„Todeskälte des Blicks“
Eine Reise in das Archiv unterdrückter Literatur der DDR
„Man lebte in einem verriegelten Land. Letzten Endes ging es um so etwas wie Takt, um etwas, das gewahrt und geschützt werden musste, wenn in Zeiten der Angst überhaupt noch etwas stimmen sollte. Es war der geheime und doch wirkmächtige Gegenstoff zum ‚Neuen Menschen‘, der jedes und alles zu überwinden gedachte, um als strahlender Held und Sieger die gleißende Sonnenbahn der Zukunft zu stürmen.“ (Ines Geipel in: Zensiert, verschwiegen, vergessen – Autorinnen in Ostdeutschland 1945-1989)
Diese Sätze beziehen sich auf eine Runde von Autor*innen, die sich um Henryk Bereska (1926-2005) in Kolberg (polnisch: Kołobrzeg) traf. Henryk Bereska dokumentierte viele dieser Begegnungen in seinen Tagebüchern, den Kolberger Heften, von denen Ines Geipel und Joachim Walther sel.A. eine Auswahl in ihrer zehn Bände umfassenden Anthologie „Die Verschwiegene Bibliothek“ veröffentlichten (Frankfurt am Main / Wien / Zürich, Edition Büchergilde, 2007). Die Sätze hätten auch jede andere Begegnung, jede andere Einsamkeit in den Zeiten einer Diktatur, wie die DDR eine war, treffend beschrieben.
Gegen das Vergessen
Im Rückblick mögen sich manche Einstellungen, Hoffnungen oder Befürchtungen relativieren, auch wenn zu einer solchen Relativierung kein Anlass besteht. Schlimmer noch: manche Relativierung ist nur möglich, weil das, was relativiert wird, nicht einmal mehr erinnert wird, sondern einfach verdrängt oder vergessen. Manchmal hinterlässt Erinnerung Spurenelemente, doch auch diese lassen sich verdrängen oder verschweigen. Traumata berühren nur die Traumatisierten, wer davon hört, winkt müde ab, lass es gut sein. Letztlich ereilt manche Stimme ein zweites Verstummen, nach dem Verstummen in der Zeit der Diktatur das Verstummen, das all diejenigen bewirken, die das erste Verstummen ignorieren. Dies erlebten Autor*innen, deren Bücher in der Zeit des Nationalsozialismus verbrannt und geächtet wurden. Manchen gelang die Emigration, viele überlebten den Terror nicht, viele überlebten, aber verloren jede Aufmerksamkeit in der Welt, die sie verlassen mussten.
Dies erlebten auch Autor*innen in der DDR. Wer sich jedoch auf die Geschichte der DDR einlässt und sie nicht im Taumel des 3. Oktober 1990 in die Archive verbannte und allein dort belässt, kann Spuren und Folgen des Verstummens in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen aus verschiedenen Perspektiven verfolgen. Ines Geipel (*1960) notierte zur nach über 20 Jahren möglichen Veröffentlichung des Romans „Weißer als Schnee“ von Sylvia Kabus (*1952): „Dem Trauma DDR folgte das Trauma Nachwende.“ (Ines Geipel, Zensiert, verschwiegen, vergessen – Autorinnen in Ostdeutschland 1945-1989, Düsseldorf, Artemis & Winkler, 2009)
In dem Staat, dessen Führung und deren Partei vom „Neuen Menschen“ träumten und diesen mit aller Gewalt durchzusetzen trachteten, gab es Menschen, die diesen Traum nicht teilten oder vielleicht auch nur ihren eigenen individuellen Beitrag zu diesem Traum leisten wollten. Ihre von der Staatsdoktrin abweichenden Gedanken versuchte der Staat mit der Institution, die sich durchaus im martialischen Wortsinn zu verstehen als „Schwert und Schild der Partei“ verstand, zu unterbinden. Diese Institution, das Ministerium für Staatssicherheit, in verkleinerter, fast verniedlichender Diktion Stasi genannt, betrachtete sich als letzte und verbindliche Instanz oberster und in ihrem Urteil unfehlbarer Literaturkritik. Sie entschied, was die Bürger*innen der DDR lesen und schreiben durften und was nicht, wer veröffentlichen durfte, wer nicht und wer in welcher Form auch immer aus dem Verkehr gezogen werden sollte.
Es gab sicherlich einige prominente Autor*innen, die sich mit der Stasi arrangierten, aus welchen Gründen auch immer, durchaus im Sinne des von Martin Sabrow eingeführten Begriffs des „Fortschrittsgedächtnisses“, das im Nachhinein zum „Arrangementgedächtnis“ mutierte, das die Folgen des „Diktaturgedächtnisses“ zumindest abmilderte. Ein Beispiel ist das Schicksal von Stefan Heyms Versuch, die Tage um den 17. Juni 1953 literarisch zu verarbeiten. Sein Buch „Der Tag X“ erschien nicht, später gab es eine modifizierte Version mit dem Titel „Fünf Tage im Juni“. Dieter Schiller (*1933), in den Jahren 1976 bis 1990, mit einer Unterbrechung von etwa sechs Jahren Stellvertretender Direktor des Zentralinstituts für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, verfasste im Jahr 2003 die Studie „Ein ungedrucktes Buch als Ärgernis – Stefan Heyms (1913-2001) Roman ‚Der Tag X‘ und die Parteiprominenz der SED 1960-1965“, nachlesbar in dem 2019 in der Edition Schwarzdruck erschienenen Sammelband seiner und seiner langjährigen Kollegin und Ehefrau Leonore Krenzlin (*1934) Aufsätze und Rezensionen „Rückblick auf ein verlorenes Land – Studien und Skizzen zur Literatur der DDR“.
