Und der Rest ist sprechen!
Dilek Güngörs Roman „Vater und ich“
Die Berliner Autorin Dilek Güngör ist eine Meisterin psychologisch präziser Miniaturen. Dies bewies sie in ihren Zeitungskolumnen, die mit den Titeln „Unter uns“ und „Ganz schön deutsch“ auch in Buchform veröffentlicht wurden, sowie in ihren Romanen „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“ und „Ich bin Özlem“. Wie „Ich bin Özlem“ erschien 2021 ihr neuer Roman „Vater und ich“ im Berliner Verbrecher Verlag. „Vater und ich“ gelangte auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis, mit Recht: 101 Seiten Empathie und Präzision, ein Hauch melancholischer Zuversicht, eine Entdeckungsreise in eine Welt jenseits des Schweigens.
Die Erzählerinnen der Romane Dilek Güngörs; Zeynep, Özlem und Ipek, arbeiten als Journalistinnen. Gemeinsam ist ihnen auch, dass sie sich ständig mit den Bildern auseinandersetzen müssen, die andere von ihnen aus einem einzigen Grund zeichnen: ihre Familie stammt aus der Türkei. Aber sind sie deshalb Türkinnen? Von ihnen werden Verhaltensweisen erwartet, die sie eigentlich gar nicht erfüllen können und auch gar nicht erfüllen möchten, aber auf die sie sich dann immer wieder einlassen. Die Erwartungen sind die Erwartungen der deutsch-deutschen Community und des deutsch-deutschen Freundes, die sie in „Ich bin Özlem“ beschreibt, sie sind die Erwartungen der Verwandten in der Türkei, die sie in „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“ besucht, sie sind die Erwartungen der Familie, der Eltern, der Onkels und Tanten, die in allen drei Romanen den Alltag bestimmen. Aus diesen realen und mitunter auch eingebildeten Erwartungen entsteht so etwas wie eine „Integrationshierarchie“, so auch der Titel meines ersten Textes über die Romane und Kolumnen Dilek Güngörs im Demokratischen Salon.
Nur wer befindet sich in dieser Hierarchie auf welcher Stufe? In „Vater und ich“ beschreibt Dilek Güngör einen Wochenendbesuch Ipeks bei ihrem Vater. Ihre Mutter besucht eine Kur, sodass ihr Vater alleine ist. Ipek interviewt beruflich Menschen, doch hilft ihr diese Fähigkeit, mit anderen Menschen zu sprechen, nicht in ihren Versuchen, mit ihrem Vater zu sprechen. Als Journalistin versteht sie es, ein Gespräch zu formalisieren, sie hat ihr Aufnahmegerät, sie lebt in ihrer Rolle. Das schafft Sicherheit. Gegenüber ihrem Vater ist sie – wie das in allen persönlichen Beziehungen so ist – auf sich selbst gestellt, vor allem dann, wenn sie die traditionelle Rolle einer Tochter nicht mehr erfüllen kann und – ganz ohne Ressentiment – auch nicht erfüllen will.
Haben Ipek und ihr Vater jemals miteinander gesprochen? Nicht nur Worte gewechselt, haben sie im besten Sinne des Wortes miteinander gesprochen? Können sie das überhaupt? „Überall fehlen mir die Worte, in deiner Sprache, in meiner Sprache und mit dir sowieso.“ Bei aller Liebe zueinander gehen sie sich aus dem Weg und stehen sich gleichzeitig im Weg, nicht nur real, auch emotional. Ipek schämt sich, dass sie mit ihrem Vater nicht unbefangen sprechen kann: „Was hemmt mich so? Du? Deine Anwesenheit? Schäme ich mich, vor deinen Augen unbeschwert mit jemandem zu plaudern, dir vorzuführen, dass ich das kann, ohne dir sagen zu können, warum ich es mit dir nicht kann?“
Wer spricht mit wem? Männer mit Männern, Frauen mit Frauen, Kinder mit Kindern. So war es bei den Reisen zur Verwandtschaft in die Türkei, in den Sommerferien: „Nächtelang saßen wir beisammen, die Kinder und die Babys, und nie sagte eine der Frauen etwas Liebevolles, etwas Schönes, etwas Gutes über ihren Mann, auch nicht, wenn sie unter sich waren. Die Männer hatten es sich im Wohnzimmer bequem gemacht, im richtigen Wohnzimmer (…). Die Männer sprachen nicht über ihre Frauen. Sie sprachen über Männersachen. Über Arbeit, über Geld, über Politik. Über Felder, über Pistazien und den Dollar.“ Das Einzige, was die Frauen verband, war das Kochen und das Essen: „Wenn wir nicht wissen, was tun, schneiden wir ein paar Äpfel auf, waschen einen Bund Petersilie und sortieren die welken Stängel aus, weichen den Reis fürs Abendessen ein.“
So war es schon in der Kindheit, in der Jugend. Ipek schämte sich, als sie zwischen ihren Eltern und der französischen Austauschschülerin vermitteln musste: „Ich fragte und sagte und erzählte und schämte mich, etwas zu können, was ihr nicht konntet, schämte mich für eure Bewunderung. Etwas war verkehrt daran, es stand mir, dem Kind, nicht zu. Steht es mir jetzt zu?“ Scham ist ohnehin ständige Begleiterin. Ipek schämte sich, wenn sie auf dem Schulhof von ihren Klassenkamerad*innen angemacht wurde, wenn sie hörte, wie über ihre Eltern und andere Menschen mit türkischer Vergangenheit gesprochen wurde. „Geschwiegen haben wir und weggehört, die anderen haben geredet. Meinten wir, unser Schweigen könnte uns beschützen, das Böse würde einfach an uns abprallen, wenn wir nur den Mund geschlossen hielten.“ Diese Erfahrung teilt Ipek mit allen Menschen, die aus welchen Gründen auch immer diskriminiert werden, aber auch für sie gelten die Worte Audre Lordes: „Your silence will not protect you“.
