchen „weißen“ Politiker*innen, Journalist*innen und Bürger*innen gerne als Einzelfälle dargestellt werden. „War ja nicht so gemeint“, heißt es oft. Wenn jedoch Bürger*innen, Politiker*innen, Journalist*innen und nicht zuletzt Amtspersonen die Bedeutung dieser Übergriffe herunterspielen, müssen wir annehmen, dass sie die Botschaft des Artikels 3 Absatz 3 Grundgesetz nicht verstanden haben.

Karamba Diaby schilderte im Politischen Fragebogen der ZEIT, wie er „am Bahnhof in Halle Opfer von Racial Profiling wurde. Ich wurde, zusammen mit einem anderen Schwarzen, von Polizisten vor Hunderten von Mitpendlern kontrolliert. Sie haben nur uns beide nach dem Ausweis gefragt. Ich empfand das diskriminierend und verletzend. Ein CSU-Abgeordneter behauptete dann in seiner Gegenrede, die deutschen Beamten machten ihre Arbeit immer korrekt und ich müsse mir überlegen, was ich an diesem Tag falsch gemacht habe.“.

Betroffen sind nicht nur Schwarze Menschen. Mohamed Amjahid berichtete im Juli 2020 in der ZEIT Campus unter dem Titel „Arabisch? Klar kann ich“ von einer Bekannten, die sich beworben hatte, „politische Bildungsarbeit in einem arabischsprachigen Land mit arabischsprachigen Akteurinnen zu koordinieren“. Sie war arabische Muttersprachlerin, erhielt jedoch eine Absage mit der Mitteilung, dass eine „weiß-deutsche Konkurrentin“ die Stelle erhalten hatte, von der sie jedoch wusste, dass sie nur sehr rudimentäre Arabisch-Kenntnisse hatte, „zumindest nicht so, dass sie sich über komplizierte Zusammenhänge mit arabischsprachigen Menschen austauschen könnte“.

Ein weiteres Beispiel nennt Hannes Leitlein in den ersten Sätzen eines Beitrags für ZEIT Online, der mit seinem Titel „Good Cop, Bad Cop“ an die USA denken lässt, aber deutsche Wirklichkeit beschreibt: „Mehmet Daimagüler muss, angesprochen auf seine Erfahrungen mit Racial Profiling, nicht lange überlegen: ‚Als ich noch keine Robe trug, wurde ich oft von Polizisten geduzt‘, sagt der Anwalt, der als Vertreter der Nebenklage im NSU-Prozess und Polizeiausbilder bekannt wurde. ‚Wenn ich die Beamten fragte, ob und woher wir uns kennen, reagierten sie verärgert.‘ Dann sei er plötzlich der aggressive Migrant gewesen.“ 

Drei Ereignisse, die eines gemeinsam haben: die Betroffenen sind alle Deutsche. Sie haben einen deutschen Pass, sie haben erfolgreich ihre Ausbildung, ihr Studium in Deutschland absolviert und zahlen in Deutschland ihre Steuern. Und diese Vorfälle haben Methode, sie gehören zu einem über lange Zeiten gewachsenen und konsolidierten System, von dessen Rassismus „weiße“ Menschen selbst bei kriminellen Absichten profitieren. Ein solches Beispiel dokumentiert bell hooks in ihrem autobiographisch inspirierten Buch „Die Bedeutung von Klasse“ (die deutsche Übersetzung erschien 2020 im Unrast-Verlag, das Original 2000 bei Routledge unter dem Titel „where we stand: class matters“). Sie beschreibt die infame Strategie ihrer kleinkriminellen Mitbewohnerin am College, die sich weiße Vorurteile zunutze machte: „Meine Mitbewohnerin am College, ein weißes Mädchen aus der Arbeiterklasse, stahl andauernd. Ohne mein Wissen, benutzte sie mich häufig als Ablenkung. Während die Verkäufer*innen in den edlen Boutiquen damit beschäftig waren, das Schwarze Mädchen im Auge zu behalten, um sicher zu gehen, dass es nichts stahl, klaute das weiße Mädchen alles, was nicht niet- und nagelfest war.“

Rassismus in „Happyland“ – niemals!

„Racial Profiling“ ist nicht nur etwas, das man*frau Polizist*innen vorwerfen könnte, „Racial Profiling“ ist – man*frau kann es nicht oft genug wiederholen – alltägliches Verhalten vieler „weißer“ Menschen. Polizist*innen sind möglicherweise nicht mehr und nicht weniger rassistisch als alle anderen Menschen auch. Die Dame, die in der U-Bahn angesichts einer Schwarzen Sitznachbarin ihre Handtasche enger umklammert, handelt nicht anders als der Polizist, der nur den Schwarzen Fahrgast nach dem Ausweis fragt. Allerdings sind Polizist*innen Amtspersonen, die Kraft ihres Amtes eine besondere Verantwortung haben. Ihr Verhalten macht ein gesamtgesellschaftliches Problem, das im Alltag oft genug nicht wahrgenommen wird, sichtbar. Das System „Rassismus“ ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, und rassistisches Verhalten von Polizist*innen ist Teil des Gesamtproblems.