Vielleicht hätte der Titel des Sammelbandes auch „Rückblick auf ein vergessenes Land“ lauten können, vielleicht wäre auch „verdrängt“ ein passendes Attribut gewesen. Aber wie auch immer: der Kern ist die Frage, wie die DDR mit unliebsamen Äußerungen umging. Dazu gehörte auch die bewusste Ignoranz: Dieter Schiller berichtet vom Bemühen Stefan Heyms, mit dem damaligen Ministerpräsidenten Otto Grotewohl (1894-1964) ins Gespräch zu kommen. Dies misslang: „Wie es scheint, ist es nicht zu einer solchen Aussprache gekommen, denn Grotewohl schickte das Manuskript am 17. August (d.i. 1960, NR) zurück, nach der Lektüre von nur zwei Dritteln des Textes. Man darf das wohl so interpretieren, dass er eine vollständige Lektüre demonstrativ verweigerte. Für das Buch sehe er keine Notwendigkeit, schreibt er in seinem Antwortbrief, der Tag X sei eine Episode, die keinerlei entscheidenden Umschwung hervorgerufen habe und eine solch schwerwiegende Bewertung nicht verdiene. Besonders die sogenannten Fehler der Regierung seien überbewertet, die gesamte Betrachtung gehe davon aus, etwas müsse wiedergutgemacht oder zu Ende geführt werden.“ Stefan Heym hatte durchaus Fürsprecher in der Partei, doch die Spitzen und ihre Mitstreiter setzten sich durch. Das Buch sei inopportun, „Heym wolle mit seinem Roman der Partei eine Diskussion über den 17. Juni 1953 aufzwingen, eine Fehlerdiskussion eröffnen, und das in einer Situation, wo der Gegner versuche, eine neue Krise dieser Art herbeizuführen.“ Bei weniger prominenten Autor*innen als Stefan Heym hätte dies möglicherweise schon zu einer Anklage wegen Landesverrat führen können. Doch immerhin ließen sich Partei und Stasi auf – ich formuliere mal ganz vorsichtig – gewaltfreie Interaktionen mit dem Autor ein.
Prominente und weniger Prominente
Es lohnt sich, die Geschichte der Kontroverse um Stefan Heyms Buch im Detail nachzuverfolgen, es wäre auch interessant, die verschiedenen Fassungen, die inkriminierten Passagen, die Einlassungen der staatlichen „Literaturkritik“ zu analysieren. Mit der Zeit verschwand das Buch hinter der Person des Autors: „Über den Roman wurde in dieser Verständigungsrunde kaum noch gesprochen, es ging fast nur noch darum, wie man am besten mit Heym umgehen solle.“ Stefan Heym wurde nicht verhaftet, nicht zu Gefängnisstrafen verurteilt, er wurde eben nur kritisiert, die Veröffentlichung des Buches wurde verhindert. Anderen Autor*innen kamen nicht so einfach davon. Nicht nur ihre Werke, sie selbst als Personen wurden vernichtet.
Die Anthologie „Die Verschwiegene Bibliothek“, gibt zehn Autor*innen eine Stimme, denen diese Stimme in den Zeiten der Diktatur verwehrt wurde. Unterstützt wurde die Edition von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, in deren Archiv, dem von Joachim Walther (1943-2020) und Ines Geipel aufgebauten „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“ noch zahlreiche Manuskripte der Lektüre, der Erforschung und der Veröffentlichung harren. Die Reihe war ursprünglich auf zwanzig Bände geplant, zehn erschienen in den Jahren 2005 bis 2009, dann verlor der Verlag – so erzählte mir Ines Geipel – das Interesse. Weitere Autor*innen stellten Joachim Walther und Ines Geipel in dem gemeinsam gestalteten Buch „Gesperrte Ablage – Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945-1989“ vor, das 2015 in erster Auflage im Düsseldorfer Lilienfeld Verlag erschien und im Herbst 2022 mit einem neuen Nachwort wiederaufgelegt wurde. Es bleibt abzuwarten, ob die Feuilletons auf die Neuauflage reagieren. Aber vielleicht reagiert auch der ein oder andere Verlag?
Vorarbeiten zu „Gesperrte Ablage“ bot Ines Geipel unter anderem in ihren Büchern „Die Welt ist eine Schachtel“ (Berlin, Transit Verlag, 1999) und „Zensiert, verschwiegen, vergessen – Autorinnen in Ostdeutschland 1945-1989“ (Düsseldorf, Artemis & Winkler, 2009), auch in ihrer Biographie Inge Müllers (1925-1966) „Dann fiel auf einmal der Himmel um“ (Berlin, Henschel, 2002, 2004 auch als Rowohlt-Taschenbuch erschienen). Am 2. Oktober 2020 schrieb Ines Geipel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift „Hinter Mauern“: „Die dritte Literatur des Ostens bleibt für immer Fragment, ein Splitter, dessen Wirkung bisher nicht zu Ende gedacht ist. Kommt er, der Klondike dieser verfemten Textlandschaft?“ (zitiert in meinem Gespräch mit Ines Geipel, das ich im November 2020 im Demokratischen Salon veröffentlicht habe.)
Henryk Bereska notiert am 22. April 1968 in seinen „Kolberger Tagebüchern“ eine besondere Infamie des Vergessens: „Marcel Proust über Gérard de Neval (sic!): Die griechische Plastik hat durch die akademische Interpretation und die Tragödien Racines infolge der Neoklassiker größeren Schaden genommen, als es die Vergessenheit hätte bewirken können.“ Diese Einschätzung muss man nicht teilen, weder im Hinblick auf Nerval noch auf Racine, aber das Modell ist klar: in einem Land, in dem jede vor der Gründung der DDR geschriebene Literatur, Literatur des 19., des 18. und früherer Jahrhunderte ausschließlich aus der Perspektive des mit der Sowjetunion und der DDR verbundenen Traums vom „Neuen Menschen“ gesehen wird, haben Autor*innen, die diesen Traum nicht oder anders träumen, keine Chance. Für sie wird der staatlich fixierte Traum zum Albtraum.
