Traumzeit im Traumland

Die Buchreihe „Forum: Österreich“ im Berliner Verlag Frank & Timme

„Stellen Sie sich Folgendes vor: Wenn die Zeit irreal ist, wie wir heute wissen, dann sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eigentlich gleichzeitig vorhanden. Ähnlich einem dreidimensionalen Block lassen sich die vermeintlich aufeinanderfolgenden Momente lesen als nahe aneinanderliegend. Das heißt; die Zeit wird eher zu einer Raumrichtung als zu etwas, das die Dinge je verändern würde. Es ist kompliziert.“ (Raphaela Edelbauer, Das flüssige Land, Stuttgart, Cotta’sche Buchhandlung, 2019)

Diese Sätze spricht die Physikerin Ruth Schwarz in Raphaela Edelbauers Debütroman. Ruth ist nach längerer Irrfahrt mit einem ziemlich heftig lädierten Auto in Groß-Einland angekommen, das es auf den Landkarten gar nicht gibt, aber der Ort ist, an dem ihre Eltern begraben werden wollten, und trifft im Gasthof zur Tausendjährigen Eiche einen Maskenhändler, der ihr von der Traumzeit der australischen Aborigines erzählt: „Somit wird die ganze Welt eigentlich Metapher. Sie sind Metapher und ich in unserer gesamten Leiblichkeit.“ Eigentlich hören die beiden einander kaum zu, doch Ruth kauft zwei Masken zu einem überzogenen Preis, der ihrem Gesprächspartner ermöglicht, seine Schulden im Gasthof zu begleichen. Ruth Schwarz weiß noch nicht, dass sie in Groß-Einland bleiben wird, dieser Enklave autarker Anti-Demokratie unter der fürsorglich-autoritären Herrschaft einer alten Gräfin, ein Ort, der vielleicht auch ein wenig an die Stadt Perle erinnert, die ein anderer kakanischer Autor, Alfred Kubin in seinem Roman „Die andere Seite“ als einen Sehnsuchtsort entstehen ließ, den die Ankunft eines erzkapitalistischen Amerikaners zusammenbrechen ließ.

Perle und Groß-Einland mögen vielleicht so aussehen, wie viele Nicht-Österreicher*innen sich dieses Land vorstellen. André Heller nannte Österreich in seinen Performances gelegentlich das „Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten“. Nicht gerade zufällig philosophierte Robert Musils in seinem Magnum Opus über „Möglichkeitssinn“ und „Wirklichkeitssinn“. Solche Gedanken finden wir in der österreichischen Literatur immer wieder, so beispielsweise bei Franz Blei, dessen unvollendeter Mallorca-Roman „Das trojanische Pferd“ im Frühjahr 2023, kurz vor der Leipziger Buchmesse 2023, in der Österreich „Gastland“ war, als 17. Band der von Helga Mitterbauer und Jacques Lajarrige im Verlag Frank & Timme herausgegebenen Reihe „Forum: Österreich“ erschien. Der Roman war verschollen, ob die fehlenden Teile jemals gefunden werden, bleibt zu hoffen. Auch bei Franz Blei vermischen sich Wirklichkeiten, Möglichkeiten, Träume, Zeiten, Räume: „Der Mensch lebt eben nicht nur vom Brot, viel wichtiger ist ihm, dünkt ihm sein Traum, seine Illusion, irgendwas aus der realen Welt seiner physischen Existenz nichts Ableitbares.“

Das Spiel der Wirklichkeiten und Unmöglichkeiten hat jedoch bei Autor*innen wie Franz Blei einen ernsten Hintergrund, ein Leben als eine Art Displaced Person in den Zwischenwelten des Exils. Vielleicht ist das Kakanien des Robert Musil immer die Bezugsgröße, die aber ebenso immer wieder von dem Maghrebinien des Gregor von Rezzori konterkariert wird. Was bleibt, wenn nicht die österreichische „Traumzeit“?

Jacques Lajarrige, Helga Mitterbauer und Norbert Reichel am 28. April 2023 auf der Buchmesse in Leipzig. Foto: Georg Deutsch

Über diese Dinge haben am 28. April 2023 Helga Mitterbauer, Jacques Lajarrige und Norbert Reichel auf der Leipziger Buchmesse im Rahmen einer Vorstellung der Buchreihe „Forum: Österreich“ gesprochen. Der Demokratische Salon dokumentiert dieses Gespräch in einer gleichzeitig resümierenden und erweiternden Form.

Zur Präsenz österreichischer Literatur

Norbert Reichel: Der erste Band der Reihe „Forum: Österreich“ erschien 2015. Inzwischen sind es 17 Bände. Weitere sind in Vorbereitung. Was finden wir in der Reihe?