„Racial Profiling“ ist Alltag in dem Deutschland, das Tupoka Ogette in ihrem Buch „exit RACISM – rassismuskritisch denken lernen“ (Münster, UNRAST-Verlag, 2017) „Happyland“ nennt. „Happyland ist eine Welt, in der Rassismus das Vergehen der Anderen ist. In Happyland wissen alle Bewohner*innen, dass Rassismus etwas Grundschlechtes ist. (…) Rassismus ist NPD, Baseballschläger, Glatzen und inzwischen auch die AfD. Es ist Hoyerswerda, Hitler und der Ku-Klux-Klan.“ Und wer als „Rassist*in“ bezeichnet wird, empfindet sich als Opfer. Und so „macht man sich in Happyland auch vielmehr Sorgen darüber, rassistisch genannt zu werden, als sich tatsächlich mit Rassismus und dessen Wirkungsweisen zu beschäftigen.“

Der Grundtenor deutscher Selbstzufriedenheit hört sich in etwa so an: In Deutschland gibt es keinen Rassismus, in Deutschland gibt es keine rassistischen Polizist*innen, gar keine rassistischen Menschen, in Deutschland gibt es vielleicht die ein oder andere Ausnahme von der Regel, denn 1945 wurden alle Deutschen gute Menschen, die nie etwas mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu tun hatten und dürfen – wie Samuel Salzborn es im Hinblick auf den Antisemitismus formulierte – ihre „Kollektive Unschuld“ (Titel seines 2020 bei Hentrich & Hentrich erschienenen Buches) genießen. „Die Welt zu Gast bei Freunden“, das Motto der Fußballweltmeisterschaft von 2006, gilt nach wie vor: Wir sind die Guten.

Nun hat so gut wie niemand je behauptet, dass alle Polizist*innen, alle Personalchef*innen oder auch alle Wohnungsvermieter*innen Rassist*innen wären, aber offenbar trifft der Vorwurf, es könnte sich um rassistisches Verhalten handeln, so schwer, dass nur schwerste Abwehrgeschütze helfen. Eine Studie zu Rassismus in der Polizei? Undenkbar für den deutschen Innenminister. Immerhin widersprach die Polizeigewerkschaft. „Racial Profiling“? Das ist USA, aber doch nicht Deutschland.

Der „rassistische“ Alltag – das sind Blicke, Worte, manche in ruhigem Ton, ganz beiläufig, andere aggressiv und übergriffig. Das sind die Versuche, einem Schwarzen Menschen in die Haare zu greifen, ihn*sie auf Englisch anzusprechen, nach seiner*ihrer Herkunft, der „wirklichen“ Herkunft zu fragen, oder danach, wann er*sie wieder nach Afrika zurückgehe, das ist die Darstellung in Filmen und auf Fotos. Natasha A. Kelly kommentiert in „Afrokultur“ (als Untertitel des Buches wählte sie einen Vers eines Gedichts von May Ayim „der raum zwischen gestern und morgen“, Münster, Unrast-Verlag, 2016) Bilder aus der sogenannten „Kolonialzeit“, der Zeit der europäischen Besatzung der meisten afrikanischen Länder. Auf diesen Bildern sind „weiße“ Männer oder Frauen zu sehen, die aus einer erhobenen Position belehrend oder anweisend auf eine Gruppe Schwarzer Menschen einwirken, indem sie aus einem Buch, dem Neuen Testament, vorlesen oder über etwas sprechen, das sie von der Gruppe erwarten. Sie präsentieren sich in der Rolle der Wissenden, der Belehrenden, die Schwarzen Menschen in der Rolle kleiner unmündiger, der Belehrung bedürftiger Kinder. Der Eindruck von Rückständigkeit wird schließlich dadurch erzeugt, dass die Schwarzen Menschen auf diesen Fotografien wenig Kleidung tragen. Oft sind ihre Oberkörper unbekleidet, so wie bei Schwarzen Menschen in Tarzan-Filmen oder bei Native Americans in vielen Western-Filmen.

In ihren Büchern „Sisters and Souls – Inspirationen durch May Ayim“ und „Millis Erwachen – Schwarze Frauen, Kunst und Widerstand“ (beide 2018 bei orlanda erschienen) dokumentiert Natasha A. Kelly die Lebenswege Schwarzer Frauen in Deutschland, die übereinstimmend von dem Stress sprechen, den die Einstellungen und das Verhalten „weißer“ Menschen jeden Alters und jeglicher sozialer Stellung für sie mit sich bringen. Der deutsche Pass, der deutsche Geburtsort, eine „weiße“ Mutter oder ein „weißer“ Vater schützen nicht.

Schikanen, Verletzungen, Missachtung

Mit den Berichten über alltägliche Schikanen ließen sich ganze Bibliotheken füllen. Beispielhaft aus „Sisters and Souls“ darf ich Modupo Laja zitieren. Sie ist eine der Autor*innen des 2015 erschienenen „Rassismuskritischen Leitfaden(s) zur Reflexion bestehender neuer didaktischer Lehr- und Lernmaterialien für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit zu Schwarzsein, Afrika und afrikanischer Diaspora“: „Die Außenwelt der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft zwang uns Kindern aufgrund unserer afrikanischen Herkunft alle möglichen Zuschreibungen auf. Unser Kampf bestand darin, sich nicht unterkriegen und entmutigen zu lassen. Das hieß, sich in einem sehr feindlichen Umfeld als Schwarzes Kind zu behaupten und neu zu erfinden. Mich von rassistischen Stigmata zu befreien, war wohl der weitaus schwierigere Teil in den Kindheits- und Jugendjahren, als daran zu denken, ein weibliches Selbstverständnis zu entwickeln.“