Gefängnis
Manche der in „Die Verschwiegene Bibliothek“ vertretenen Autor*innen haben nach 1990 auch in anderen Verlagen veröffentlichen können, so beispielsweise Radjo Monk (Christian Heckel *1959) oder Ralf-Günter Krolkiewicz (1955-2008), andere überlebten die DDR nicht wie Edeltraud Eckert (1930-1955), die im Zuchthaus Waldheim bei einem tragischen Unfall starb. Viele verbüßten zum Teil drastische Gefängnisstrafen und straften mit ihrem Leben das berüchtigte Diktum von Peter Hacks (1928-2003) Lügen, dass es nicht möglich gewesen wäre, in der DDR für Literatur ins Gefängnis geschickt zu werden. Joachim Walter zitiert dies in seinem Nachwort zum Band von und über Ralf-Günter Krolkiewicz in „Die Verschwiegene Bibliothek“: „Eine belegbare Wahrheit indes ist, dass es nicht wenige Autoren gegeben hat, die allein ihrer Literatur wegen hohe Haftstrafen erhielten. Texte, pejorativ ‚Hetzschriften in Versform‘ oder simpel ‚Machwerke‘ genannt, vor dem Kadi, die Autoren kriminalisiert und deren Literatur als Corpus Delicti. / (…) Siegmar Faust saß zweimal im Gefängnis, insgesamt 33 Monate. Andreas Reimann, vom Literaturinstitut Leipzig exmatrikuliert, musste danach für vier Jahre ins Gefängnis. Gerald Zschorsch wurde zu fünf Jahren verurteilt, Delikt: das Schreiben und Verbreiten von Gedichten. Der Lyriker Uwe Keller wurde zu fünf Jahren verurteilt, Delikt: das Schreiben und Verbreiten von Gedichten. Der Lyriker Uwe Keller wurde 1981 zu sechs Jahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt. Ebenso Frank Romeiß für 12 Gerichte zu drei Jahren und sechs Monaten. Ralph Arneke schickte seine Manuskripte in die Bundesrepublik und bekam 1984 wegen ‚ungesetzlicher Verbindungsaufnahme‘ ein Jahr und zehn Monate. Rolf Becker, 1980 wegen eines einzigen Manuskripts verhaftet, erhielt fünf Jahre und sechs Monate Haft, 1970 Michael Meinicke zwei Jahre, 1982 Alexander Richter sechs Jahre, Begründung jeweils: ‚staatsfeindliche Hetze‘.“ Ähnliche Listen mit diesen und weiteren Namen finden sich in den anderen genannten Büchern von Ines Geipel und Joachim Walther.
Die Zustände in den Gefängnissen der DDR beschreibt Eva Müthel (1926-1980) in „Für dich blüht kein Baum“ (Frankfurt am Main, S. Fischer, 1957): „‚Was machen Sie da‘, fragte die Wachtmeisterin. / ‚Ich habe aus dem Fenster gesehen.‘ / ‚Das ist verboten! Warum missachten Sie unsere Anordnungen?‘ / Draußen blüht ein Baum.‘ / Die Wachtmeisterin machte ein Gesicht, als zweifle sie an Hannas Verstand. Dann sagte sie langsam, jede Silbe betonend: / ‚Dieser Baum blüht nicht für Sie!‘ / Nein, der Baum im Gefängnishof blühte nicht für sie, eher für die Diebinnen und Mörderinnen, die gegenüber den Politischen viele Vorzüge genossen.“ Das junge Ehepaar, um das es in dem Roman geht, wird wegen des Verteilens von Flugblättern zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
Eva Müthel, die selbst im Jahr 1948 verhaftet, zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, unter anderem in Hoheneck einsaß, aber 1954 anlässlich der Berliner Außenministerkonferenz amnestiert und in den Westen entlassen wurde, schildert eindrucksvoll den Hass, mit dem die politischen Häftlinge verfolgt und schikaniert wurden: „Der Staat, das waren die Blauen, geimpft mit dem Gift des Hasses gegen die politischen Häftlinge, geschult und dressiert in der Vorstellung, kein Verbrechen sei schlimmer als die Auflehnung gegen den Staat. Der Staat, das waren die Arbeitsnormen, die Strafen für geringste Abweichung von der Disziplin, pedantische Verhöre für einen Blick aus dem Fenster oder ein geflüstertes Wort beim Rundgang. Der Staat, verherrlicht in den Büchern, die man ihnen seit einiger Zeit zu lesen gab, rechtfertigte die Übergriffe der Wachmannschaften, ihre Verachtung und ihren Hochmut, Kälte, Spott, Unverständnis und Terror.“
Auch bei Gabriele Stötzer (*1953), ebenfalls eine Autorin, deren Texte Joachim Walther und Ines Geipel in „Die Verschwiegene Bibliothek“ veröffentlichten (Titel: „Ich bin die Frau von gestern“), ist das Gefängnis einer der zentralen Orte und Gegenstände ihrer Prosa und ihrer Gedichte. Mal schreibt sie in der ersten, mal in der dritten Person, mal distanzierend, mal identifizierend. Es ist ein Kampf nicht nur um das physische, sondern auch um das seelische Überleben, ein irritierender,die Persönlichkeit zerrüttender Kampf um „Wahrheit“: „Dass ihre Wahrheit für sie stimmte und dass meine Wahrheit für mich stimmte. Aber dass meine Wahrheit die minderwertigere war, weil sie mich in eine entwürdigende Stellung brachte (ich habe die Entwürdigung an mir gesehen, es war das, was sie mir angetan hatten). Ich wollte selbst im Gefängnis noch objektiv sein. Ich verstand sie.“
Ist ja nichts Politisches