Ipek: „Schreien hätten wir sollen. Jetzt ist es zu spät, denn wer zu lange schweigt, dem wächst der Mund zu und geht nie mehr wieder auf. Was hätte passieren müssen, damit uns einmal der Kragen platzt? Er bleibe vor allem erst einmal geplatzt und Mama ist nicht da, um ihn zu flicken.“ Was mag alles dazu geführt haben, dass Ipeks Vater schweigt? Doch wie lässt sich solch erlernte Hilflosigkeit überwinden? „Machen hilft. Wie oft habe ich es gedacht und doch vergessen, es kommt mir vor wie frisch gedacht. Wir müssen über das Machen zum Machen kommen und über das Sprechen zum sprechen.“ Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Selbst ein Gespräch über Tee schließt so viel Unausgesprochenes mit ein: „Du versuchst, Konversation zu machen, und ich bin unfähig, mit dir über Assam zu reden. Uns kommt das Sprechen nicht mit dem Sprechen, das Tun kommt nicht durchs Tun, ich habe mich geirrt.“
Der Roman hat einen leicht melancholischen Ton, aber er endet mit Zuversicht. Das letzte Gespräch zwischen Ipek und ihrem Vater lässt etwas Gemeinsames spüren. Der Roman ist einerseits eine Ich-Erzählung, aber wenn Ipek von ihrem Vater spricht, schreibt sie in der zweiten Person, sodass der Roman zu dem Dialog wird, der in der Wirklichkeit nicht stattfand, noch nicht. Ipeks Vater ist der eigentliche Adressat all dessen, das sie schreibt. „‚Soll ich noch mitkommen?‘ fragst du auf dem Bahnhofsplatz. / ‚Nach Berlin?‘ / ‚Auf den Bahnsteig.‘ / ‚Man soll mit alten Traditionen nicht brechen.‘ / Du steigst aus, holst mir den Rucksack aus dem Kofferraum. Hilfst mir beim Aufsetzen. / ‚Hier, für die Fahrt.‘ / Du hast mir Trauben eingepackt.“ Auch eine Sprache.
Hat Dilek Güngör eine spezifische Geschichte über das Verhältnis zwischen ein- und zugewanderten Eltern und ihren erwachsenen, in Deutschland aufgewachsenen Kindern geschrieben? Einerseits ja, aber das, was Ipek und ihr Vater erleben, ist etwas, das in jeder Eltern-Kind-Beziehung geschehen kann und geschieht. Mich erinnern die Gedanken Zeyneps, Özlems und Ipeks an ein Erlebnis, das Sigmund Freud in einem Brief an Romain Rolland anhand einer „Erinnerungsstörung auf der Akropolis“ beschrieb. Freud kam nach Athen, besuchte die Akropolis, hatte aber ständig Zweifel, ob es überhaupt möglich wäre, dorthin zu gelangen. In Athen verstand er warum. Er war weitergekommen als sein Vater, er merkte, „dass in dem Thema Athen und Akropolis an und für sich ein Hinweis auf die Überlegenheit der Söhne enthalten ist. Unser Vater war Kaufmann gewesen, er besaß keine Gymnasialbildung, Athen konnte ihm nicht viel bedeuten. Was uns im Genuss der Reise nach Athen störte, war also eine Regung der Pietät.“:
Der sogenannte türkische Migrationshintergrund ist mehr als Kulisse, er diversifiziert Gefühle, Gedanken und Verhalten, denn es macht schon etwas aus, ob mehrere tausend Kilometer zwischen den Orten liegen, in denen Eltern und Kinder ihre jeweilige Kindheit verbracht haben. Es sind die Fremdheitsgefühle der älteren Generation, es sind andere Fremdheitsgefühle in der jüngeren Generation, Fremdheitsgefühle, die sich aus den Distanzen in Zeit und Raum entwickeln. Dilek Güngörs Romane bieten viel mehr als bloße Migrationsgeschichten. Die von Freud beschriebene „Erinnerungsstörung“ beschreibt etwas allgemein Menschliches, etwas sehr Menschliches. Zeynep, Özlem und Ipek sind weit gekommen, doch lässt die sie umgebende deutsch-deutsche Gesellschaft zu, dass sie so weit kommen, lässt die deutsch-türkische wie die türkisch-türkische Gesellschaft es zu? Und der Rest ist Sprechen, in welchem Modus auch immer!
Norbert Reichel, Bonn
(Erstveröffentlichung im Oktober 2021, alle Internetzugriffe zuletzt am 10.10.2021)