Maciré, Studentin der Linguistik und Kulturwissenschaften, beklagt höchst frustriert in „Millis Erwachen“ das Verhalten einer Hochschule, die sich immer schon für sehr fortschrittlich hielt, aber diesen Anspruch offenbar nicht einlöst: „Also absolut jeder Text hat mindestens einmal das N-Wort drin. Ich lese die ganze Zeit nur Scheiß von irgendwelchen weißen Männern von vor 60, 70 Jahren, die, genauso wie heute, geglaubt haben, sie seien die Könige der Welt. Daraus soll ich jetzt irgendwie Lehren ziehen, indem ich dann alles kritisch hinterfrage, aber meiner Meinung könnte ich mir das auch alles sparen und irgendwo an einer anderen Stelle anfangen.“ Offenbar fehlen Frantz Fanon, W.E.B. DuBois, James Baldwin, Audre Lorde und May Ayim auf dem universitären Lehrplan. Im Jahr 2018!

Natasha A. Kelly spricht in „Afrokultur“ in Anlehnung an Grada Kilomba-Feirreira („Plantation Memories – Episodes of Everyday Racism, Münster, UNRAST Verlag, 2008) von einem „Rassendiskurs“, einer „kognitiven Handlungsstrategie“, dessen Kern darin bestehe, Schwarze Menschen als Menschen abzuwerten. „Das wohl bekannteste Beispiel (…) bildet das ‚N-Wort‘, das sich rasant zu einem Produkt eurozentrischer Ent_Wahrnehmung entwickelte und gleichsam einen Teil der europäischen Identität als ‚herrschaftlich‘ stilisiert.“

So entsteht „über die biologisierte Kategorie ‚Rasse‘“ „eine koloniale Ordnung“, die in der Fremdbezeichnung mit dem „N-Wort“ „gleichsam eine Kette von Negativeigenschaften“ umfasst. „Körperliche Merkmale werden zu Bedeutungsträgern einer Differenz, die als Gegenkonstruktion zu dem Eigenen hergestellt wird.“ Anders gesagt: das eigene „weiße“ Selbstbewusstsein wird über die Opposition zu all dem definiert, das angeblich Schwarzen Menschen fehlt. Das N-Wort wird nicht so einfach dahergesagt, es ist nicht Zeichen einer Emotion, es ist wohl bedacht, eben „kognitiv“.

Die Etymologie des „M-Worts“ belegt diesen Zusammenhang. Beim Streit über das Coburger Stadtwappen im Sommer 2020 wird zwar versucht, es vom Namen des heiligen Mauritius abzuleiten, was in diesem Fall durchaus eine Rolle gespielt haben mag. Harald Martenstein verallgemeinerte diese Ableitung am 11. Juli 2020 in seiner Kolumne im Tagesspiegel. Dies ändert jedoch nichts an der Herleitung des Wortes vom griechischen Wort „moron“, übersetzt: „dumm“. Im Englischen ist ein „moron“ ein „Vollidiot“, im Neugriechischen „to moro“ ein unwissendes Baby. Die einem „M*****“ zugeschriebene „Dummheit“ hängt historisch-ideologisch damit zusammen, dass das Christentum alle Menschen, die keine Christ*innen sind, von vornherein für „dumm“ erklärt. Nicht-Wissen wurde als Charaktereigenschaft erklärt, denn wer nicht als Christ*in getauft war, durfte niemals ins Paradies aufsteigen und musste selbst bei einem moralisch vorbildlichen Leben im „Limbus“ verweilen, einem auch „Vorhölle“ genannten Ort. Dort hielten sich nach alter Lehre bis zum Kreuzestod Christi die Patriarchen des Alten Testaments auf, dort verweilten auf Dauer die ungetauften Kinder und dort traf Dante zu Beginn seiner Reise durch Hölle und Fegefeuer seinen Mentor Vergil, der vor dem Paradies von Beatrice abgelöst werden musste. Erst im Jahr 2007 schaffte Papst Benedikt XVI. den „Limbus“ ab und empfahl die ungetauften Kinder der göttlichen Gnade.

Ein bedeutendes und in seinen vielen Absurditäten durchaus unterhaltsames Werk, dass auf diesem Zusammenhang aufbaut, ist das die aus dem 11. Jahrhundert stammende Rolanderzählung im frühen 16. Jahrhundert in einer Art Fantasy-Roman aufgreifende Hauptwerk von Ludovico Ariosto (1475-1534), der „Orlando Furioso“. Während die „M*****“ auf Dauer mit ihrer „Dummheit“ leben müssen, können Christ*innen sie qua Geburt und Taufe überwinden. Im „Orlando Furioso“ verliert der Titelheld zwar angesichts unerfüllter Liebe seinen Verstand und gefährdet damit den Erfolg des Kreuzzugs, doch wird er erlöst, weil es dem findigen Ritter Astolfo mit seinem Reittier, dem Hippogryphen, dem wir bei Harry Potter wiederbegegnen, gelingt, all den verlorenen Verstand von Christ*innen in Flaschen aufgezogen auf dem Mond zu entdecken und den des Orlando seinem vorigen Besitzer wieder auszuhändigen.