Ralf-Günter Krolkiewcz karikiert die staatliche Paranoia, die Ursache all dieser Schikanen: „Sie gingen von der merkwürdigen Vorstellung aus, unsereiner überfiele die sozialistische Gesellschaftsordnung mit Gedichten wie andere Leute Banken mit Revolvern, nur mit dem Unterschied, dass sie den weniger messbaren Schaden durch Literatur höher veranschlagten als die Schüsse in einer Bank.“ (zitiert nach dem Nachwort von Joachim Walter in Ralf-Günter Krolkiewicz, „Nirgends ein Feuer mehr“, in „Die Verschwiegene Bibliothek“ 2006). Und deshalb sollten wir Texte dieser den SED-Staat gefährdenden Autor*innen lesen, denn, so Ines Geipel (in „Gesperrte Ablage“): „Die Texte der Unveröffentlichten geben Auskunft über den schmalen Grat zwischen Existenz und Schreibexistenz unter der Diktatur.“
In „Gesperrte Ablage“ fasste Joachim Walther in seinem „Angsträume und Literarische Gegenwelten“ überschriebenem Vorwort die Bedingungen, unter denen Autor*innen lebten und schrieben, in folgenden Sätzen zusammen: „Nicht Staatssicherheit und nicht Zensur waren Kern des Übels, sondern eben diese Angst, die als ideologischer Virus in die Innenwelt der Ideen eingedrungen war und dort ihre verheerende Arbeit des Verhinderns vernichtete. Diese tief verinnerlichte Angst war die feinste und zugleich fürchterlichste Wirkung der DDR-Diktatur. Die konkret genannte Utopie war auf dem Weg zum finalen Heil. Die Verhinderer haben dann nichts mehr zu verhindern, da es bereits im Ansatz verhindert worden ist. Die Wortwächter brauchen nichts mehr abzutreiben, weil die Texte ungezeugt geblieben sind. Das verhängte oder selbst auferlegte Denkverbot ersetzt das Druckverbot. Die Selbstzensur das Deleatur.“
Aber wie politisch waren die Autor*innen selbst? Wie politisch dachten sie? Ines Geipel zitiert in „Gesperrte Ablage“ Andreas Reimann (*1946): „Ja, ich wollte auch nie ein politischer Dichter werden. Ich musste lediglich reagieren, wenn Politik sich in mein Privatleben dauernd einmischt.“ Ursula Adam (1922-1979), über die Ines Geipel in „Zensiert, verschwiegen, vergessen“ schrieb, gehörte zu den ersten Autor*innen, die in der jungen DDR verhaftet und vor Gericht gestellt wurden. Sie „schrieb Protestgedichte für die Freilassung ihres Kollegen Gerhard-Rolf Wenzel“, aber: „Ich schrieb ja nichts Politisches.“ So lautet auch die Überschrift des Portraits, das Ines Geipel ihr in „Zensiert, verschwiegen, vergessen“ widmete. Gerhard-Rolf-Wenzel (1921-1950) wurde zu 25 Jahren Zuchthaus verurteilt, ebenso wie Edeltraud Eckert. Auch er starb im Gefängnis. Aus dem Zuchthaus Halle widmete Ursula Adam ihm ein Gedicht, das ihn und die gemeinsame Widerstandskraft mit einem dreimaligen „Wenn wir uns trafen“ beschwört:
„Wenn wir uns trafen,
fühlten wir das Band
von Zwang
und Duldsamkeit
um jedes Herz.
Wenn wir uns trafen,
sprach von Hand zu Hand
ein Lebensdrang,
der stärker als die Zeit
und tiefer war
als jeder Todesschmerz.
Wenn wir uns trafen,
traf der Glaube sich:
Für unser Land
nicht an uns
selbst verderben! –
Und dieser Wille
liegt tief innerlich,
ganz warm und rein
heut über Deinem Sterben.
Körperwelten
Nichts war unpolitisch. In der Diktatur wurde alles Private politisch, in einem erweiterten Sinne der von Carol Hanisch (*1942) geprägten Formel, dass das Private politisch sei. Alles Private wurde politisiert und dies immer aus der Sicht der von der Partei verfügten Parteilichkeit. Entscheidend war, was die staatlich-parteiliche Literaturkritik aus den Texten herauslas. Das, was sie als „zersetzend“ empfand, wurde ihren Maßnahmen der „Zersetzung“ übergeben. Es ging letztlich um die Zerstörung der zu Zersetzenden. Und diese gelang viel zu oft. Günter Ullmann (1946-2009) ließ sich alle Zähne ziehen, weil er befürchtete, die Stasi habe ihm Abhörsonden in die Zähne implantiert. Ursula Adam konnte ihren neugeborenen Sohn nach der Haft nur wiederbekommen, weil sie sich als Informelle Mitarbeiterin verpflichtete. Gipfel der Infamie: die Verfolgten werden zu Komplizen gemacht.
In einer Welt, in der der Staat den Geist durch körperliche, seelische und psychische Folter und Freiheitsberaubung zerstören will, wird der eigene Körper zu Ort und Signal von Widerstand. Eveline Kuffel (1935-1978), die als 15jährige verhaftet wurde und durch mehrere Jugendwerkhöfe geschubt wurde, verwahrloste mit der Zeit – so sahen das ihrer staatlichen Beobachter*innen aus ihrer kleinbürgerlich-sozialistischen Sicht. Leben und Werk waren, sie wurden eins. Sie zerstörte fast alle Texte, die sie geschrieben hatte. Es gab keinen Max Brod, der dies verhinderte. Ines Geipel (in: „Gesperrte Ablage“): „Sicherlich war es Eveline Kuffels poetisches Realitätsprinzip, das die Veröffentlichung ihrer Texte in der DDR unmöglich machte, aber auch ihre unmissverständliche Lebenspolitik“.
