Von Religionen und Fußballvereinen

Ein Gespräch mit Harry Harun Behr über dialektische Kompetenz

„Das Differenzierte erscheint so lange divergent, dissonant, negativ, wie das Bewusstsein der eigenen Formation nach auf Einheit drängen muss: solange es, was nicht mit ihm identisch ist, an seinem Totalitätsanspruch misst. Das hält Dialektik dem Bewusstsein als Widerspruch vor.“ (Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, zitiert nach der von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schutz bei Suhrkamp herausgegebenen Ausgabe der Gesammelten Schriften in zwanzig Bänden, die Ausgabe enthält den Text in der Fassung der Ausgabe letzter Hand.)

Ist Philosophie Handlungsanweisung? Kann sie überhaupt Handlungen anweisen oder ist sie nicht eher die Methode, mit der über Handlungen, wirkliche wie mögliche, reflektiert wird? Ist nicht die Reflexion über sich selbst, dialektische Kompetenz, die Philosophie vermitteln könnte, der Kern jeden Bildungsauftrags, vielleicht auch vermittelbar im Religionsunterricht, der im Grunde Philosophieunterricht sein könnte und sollte?

Der Islam- und Erziehungswissenschaftler Harry Harun Behr lehrt und forscht an der Hochschule, an der Theodor W. Adorno lehrte und forschte, ein Vermächtnis sicherlich auch für die Studierenden. Ich habe mit Harry Harun Behr im Jahr 2021 über „Dynamische Religiosität“ diskutiert. In weiteren Gesprächen entstand die Idee, den Gedanken der „Dialektischen Kompetenz“ zu vertiefen. Dies haben wir dann in dem hier dokumentierten Gespräch getan, in dem er – wie auch an anderer Stelle – den provozierenden Gedanken des Vergleichs von Religionen mit Fußballvereinen als Grundlage eines binären Denkens identifizierte, den es im Religionsunterricht, nicht zuletzt im islamischen Religionsunterricht, zumindest im Philosophieunterricht zu dekonstruieren gilt, im Grunde im Sinne eines Studium Generale, von dem alle Lehrenden und Lernenden profitieren sollten. Es ist der Gedanke des institutionalisierten und internalisierten Widerspruchs, den Theodor W. Adorno beispielsweise in „Negative Dialektik“ formulierte. Wer sich näher mit dem Islam auseinandersetzt, erfährt – dies ist ein Ergebnis unserer Gespräche – genau dies!

Spannungen im binären Denken

Norbert Reichel: Unser Thema ist die Dialektik, nicht nur als philosophische Grundlage, als Methode des Erkenntnisgewinns, sondern auch im Hinblick auf das dialektische Verständnis junger Menschen, dialektisch zu denken. Als wir uns das letzte Mal trafen, berichteten Sie, dass Sie diese Fähigkeit bei vielen Studierenden vermissen. Viele denken offenbar sehr linear. Für die dialogischen Verfahren einer freiheitlichen Demokratie, die meines Erachtens immer dialektisch sind oder es zumindest sein sollten, ist das durchaus ein Problem, nicht zuletzt auch für die Art und Weise, wie wir Religionen wahrnehmen oder über sie sprechen.

Harry Harun Behr: Ich möchte zu diesem Thema etwas grundsätzlich Spannung aufbauen. Wenn ich von Dialektik spreche, dann meine ich eine produktive Spannung, ein Spannungsverhältnis zwischen zwei spontan nicht vereinbaren Auffassungen, die sich diametral gegenüberstehen. Dazu kommt das Bewusstsein, dass diese Auffassungen dies tun. Das ist eines der Kernprobleme bei jungen Menschen, bei Studierenden, dass das Bewusstsein vorhanden ist, sie jedoch nicht die Sprache haben, dies auszudrücken und weil ihnen das analytische Verständnis für die Funktionslogik unserer Gesellschaft fehlt, für die Institutionen, Medien und ihre Soundbites, ihre Diskurskonventionen. Wenn ich auf Studierende blicke, auf Schüler*innen, auch auf mich selbst – ich bin ja sozusagen Inside Man – sehe ich auch ein Trugbild dialektischer Konstruktionen, ich sehe, dass es immer auf eine binäre Konstruktion hinausläuft.

Auf der einen Seite ist der Islam eine Projektionsfläche für Vorurteile in unserer Gesellschaft gegenüber der arabischen Welt. Dazu gehören die arabischen Menschen eingeschriebene Judenfeindlichkeit, die Sicht auf den Islam als deviante politische Ideologie, Stichwort „Politischer Islam“, eine komische Ethik und so weiter. Das kann man bis in die Zeit Martin Luthers zurückverfolgen oder man liest nach, was vor nicht zu langer Zeit Helmut Schmidt geschrieben und gesagt hat, warum seines Erachtens die Türkei nicht in die Europäische Union gehört. Die Begründungslogik ist der Klassiker: „Orient“ passt nicht in den „Okzident“. Das ist die Wahrnehmung: wir und die anderen, wir hier, drüben die anderen. Es gibt genügend Konjunkturen oder Ereignisse mit einer konjunkturellen Wirkung, die dies bestätigen, verschiedene Attentate, Samuel Pati, Bataclan, Breitscheidplatz. So scheint es genügend Anlass zu geben, grundsätzlich an der Integrität des Islam zu zweifeln, an seinem Beitrag für die Zukunft. Ich drücke es mal so aus: nimmt man Muslime mit auf den nächsten Marsflug? Ja oder nein? Scheint eher Richtung Nein zu gehen. Auf der anderen Seite gibt es die soziologische These, langfristig setzt sich Unfug nicht durch, Schwachsinn überlebt nicht.

Norbert Reichel: Langfristig?!

Harry Harun Behr: Muslimische Schüler*innen fragen mich, können Sie mir garantieren, dass Mohammed kein Spinner war, und geben Sie mir bitte nicht die Antwort eines Imams. Wenn ich denen sage, Schwachsinn setzt sich langfristig nicht durch, sind die erst einmal beruhigt. Damit möchte ich Folgendes sagen: wer heute Muslim*in ist, wer bekennende*r Muslim*in ist, vielleicht auch praktizierende*r Muslim*in, wer den Koran liest, aus verschiedenen Gründen, vielleicht auch zur Erbauung, wer wie viele junge Menschen an Mohammed denkt und damit so etwas wie ein Sehnsuchtsmotiv verbindet, ähnlich wie man es aus einer christlichen Jesusspiritualität kennt, wo über eine historische Distanz eine Empfindung von Nähe zu den Ursprüngen einer Religion vorhanden ist, der muss sich fragen lassen, identifizierst du dich mit muslimischem Antisemitismus, mit Dschihadismus, mit Islamismus, mit Terrorismus, was immer einem da einfällt.

Norbert Reichel: Ähnliche Fragen ließen sich auch aus christlicher Sicht stellen.