Vielleicht noch einige Sätze zur Debatte um das N-Wort in Kinderbüchern. Für Astrid Lindgrens „Pippi in Taka-Tuka-Land“ fand der Verlag eine Lösung. An Stelle des N****-Königs lesen wir jetzt von „Südseekönig“. Ob das so schlau war, wage ich angesichts des Bildes, das in Büchern, Filmen, Reiseführern von der „Südsee“ vermittelt wird, zu bezweifeln. Der Hauch von Kolonialismus bleibt. Zurückhaltung gebieten Beschimpfungen, die mit der „Südsee“ konnotiert sind: „K*****“ im „Westen“ Deutschlands und „F****“ im „Osten“. Vielleicht wäre ein „Piraten-König“ angemessen? Die Männer, die Pippis Vater in der Verfilmung umgeben, sehen in der Tat alle aus wie zu Karneval verkleidete Piraten. Und eine Erklärung über veränderte und sich verändernde Sehgewohnheiten wäre auch nicht schlecht gewesen. Wer die Vergangenheit beschweigt, wird kaum erfolgreich Rassismus bekämpfen können.

Rassistische Sozialisation und „Racial Stress“

Tupoka Ogette zitiert Robin DiAngelo, die den Begriff der „White Fragility“ eingeführt hatte. (Beacon Press, 2018, Untertitel: „Why it’s so Hard for White People to Talk About Racism). Die Strategie heißt „Täter-Opfer-Umkehr“, die Strafe trifft den Boten, nicht den Täter. Tupoka Ogette: „So wirkt das R-Wort in Deutschland: Die Verletzung – und zwar eine tiefe und anhaltende – ist auf der Seite der Täter, die als solche benannt werden. Nein, noch mehr: Es genügt, eine Struktur so zu benennen oder eine Institution wegen einer solchen Handlung zu kritisieren, schon sind die ja nicht einmal persönlich Adressierten in jammervoller und empörter Opferhaltung. Und damit in einem vermeintlichen Recht.“

Alice Hasters berichtet in ihrem Buch „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten“ (München, hanserblau, 2019), dass sie immer wieder feststellen musste: „Selten fühlen sich weiße Menschen so angegriffen, allein und missverstanden wie dann, wenn man sie oder ihre Handlungen rassistisch nennt. (…) Am Ende bin oft ich es, die sich dafür entschuldigen soll, das Thema überhaupt adressiert zu haben. (…) Es ist schon so lang und so massiv in unserer Geschichte und unserer Sprache verankert, hat unsere Weltsicht so sehr geprägt, dass wir gar nicht anders können, als in unserer heutigen Welt rassistische Denkmuster zu entwickeln.“ Was fehlt, ist das, was Tupoka Ogette fordert: „Verantwortung für das eigene Sprechen übernehmen“. Alles nur Missverständnisse.

Zum Glücksversprechen im Deutschland nach 1945 und erst recht nach 1989 gehört es eben, dass man*frau sich in seiner*ihrer „Unschuld“, als „Opfer“ einer Vergangenheit, an die niemand mehr erinnert werden möchte, einrichten. Die Maßstäbe, an denen sich dieses Glück messen lässt, wiederholen den Habitus einer in kolonialistischem Geiste inszenierten Überlegenheit, die das Weißsein“ zu einem moralischen Wert erhebt. Das gilt für die Menschen in der ehemaligen Bundesrepublik wie in der ehemaligen DDR gleichermaßen. Die einen mussten sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen, die anderen litten unter der SED-Diktatur. Beides bleibt offenbar Grund genug, sich auf den Lorbeeren der Zeitenwenden von 1945 und 1989 auszuruhen.

Tupoka Ogette spricht ihre weißen Leser*innen direkt an: „Du bist rassistisch sozialisiert worden. So, wie viele Generationen vor Dir, seit über dreihundert Jahren.“ Dafür sorgen Schul- und Kinderbücher, Alltagsgespräche, Medienberichte, nicht zuletzt über die „Missstände“ in den Ländern des afrikanischen Kontinents, mit denen Schwarze Menschen und People of Color identifiziert werden. Entwicklungshilfe und von den Kirchen beworbene Spendenkampagnen vor Ostern und vor Weihnachten werden zum Ablasshandel, mit dem das eigene reine Gewissen erkauft wird.

Dessen ist sich kaum jemand bewusst, und gerade dies garantiert den Erfolg dieses nicht nur deutschen, sondern letztlich „westlichen“ und weißen „Pursuit of Happyness“: „Kurz, im Alltag spielt die Kategorie ‚Weißsein‘ für fast alle weißen Menschen in Deutschland keine Rolle. Es erscheint unsichtbar, konturlos. Und dennoch und vielleicht gerade durch diese Unsichtbarkeit ist es überall und ständig abgebildet und präsent. Weißsein ist der unsichtbare Maßstab, der Nicht-Weißsein als Abweichung und minderwertige Abstufung darstellt. Und rein historisch ist es auch ganz logisch. Wenn ich mich selbst an die Spitze einer von mir erfundenen Hierarchie setze, dann werde ich zur Norm. Zum Standard. Dann wird ‚ich sein‘ zu ‚normal sein‘.“