Helga Mitterbauer: Unsere Reihe enthält Monographien, Sammelbände und Text-Editionen. Der Schwerpunkt liegt auf Tagungsbänden, Hochschulschriften und schwer zugänglichen Originaltexten, beispielsweise erschien im Jahr 2023 der Exilroman „Das trojanische Pferd“ von Franz Blei (1871-1942).

Jacques Lajarrige: Zu den Editionen zählen auch die Briefwechsel zwischen Andreas Latzko (1876-1943) und Stefan Zweig (1881-1942) sowie die Erinnerungen von Andreas Latzko. Zu den Monographien gehören Bücher über Joseph Roth und Elfriede Jelinek, in Sammelbänden befassen sich Expertinnen und Experten aus verschiedenen Ländern mit Marlen Haushofer und Franz Blei.    

Norbert Reichel: Interessant ist der Doppelpunkt zwischen Forum und Österreich. Österreich ist einerseits das Forum, andererseits der Gegenstand des Forums.

Jacques Lajarrige: Das war eine Idee des Verlags. Es gibt auch weitere Foren, beispielsweise gibt es das Forum: Bulgarien und das Forum: Rumänien.

Norbert Reichel: Man könnte vielleicht sagen, dass der Verlag mit diesen Reihen eine Lobby für „Kleine Literaturen“ im Sinne von Gilles Deleuze und Félix Guattari geschaffen hat (in: Kafka – Für eine kleine Literatur, aus dem Französischen von Burkhart Kroeber, Frankfurt am Main, edition suhrkamp, 1976). „Klein“ soll dabei nicht als wertender Begriff verstanden werden, das Wort bezieht sich auf die Größe eines Landes oder einer Region. Vielleicht hat das aber auch ein wenig mit der vorhandenen oder fehlenden Aufmerksamkeit für diese Literaturen zu tun? Herausgeber*innen der Reihe „Forum: Österreich“ sind eine in Brüssel lehrende Österreicherin und ein in Toulouse lehrender Franzose. Ich habe den Eindruck, dass die österreichische Literatur in Belgien, in Frankreich erheblich stärker rezipiert und erforscht wird als in der deutschen Germanistik. In Ihrer Reihe schreiben Autor*innen in deutscher, englischer und in französischer Sprache.

Helga Mitterbauer: Es ist schon sichtbar, dass über die österreichische Literatur sehr viel aus dem Ausland geforscht wird. Das hängt mit der Situation an den Universitäten zusammen, an denen viele Professuren, die sich mit Österreich beschäftigt haben, nicht mit diesem Schwerpunkt nachbesetzt wurden. Wichtige Zentren der Austriazistik befinden sich heute in Frankreich, Belgien, den USA und in Großbritannien. In Frankreich, Großbritannien und den USA werden mehr und bedeutendere Fachzeitschriften der Austrian Studies herausgegeben als in Österreich selbst oder in Deutschland. In Belgien beschäftigt sich der überwiegende Teil der germanistischen LiteraturwissenschaftlerInnen mit österreichischen Fragestellungen. In diesem Fall hat das neben ästhetischen auch historische Gründe, die mit der Verbindung der beiden Länder in der Geschichte zusammenhängen.

Norbert Reichel: Und wie kommt es zu dem hohen Interesse an österreichischer Literatur in Frankreich?

Jacques Lajarrige: Es kommt vor allem daher, dass die Germanistik seit den 1970er Jahren in Frankreich andere Wege eingeschlagen hat. Zuvor beschränkte sich die französische Germanistik auf Deutschland. Peu à peu interessierte sich die französische Germanistik für die DDR, ein Schwerpunkt, den es nach wie vor gibt, dann gab es viele Auslandsösterreicher, die an den französischen Universitäten Karriere machten und die österreichische Literatur sozusagen mitgebracht haben. Dazu gehören auch Exil-Österreicher wie Felix Kreissler (1917-2004), der im Jahr 1975 die Zeitschrift Austriaca gegründet hat. Die Zeitschrift erscheint zwei Mal im Jahr. Ich bin inzwischen geschäftsführender Herausgeber dieser Zeitschrift.

Es gab sogar eine Zeit, in der etwa 70 Prozent der Dissertationen in der Germanistik einen österreichischen Schwerpunkt hatten. Das hat sich inzwischen wieder etwas geändert. Es gibt wieder mehr deutsche Themen, auch nach wie vor zur DDR. Es entstand mit der Zeit ein Gleichgewicht, vor allem nach der großen Ausstellung zur Wiener Moderne im Centre Beaubourg.

In Frankreich gab es eine richtige Österreichwelle. Nicht nur an den Universitäten, auch in der allgemeinen Öffentlichkeit Die Franzosen sind große Österreichfans. Stefan Zweig ist einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren in Frankreich.