Harry Harun Behr: Lassen wir die mal raus, sonst geraten wir in eine schiefe Ebene. Ein Vergleich zur jüdischen Ebene ist meines Erachtens noch viel spannender, wenn wir von der Minderheitensituation in einer als christlich dominant verstandenen Welt ausgehen. Das ist eine erste grundlegende Spannung, einerseits zwischen der sinnlichen, ästhetischen Beziehung zum Islam als Religion, andererseits zum Islam als Sozialfigur. So ähnlich wie zu dem Flaschensammler, mit dem auch keiner spricht. Zum Beispiel: hast du dich in deinem Leben irgendwann einmal entschieden, Flaschensammler zu werden? Das wäre einmal eine interessante Frage, darüber mit den Leuten zu sprechen.

Norbert Reichel: Da begegnen sich – zumindest strukturell – Klassismus und anti-muslimische Ressentiments.

Harry Harun Behr: Das ist eine ungeheure Spannung. Diese Spannung können Lehrkräfte in den Klassenzimmern mit den Händen greifen. Junge Muslime suchen im schulischen Religionsunterricht händeringend nach Sprache und Konzepten, nach einer Werkzeugkiste, um diese Spannung, die durch ihre Herzen geht, durch ihre Familien, überhaupt bearbeiten zu können und sich zu orientieren. Das ist eine ganz grundsätzliche Spannung zwischen einerseits dem reichen Erbe, dass der Islam darstellt, philosophisch, kulturell, wissenschaftlich, akademisch, intellektuell, literarisch, künstlerisch, andererseits dem Zerrbild des Islam als so eine Art klingonische Strategie in dieser Sternenflottenwelt, anachronistisch, gewalttätig, patriarchal. Das, was dieses negative Bild ausmacht, ist nicht das, was die Muslime wollen. Es gibt immer Grenzgänger, ich meine hier aber die signifikanten Tendenzen.

Es ist schon erstaunlich, dass dies nirgendwo auf der Agenda steht, nicht in der Schulpolitik, nicht in der Gesellschaftspolitik, nicht in der Wissenschaftspolitik, die seit etwa zehn bis fünfzehn Jahren mit vielen Steuermitteln Lehrstühle eingerichtet hat. Das wird einfach nicht bearbeitet. Das ist aber so wichtig, weil es zunächst einmal auf die Muslim*innen verweist, andererseits aber auch auf eine grundsätzliche Unfähigkeit in unserer Gesellschaft, mit gelebter und praktizierter Religion umzugehen. Der Islam ist gelebte und praktizierte Religion, er ist keine Buchreligion. Muslim*in ist wer Islam macht. Deshalb glaube ich, dass das Spannungsverhältnis, das sich am Islam entzündet, auf eine zunehmende Aphasie hinweist, religiöse und nicht-religiöse Sektoren in der Gesellschaft ins Gespräch zu bringen. Religion wird verkirchlicht, sie wird institutionalisiert, sie wird ethnisiert. Religion wird, wenn man so will, verdinglicht, auf Dinge, die bestimmte Leute in bestimmten Situationen tun. Jede soziologische Forschung zu Religion sagt, dass sie grenzoffen ist, dass sie nicht einhegbar ist in unsere gedachten Grenzen von Konfession, Bekenntnis und Zugehörigkeit.

Es ist so, dass du als Fußballfan dich nicht mit dem blau-weißen Schal in Dortmund in die Dortmunder Kurve stellen kannst. Blau-weiß oder schwarz-gelb, das schließt sich aus. Das ist in der Religion jedoch nicht so, das ist eine andere Grammatik. Aber offensichtlich verhandelt unsere Gesellschaft Religionen immer mehr wie Fußballvereine. Du hast deinen Gesang, wir haben unseren, du hast deine Farben, wir haben unsere, du hast deine Stars, wir haben unsere, du bist in der Südkurve, wir sind in der Nordkurve. Dadurch geht einer Gesellschaft das soziale Kapital verloren, das in Religionen ruht.

Narrative Intelligenz – Wirklichkeit oder Wahrheit?

Norbert Reichel: Betrifft das nur Religionen?

Harry Harun Behr: Wenn man den Begriff eng fasst, betrifft es erst einmal Religionen, so wie es Ernst Wolfgang Böckenförde (1930-2019) verstanden hat, der als Staatsrechtler zu sozialem Kapital geforscht hat. Er sagte, es ist sozusagen die kultische Einhegung, eine klare aber offene Zugehörigkeitsmatrix, die Fähigkeit, Narrative zu dekodieren, die über das Erbe der Narrationen in die Gegenwart transportiert werden, es ist das, was ich als narrative Intelligenz bezeichnen würde. Es ist im Grunde die Frage inszenierter Ästhetik und Spiritualität, es ist der große Bereich ethischer Positionierung, der Art und Weise, wie man zu ethischen Positionierungen findet und wie man sie verhandelt, es ist die geronnene Erfahrung von Religionen – ich bleibe mal bei Judentum, Christentum und Islam –, auf ihr Erbe zurückzublicken und nachzeichnen zu können, wie überhaupt Diskurse geronnen sind, was eine Religion zu einer Religion macht. Das bietet überhaupt erst einmal das kognitive Werkzeug, gegenwärtige Narrative zu dekodieren und zu dekonstruieren und auch Lug und Trug auf die Schliche zu kommen.  

Da wo eben Ideologien, nicht nur Religionen, mit einem religionsähnlichen Anspruch der Unverhandelbarkeit auftreten und sich alternativlos in die Mitte stellen, mit dem Anspruch, ich bin das Epizentrum, um das die nächste Talkshow zu rotieren hat, wenn da die narrative Intelligenz verloren geht, erhöht sich das Risiko, dass junge Menschen Rattenfängern auf den Leim gehen. Das ist jetzt etwas drastisch ausgedrückt, aber diese Gefahr sehe ich schon.

Norbert Reichel: Sie nannten eben den Begriff der Unverhandelbarkeit. Das ist einer der Vorwürfe, die immer wieder gegen Menschen erhoben werden, die eine bestimmte Position in den Vordergrund stellen. Selbst denen, die offen debattieren wollen, wird vorgeworfen, sie machten ihre Position zu einer „Religion“. Dieses Bild sehe ich beispielsweise in identitätspolitischen Debatten, in denen bestimmten Gruppen das Recht abgestritten wird, sich überhaupt zu äußern. Damit meine ich nicht die Debatte um die von manchen vermutete „Cancel Culture“, sondern die Art und Weise, wie manche mit dem Knüppel „Cancel Culture“ berechtigte Anliegen von Minderheiten lautstark niedermachen. Minderheiten wird unterstellt, sie wollten die Mehrheit dominieren, obwohl gerade die selbsternannten Vertreter*innen der Mehrheit nicht mehr und nicht weniger wollen als dass die Vertreter*innen der Minderheiten sich mit den hinteren Plätzen begnügen.