Die Stasi diagnostizierte „Feindschaft zur DDR“. „Ihr Verbrechen war, dass sie versucht hatte, sich eine Schreibmaschine zu leihen, um ihre Texte wenn schon nicht in der DDR, dann zumindest in West-Verlagen unterzubringen.“ Eveline Kuffel zog durch die Ostberliner Kneipen, schrieb „zahllose Skizzenbücher, von denen nicht eins erhalten geblieben ist. Irgendwann zog sie los, übers Land. In der Folge entstanden ihre Zigeunerlieder. (…) Der eigene Körper als Gegenzeichen zur bestehenden Macht; Bloßes, Pures Unverstellbares versus Gewalt.“ Eveline Kuffel spielt mit dem Begriff, mit der Bezeichnung „Zigeuner“ und inszeniert sich – so ließe sich dies angesichts der pejorativen Lesart von „Zigeuner“ auch sagen – als Paria. Sie identifiziert sich mit einer verfemten Gruppe von Menschen, sie teilt ihr Schicksal. Ihr Gedicht „Zigeunerlied“ zeigt den einzigen Ausweg, dass Liebe nichts anderes ist als die Bereitschaft, den entstellten, schmutzigen, vernachlässigten, kranken Körper zu respektieren und zu akzeptieren:
Weißt du, Mädchen,
was Liebe ist?
Dich liebt nicht der,
der dich küsst,
nicht der,
der dir Treue schwört,
nicht der,
der damals höflich deine Tasche trug.
Dich liebt der,
der deinen Eimer,
gefüllt mit Dünnschiss
Kotze und Pisse ohne Zaudern in die dreckige
Außentoilette kippt und die noch säubert.
Es ist der,
wenn du hungrig bist,
ein Stück aus seiner Lende schneidet, es brät
und lächelnd schaut,
wie es dir schmeckt.
Nicht der,
der dich küsst Mädchen,
nicht der, der damals deine Tasche trug,
nicht der dir Treue schwört.
Der, der deinen Dreck aufs Scheißhaus trug
ohne Zaudern,
der dir nahm die blöde Scham,
der ist es Mädchen,
der dich liebt!
Ähnliches Verhalten diagnostiziert Ines Geipel bei Henryk Bereska, der zur „Künstlergruppe der Ostberliner „Fünf“ gehörte“ und in der Tat Alkohol in seinen Tagebüchern zu einem zentralen Thema gemacht hat, zumindest bis in die 1980er Jahre: „In seinen Tagebüchern etablierte sich – ähnlich wie bei Eveline Kuffel – eine bestimmende Figur, das Säufer-Ich als Anti-Held. (…) Der Tagebuch-Trinker entlastet sich von jedweder Konformität und wird darin zwangsläufig zum Konterpart des im Land ausgerufenen Arbeiterhelden. Ein so bitterer wie schlauer Gegenstoff, denn Bereskas Torkler würde auf keiner Siegerstraße Figur machen.“ Alkohol als Rückzugsort? Eine Inszenierung als Trinker wie wir sie beispielsweise von Joseph Roth kennen? Über die ab etwa 1955 stattfindenden Treffen des Kreises um Heiner Müller in Lehnitz schreibt Ines Geipel: „Es sind diese endlosen Literatenrunden, lange Abende, an denen viel vom baldigen Kommunismus geredet wird. Im Unendlichsprechen, im Unendlichsitzen und Unendlichtrinken – unter Kiefern und fast slawischem Himmel – kann dieser offenbar leichter als anderswo mit der totalen Freiheit des Menschen übersetzt werden.“ De-Realisierung der Wirklichkeit? Pose oder Zeichen eines existenziellen Leidens? Es kommt vielleicht darauf an…
Sprache in der Diktatur
Henryk Bereskas Tagebücher sind der Versuch, sich dem strangulierenden Druck der Gegenwart zu entziehen, in Texten, die nicht für das gedacht sind, was Literatur eigentlich bräuchte: Öffentlichkeit. Die Gegenwart erlebte er bei einem Treffen des Schriftstellerverbandes am 31. Oktober 1983: „Die meisten benutzten Codeworte aus einer Geheimsprache verstanden sich auf Nuancen. Unter den zwölf Personen waren fast alle in der Partei.“ Ein in Diktaturen durchaus übliches Modell, eine Art Orwell’schen Newspeak. Am 10. Oktober 1988 exzerpiert Henryk Bereska aus einem Text von Małgorzata Szpakowska (*1940), die auch einige Zeit im Gefängnis der Volksrepublik Polen verbringen musste, über Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“: „Die Sprache verhüllt das Verbrechen. Umschreibende Formeln – man sprach nicht von Massenmorden, sondern von der ‚Schaffung neuen Lebensraums‘ und der ‚Endlösung der Judenfrage‘. Die Leute sollten das, was sie taten, nicht mit ihren alten Vorstellungen von Ethik und Moral vergleichen können. Auf diese Weise rettete man sich vor dem Bewusstsein der eigenen Gräuel.“ Am 5. November 1980 schreibt Henryk Bereska: „Was mich immer wieder erstaunt hat, dass große Schriftsteller in urbösen Zeiten – im Krieg, während einer Okkupation oder bei Massenvernichtung – an ihren großen Werken zu arbeiten vermochten, als sei nichts geschehen: Andrzejewksi (sogar Humoresken), Breza, Iwaszkiewicz. Die Dichter sind offenbar näher an der Zeit. Ihre Werke sind vom Unheil der Zeit durchtränkt.“
Wie sich Sprache verändert, wenn sich ein Mensch auf die Diktatur einlässt, sich dann jedoch wieder distanziert und im Grunde ein neues Leben beginnen muss, die eigene Sprache neu entdecken, belegt das Leben von Hannelore Becker (1951-1976), über die Ines Geipel in einem Portrait schrieb, das am 26. August 2020 in der Zeitschrift „Emma“ veröffentlicht wurde: „Nach knapp vier Jahren Zuarbeit für den Geheimdienst bat sie um ihre Entpflichtung. Der Bitte wurde stattgegeben. Dass der Bruch kein äußerlicher war, erzählen ihre Texte. Als müsste etwas erneut gehen lernen, eine neue Sprache lernen. Ihre Gedichte suchen nach Stille, sagen etwas vom Nachdenken über Klang, ermüdete Räume und verformte Zeit. Hannelore Becker hatte Schluss gemacht mit den Voyeur-Nachmittagen, den Verstellungen, den falschen Sätzen, dem vielen Fremden im Eigenen. Doch wohin mit den Stasi-Männern in den lausigen Wohnungen, mit all dem Falschgesagten, Falschgeschriebenen, Falschgefühlten? Und wohin mit dem Bruch, dem Loch, der Leere in sich, dem Selbsthass, dem Ekel vor sich selbst, den Ängsten? Wie zurückfinden, wohin? Mit wem sprechen?“ Hannelore Becker trank, nahm Tabletten, tötete sich selbst.