Helga Mitterbauer: Auch Hermann Broch (1886-1951). Ich würde sogar sagen, er ist dort populärer als in Österreich.

Norbert Reichel: Und populärer als in Deutschland.

Helga Mitterbauer: Das denke ich sowieso (alle lachen). Es gab kürzlich allerdings einige Broch-Tagungen in Deutschland.

Norbert Reichel: Vielleicht haben Franzosen und Belgier einen anderen Blick auf die österreichische Literatur?

Helga Mitterbauer: Es gibt diesen Blick gerade auf den Avantgarde-Aspekt der österreichischen Literatur, während man in Deutschland stärker auf das Erzählen setzt.

Norbert Reichel: Verändert hat sich mit der Zeit auch die Situation österreichischer Verlage.

Helga Mitterbauer: Dies hängt eng mit der Geschichte des Verlagswesens zusammen und geht zurück in das Jahr 1886, als die Habsburger Monarchie nicht der Berner Konvention beigetreten ist. Deshalb entwickelte sich in Österreich keine Verlagsszene. Bücher, die auf dem Gebiet der Monarchie gedruckt wurden, konnten jederzeit nachgedruckt werden, weil für sie kein Urheberrecht galt. Dies zeigt sich schön am Beispiel Samuel Fischer (1859 – 1934), der in Ungarn geboren worden war und in Wien gelebt hatte, bevor er seinen Verlag in Berlin gegründet hat. Es war einfach viel vorteilhafter bei deutschen Verlagen zu veröffentlichen. Für Dramatiker war es wichtig, in Münchner oder Berliner Theatern aufgeführt zu werden, zumal die Wiener Szene noch sehr konservativ war. Avantgarde hatte es schwer, dort auf die Bühnen zu kommen. Der deutschsprachige Markt ist immer ein gemeinsamer Markt gewesen.

Norbert Reichel: Und mit den Nazis kam der Bruch?

Helga Mitterbauer: Dann kam das Exil. Eine bestimmte Gruppe von österreichischen ebenso wie von deutschen Autoren und Verlegern wurde ausgegrenzt, es gibt eine ganze Reihe von Verlegern, die ins Exil gehen mussten. Nach dem Krieg kamen dann einige wieder zurück, beispielsweise Zsolnay aus der Schweiz, der längst lebende Verlag in Wien, der 1924 gegründet wurde (seit 1996 gehört der Verlag zu Hanser, nach wie vor auch unter dem Namen Zsolnay). Der Gründer des Verlags, Paul Zsolnay, stammte übrigens auch aus Budapest.

Österreichische Literatur – inter- und transnational

Norbert Reichel: Was ist überhaupt österreichische Literatur? Wir haben bis 1918 Kakanien, dann die Zeit bis 1938, anschließend die Nazi-Herrschaft über Österreich, Exil-Literatur, dann die Nachkriegszeit. Mal so gefragt: Ist Franz Kafka (1883-1924) ein österreichischer Autor?

Helga Mitterbauer: Darüber streitet man nicht mehr in der Fachwelt. Kafka ist als Autor eine transnationale Erscheinung. Er ist österreichischer, deutscher, tschechischer und jüdischer Autor. Wir finden gerade bei Franz Kafka etwas für die österreichische Literatur Typisches: die Ironie. Franz Kafka hat über seine eigenen Texte gelacht und wenn er sie im Freundeskreis vorlas, haben sich alle kräftig amüsiert. Ähnlich verhält es sich übrigens auch mit Elfriede Jelinek, deren ironische Qualität allzuoft überlesen wird. Sie ist bei Weitem nicht so ernst wie sie rezipiert wird, was die historischen und sozialen Abgründe, in die sie uns in ihren Werken Blicken lässt, nicht reduziert, sie aber durch eine weitere Ebene bereichert. Diese Spannung zwischen Tragik und Ironie finden wir bei vielen österreichischen Autorinnen und Autoren.

Norbert Reichel: Und heute bei Autor*innen wie Raphaela Edelbauer (*1990). Vielleicht würde Kafka so wie sie schreiben, wenn er heute lebte. Manches erinnert mich auch an den berüchtigten britischen Humor, so à la Monty Python. Verstehen Deutsche das nicht? Rhetorische Frage. Führen wir den Gedanken fort, den wir mit Franz Kafka eingeleitet haben. Wie österreichisch sind Prager Autorinnen und Autoren, die deutsch schreiben?  

Jacques Lajarrige: Nehmen wir Franz Werfel (1890-1945). Ein Prager, der kein Tschechisch kann. Mit Alma Mahler (1879-1964) verheiratet, einer gebürtigen Wienerin. Er war ein gebürtiger Österreicher wie auch Franz Kafka. Von Werfel kann man schon sagen, er war von Anfang an Österreicher. Politisch und historisch betrachtet. Wir haben noch keinen Werfel-Band in unserer Reihe, aber das wäre kein Problem.