Sie sprachen von einem binären Bild der Gesellschaft. In der Tat sehe ich einen binären Code in der Rede über und von Religion, durchaus als Spiegel zur Rede über und von Gesellschaft. Religion hat dabei immer den Part, in dem es undemokratisch, dogmatisch zugeht. Das sehen selbst diejenigen so, die diese Religion zu vertreten glauben. Wie Sie sagten: ein Verhalten wie bei Fußballfans.

Harry Harun Behr: Ich möchte beim Islam bleiben und es an diesem Beispiel plastisch machen. Nehmen wir die sogenannten Aussprüche Mohammeds, der arabische Fachausdruck lautet „Hadith“. In der Hadith-Literatur findet sich vieles von dem, was ich eben als sichtbaren, gelebten praktizierten Islam bezeichnet habe, anders als im Koran, der einer anderen, einer erzählenden Dramaturgie folgt.

Ein Beispiel aus der Unterrichtspraxis. Es gibt einen Ausspruch Mohammeds, sinngemäß zitiert: „Wer dem Gesandten folgt, der folgt Gott.“ Jetzt könnte man sagen, hier wird im Grunde genommen der Islam als eine Trias geschmiedet, ich als Subjekt, Gott als Bezugspunkt, Mohammed als Bezugspunkt für die schriftlich tradierte Überlieferung inklusive der ethischen, moralischen Verfahrensstandards des 7. Jahrhunderts nach Christus, denn das ist der Zeitraum, von dem wir sprechen.

Das Problem: dieser Satz transportiert zwei Dinge. Er transportiert zuerst einen Wahrheitssatz, Mohammed spricht Wahrheit, oder zumindest gesagt, er meint es absolut ernst, wenn er sagt, wer mir folgt, folgt Gott. Er sagt im Grunde genommen, wer mir als dem wahren Propheten Gottes folgt, ist auf der sicheren Seite, was seine Religion, sein Leben und seine Zukunft angeht. Das andere: dieser Ausspruch tradiert auch historische Wirklichkeit. Dazu gehört die Frage, hat er es überhaupt so gesagt? Und die folgenden Fragen: In welchem Kontext hat er es gesagt und zu wem? Wie hat er es überhaupt gemeint? Was hat dazu geführt, dass es überhaupt aufgeschrieben wurde, was ist dem Chronisten wichtig? Es muss so etwas wie eine situative Relevanz gegeben haben, die aus dem Wort etwas haben werden lassen, das zum kanonischen und kodifizierten Texterbe des Islam gehört, dass nämlich der Islam, der sich nur auf Gott bezieht, ohne Mohammed nicht denkbar ist.

Das hat eine enorm weitreichende Konsequenz, weil wir durchaus konkurrierende Standards beschreiben können, bei dem, was der Koran sagt und was wir auf der anderen Seite in den tradierten Aussprüchen der Hadith-Literatur finden. Dummerweise ist den meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe, die tradierte Ausspruchsbüchse der Hadithe näher als der Koran, weil deren Sprache einfach, situativ, anschaulich ist. Es ist die Sprache, in der der eine Schüler dem anderen auf dem Offenbacher Schulhof zuruft, aber Mohammed hat gesagt, dass…

Der Koran hingegen ist für viele überhaupt nicht dekodierbar, denn der Zugang ist sprachlich schwierig, die kultische Erhöhung, die Übersakralisierung, all das ist schwierig. Wir haben also in einem so kleinen Spruch eine unglaubliche Spannung zwischen historischer Wirklichkeit und Wahrheitsaussage. Das erfordert zunächst einmal eine ganz einfache philosophische Grundschulung unserer Schüler*innen. Ich meine Leute wie Platon. Einfach in der Lage zu sein, in der Hermeneutik, in der Kunst der Entschlüsselung, zwischen Wirklichkeit und Wahrheit zu unterschieden. Aber die meisten in unseren Zielgruppen – Schüler*innen, Studierende – können Wirklichkeit und Wahrheit nicht unterschieden. Das erfordert eine Rückführung an die Quellen des Islam, um diese Kompetenz einzuüben.  

Jetzt stelle ich aber fest, wenn ich in politische Diskurse blicke, in Kulturkonfliktdiskurse, um nationale Zugehörigkeit, um Kunst und Kultur, um nationales Erbe, etwa in der Bundesrepublik Deutschland, um Fragen von Zugehörigkeit, Nation, Territorialität, um Fragen der völkischen Beheimatung, die können auch nicht Wirklichkeit und Wahrheit unterscheiden, noch schlechter als meine Studierenden. Denen fehlt so etwas wie eine Sunna. Die haben bloß nebulöse Narrative, denen sie auf den Leim gehen. Dann denke ich oft, verdammte Hütte noch mal, wenn die alle einen ordentlichen Religionsunterricht oder wenigstens Philosophieunterricht gehabt hätten, der ihnen geholfen hätte, narrative Intelligenz aufzubauen, was ist eigentlich Geschichte, was ist meine Annahme von Geschichte, nur das, dann hätten wir einen völlig anderen Diskurs über alles, was öffentliche Diskurse um Zugehörigkeit angeht.

Wenn ich es noch krasser formulierte, haben wir nicht nur die Spanne zwischen Wahrheit und Wirklichkeit, sondern auch zwischen Narration und Explikation. Ich reduziere es mal auf die Formel von Radikalismus. Damit habe ich mich viel beschäftigt, auch mit Wirtschaftsradikalismus. Ein Satz wie „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“, das ist eine radikalisierte Position. Aber niemand versteht, warum sie radikalisiert ist. Die radikalisierte Formel lautet wie folgt: etwas das alt und einfach ist, ist in der Lage ein Problem zu bewältigen, das neu und komplex ist. Und da neue und komplexe Problematiken sehr schwer zu dekodieren sind, hat es eine Entlastungsfunktion, auf ein einfaches tradiertes System zurückzugreifen, das dir hilft, diese Komplexität irgendwie zu beherrschen.

Das ist zunächst der Grundalgorithmus von Radikalisierung. Radikalisierung ist zunächst nicht negativ. Im Gegenteil: es braucht – wie es britisch heißt – „a healthy amount“, ein gesundes Maß an Radikalisierung, um überhaupt Veränderungen herbeiführen zu können.

Die Diskurse in unserer Gesellschaft sind durchsetzt von Radikalisierungsalgorithmen, wenn wir zum Beispiel an die aktuelle Klima- oder die Gasdebatte denken. Als wenn weniger duschen die Antwort auf die fossile Knappheit enthielte. Für wie bescheuert halten uns die Leute, dass wir solchen rhetorischen Formeln auf den Leim gehen? Oder dass Sparen nicht die Antwort auf Schulden ist! Und dass es einen Unterschied zwischen Verausgabung und Investition gibt etc. Aber ganz generell sind die Menschen sehr schnell bereit, sich angesichts komplexer und bedrohlicher Problematiken, die neu zu sein scheinen (sind sie oft nicht, aber die Vergesslichkeit ist so hoch), sich auf Lösungen zu kaprizieren, die einfach, binär und schwarz-weiß und so aus der Lamäng leicht handhabbar zu sein scheinen.