Die Wirkung auf Schwarze Menschen und People of Color ist verheerend. Die vielen sogenannten „Mikroaggressionen“, die so „mikro“ gar nicht sind, „führen dazu, dass sich Schwarze Menschen und People of Color in einem permanenten Zustand der Vorsicht befinden, der sich racial stress nennt und sowohl bewusst wahrgenommen wird auch unbewusst vorhanden ist.“ Tupoka Ogette bezieht sich auf Studien des Harvard Centers of Developing Child an der Harvard Universität. Sie beschreibt das „rassistische Dilemma“ des weißen Blicks“, von dem sich Schwarze Menschen und People of Color befreien müssen: „Eine der (Lebens-)Aufgaben für Schwarze Menschen und People of Color ist – meiner Ansicht nach – für sich den ‚weißen Blick‘ zu dekonstruieren. Schwarze Menschen und People of Color werden in eine Welt hineingeboren, die ihnen sagt, wer sie sind, bevor sie selbst eine Möglichkeit hatten, herauszufinden, wer sie sind.“

Alice Hasters fordert, sich vom „White Gaze“, dem „weißen Blick“ zu befreien, Natasha A. Kelly zitiert W.E.B. DuBois‘ Beschreibung des „veil“, den „Schleier“, durch den „weiße“ Menschen Schwarze Menschen sehen und damit – so Frantz Fanon – bewirken, dass diese „nur in Relation zu Weißen Schwarz sein könnten“. Emily Ngubia Kessé, promovierte Neurowissenschafterlin aus Berlin, schreibt in „Sisters and Souls über „Suizid als Effekt von Rassismus in der Schwarzen Community“: „Durch rassistische Stereotype sind Schwarze Menschen gezwungen, sich durch die Augen der Unterdrücker_innen zu sehen.“

Der „Maskottchen-Effekt“

Eine Befreiung wäre erst möglich, wenn die Geschichten und die Geschichte Schwarzer Menschen thematisiert werden. Alice Hasters: „Mehr Chancen, mehr Optionen, mehr Bilder müssen angeboten werden. Mehr Geschichten müssen erzählt werden. Und ganz wichtig: Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben, Herkünften, Körpern, Geschlechtern und sexuellen Orientierungen müssen mitentscheiden. Es reicht nicht BIPoC vor die Kamera zu stellen. Passiert nur das und nichts anderes, kommt es zum Maskottchen-Effekt.“

Alice Hasters referiert die Geschichte stereotypisierter Darstellungen Schwarzer Menschen in der Populär- und Unterhaltungskultur vom „Blackfacing“ in den US-amerikanischen Minstrel Shows über die deren Charakteren nachempfundene „Micky Maus“ und den niederländischen „Gehilfen des heiligen Nikolaus, den Zwarte Pietbis zum schwarz angemalten König der „Sternsinger*innen am 6. Januar“ in Deutschland. In diesen Zusammenhang gehören auch die Zurschaustellung von Menschen in Zoologischen Gärten beziehungsweise die sogenannten „Völkerschauen“, die Carl Hagenbeck in Hamburg einführte und die lange Zeit zum festen Programm Zoologischer Gärten in Deutschland gehörten.

Im Jahr 2005 gab es noch Auseinandersetzungen um den „Völkerschauen“ nachempfundene Ausstellungen in Augsburg und in Schloss Herberstein (Österreich), die Roland Pokoyski 2006 in der Wiener Zeitschrift für kritische Afrikastudien analysierte. Er kam zwar zu dem meines Erachtens wenig nachvollziehbaren Schluss, dass es sich nicht um eine Wiederbelebung der „Völkerschauen“ handelte, sah aber Parallelen, die zeigen, wie stark ein stereotypisierend abwertendes Bild des afrikanischen Kontinents und der dort lebenden Menschen in der Bevölkerung präsent ist. Er erwähnte den „Rückgriff auf Exotik und Exotismen“ in der Werbung und fand in „80 Stichproben weitgehend hemmungslos rassistische Stereotype, die einmal negativ, ein anderes Mal positiv besetzt sein können, jedoch immer ein kontrastreiches Schwarz-Weiss-Bild malen.“ Kern war die „rassis(tis)che Differenzierung zwischen „weißen“ Europäern und „schwarzen“ Afrikanern und die damit in Verbindung stehende Abqualifizierung afrikanischer Menschen als ‚Naturmenschen‘.

Die Geschichte des „Maskottchen-Effekts“ geht auf die Darstellung des „Jim Crow“ in den USA zurück, eine fiktive Figur aus den 1830er Jahren, nach der zahlreiche rassistische Gesetze in den USA benannt sind. In Deutschland könnten man*frau auch vom „Roberto-Blanco-“ oder vom „Billi-Mo-Effekt“ sprechen, die zwar im Unterschied zu „Jim Crow“ reale Personen sind, aber durchaus vergleichbar vorgeführt werden.

Richard Sennett kommt diesem Effekt mit dem Titel seines Buches „The Corrosion of Character“ (Untertitel: „The Personal Consequences of Work in the new Capitalism“, New York 1998) ziemlich nahe. In der deutschen Übersetzung wurde der Titel entschärft: „Der flexible Mensch“ (im Untertitel findet sich wie so oft im Deutschen wieder einmal die Kultur: „Die Kultur des neuen Kapitalismus“). Flexibilität klang um die Jahrtausendwende nun einmal positiv besetzt. Erst etwa zehn Jahre später brachten Anhänger*innen eines neoliberalen Wirtschaftsmodells den Begriff mit einigem Erfolg in Misskredit. „Flexibilität“ ist jedoch nach wie vor etwas, das von den Menschen erwartet wird, von denen der*die Alltagsdeutsche annimmt, sie wären aus einem fernen Land nach Deutschland gekommen. Allerdings geht diese Flexibilität nur in eine Richtung, die Richtung der Integration oder besser noch die der Assimilation, alles im Sinne einer „Kultur“, von der offenbar nicht angenommen werden soll, dass sie jemand berechtigt in Frage stellen könnte. Das ist mit einer nicht-weißen Hautfarbe oder mit einem nach fernen Ländern klingenden Namen nicht gerade leicht und letztlich weder erreichbar noch erstrebenswert.