Helga Mitterbauer: Sie haben mit Recht nach der Nachkriegsliteratur gefragt. Die Jahrhundertwende um 1900 ist die erste Epoche, in der österreichische Literatur internationale Aufmerksamkeit gewinnt. Ich habe natürlich auch an Franz Grillparzer (1791-1872) gedacht, aber zu dessen Lebzeiten war das Inter- oder Transnationale der kakanischen Literatur noch nicht so stark etabliert wie zur Jahrhundertwende. Wenn man sich die Autoren und Autorinnen – überwiegend leider Autoren – anschaut, hat da jeder irgendwie Wurzeln im Bereich der Monarchie, außerhalb des nach 1918 übrig gebliebenen Restgebiets Österreich. Dies gilt insbesondere für die Vertreter der Wiener Moderne, die ihre Verbindungen, ihre Wurzeln in vielen Regionen Zentral- und Süd-/Osteuropas haben. Joseph Roth (1894-1939) zum Beispiel, den Sie so schätzen, schauen Sie, wo der überall war. Wohin gehört Roth? Man kann nicht festmachen, wohin er gehört. Er gehört zu vielen Orten.

Norbert Reichel: Vielleicht erschließt sich Österreich im Spannungsfeld von Kakanien und Maghrebinien? Manche sagen, es erkläre sich von der Peripherie, nicht aus dem Zentrum. Das betrifft natürlich in ganz besonderer Weise die Autorinnen und Autoren, die ins Exil flüchten mussten. Joseph Roth sowieso, Stefan Zweig, der sich in Brasilien das Leben nahm. Eine andere Frage ist natürlich die nach dem Publikum der Autoren und Autorinnen im Exil.

Helga Mitterbauer: Das lässt sich an Franz Blei so schön zeigen. Es ist daher auch so wichtig, Franz Blei in unsere Reihe aufzunehmen. Auch als Exil-Autor in einer Zeit, in der viele Exil-Autoren veröffentlicht werden. Der Veröffentlichung des Romanfragments „Das trojanische Pferd“ werden 2023 noch ein Tagungsband und eine Biographie in Briefen folgen. 

Gerade in jüngster Zeit ist das Interesse an der Exilzeit wieder stark gestiegen, Denken Sie an den autobiographischen Roman „Der Kampf um das Schloss“ (Berlin / New York, Berlinica, 2022) von Julius Meier-Graefe (1867-1935), der stark rezipiert wurde. Wo Meier-Graefe allerdings stark autobiographisch schreibt, bemüht sich Franz Blei einen psychologisch-essayistischen Roman nach dem Modell von André Gide (1869-1951) oder James Joyce (1882-1941) zu verfassen. Seine Bedeutung erfassen wir vielleicht, wenn wir uns seine Nähe zu Robert Musil und vor allem zu Hermann Broch in Erinnerung rufen. Musil betonte, bevor die beiden sich entzweit haben, ohne Franz Blei hätte es viel weniger Geist in der Welt gegeben. Seine extreme Belesenheit und sein Spürsinn für literarische Innovation schlagen sich deutlich im Roman nieder, der sehr diskursiv gestaltet ist und die Bedrohungen des Faschismus hinter dem Versuch, einen „normalen“ Alltag zu leben, spürbar werden lässt. Seine Figuren haben keinen Handlungsspielraum, man könnte sie als postmoderne Ausgesetzte lesen, denn alles, was sie aufzubauen versuchen, ist von vorneherein aussichtslos, weil es von den Frankisten / Faschisten / Nationalsozialisten zerstört werden wird.

Der Schauplatz Mallorca verweist nicht nur auf eine wenig beachteten Exilort, an dem sich deutsche Flüchtlinge vor dem aufkommenden Nationalsozialismus ab 1930 niedergelassen haben, sondern der Ausbruch des Bürgerkriegs 1936 macht diesen Ort generell zu einem Laboratorium des Fliehens vor politischer Verfolgung, dem die vergebliche Hoffnung eingeschrieben ist. Blei hat den Roman ja erst 1940/41 fertiggestellt, als er in Südfrankreich hungernd auf die Ausreise in die USA gewartet hat und reihum seine Bekannten und Freunde in Lagern interniert wurden.

Eine weitere Qualität hat „Das trojanische Pferd“, weil darin gezeigt wird, dass die Exilsituation den Menschen nicht per se zu einem besseren Wesen macht: Durch das multiperspektivische Erzählen, wo eine Geschichte erst von einer Figur, dann aus der Sicht anderer Figuren erzählt wird, wird nichts beschönigt, wie das in anderen Exilromanen immer wieder passiert: Die Exilanten halten nicht etwa besonders zusammen, sondern ihre Abgründe und Oberflächlichkeit bzw. Kleingeistigkeit werden auf erschreckende Weise sichtbar gemacht. Die Figuren des Romans sind wahrlich keine Helden mehr!