Der filigrane Teil der Dialektik: Curriculum der Komplexität

Norbert Reichel: Kurzer Zwischenruf: das ist vielleicht die implizit in der 11. Feuerbachthese enthaltene Warnung und dazu passt sicherlich die Kunstinstallation „Vorsicht Stufe“ am Eingang der Berliner Humboldt-Universität.

Harry Harun Behr: Jetzt komme ich zum Punkt: Die altprophetischen Traditionen in unseren Schriften, im Judentum, im Christentum, im Islam, sie warnen uns vor diesem Algorithmus, sie warnen uns vor dieser Rezeptgläubigkeit, sie legen alles daran, überall wo der Mensch sagt, die Umstände sind so, die Zeit ist so, zu zeigen, du bist so! Und das fehlt im politischen, im gesellschaftlichen, im wissenschaftlichen, im medialen Diskurs, das fehlt fünftens im Bewusstsein der Leute, die, wenn man sie fragt, wer bist du eigentlich und wofür möchtest du in 100 Jahren in Erinnerung behalten werden, was ist eigentlich unsere Kulturleistung für die Zukunft? Die Idee, dass man das ohne die narrative Intelligenz dessen, was vorher geschaffen wurde, leisten könnte, ist so hirnrissig. Das ist der Grund, warum ich auf diesem Religionsargument poche. Egal ob du glaubst, das ist überhaupt nicht relevant, es gibt in den Religionen genügend ungläubige Personen. Das wäre jetzt der filigranere Teil der Dialektik, auf den ich noch zu sprechen kommen kann, darum würde ich – wenn Sie so wollen – die Flatterleine ziehen.  

Norbert Reichel: „Spare in der Zeit, dann hast du in der Not“ und so manch andere Vorschläge wirken auf mich wie so eine Art Vulgärkeynesianismus. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, Energie und andere Dinge zu sparen, beispielsweise weniger Fleisch zu essen. Das tue ich, aber ich denke, der Unterschied liegt darin, dass die persönlichen Verhaltensweisen nur einen Teil der Problemlage abbilden. Eine systematische Strategie zur Bewältigung der großen Probleme Klimakrise oder Weltfrieden ist das nicht. Im Grunde ist so ein Spruch eine gut gemeinte Rückdelegation der Verantwortung der Politik auf die Bürger*innen, die dann die einzigen sind, die aufgerufen sind, etwas zu verändern. Das hat Robert Habeck natürlich nicht so gemeint, der denkt viel komplexer, aber es wurde so transportiert. Denn kaum hatte er seinen Duschvorschlag formuliert, so wurde es von politischen Gegnern und in den Medien schon als Zumutung markiert, im Mittelpunkt standen mal wieder die sogenannten „Sorgen“ der Bürger*innen, durch Änderungen im eigenen Verhalten zu sehr eingeschränkt zu werden, als gäbe es ein Recht auf endlos fließendes billiges warmes Wasser.

Die Sparaufrufe werden so umgedreht und zum Selbstzweck erklärt, gleichviel ob es das Duschen oder die Schuldenbremse ist. Keine Schulden, dann ist alles gut, nur halb so lang duschen, dann ist alles gut. Solche Aufrufe werden dann geradezu heiliggesprochen oder als teuflisch gebrandmarkt. Mit scheinbar keyneseanischen Argumenten gegen Keynes, der auch viel komplexer dachte. Von Modern Monetary Theory und anderen komplexen Konzepten keine Spur. Mir kommt das alles wie ein recht kruder Materialismus vor. Wie ließe sich das denn durchbrechen? Können ein guter Philosophie- oder Religionsunterricht dazu beitragen, die Sehnsucht nach den einfachen und einfachsten Lösungen zu durchbrechen.

Harry Harun Behr: Ich habe letztens ein interessantes Interview mit Christiane Amanpour gehört, die sich neulich auch mit David Harbour unterhalten hat, dem Hauptdarsteller in „Stranger Things“. Ich mag sie eigentlich nicht so sonderlich, ich gucke lieber Steven Sackur auf BBC, aber der ist zurzeit wohl dauerhaft in Urlaub. Sie hat ein Interview mit Arnold Schwarzenegger angesichts dieser unfassbaren Waldbrände in Kalifornien geführt. Sie hat ein Gesamtpaket diskutiert, von Donald Trump bis zu den Waldbränden.

Norbert Reichel: Donald Trump fuhr nach Kalifornien und sagte, ihr werdet sehen, das hört auch wieder auf.

Harry Harun Behr: Räumt ein bisschen auf und gut ist. Arnold Schwarzenegger hat gesagt, die Probleme, vor denen wir stehen, sind extrem komplex. Wir haben das Problem, dass die meisten unserer Landsleute diese Komplexität nicht verstehen. Die Politik hat jetzt die Aufgabe, die Komplexität in einfache Verhaltensmuster zu übersetzen, die ad 1 die Menschen verstehen und die ad 2 eine Veränderung der Situation bewirken. Beispielsweise: baue dein Haus nicht in diesen Wald oder in jenes Flusstal, fülle dein Swimming-Pool nicht mit Leitungswasser aus der Trinkwasserversorgung. Arnold Schwarzenegger steht nun nicht auf der Hitliste der Wissenschaft, aber über eins verfügt er, und darüber habe ich gesprochen: er verfügt über narrative Intelligenz. Narrationen verdichten auf Narrative, die man versteht. Ein klassisches Narrativ ist beispielsweise David gegen Goliath. Es geht um das, was in der Nussschale drin ist, nicht nur die Oberfläche, die Schale selbst. Da hat Arnold Schwarzenegger einen wichtigen Punkt angesprochen.

Wir brauchen solche Übersetzungsleistung, um Menschen da mitzunehmen, wo es wirklich wichtig ist, die Probleme zu lösen. Das funktioniert jedoch nur dann, wenn sich die entscheidenden Player in der Gesellschaft auf ein Rahmencurriculum verständigen: was wollen wir den Leuten eigentlich sagen? Man muss ja an einem Strang ziehen, um eine Veränderung zu bewirken. Wenn wir in das Grundgesetz blicken, haben wir Akteure in der Gesellschaft, denen das Grundgesetz implizit die Aufgabe zuweist, diesen Diskurs zu führen. Das sind die Bereiche, denen das Grundgesetz die zentralen Freiheitsrechte gewährt. Das ist die Wissenschaft, das ist die Kunst, das ist die Presse, und das ist die Religion. Das fünfte sind die Elternhäuser, dann die Schulen.