Menschen, die sich integrieren, assimilieren, werden etwas verlieren, das für sie überlebenswichtig ist. Sie verlieren Teile ihrer bisherigen Identität, müssen sie mitunter sogar verleugnen. Nichts von dem, das sie mitbringen, wird als Wert anerkannt. Sie verlieren kulturelle und soziale Bindungen, erhalten im Gegenzug zwar das Versprechen der Teilhabe an der Gesellschaft, in die sie ein- oder zugewandert sind, doch wird dieses Versprechen nie eingelöst. So passt der von Richard Sennett gewählte Begriff „corrosion“, der Auflösung bis hin zur Unsichtbarkeit.

Bildlich gesprochen: die Vergangenheit eines Menschen rostet wie ein altes Auto, das keine Zukunft hat und mit höherer Wahrscheinlichkeit auf dem Schrottplatz landet als in den Händen eines Liebhabers alter Automobile. Für Ein- und Zugewanderte heißt dies, dass sie allenfalls die Chance erhalten, sich – für die Augen von Liebhaber*innen – als eine Art Pausenclown zu vermarkten. Der „Maskottchen-“ oder „Jim-Crow-Effekt“ klang in den Worten des bayerischen Innenministers so: „ein wunderbarer N****. Dieses scheinbare Lob galt Roberto Blanco, war sicherlich nett gemeint, war es aber nicht. Der Minister hätte Roberto Blanco auch einfach „einen wunderbaren Menschen“ nennen könnten, aber es ging um die Hautfarbe, und so wurde das vermeintliche Lob rassistisch und Roberto Blanco musste zur Kenntnis nehmen, dass Schwarze Menschen – gleichviel wie sie sich anstrengen – allenfalls als Folklore akzeptiert werden.

Nach demselben Prinzip funktioniert die unter „weißen“ Menschen gängige Bewunderung für Schwarze Athlet*innen, Sprinter*innen aus den USA und der Karibik oder Langstreckenläufer*innen aus Kenia und Äthiopien. Alice Hasters: „Der Verdacht bleibt bestehen, dass die Bemühungen, naturgegebene körperliche Überlegenheit Schwarzer Menschen zu beweisen, indirekt darauf abzielen, die geistige Hoheit weißer Menschen zu belegen. Als ob man dann sagen könnte, an diesen ganzen ‚Rassentheorien‘ sei eben doch etwas dran.“ Daraus leiten manche das Vorurteil ab, Schwarze Menschen wären widerstandsfähiger und weniger krankheitsanfällig als „weiße“ Menschen.

Dem „Maskottchen-Effekt“ verfallen auch gebildete Menschen. Ich nahm im Jahr 2004 an einem Workshop zur Umsetzung der Agenda 21 in nordrhein-westfälischen Schulen teil. Die Teilnehmenden waren zu 90 % weiße Frauen, die sich in ihren Arbeitsstellen, vorwiegend Eine-Welt-Häuser und Verbände der Entwicklungszusammenarbeit, für Gerechtigkeit in aller Welt einsetzten, jede Art von (Neo-)Kolonialismus verurteilten, zu dem sie auch die zeitgenössischen neoliberalen Ausprägungen des Welthandels zählten. Die Leiterin des Workshops kündigte eine Pause an, in der ein junger Mann aus Burkina Faso uns „seine reichhaltige Kultur“ vorstellen werde. Der junge Schwarze brachte eine Trommel mit und trommelte. In den weiteren Verlauf des Workshops wurde er nicht eingebunden. Bleibt nachzutragen, dass es sich bei dem Schwarzen um einen promovierten Soziologen handelte.

Die Maafa – in Deutschland unbekannt

Natasha A. Kelly untersucht in „Afrokultur“ Entwicklungslinien des Rassismus in Deutschland, die die Annahme, wir sprächen über etwas, das es in Deutschland nicht gäbe, widerlegt. Ein Kapitel des Buches trägt den Titel „Sprachliche Kolonialität: Entnennen und Ent_Erwähnen“. Es geht dabei nicht nur um Geschichtsvergessenheit, denn es ist viel schlimmer: Vergessen kann man*frau nur etwas, das man*frau einmal gewusst hat. Es geht um Ignoranz, um Nicht-Wissen-Wollen. In den 1920er Jahren wurde die Wiederherstellung des mit dem Vertrag von Versailles untergegangenen deutschen Kolonialreichs von den meisten deutschen Parteien eingefordert, in den 1960er Jahren wussten viele Menschen schon nicht mehr, dass es ein solches Kolonialreich einmal gab. Alleine der damalige Status des heutigen Namibia war noch als koloniales Residuum präsent. In Geographiebüchern und Schulatlanten war zu lesen, dass dieses Land, „Südwestafrika“, unter südafrikanischer Verwaltung stand. Ältere Menschen sprachen immer noch von „Deutsch Südwest“ und Heino sang in Windhuk vor begeisterten Nachfahren der deutschen Kolonialisateur*innen die deutsche Nationalhymne mit allen Strophen.