Die Einsamkeit blieb unüberwindbar, die staatlich betriebene „Zersetzung“ wirkte. Gedichte von Günter Ullmann (1946-2009) sind unter dem Titel „Die Wiedergeburt der Sterne nach dem Feuerwerk“ in „Die Verschwiegene Bibliothek“ nachlesbar, er schrieb die unerfüllbare Bitte, rief um Hilfe, die er von den Angerufenen nicht erhalten konnte: „legt uns nicht den / horizont // um / den hals.“ Die Texte von Günter Ullmann erinnern ästhetisch wie inhaltlich durchaus an einen anderen großen Einsamen und Verzweifelten der Literaturgeschichte. Eines seiner Gedichte trägt den Titel „Paul Celan“:
die sprache ist gesicht
in der verneinung des dichters
die einsamkeit hockt
in der heimkehr der bilder
das gedicht
die wartehalle
für mein verlassenes ich
Sprache der „Wahrheit“
Gefängnis, Haft, physische und psychische Folter, Entstellung, Gegenwelten der Literatur, „Zersetzung“ sind Gegenstand dieser Literatur, sodass auch die Gefahr entsteht, dass Literatur der in der DDR unterdrückten, misshandelten Autor*innen im Nachhinein ausschließlich als Zeitdokumente gelesen werden, ihr ästhetischer Wert jedoch ignoriert wird. So kann es geschehen, dass eine Autorin wie Jutta Petzold (auch Ruth Cordouan, *1933), deren Schreibweise mich an Lewis Carroll oder James Joyce denken lässt, in Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft unbekannt bleibt. Auch sie, die in den Tagen, in denen ich diesen Essay schreibe, seit etwa 50 Jahren in einem Heim im Berliner Norden lebt, vernichtete vieler ihrer Texte. Texte, die die Vernichtung überlebten, sind ausschließlich bei Ines Geipel und Joachim Walther beziehungsweise in dem „Archiv der unterdrückten Literatur“ zu finden. Leider kam ihr eigener Band in „Die Verschwiegene Bibliothek“ nicht zustande.
Ines Geipel schreibt (in: „Gesperrte Ablage“): „Die fast zeitgleich in der ‚Jungen Kunst‘ debütierenden Christa Wolf und Jutta Petzold verwiesen in ihren Erstlingen auf strikt auseinandergehende ästhetische Wege: Wenn Petzold mit überbordendem Sprachwitz foppte und spöttelte, folgte Christa Wolfs ‚Moskauer Novelle‘ linear dem von Lukács geforderten ‚volkspädagogischen Wesen der Katharsis“. Wenn Petzold assozierte, von Bild zu Bild hüpfte, kollagierte und die Wörter aus den Fugen springen ließ, blieb die frühe Christa Wolf auch im Ästhetischen eins zu eins auf der Höhe ihres Konflikts.“
Ines Geipel zitiert Jutta Petzold mehrfach (in: „Die Welt ist eine Schachtel“, in „Gesperrte Ablage“ und in „Zensiert, verschwiegen, vergessen“, auch in dem schon zitierten Artikel für die „Emma“), ich wähle aus diesen Texten ein Beispiel, das mich im Duktus an den prophetischen Ton in Friedrich Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ erinnert: „All dies ist alt. Höchstens für mich immer noch nicht alt, so alt ich bin. Ich bin die Weberin am Webstuhl der Ewigkeit. Meine Leichtigkeit täusche mich nicht über meinen Verstand hinweg. Aber meine Weltverbesserungen sind mir ein zärtliches Spiel, denn so göttlich bin ich. Der alte, dummgute, böse Brummbär, er brummt. Er brummt, und ich haue ihm aufs Schurrbart-Suahelihaar. Da zittert sein Katzenharr, schnurrt und wird weich. Mit Absicht hat er die schlechteste aller möglichen Welten geschaffen. Aber nun komm ich. Eine Million Jahre ist nichts. Zeit ist relativ, sagt Einstein. Und ich sage euch: Wahrlich, wahrlich, ihr werdet euch wundern.“ Jutta Petzold kombiniert mehrere Wörter in einem, sorgt für Assoziationen, die zu entschlüsseln ein so gut wie unmögliches Unterfangen ist, ähnlich wie dies James Joyce in „Finnegan’s Wake“ tat: „Gepelltes Laub Kirchgenick. Solmitur versuch’s nur. Glaudiärwoitek Rückfall. Sormatik mesodratik. Muskolosamt verfremdeter Effekt. Stanislaus merowingsting Lapiszula todremtokwi halun. Ich kenne deine stille hoffnungslos verlorene Welt.“