Ich würde mir wünschen, dass wir in Deutschland wieder mehr Mut aufbringen, über eine Vision zu sprechen, wo wir als Land eigentlich in zehn oder zwanzig Jahren stehen wollen. Wir sollten uns nicht hinter internationalen Kontexten, zum Beispiel Europa verstecken, sondern ich denke unmittelbar vom Grundgesetz aus, an das, was das Grundgesetz uns nach dem Krieg aufgegeben hat, angesichts der humanitären Katastrophen, die vorher stattgefunden haben, der militärischen Katastrophe, Shoah und Holocaust. Es war auch eine Wissenschaftskatastrophe, denn keines der Korrektive, die es durchaus gab, hat es geschafft, die Shoah zu verhindern. Ich habe die Angst, dass wenn dieser geschlossene Diskurs, dieses An-einem-Strang-ziehen, ohne dass man dem anderen gleich in Abrede stellt relevant zu sein – das betrifft die Religion zurzeit massiv – nicht funktioniert, dass wir es dann nicht schaffen, dass die Korrektive greifen, die wir brauchen, um zukünftige Katastrophen zu verhindern, die Menschenleben fordern, die Krieg bedeuten, die Vernichtung bedeuten, die Zerstörung der sozialen und rechtlichen Infrastruktur.

Davor haben die Menschen Angst. Diese Angst ist nicht unbegründet. Mir fehlt die Vision, die sich aus einem gemeinsamen offenen Verhandlungsforum ergibt, dass auf der Ebene der Zivilgesellschaft angesiedelt ist. Ich denke an die beiden Cadenabbia-Konferenzen, zu denen ich eingeladen war, in der Villa Collina, der Adenauer-Villa am Comer See. Initiiert hatte das die Konrad-Adenauer-Stiftung. Da sind wir immer an diesem Punkt gelandet. Für mich ist das eine pädagogische Frage, eine Frage der politischen Bildung.

Pädagogik und Politik

Norbert Reichel: Pädagogik sollte immer politische Bildung sein.

Harry Harun Behr: Ja, aber es müsste deutlicher durchdekliniert werden. Irgendwie kommt das nicht an. Demokratiebildung ja, aber was kommt in den Schulen an, welches Bewusstsein haben die Lehrkräfte? Welche Ziele im Sinne der Bewusstseinsbildung verfolgen sie im Unterricht? Da muss man noch mal ran.

Norbert Reichel: Viele verwechseln Demokratiepädagogik mit einem Impfstoff. Oh, da ist Extremismus, da brauche ich Demokratie, da brauche ich Bildung. Andreas Voßkuhle hat im Jahr 2019 zum 100jährigen Bestehen des Deutschen Volkshochschulverbandes darüber gesprochen. Er sagte, der Bildungsauftrag, das Bildungsziel des Grundgesetzes heißt Demokratie! Ganz unabhängig davon, dass Schüler*innen natürlich auch lesen, schreiben, rechnen, Naturwissenschaften und Fremdsprachen lernen sollen, ganz unabhängig davon, welche Probleme in einer Gesellschaft gerade bestehen. Es geht um demokratische Verfahren und um demokratische Einstellungen. Sie sprachen davon, es wäre wichtig, dass die relevanten Akteure an einem Strang ziehen. In einer Demokratie dauert es mitunter jedoch einige Zeit, bis die Leute an einem Strang ziehen. Da sind Diktaturen scheinbar effizienter, da wird nicht lange gefackelt und alle müssen sich fügen.

Ich weiß jetzt nicht, wie demokratisch Antonio Gramsci wirklich war, aber er sprach von gesellschaftlichen Mehrheiten – das war sein Hegemonie-Konzept – die erforderlich wären, um Veränderungen dauerhaft zu bewirken. Politische Mehrheiten reichen nicht, wenn die Gesellschaft nicht mitgeht. Politische Mehrheiten wechseln und manche scheinbare Errungenschaft wird schnell wieder rückgängig gemacht. Ich brauche daher hoch-komplexe Debatten, ich muss weg von den binären Debatten. Es ist nicht falsch, darüber zu debattieren, ob ich länger oder kürzer dusche, mehr oder weniger Fleisch essen. Die eigentliche Frage heißt, wie erzeuge ich Energie, wie halte ich Tiere, wozu nutze ich das, was auf den Feldern wächst, und zwar so, dass die kommenden Generationen genauso gut leben können wie wir und die, die zurzeit nicht gut leben, ebenfalls ein gutes Leben genießen dürfen. Aber kleine Nebensächlichkeiten werden zu Grundsatzdebatten, so nach dem Muster, was bringt das schon, wenn ich weniger als 100 km auf der Autobahn fahre, oder kürzer dusche? Aber das wird dann zum zentralen Thema hochgehypt, es wird – da sind wir wieder bei dem Begriff – schon fast zum „Religionskrieg“, wie schnell ich fahre, wie viel Fleisch ich esse etc.

Harry Harun Behr: Als Wissenschaftler – das ist ja die Rolle, in der ich bin – ist es immer wichtig, dass ich belastbare Daten habe, um mögliche Effekte von Dingen zu begründen, die man tut oder unterlässt. Ich habe die Erfahrung, dass ich es oft mit Gesprächspartner*innen zu tun habe, die diese Daten möchten, aber oft auch mit solchen, die diese Daten nicht wollen, sie eher lästig finden. Das ist dann der Grund, warum man zu einer Talksendung eingeladen und dann wieder ausgeladen wird. Vor Kurzem fragte mich die hessische FDP-Landtagsfraktion. Sie wollte mit mir eine Instagram-Debatte über die Wiedereinführung des islamischen Religionsunterrichts in Hessen. Meine Streitpartnerin sollte Susanne Schröter von der Universität Frankfurt sein. Ich habe gefragt, warum sie? Wollt ihr einen Fachdiskurs oder wollt ihr eine Polarisierung von Meinungen, um euer FDP-Instagram-Format füttern zu können?

Was ich liefern kann, sind empirische Daten, Modelle, die sich bewähren, Theorien, die sich in der harten Erprobung befinden, was geschieht, wenn wir sie in die Schulen oder in die Soziale Arbeit hineingeben. Wenn ich darüber in einem öffentlichen Format spreche, brauche ich Gesprächspartner*innen, die diese Spielregeln einhalten. Oder ich brauche jemanden aus dem institutionellen Kontext, beispielsweise jemanden aus dem Kultusministerium. Die haben mich zuletzt zwei Mal zu einem Gespräch eingeladen und dann wieder kurzfristig per SMS ausgeladen. Aus sogenannten dienstlichen Gründen. Irgendwie haben die ein Problem, sich mit mir in einen Diskurs zu begeben. Ich habe mit zwei Journalisten, die ich gut kenne, einem von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, einem von den Frankfurter Nachrichten, gesprochen, die mich interviewen wollten. Ich habe denen gesagt, wartet bitte, bis ich im Kultusministerium gewesen bin. Dann weiß ich mehr, ich habe selbst Fragen, die ich nicht beantworten kann. Jetzt kann ich nach den Absagen nicht handeln, nicht planen, ich weiß nicht, wie das Lehramtsstudium weitergeht. Das wäre eigentlich Anlass genug für eine Landtagsfraktion, ein Gespräch mit einem Minister zu führen, in dem darüber gesprochen wird, wie es weiter geht.