Josephine Apraku, Expertin für rassistische Diskurse in Geschichtsschulbüchern, charakterisiert Schulbücher in Deutschland als „eindimensionale Erzählung“ (in Sisters and Souls): „Schulbuchwissen richtet sich mit seinen Inhalten und Identitätsangeboten an weiße (heterosexuelle) Jungen und junge Männer.“ Das, worüber niemand spricht, existiert eben einfach nicht, zumindest nicht in dem von Schulen gestalteten Gedächtnis junger Menschen. Andererseits ist das Nicht-Ausgesprochene ständig präsent, beispielsweise in den vielen aufgrund ihrer Straßennamen „afrikanisch“ genannten Stadtvierteln. Entweder tragen diese Straßen den Namen eines in Afrika gelegenen Landes oder eines der deutschen Forscher oder Kolonialbeamten, die für die Verbrechen des deutschen Kolonialregimes verantwortlich sind. Die Straßennamen vermittelten „Kolonialromantik“ und „eine nationale Heroisierung von Kolonialverbrecher_innen“. Und warum die Kolonialwarenläden, die es in den 1960er Jahren noch an allen Ecken und Enden bundesdeutscher Städte gab, so hießen, wusste schon damals kaum noch jemand. Exotische Früchte, Kaffee, Kakao – all das wurde schon damals selbstverständliches Angebot der Lebensmittelläden.

Tupoka Ogette: „Dass Deutschland Kolonien hatte, ist etwas, was wir Deutschen quasi kollektiv aus unserem Gedächtnis gestrichen haben. Wenn ich Student*innen frage, welche Verbindungen es zwischen Deutschland und Tansania historisch gesehen gibt, schauen mich mindestens zwei Drittel der Gruppe mit ausdruckslosen Gesichtern an. Und ich verstehe auch warum. Dieser Teil der deutschen Geschichte wird im Geschichtsunterricht nicht gelehrt. Und wenn, dann in einem Nebensatz wie: ‚Oh, Deutschland hatte nur ganz kurz und nur ganz wenige Kolonien. Die Engländer waren da viel schlimmer.‘ Unser Happyland. Oh, und nur für den Fall, dass du Dich gerade in die Gruppe meiner Student*innen mit den ausdruckslosen Gesichtern einreihen willst: Deutschland war von 1885 bis 1918 – also vor den Briten – Kolonialmacht in dem damaligen ‚Deutsch-Ostafrika‘, einem Gebiet, das in etwa doppelt so groß war wie das damalige Deutsche Reich.“

Bekannt ist vielleicht noch die Formel vom „Platz an der Sonne“, mit der Kaiser Wilhelm II. beklagte, dass die Deutschen bei der Verteilung der Kolonien zu kurz gekommen wären. Zitiert werden durchaus die Methoden britischer, französischer, niederländischer oder belgischer Kolonialisateure, aber die Deutschen? In Berlin soll es Mitte der 1880er Jahre eine Konferenz gegeben haben, in der die damaligen Großmächte und die, die gerne welche werden wollten, die Welt südlich des Mittelmeers untereinander aufteilten?

Alice Hasters: „Es gibt einen Begriff für die Verbrechen gegen Menschen afrikanischer Abstammung, den jedoch kaum jemand kennt: Maafa. Dieser Begriff aus dem Swahili bedeutet ‚Große Katastrophe‘. Der Genozid an den Herero und Nama macht nur einen Bruchteil der Opfer der Maafa aus.“ Für (fast) alles gibt es heute Statistiken, für die Maafa nicht: „Wie viele Menschen während der Maafa umgekommen sind, ist schwer zu schätzen. Die Toten wurden nicht gezählt oder dokumentiert, außerdem gibt es keine Einigkeit darüber, wann oder ob sie aufgehört hat.“

Afrikanische Geschichte im „Happyland“

Josephine Apraku fordert „Multiperspektivität“. „Schulbuchwissen, dass wie jede andere Form von Wissen keinen Anspruch auf Vollständigkeit und Allgemeingültigkeit erheben kann, soll durch eben diese Multiperspektivität infrage gestellt und in Ansätzen kritisiert werden.“ Nicht nur „in Ansätzen“! Es gibt eine Reihe von Empfehlungen und Beschlüssen der KMK, in denen gerade diese „Multiperspektivität“ gefordert wird, doch bleibt sie in der Regel frommer Wunsch, wenn diejenigen, die in den Ländern die Lehrpläne schreiben, die wiederum die Grundlage der Schulbücher sind, sich im Geschichtsunterricht nach wie vor an der chronologischen Abfolge der Ereignisse in Deutschland orientieren, jedoch keinen thematisch orientierten Geschichtsunterricht zulassen.

Gäbe es beispielsweise einen Themenblock „Kolonialgeschichte“, der durch einen weiteren Block zur Geschichte afrikanischer Hochkulturen ergänzt würde, wäre es sicherlich leichter, „Multiperspektivität“ zu schaffen. Afrikanische Geschichte gab und gibt es im deutschen Geschichtsunterricht nicht, weder vor noch nach der Kolonisierung durch die Europäer*innen. Die Lehrpläne deutscher Schulen ignorieren nach wie vor jede Geschichte von Völkern und Ländern in Afrika, Asien und Südamerika. Indigene Völker erscheinen als Unterdrückte oder als Folklore, nicht in ihren eigenen kulturellen Leistungen. In der prä-kolumbianischen Zeit gab es sie für die Europäer*innen einfach nicht und das, was die sogenannten „Entdecker“ vorfanden, war einer näheren Auseinandersetzung nicht wert, denn diese Menschen waren keine Christ*innen. Der eurozentrische Blick der deutschen Lehrpläne ist durchaus dem Absolutheitsanspruch des Christentums geschuldet, das nicht als eine im Orient entstandene Religion wahrgenommen wird, sondern als genuin „weiße“ Religion schlechthin.