Manch bürgerlicher Rezipient im sogenannten „Westen“ mag an solchen Texten scheitern, sie ablehnen, Unverständnis zeigend. Wer hinter allen Texten, die er nicht versteht, eine böse Absicht wittert, die ihn und alles, wofür er steht, in Frage stellt, wird solche Texte verbieten, verhindern, die Autor*innen aus dem Verkehr ziehen wollen, unabhängig davon, ob er sein Literaturverständnis völkisch oder kommunistisch begründet. So wie der Mensch zerbricht, zerbricht auch die Sprache, doch gleichzeitig entsteht aus dem Zerbrechenden, dem Zerbrochenen etwas Neues, etwas, das sich durchaus mit dem anspruchsvollen Begriff der „Wahrheit“ charakterisieren ließe, wie ihn Gabriele Stötzer in dem oben zitierten Text verwandte. Ines Geipel (in: „Zensiert, verschwiegen und vergessen“): „Wurde die Sprache um sie herum ideologischer und blutleerer, weitete Jutta Petzold sie aus, vervielfachte und sprengte sie. Verlangte die DDR-Literaturpolitik positive Figuren aus der Arbeitswelt, verteidigte sie ihre umso engere Bindung an die verfemte Moderne. Hieß es gusseiserner Realismus, schrieb die Dichterin Parodien oder Grotesken und trumpfte ordentlich auf: mit Traum, Spiel, Wut, Versatzstücken aus anderen Sprachen, Yin und Yang, Sequenzen aus diversen Notensystemen, Bezügen aus der Antike oder ausgewählten Einstein-Sätzen. Tatsächlich gab es alles: unbändige Sprachlust, Dialogisches und Fantastisches, Demontage und Kollage.“
Bei Jutta Petzold ist die Welt der Diktatur, des Staates eine männliche Welt. Dies heißt nicht, dass es nicht genügend Frauen gegeben hätte, die mit der Stasi gemeinsame Sache machten, um ihnen bekannte oder gar benachbarte Autor*innen zu denunzieren, zu diskriminieren, zu „zersetzen“. Aber der gesamte Staat hatte ein durchaus männliches Bild: Jutta Petzold ironisiert in ihrer Analyse die Männern offenbar einzig zugänglichen Optionen von Geschwafel und Gewalt (in allen drei genannten Büchern von Ines Geipel zitiert): „Männer plätschern im Seichten. Sie versuchen das Unlösbare mit hundert Ideen auszuflicken. Oder sie ziehen das Schwert. Es fehlt ihnen die Verwachsenheit mit den Ursachen. Ihre Ohren sind nicht demütig genug, um das Gras zitternd aufsprießen zu hören.“
Diese männliche Dominanz ist nicht nur Habitus des Staates. Der Fall Inge Müller zeigt vielleicht am deutlichsten, wie ein Mann, in diesem Fall Heiner Müller (1929-1995), die Kreativität seiner Frau ausbeutete, davon profitierte, dass er sie fast 30 Jahre überlebte und dafür sorgen konnte, dass schließlich nicht mehr sichtbar ist, was sie zum gemeinsamen Werk beigetragen hat. Ines Geipel (in: „Zensiert, verschwiegen, vergessen“). Die Literatur von Inge Müller verschwand nicht in den Archiven der Stasi, für ihr Verschwinden sorgte ihr sie überlebender Ehemann. Ines Geipel nennt den zynischen Grund: „Wenn es um seinen Theaterruhm ging, wurde Inge Müller im Sinne der Brecht’schen Materialästhetik, für die der geistige Urheber als vernachlässigbar galt, nach und nach ausradiert.“
Existenzbeweise
Gert Neumann (*1942) und Heidemarie Härtl (1943-1993) waren ein Paar. Die Stasi versuchte sie gegeneinander aufzubringen, mobilisierte Nachbar*innen, um sie zu verunsichern. Gert Neumann wechselte bei der Heirat den Namen und nannte sich Gert Härtl, aber auch dies änderte nichts an der Erreichbarkeit für die Stasi. Die Staatssicherheit versuchte das Verhältnis zwischen den beiden Härtls „gezielt zu zerstören“. Die Härtls hielten dem Druck weitestgehend stand, bis die Ehe dann doch scheiterte. Ines Geipel schreibt im Nachwort des in „Die Verschwiegene Bibliothek“ 2006 erschienenen Romans „Puppe im Sommer“ von Heidemarie Härtl: „Die massiven ‚Zersetzungsmaßnahmen‘ zeigten Wirkung, was die Tschekisten einmal mehr veranlasste, den Druck gegenüber den Isolierten zu erhöhen: Heidemarie Härtl wurde zu fingierten Befragungen und Gegenüberstellungen bei der Polizei nach Halle einbestellt Gert Härtl auf seinen Spaziergängen von sinistren Gestalten angegriffen, mitunter zusammengeschlagen.“ Der anfängliche Misserfolg führte zu einem „Strategiewechsel“. Zum Ziel wird „eine mögliche zielgerichtete Persönlichkeitsveränderung“, so der auf sie angesetzte „IM Horst“.
In der DDR erschien von Heidemarie Härtl nur ein Buch, im Jahr 1977 „Ach, ich zog den blauen Anzug an“. Ihre Tagebücher wurden noch nicht veröffentlicht. IM Horst berichtete von Erfolgen der Strategie zur Verunsicherung und bezeichnete Gert Härtl als „Nervenbündel“. Das war Ende der 1970er Jahre. Heidemarie Härtl versuchte dennoch, „für sich ein neues Schreibkonzept zu entwickeln, weg von den Gegenständen, wie sie scheinbar waren, weg von der vereisten Sprache, hin zu einer tastenden, inventarisierenden Prosa der poetischen Wirklichkeit“. Joachim Walther zitiert in „Gesperrte Ablage“ den von Hubert Witt (1935-2016) eingeführten Begriff der „Poetik des Widerstandes“ (Hubert Witt, Hg., „Poetik des Widerstandes – Versuch einer Annäherung“, das Buch dokumentiert ein von der Friedrich-Ebert-Stiftung gefördertes Symposium Ende Oktober 1991 in Leipzig), es ging um einen „poetischen Mehrwert“.