Für mich in meinem Mandat bedeutet dies, dass ich in solchen Fragen, bei denen es auch um Verhaltensänderungen im Alltag oder um Policy-Änderungen in Institutionen handelt, welche Vorgaben es gibt, wenn auf der Ebene gesagt wird, da gibt es kein Problem, da ist nichts. Ich könnte sagen, ich habe mit 200 Schuldirektoren gesprochen, denen geht das Grundgesetz am Arsch vorbei, aber da ist nichts. Das ist weit entfernt davon, was ich unter Diskurs verstehe. Dazu würde gehören, dass man zumindest einmal einer Problemanamnese ins Gesicht blickt. Dann kann man das ja auch entkräften, aber wenn man sich auf einen solchen machtpolitischen Etatismus zurückzieht, da ist kein Problem?!

Sprachlosigkeiten, Jakobinismus, Widersprüchlichkeiten der Moderne

Norbert Reichel: Ich sehe drei Versuchungen. Wir sprachen über die Versuchung, alles binär zu definieren. Eine zweite Versuchung ist die Entkontextualisierung. Die dritte Versuchung ist der Wunsch, ex cathedra zu verordnen, was Wahrheit ist, was Wirklichkeit ist und dafür zu sorgen, dass Wahrheit und Wirklichkeit übereinstimmen.

Harry Harun Behr: Das ist die Trinität des Etatismus: Glaubenssatz eins: das war schon immer so. Glaubenssatz zwei: das hatten wir noch nie. Glaubenssatz drei: da könnte ja jeder kommen.

Norbert Reichel: Und in Köln gibt es noch den alles zusammenfassenden Satz: et hätt ja immer jotjejange.

Harry Harun Behr: Und dann noch der fünfte Satz: ich wollt dat ja die Woche noch jemacht haben. Das führt dazu, dass Menschen in schwierige Situationen kommen und falsche Entscheidungen treffen, weil sie etwas als Faktum und Status Quo signalisiert bekommen, was eigentlich zur Diskussion gestellt werden müsste. Seit ich in Frankfurt bin, seit 2014, hatte ich in jedem Oktober etwa 30 Neueinschreibungen. Das ist eine hohe Zahl für ein Orchideending wie den Islam. Seit das HKM diese destruktive Islampolitik fährt, zunächst seit 2017, dann verschärft seit 2020, sind die Einschreibungszahlen zurückgegangen. Im November 2020 hatten wir drei, im November 2021 keine einzige Anmeldung.

Wer beispielsweise Mathe und Islam studieren möchte, sollte angesichts dieser Situation doch lieber Mathe und Physik studieren. Und das betrifft zu 80 Prozent Frauen! Wir haben hier durch die hessische Politik eine Verdrängung von migrantischen Frauen aus einem höheren Segment der Bildung. Wenn ich mit dem hessischen Kultusministerium, dem HKM, argumentiere, argumentiere ich mit Genderpolitik und gehe auf die Effektlogik. So habe ich die Frauenbeauftragte auf meiner Seite. Da sind die auch extrem empfindlich. Es gibt so ein paar Triggerthemen, vor denen die Politik große Angst hat. Das eine ist der Datenschutz, das andere die Genderpolitik.

Norbert Reichel: Was sagt denn der grüne Koalitionspartner dazu?

Harry Harun Behr: Die hoffen, dass sie demnächst den Kultusminister stellen, wenn es ihnen gelingt, die CDU komplett abzuschießen. Darauf bauen die. Deshalb ist auch die FDP wieder aufgewacht aus ihrem Wiesbadener Dornröschenschlaf. Ich weiß nicht, wohin das führen soll. Ich weiß auch nicht, was sich unter einer grünen Hausspitze im HKM ändern soll, gerade in den Fragen, über die wir hier diskutieren.

Norbert Reichel: Es geht ja nicht nur um den Islam, es geht um Demokratie und es geht um die narrative Intelligenz beziehungsweise dialektische Kompetenz. Das ist eine grundsätzliche Frage.

Harry Harun Behr: Wir reden hier nicht von einer auf eine bestimmte Partei bezogenen Problematik.

Norbert Reichel: Marina Weisband sagte mir in unserem Gespräch, dass Robert Habeck – jetzt mal abgesehen von dem Duschvorschlag, der aber auch im Kontext bewertet werden müsste, in dem er ihn vortrug – mit uns wie mit Erwachsenen spreche. Die Regel ist jedoch eine andere: Politiker*innen sprechen Bürger*innen wie kleine Kinder an oder wie man eigentlich auch kleine Kinder nicht ansprechen sollte: als Konsument*innen, als diejenigen, denen man sagen muss, wo es langgeht, so als wäre Politik ein Handwerksbetrieb, der nur das richtige Werkzeug braucht, um alles auf immer wieder zu regeln oder zu reparieren. Die BILD-Zeitung fördert genau dieses Bild der Politik. Ich nenne eine etwas länger zurückliegende Schlagzeile. Es war während der BSE-Debatte, die BILD-Zeitung titelte: „Kanzler, was dürfen wir noch essen?“ Dazu passt dann auch die Duschgeschichte. Wie sieht das jetzt in der Generation Z aus?

Harry Harun Behr: Die Generation Z tickt eigentlich anders. Die sind stärker ansprechbar als vorangehende Generationen, abgesehen davon, dass man diese Kategorisierung in Generation Z etc. in Frage stellen sollte. Die kommt aus der Marktforschung. Aber wenn wir diese Konjunkturisierung nehmen, sehen wir, dass diese Jugendlichen transnationaler denken, sich stärker die Frage stellen, welche ethischen Positionen sie vertreten und im Alltag Wirklichkeit werden soll. Das Ergebnis ist allerdings auch eine Art jakobinische Bereitschaft, alles, was sich einem in den Weg stellt, zur Seite zu räumen, für eine bessere Zukunft.

Ich habe mich oft mit jungen Leuten über ökologische Fragen und über die Frage nach benachteiligten Bevölkerungsgruppen, nach sozialer Sicherheit gesprochen. Man ist da ganz schnell bei einem revolutionstheoretischen Veränderungsdiskurs. Eine Veränderung braucht Opfer, aber die Opfer sollten die anderen sein.