Natasha A. Kelly zitiert W.E.B. DuBois: „We went from the 16th century characterization of ‚people without writing‘ to the 18th and 19th century characterization of ‚people without history‘, to the 20th century characterization of ‚people without development‘ and more recently, to the early 21st century of ‚people without democracy‘.“ „Kultur“ – diesen hohen Anspruch erfüllen in den Augen des eurozentrischen Blicks auf die Welt – nur Völker mit Schrift, eigener Geschichtsschreibung und Erfolgen in der Entwicklung zu einem kapitalistischen Land. Dass es verschiedene Formen der Geschichtsschreibung, der Kommunikation und der Schrift geben beziehungsweise gegeben haben könnte, wurde nie bedacht, und so ist es nicht verwunderlich, dass die Römer, Griechen und Ägypter der Antike die einzigen nicht-deutschen Völker sind, die ihren Platz im deutschen Geschichtsunterricht gefunden haben.

Afrika bleibt das „fremde“ Land, ganz in der Tradition der „weißen“ Aufklärung und nachfolgender Philosophie in Deutschland. Die Botschaften einer Schwarzen Aufklärung hingegen sind bis heute nicht in Hochschulen, Schulen und Medien angekommen. Natasha A. Kelly: „Denn im Gegensatz zu Hegel, der in seiner Vorstellungswelt das Fremde in Afrika lokalisiert, ist für Fanon das Fremde eine Fremdbeschreibung seines Selbst, das aus weißer Perspektive ent_erwähnt und ent_visualisiert bleibt.“

Eine Ausnahme ist die Geschichte der Versklavung Schwarzer Menschen in den USA. Sie war und ist in der Tat ein Thema, allerdings vorwiegend im Kontext des Sezessionskriegs von 1861 bis 1865. Aber sie ist ein amerikanisches und kein deutsches Thema. Schauen wir genauer hin, gibt es jedoch in Deutschland auch hier wieder nur den „weißen“ Blick auf die Geschichte. Das allgemeine Bild in der Öffentlichkeit wurde in Deutschland in hohem Maße durch den in seiner gesamten Anlage rassistischen Film „Vom Winde verweht“ beeinflusst, vielleicht noch von „Onkel Toms Hütte“. Die Wirklichkeit der Sklaverei und ihre nach wie vor sicht- und fühlbaren Folgen spielt in deutschen Lehrplänen keine Rolle. Deutsche Student*innen schauten in den 1960er Jahren nach Vietnam, nicht jedoch nach Afrika. Und wenn sie in die USA schauten, weckte die Weigerung von Muhammad Ali, als GI in Vietnam zu kämpfen, mehr Aufmerksamkeit als alle Schriften von Martin Luther King, James Baldwin oder Malcolm X zusammengenommen. Populär unter Student*innen war vielleicht noch Angela Davis, aber nicht als Schwarze Frau, sondern als antiimperialistische Kämpferin.

Das passte alles gut in den antikapitalistischen und antiimperialistischen Kampf, dem man*frau (vor allem man) sich Ende der 1960er Jahre und manche auch noch heute verschrieben hatten und haben. Vielleicht ist sogar die Hypothese erlaubt, dass der in Deutschland latente und immer wieder neu auflebende Anti-Amerikanismus nichts anderes als der Versuch ist, die eigenen von Deutschen begangenen Verbrechen, die Shoah ebenso wie den Völkermord an Sinti und Roma sowie an den OvaHerero (in der Regel verkürzt „Herero“ bezeichnet) und Nama, die Kolonialverbrechen sowie den alltäglichen Antisemitismus, Antiziganismus und Rassismus nicht thematisieren zu müssen.

Die US-Verbrechen wogen und wiegen in den Augen vieler Deutscher eben schwerer, eine weitere Variante der Schuldverschiebung und des „Pursuit of Happyness“ in unserem „Happyland“. Das gute Gewissen, das sich daraus ergibt, dass andere viel Schlimmes getan hätten und tun, hilft „Happyland“, Sklaverei zu ignorieren, wenn sie nur jede Migration von Afrika nach Europa verhindert. Natasha A. Kelly in „Afrikultur“: „Der Global Slavery Index hat berechnet, dass es heute mehr Sklav*innen gibt als zu Zeiten, in denen Menschenhandel noch legal war. 2017 filmte CNN, wie angekettete Schwarze Männer in einer Halle in Libyen versteigert wurden als würden wir uns wieder im 19. Jahrhundert befinden. Das Gerede über ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘, die sich am ‚Reichtum‘ Europas bedienen wollen, ist in Anbetracht der Vergangenheit einfach nur lächerlich. Doch die Reaktion in Europa: Grenzen schließen. Wegschauen. Nationalstolz. So tun, als ob man nichts damit am Hut hätte, und weiterhin Kaffee trinken, Schokolade essen, Gold und Diamanten, Smartphones und Tablets kaufen.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Christiane Bainski danke ich für ihre Beratung bei der Abfassung des Textes.)