Von der Peripherie ins Zentrum der Aufmerksamkeit

Norbert Reichel: Sie sorgen dafür, dass Autorinnen und Autoren aus der Peripherie ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt werden.

Helga Mitterbauer: Wenn wir eine Linie in unserem Programm sehen wollen, könnte man schon sagen, dass wir uns sehr deutlich um Autorinnen und Autoren kümmern, die viel mehr Aufmerksamkeit verdienten, …

Jacques Lajarrige: … aber an den Rand gedrängt wurden!

Helga Mitterbauer: Zum Beispiel Soma Morgenstern (1890-1976). Das Buch „Von Galizien ins Exil“ ist der erste Band unserer Reihe. Das trifft auf Gregor von Rezzori (1914-1994) zu, auf Andreas Latzko. Raoul Schrott (*1964) gehört dazu. Stefan Zweig gehört natürlich nicht dazu, aber wir haben durchaus eine politische Intention, dass das Exil ein wichtiges Thema ist. Wir haben Österreich-Frankreich-Beziehungen, Richard Beer-Hoffmann (1866-1945) im Kontext der Wiener Moderne, die ja nicht aus Arthur Schnitzler (1862-1931) oder Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) bestanden hat, sondern aus vielen weiteren Autorinnen und Autoren des Umfelds.

Mit Vicki Baum (1888-1960) und Marlen Haushofer (1920-1970) haben wir Autorinnen, auf die das genauso zutrifft: Vicki Baum war eine ganz wichtige Autorin der 1920er Jahre. Die Romane von Vicki Baum sind alle als günstige Taschenbücher wieder aufgelegt worden. In den USA wurden ihre Bücher mit prominenten Schauspielerinnen und Schauspielern verfilmt, beispielsweise mit Greta Garbo. Die Weimarer Republik war eine Epoche, in der erstmals viele Frauen, darunter zahlreiche Österreicherinnen, geschrieben haben. Manche – so auch Vicki Baum – wurden als Kolportage abgewertet, aber inzwischen kommt es zunehmend zu einer Rehabilitation.

Elfriede Jelinek ist zwar Nobelpreisträgerin, aber da gibt es natürlich auch den Versuch der politischen Verdrängung von rechter Seite in Österreich. Die Arbeit von Jessica Ortner in unserer Reihe über Elfriede Jelineks „Die Kinder der Toten“ zeigt hervorragend, wie einer bekannten Autorin nicht zugestanden wird, dass sie so unangenehme Themen wie die unaufgearbeitete Verstrickung von Österreich in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft und den Holocaust offen anspricht. Einer der Gründe für die Beliebtheit österreichischer Literatur ist das Kontroversielle, das Unangepasste, die fehlende Angst vor Streit. Das trifft auf Jelinek zu, auf Handke in anderer Weise. Es trifft auf alle Autorinnen und Autoren in unserer Reihe in unterschiedlicher Form zu.

Norbert Reichel: In der Reihe Forum: Österreich haben Sie zwei Tagungsbände Marlen Haushofer gewidmet. Sie musste erleiden, dass man ihre Bücher als „Hausfrauenliteratur“ abwertete. Das tat sogar ihr Mentor Hans Weigel (1908-1991), der sie sonst als Mentor sehr unterstützte. Ich halte sie für eine Autorin mit einem durchaus avantgardistischen, zuweilen sogar surrealen Anspruch.

Jacques Lajarrige: Marlen Haushofer ist einerseits bekannt durch ein Buch wie „Die Wand“, das auch verfilmt wurde, allerdings erst lange Jahre nach ihrem Tod. Sie steht oft im Schatten von Ingeborg Bachmann, ist aber nicht weniger bedeutend. Ich denke an Romane wie „Die Mansarde“ oder „Die Tapetentür“. In „Die Mansarde“ ist die weibliche Hauptperson und Erzählerin mit einem Mann verheiratet, der jeden Sonntag in das Heeresgeschichtliche Museum in Wien geht und sich dort jedes Mal dieselben Vitrinen anschaut. Das ist sein Umgang mit der Vergangenheit und mit der Gegenwart.

Norbert Reichel: Vielleicht sind die Erzählerin mit ihrem Rückzug in die Literatur und ihr Ehemann zwei Seiten einer Medaille? Ich lese Marlen Haushofer als feministische Autorin. Ist sie dies?