Norbert Reichel: Eine kleine Gruppe klebt sich an der Straße und an Kunstwerke fest und wird für die schlimmste Bedrohung seit der RAF gehalten. Im Grunde nur die Kehrseite der Medaille namens Klimakrise. Auf der anderen Seite steht die Angst, der Klimaschutz beziehungsweise der Schutz vor dem Wandel könnte bisherige Verhaltensweisen in Frage stellen. Wie gesagt: da könnte ja jeder kommen!

Harry Harun Behr: Genau, da stehe ich drei Stunden im Stau, weil ein Sonderkommando der Polizei mit Helikopter und Hundertschaft sich auf die Kreuzung stürzt, auf der sich zwei Studenten festgeklebt haben. Ich würde erst einmal den Notarzt rufen, die vorsichtig rausholen und den Verkehr vorbeilenken. Aber nein, das ist ein staatsgefährdendes Szenario! Aber Hessen ist halt sowieso eher polizeistaatlich affin.

Sie sprachen eben von den religionsähnlich oder mit religiöser Verve vorgebrachten Richtigkeits- und Daseinsbehauptungen, die unsere Diskurse bestimmen, das Bekenntnishafte. Etwas wird zu einer Religion gemacht. Es wird im Indikativ besprochen, es werden keine Fragen mehr gestellt. Was auch auffällt, ist die absolute Humorlosigkeit der Akteure, ihre Unfähigkeit, auch mal über sich selbst lachen zu können. Es gibt ja den Satz von der Widersprüchlichkeit der Moderne, die junge Menschen ja sozusagen körperlich empfinden. Die empfundene Gleichzeitigkeit von konträren und kontroversen Diskurspositionierungen und einer fast existenziell anmutenden Unfähigkeit der Kontingenzbewältigung. Ich glaube schon, dass die religiösen Narrative, die Kernbestand eines guten Religionsunterrichts wären, nichts Neues sind, sondern dass sie die Diskursgeschichte von uns Menschen – als Gattung hätte ich fast gesagt – begleiten. Sie begleiten uns seit es erinnerte Geschichte gibt, sei es, dass sie aufgeschrieben ist oder mündlich überliefert. Es ist die Gleichzeitigkeit von Nähe und Distanz zu einem Gegenstand. Als Muslim*in wird dir ja immer wieder eine unkritische Nähe zu den Elementen deines Glaubens zugewiesen, auch mir als Wissenschaftler. Der kann ja gar nicht dazu forschen! Damit muss ich umgehen, mit der Gleichzeitigkeit von Zutrauen und Zweifel, von Zustimmung und Ablehnung.

Wenn ich den Koran im Ramadan rezitiere, ich habe gelernt, ihn im tağwīd zu rezitieren, das ist eine sehr kunstvolle Form. Ich lese jeden Ramadan den gesamten Koran, das heißt jeden Tag ein Dreißigstel des Koran. Da lese ich auch Stellen, die ich nicht unterschreiben würde, aber sie sind Bestandteil eines Buches, das 1.500 Jahre alt ist. Ich kann also damit umgehen, auf der einen Seite mit der Affinität in einer bestimmten Situation, auf der anderen Seite mit der Kritik – und ich halte damit auch nicht hinter dem Berg. Neugier und Abwehr, die Spannung zwischen Loyalität, die man empfindet. Ich gestehe ein, dass ich zu Muslim*innen in Hessen, die sich jetzt in Hessen um ihren Religionsunterricht gebracht fühlen, Loyalität empfinde. Ich fühle das mit, ich verstehe, dass man sich abgewertet fühlt. Das ist ein empathisches Verständnis, das ich habe.

Auf der anderen Seite habe ich ein dienstliches Mandat gegenüber dem Wissenschaftsministerium, das für meinen Arbeitsplatz zuständig ist, und mittelbar gegenüber dem Kultusministerium, die eine Dienstleistung erwarten, aus einem Verständnis, das mehr ist als ein Loyalitätsempfinden gegenüber den Zielgruppen. Dazu gehört, dass ich eine gute Dienstleistung erbringe, dass ich zu Absprachen mit den Behörden fähig bin, dass ich bereit war und bin, die Curricula zu schreiben, auch das für den Islamunterricht, der das Gegenmodell ist zum islamischen Religionsunterricht. Beide Curricula stammen von meinem Schreibtisch. Es müsste mich doch eigentlich zerreißen, aber das tut es nicht, weil ich das hinbekomme, was ich als dialektische Grundspannung bezeichne, weil ich bestimmte Etappenziele erreiche.

Unwägbarkeitstoleranz in der Debattenkultur

Norbert Reichel: Ist das das, was Thomas Bauer als „Ambiguitätstoleranz“ bezeichnet?

Harry Harun Behr: Ja, das könnte sein, ich weiß nicht genau. Ich muss nicht das gelbe Trikot tragen, wenn ich in Paris einrolle, aber ich muss mal eine Bergetappe gewinnen, ich muss wissen, dass ich das schaffen kann. Würde ich da scheitern, würde ich aus dem Job ausscheiden. Ich denke, ich würde eher von Unwägbarkeitstoleranz sprechen, die Unwägbarkeit, was jetzt das richtige Vorgehen wäre.

Ich muss fragen, ob das, was ich tue, zu dem Ziel führt, das als Anspruch vertreten wird. Ich habe die dialektische Kompetenz zu einem zentralen Kriterium in den Curricula für die gymnasiale Oberstufe gemacht, wo es um kommunikative Kompetenz geht, um Kompetenz zur Deutung der Welt, um kritische Kompetenz, um Quellenkritik. Ich habe gesagt, ich möchte gerne die dialektische Kompetenz als eigenen Bereich einführen, weil sie uns ganz grundlegend in einen Modus des Denkens und Handelns versetzt, der in der Lage ist, mit Ansprüchen, die nach einer Schließung verlangen, umzugehen und weiter mit ihnen umzugehen, auch den Mut zu haben, sie nicht zu schließen, sondern sie in einer gewissen Offenheit weiterzuführen, sodass vielleicht die nachzufolgende Generation besser damit umgehen kann als wir das können. Wir denken oft, dass wir eine Sache abschließen müssen, damit die nachfolgende Generation damit nicht mehr behelligt wird. Ich glaube, das ist ein Denkfehler. Wir denken als Menschen zu wenig als Gattung. Wir beziehen zu wenig die kommende Generation und ihre Kompetenzen mit ein.

Norbert Reichel: Und wir beziehen viel zu wenig Kompetenzen von Menschen aus anderen Regionen mit ein.

Harry Harun Behr: Absolut.

Norbert Reichel: Es ist der Schmetterlingsflügelschlag, im Grunde der Satz der Chaos-Theorie der unwägbar großen Zahl von Wirkungen und Nebenwirkungen, Interdependenzen. Mal ganz unwissenschaftlich formuliert.