Im Roman „Puppe im Sommer“ skizziert Heidemarie Härtl ein solches poetisches Programm in den Gedanken einer der Hauptpersonen, des Christian Gerber. Diese Gedanken leiten den Roman schon im ersten Satz ein. Heidemarie Härtl lässt ihn denken und hoffen: „Ich möchte in Relevanz leben.“ „Relevanz“ für sich oder „Relevanz“ für andere, oder beides? Das bleibt offen. Er denkt über ein mögliches poetisches Programm nach, reflektiert aber gleichzeitig auch die Möglichkeit seines Scheiterns: „Wir müssen den Raum schaffen, seine Tiefe – wie auf Bildern: Der Raum ist in der Tiefe der Sprache. Das eigene Denken erproben, der Versuch Wissen auszusprechen, könnte ein Weg dahin sein. (…) Die Rettung des Lebens besteht in der Rettung der Würde der Gegenstände – Straßenpflaster, Ziegelsteine, Zimmertüren, Plastebetten, Wolldecken. (…) Die Wörter allein geben eine Masse her. Letztendlich muss jeder für seine eigene Würde eintreten, sich gegen Herrschaft wehren. Plötzlich bemerkte er, dass Axel Bauers Sprechen auf die Teilung irgendeiner Schuld hinauslief. Eine bequeme Methode, aus jeder Begegnung unverletzt hervorzugehen, dachte er. Ich hasse die zweigeteilten Sätze. Und solange jene kleinen Wörter auftauchen, die aus Schwarz Weiß machen, ist an etwas Gemeinsames in der Zukunft nicht zu denken.“
An der Vereinzelung änderte dies unbeschadet diverser Kontakte mit Gleichgesinnten nichts. Es bleibt – so fährt Christian Gerber in seinen einsamen Reflexionen fort – die „Einsamkeit dieser Wohnung“, der einzige verbleibende „Raum für die Sprache“. Aber es fehlt das, was Literatur oder einfacher gesagt: Sprache – in den Worten Joachim Walthers – „zum Leben braucht, wie der Mensch die Luft zum Atmen: Öffentlichkeit.“ Tagebücher, Gedichte existieren viel zu oft nur als Monologe, sie sind keine Dialoge und wenn sie als Dialog konzipiert sind bleiben sie in engen Kreisen, ohne Auflage, ohne Veröffentlichung. Erst recht gilt dies im Gefängnis. Ines Geipel in „Gesperrte Ablage“: „Was aber bedeutet das, wenn das Schreiben ein Schreiben hinter Mauern ist? Die eigene Sprache als Existenzbeweis“.
Ein Leben ohne Papier, denn das wurde den Häftlingen oft genug über längere Zeit verwehrt, sodass Texte nur im Kopf aufbewahrt, vielleicht auf Toilettenpapier gekritzelt werden konnten: „Die gefangene Kopfsprache als ortlose Schrift.“ In der scheinbaren Freiheit der Wohnung ist jedes geschriebene Wort eine Gefahr: „Zur Angst vor dem, was greifbar ist, gehört auch die Chronik der Notunterkünfte bedrohter Manuskripte, denn das rein Physische der Texte konnte durchaus zur Gefahr für die Schreibenden werden.“ Alle Schreibenden werden mehr oder weniger zu den „Book-People“, die in Ray Bradburys 1953 erschienener Dystopie „Fahrenheit 451“ in ihren Köpfen die verbotene Literatur bewahren. Eine Widerstandsbewegung entstand und entsteht so nicht: „Literarischer Widerstand in der DDR tradierte sich nicht. Er musste sich immer wieder neu entwickeln, aus sich selbst heraus.“
Aber was bleibt? Vielleicht orientiert ein Gedicht von Anna Achmatowa (1889-1966). Ich fand es in der September-Ausgabe 2022 der Zeitschrift Politik & Kultur. Regine Möbius (*1943), Vorsitzende des Arbeitskreises gesellschaftlicher Gruppen der Stiftung Haus der Geschichte, Autorin des Buches „Schneisen der Zeitgeschichte – Erich Loest als politischer Mensch“ (Halle, Mitteldeutscher Verlag, 2019) wählte es als Motto eines Statements mit dem Titel „Wahrheit und Lüge – Image-Pflege als Weltpolitik“:
Ich trink aufs zerstörte Haus,
Auf mein Leben, das schlimm war und rauh,
Auf die Einsamkeit zu zweit,
Auf dich auch trink ich eins –
Auf den Lügenmund, der mich verriet,
Auf die Todeskälte des Blicks,
Auf die grausam grobschlächtige Welt,
Auf Gott, der sich fern von mir hält.
Es ist letztlich der Terror des Traums vom „Neuen Menschen“, den Diktaturen gerne träumen, der aber für alle, die ihn nicht träumen möchten, zum Albtraum wird. Ines Geipel schrieb über diesen Albtraum in „Schöner Neuer Himmel“ (Stuttgart, Klett-Cotta, 2022). Das Schicksal des Radrennfahrers Jacob ähnelt durchaus den Schicksalen der Autor*innen, deren Persönlichkeiten und deren Werken Ines Geipel und Joachim Walther in ihren Büchern und nicht zuletzt in „Die Verschwiegene Bibliothek“ das gaben, was Autor*innen brauchen: Öffentlichkeit.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2022, Internetzugriffe zuletzt am 7. Oktober 2022, das Titelbild zeigt einen Ausschnitt aus Arina Nâberezhneva, St. Petersburg, „Chain Swallowing Artist“, Rechte bei der Künstlerin. Ines Geipel danke ich für die vielen Gespräche, die mir eine Welt eröffneten, von der ich als Mensch aus dem „Westen“ lange nichts ahnte.)