Helga Mitterbauer: Das ist sie. Sie schreibt sehr zurückhaltend, sie hätte sich vielleicht selbst nicht als Feministin bezeichnet. Der Begriff war in den 1950er und 1960er Jahren noch nicht so sehr verbreitet. Aber ihre Themen sind eindeutig feministische Themen.

Innovative Avantgarde

Norbert Reichel: Sie haben in ihrer Reihe einige sehr unangepasste und originelle Autorinnen und Autoren. Ich denke an Maélys Vaillant, die in ihrer Arbeit über Vicki Baum die Hotelsituation mit der Methodik von Michel Foucault (1926-1984), dem Gedanken der „Heterotopie“, analysiert hat. Aus meiner Sicht sehr gelungen.

Helga Mitterbauer: In unserer Reihe sind sehr gute junge Literaturwissenschaftlerinnen vertreten, die einerseits sehr belesen sind, andererseits Theorien perfekt durchschauen und weiterentwickeln. Nach der Studie über die Hotelromane Vicki Baums konzentriert sich Maélys Vaillant gerade auf ein umfangreicheres Korpus der Exilliteratur

Sie arbeitet dabei mit dem Konzept der Heterotopie von Michel Foucault, bei dem es um die Mehrdeutigkeit von Orten geht. Das Hotel im Werk von Vicki Baum ist auch Gefängnis, zumindest für diejenigen, die es nicht verlassen können, weil sie keinen anderen Ort mehr haben. Es ist ein Übergangsort für diejenigen, die abwarten, ob der Ort, an den sie sich flüchten wollen, sie aufnimmt. Es ist der Ort der heimlichen Liebesbeziehungen von Wirtschaftsleuten. Die verschiedenen Bedeutungen von Orten für die Menschen, die sich dort aufhalten, hat Foucault in seinen Vorträgen und Büchern immer wieder beschrieben. Ich habe das Thema der Heterotopie auch an anderen Beispielen beschrieben, bei Gregor von Rezzori, der an allen oder an gar keinem Ort zu Hause war; auch das Exil, das wir bei Franz Blei mit seinem Schicksal auf Mallorca schon angesprochen haben, wäre ein „anderer Ort“, also eine Heterotopie.

Norbert Reichel: Ich möchte noch einmal auf die Aufarbeitung der NS-Zeit in Österreich zurückkommen, zentrales Thema bei Elfriede Jelinek, bei Ingeborg Bachmann (1926-1973), eher verhalten, aber auch präsent bei Marlen Haushofer. Damit kämen wir zur Heterochronie als Gegenstück oder Ergänzung der Heterotopie.

Jacques Lajarrige: Sehr deutlich auch bei Gregor von Rezzori. Obwohl er sich maliziös immer wieder als Dilettanten und teilnahmslosen Beobachter seiner Zeit bezeichnet hat, stellt sein Werk einen komplexen Prozess der historischen Verortung und Verhandlung dar, vor allem gegenüber dem „Anschluss“ und Hitlers Rede am Heldenplatz, die er live erlebte. Als „Epochenverschlepper“ hat er sich in seinen Romanen und anderen autobiographischen Texten immer wieder mit der österreichischen Geschichte und seinen vergangenen Ansichten auseinandergesetzt.

Das gilt für die „Denkwürdigkeiten eines Antisemiten“, für sein „Greisengemurmel“, und noch mehr für seine eigentliche Autobiographie „Mir auf der Spur“, in der er mit sich hart ins Gericht geht. Seine Zeit als Rundfunkberichterstatter bei den Nürnberger Prozessen gibt jedoch ein ganz anderes Bild von Rezzori.

Diesen noch weitgehend unterbeleuchteten Aspekt seines Schreibens dokumentiert der in unserer Reihe erschienene Band „Rezzoris Tanz mit dem Jahrhundert“. Einer der Texte befasst sich mit der historisch und politisch hochbrisanten Medienproblematik, wobei dazu mehrere Ebenen in Augenschein zu nehmen sind. Zuerst Rezzoris Rundfunkarbeiten und seine Bedeutung als Pionier des Rundfunks nach 1945, insbesondere seine Tätigkeit beim von der englischen Bestatzungsmacht neu organisierten NWDR (Nordwestdeutscher Rundfunk). Und über den historisch-biographischen Aspekt hinaus Rezzoris Eignung für den Rundfunk, die sich durch seine schriftstellerische Aktivität vor und während des Zweiten Weltkriegs in Berlin erklären lässt.

Die Mitarbeit am Medium Rundfunk prägte tatsächlich seine Schreibpraxis in den Nachkriegsjahren entscheidend mit, dermaßen, dass es zu einer effektiven Verschränkung von literarischer Fiktion, soziologischer Analyse der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft und Zeitgeschichte führte. So etwa in den von ihm verantworteten, gestalteten oder geleiteten Sendungen beim NWDR wie dem „Kabarett der Zeit“, oder der von Axel Eggebrecht übernommenen Sendung „Um den Runden Tisch“, die mitunter brandaktuellen Themen gewidmet war und Rezzoris Teilnahme am Urteilsspruch der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse oder an der wichtigen Nachtprogramm-Serie zum Nationalsozialismus begründet.

Helga Mitterbauer: Indirekt ist die Aufarbeitung der NS-Zeit in Österreich auch bei Soma Morgenstern vorhanden.

Jacques Lajarrige: Soma Morgenstern widmete sich der erste Band unserer Buchreihe. Wie zahlreiche andere Intellektuelle seiner Generation der schmerzhaften Erfahrung des Exils ausgesetzt, flüchtete er 1938 aus Wien, das den Ausgangspunkt seiner Irrwege durch Frankreich markierte, die ihn unter anderem nach Paris, Toulouse und Marseille führten, bevor er letztlich Zuflucht in New York finden konnte. Dort verstarb er 1976, ohne sich im deutschsprachigen Raum einen richtigen Namen als Schriftsteller gemacht zu haben. Morgensterns Tätigkeit als Musik-, Literatur- und Theaterkritiker, vor allem für die Frankfurter Zeitung, seine Kontakte zu bedeutenden Persönlichkeiten seiner Zeit (G. Scholem, W. Benjamin, Th. W. Adorno, F. Kafka, R. Musil, J. Roth, A. Berg u.a.) und die Briefwechsel, die zum Teil aus diesen Kontakten entstanden, sind jedoch ganz bedeutende Aspekte, weil sie oft Anlass waren zu interessanten Analysen der politischen Lage im Austrofaschismus und des Aufstiegs des Nationalsozialismus. Die Prägnanz und Wiederkehr gewisser Ereignisse und markanter Persönlichkeiten (Brand des Justizpalastes, Anwachsen der Spannungen zwischen Heimwehr und Republikanischem Schutzbund, Seipel, Dollfuß etc.) zeugen nicht nur von einem scharfsinnigen Blick, sondern auch von einer bemerkenswerten politischen Hellsicht.

Wohin geht die Reise?

Norbert Reichel: Wird das Thema Aufarbeitung der NS-Zeit in Österreich auch in weiteren Bänden eine Rolle spielen?

Jacques Lajarrige: Wir bereiten einen Band über H.C. Artmann (1921-2000) vor, in dem dieses Thema eine Rolle spielen wird. Ich hoffe, dass der Band bis zum Herbst 2023 vorliegt. Bei ihm spielt dies eine sehr verspielte Art und Weise Kriegsverarbeitung, auch in den barockisierenden Texten aus den 1950er und 1960er Jahren eine Rolle. In seinem 1955 veröffentlichten „Manifest“ hat er zum Beispiel auch gegen die Wiederbewaffnung Österreichs unmissverständlich protestiert.

Helga Mitterbauer: In Vorbereitung ist auch ein Band über Marlene Steeruwitz (*1950), ein weiterer über Elfriede Gerstl (1932-2009). Bei Elfriede Gerstl geht es um die kleinen Formen, um den Versuch, so kurz wie möglich zu schreiben, um so auf das jahrelange Verstecktsein während der Zeit des Nationalsozialismus zu verweisen. Bei Marlene Steeruwitz geht es auch um die feministische Seite. Das verbindet sie mit Elfriede Jelinek. Das Thema der beiden ist die latente Präsenz des Nationalsozialismus gerade im Kontext der Unterdrückung der Frau.

Norbert Reichel: Die Leipziger Autoritarismusstudie bezeichnet den Anti-Feminismus – meines Erachtens treffend – als „Brückenideologie“ auf der rechten und rechtsextremen Seite. Das war nun eine deutsche Studie, aber so viele Unterschiede wird es da gegenüber Österreich nicht geben.

Helga Mitterbauer: Rechtsextremismus basiert grundsätzlich darauf, dass eine als „wir“ definierte Gruppe ihre Identität damit begründet, andere, insbesondere schwächere auszugrenzen und zu verfolgen, üblicherweise sind das in erster Linie Frauen, Juden und Migranten.

Norbert Reichel: Ein – ich wage den Begriff – geradezu prophetischer Autor ist Andreas Latzko. Seine ersten Texte schrieb er noch auf Ungarisch, dann deutsch, später lebte er in den Niederlanden und manches erschien posthum zunächst auf Niederländisch. Sie haben seine „Erinnerungen“, die „Lebensfahrt“, ergänzt um deren Fortschreibung durch seine Frau Stella Latzko-Otaroff, in Ihrer Reihe veröffentlicht. Manche seiner Bücher sind in deutscher Sprache nicht lieferbar. Wer seinen „Lafayette“ sucht, findet eine englische Ausgabe.

Jacques Lajarrige: Interessant an Latzko ist, dass er zu einer Kategorie von Autoren gehört, die zeitlebens zu großer Berühmtheit und Anerkennung fanden und seit ihrem Tod zu Unrecht wieder in Vergessenheit geraten sind. Großes Ansehen brachte ihm auf eindrückliche Weise sein 1917 zuerst anonym erschienenes Antikriegsbuch „Menschen im Krieg“, das neben Henri Barbusses Roman „Le Feu“ (1915) als eines der wichtigsten Antikriegswerke Werke galt und ihn weit über die Grenzen der zerfallenen Doppelmonarchie bekannt machte. In den kriegsführenden Staaten mit sofortigem Verbot belegt, genoss Latzko einen kurzen aber wirksamen internationalen Erfolg, was nicht ohne Bedeutung für die pazifistischen Kreise Frankreichs und der Schweiz blieb. Der erste Weltkrieg, den Latzko als „Men-schen-sa-lat!“ charakterisiert hat, und dessen Folgen stehen auch im Zentrum des Briefwechsels mit zwei wichtigen österreichischen Zeitgenossen, Hermann Bahr und Stefan Zweig.

Zum Weiterlesen – die Bände der Reihe „Forum: Österreich“ (Stand Mai 2023):

  1. Jacques Lajarrige, Hg., Soma Morgenstern – Von Galizien ins amerikanische Exil. Soma Morgenstern – De la Galicie à l’exil américain.
  2. Marc Lacheny, Littérature ‚d’en haut‘, littérature ‚d’en bas‘? La dramaturgie canonique allemande et le théâtre populaire viennois de Stranitzky à Nestroy.
  3. Stéphane Pesnel / Erika Tunner / Heinz Lunzer-Talos, Hg., Joseph Roth – Städtebilder – Zur Poetik, Philologie und Interpretation von Stadtdarstellungen aus den 1920er und 1930er Jahren.
  4. Jessica Ortner, Poétologie ‚nach Auschwitz‘ – Narratologie, Semantik und sekundäre Zeugenschaft in Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten.
  5. Andreas Latzko / Stella Latzko-Otaroff, Lebensfahrt – Erinnerungen, herausgegeben und kommentiert von Georg B. Deutsch.
  6. Sylvie Grimm-Hamen, La carte et la pioche – Raoul Schrott, poète ‚entre deux eaux‘.
  7. Jacques Lajarrige / Fried Nielsen, Hg., Gregor von Rezzoris ‚Tanz mit dem Jahrhundert‘.
  8. Hans Weichselbaum, Hg., Andreas Latzko und Stefan Zweig – eine schwierige Freundschaft – Der Briefwechsel 1918-1939.
  9. Sylvie Arlaud / Marc Lacheny / Jacques Lajarrige / Eric Leroy du Cardonney, Hg., Dekonstruktion der symbolischen Ordnung bei Marlen Haushofer – Die Wand und Die Mansarde.
  10.  Irène Cageau / Sylvie Grimm-Hamen / Marc Lacheny, éd., Les traducteurs, passeurs culturels entre la France et l‘Autriche.
  11. Matthias Meert, Intertextualität im dramatischen Werk Richard Beer-Hoffmanns.
  12. Marc Lcheny / Maria Piok / Sigurd Paul Scheichl / Karl Zieger, Hg., Französische Österreichbilder – Österreichische Frankreichbilder.
  13. Hans Weichselbaum, Hg., Andreas Latzko und Hermann Bahr – eine Freundschaft aus rebellischem Geist – Der Briefwechsel 1919 – 1933 – Mit zwei Erzählungen von Andreas Latzko.
  14. Maélys Vaillant, Heterotopien in den Hotelromanen Vikki Baums.
  15. Jacques Lajarrige, Hg. Unter Mitwirkung von Kerstin Terler, Andreas Latzko (1876-1943) – Ein vergessener Klassiker der Kriegsliteratur? Andreas Latzko – un classique de la littérature de guerre oublié?
  16. Andrea Capovilla, Hg., Marlen Haushofer – Texte und Kontexte.
  17. Franz Blei, Das trojanische Pferd – Romanfragment – herausgegeben von Helga Mitterbauer.
  18. In Vorbereitung: Bände zu Franz Blei (darunter ein Briefband), H.C. Artmann, Elfriede Gerstl und Marlene Steeruwitz.

Der Verlag Frank & Timme im Demokratischen Salon:

Weitere Texte zum Thema Österreich im Demokratischen Salon:

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2023, Internetzugriffe zuletzt am 10. Mai 2023. Das Titelbild zeigt die Große Synagoge in Brody, dem Geburtsort von Joseph Roth, Fotograph*in: unbekannt, Quelle: Wikimedia Commons)