Harry Harun Behr: Mit der Chaostheorie hätte ich meine Schwierigkeiten. Ich habe eben gesagt, es sind nicht die Konstellationen und die Zeiten, sondern wir als Subjekte. Es geht um die Frage: für was möchtest du bei späteren Generationen in Erinnerung bleiben? Ich habe Enkel. Mich beschäftigt diese Frage unmittelbar. Wenn wir diese Frage stellen, glaube ich, dann würden wir mit dem Russland-Ukraine-Konflikt anders umgehen, weg vom Bellizismus, hin zu anderen Konzepten. Ich weiß nicht, wie links ich bin, ich werde oft als Left-Wing tituliert. Aber ich bin ein begeisterter Leser der Kommentare von Jacob Augstein im „Freitag“. Das spricht mich an. Warum? Ich habe eine russische Schwiegertochter in Bayern, die gerade mit ihrem Geschäft vor die Hunde geht, weil das gesamte Geschäft auf LKW-Fahrten zwischen Bayern und Russland ausgelegt war. Ich will damit sagen, dass wir in den Dingen, in denen wir gefälligst an Problemlösungen arbeiten sollten, klüger arbeiten würden und klüger kommunizieren würden, wenn wir uns stärker in die Situation versetzen würden, uns der Frage stellen würden, wofür möchten wir in Erinnerung gehalten werden.

Norbert Reichel: Die Antworten können sehr unterschiedlich sein. Ich möchte nicht von Bellizismus reden, den es sicherlich bei einigen Personen gibt, vor allem bei solchen, die den Krieg zum Anlass nehmen, dass sie endlich das propagieren dürfen, was sie immer schon wollten, aber zum eigentlichen aktuellen Problem keinerlei Ideen beitragen. Ich denke da eher in Strukturen. Einmal denke ich, wie unterhält man sich über die Entwicklungen. Ich habe mich mehrfach über die Initiative von Alice Schwarzer geäußert. Und dabei ist meines Erachtens das Problem, dass es für manche – auch offenbar für Alice Schwarzer – nur das Eine oder das Andere gibt.

Harry Harun Behr: Yes!

Norbert Reichel: Die Dialektik dieser Geschichte wird nicht betrachtet. Ich kann natürlich nicht hingehen und sagen, ich tue alles, damit es mit Russland gut läuft und opfere die Ukraine, und ich kann genauso wenig sagen, ich gehe hin und unterstütze allen Unfug, der auch in der Ukraine geschieht, beispielsweise die Frage, dass dort in manchen Kreisen russische Sprache und russische Kultur nur noch mit Putin identifiziert wird. Aber was haben Tschaikowsky und Tschechow mit Putin zu tun? Ich habe vier Frauen interviewt, die in den 1990er Jahren aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind. Sie alle sind russischsprachig aufgewachsen. In Deutschland gibt es wieder Ressentiments, die ich aus den 1960er Jahren kenne, als der Russe – bestimmter Artikel – beziehungsweise der Sowjetrusse – das wurde miteinander identifiziert, obwohl die Sowjetunion ein Vielvölkerstaat war, als der Feind schlechthin verstanden wurde. Aus dem Osten kam alles Böse und das fing schon hinter der Elbe an. Ich würde erwarten, dass darüber diskutiert wird, was es mit dem Putin’schen Geschichtsbild auf sich hat und warum es falsch ist. Solche Debatten gibt es viel zu wenige. Gut und der Problemlage angemessen fand ich das Gespräch zwischen Thea Dorn und Juli Zeh, das die ZEIT dokumentiert hatte. Die beiden hatten gegenläufige Unterschriftenlisten unterzeichnet, aber sie sprachen im gegenseitigen Respekt, zivilisiert, dialektisch, miteinander. Das müsste und kann man doch trainieren. Stattdessen wird immer die Keule herausgeholt, wer was sagen darf und wer nicht.

Harry Harun Behr: Debattenkultur!

Norbert Reichel: Aber wie debattiere ich mit einem Putin? Da fehlt mir jede Fantasie.

Harry Harun Behr: Das ist sicherlich noch einmal eine andere Etage. Aber wenn ich einmal auf die Schulsituation schaue. Wenn ich von meinen Töchtern, die noch im Gymnasium sind, die eine in der 11. Klasse, die andere in der 5., zu hören bekomme, wie da in den Klassen- und in den Lehrerzimmern nicht debattiert wird, komme ich schon zum Schluss, dass es uns an Mut und an Formaten fehlt, kultivierte Debatte einzuüben, die beides ermöglicht, Verstehen und Verständnis, Kritik, Zustimmung, Abgrenzung, in der eingeübt wird, was ist eine Information, was ist ein zuverlässiges Faktum, eine zuverlässige Quelle. Wie geht man eigentlich mit harten Konflikten um, ohne den anderen zu dämonisieren?

Wider Dämonisierung

Norbert Reichel: Dämonisierung ist ein Thema in Gesprächen und Statements über die sogenannten sozialen Netzwerke. Aber deren Wirkung – auch von Telegram – ist vielschichtig: auf der einen Seite viel Unappetitliches, auf der anderen sind sie alle auch ein Forum für Opposition und Dissidenz. Und russische oder chinesische Oppositionsgruppen haben kaum eine andere Möglichkeit als über diese Netzwerke ihre Sicht der Dinge öffentlich zu machen. Ich sollte nicht die sozialen Medien an sich verteufeln, ich muss über die Art und Weise debattieren, wie man sich dort einbringt. Es geht um Regeln, die eingehalten werden sollten. Mit einem Verbot, wie manche es sich vielleicht wünschen, lande ich beim Generalverbot von Zeitungen, Zeitschriften, Internetseiten, ganzen Medien. Oft genug werden in Diktaturen soziale Netzwerke, Internetseiten oder was auch immer komplett gesperrt, wenn sich dort oppositionelle Gruppen äußern. Das geht bis in die Bewertung einzelner Personen und die Zugänglichkeit von Texten.

Ein Beispiel: zurzeit haben wir eine Debatte über ein posthum nach dem kürzlichen Tod seiner Frau veröffentlichtes Buch mit dem Titel „Guerre“ von Céline, Gero von Randow schrieb darüber in der ZEIT, Alice Kaplan in der New York Review of Books. „Voyage au boût de la nuit“ war ein bahnbrechender Anti-Kriegs-Roman, aber was mache ich mit den antisemitischen Pamphleten? Wie lese ich die entsprechenden Stellen in „Guerre“? Darf ich Céline überhaupt noch lesen? Ähnlich ließe sich über Ernst Jünger debattieren. Auf der einen Seite „Der Arbeiter“ und „Unter Stahlgewittern“, auf der anderen Seite die erste literarische Beschreibung eines Konzentrationslagers in „Auf den Marmorklippen“. Wie gehe ich damit um?

Harry Harun Behr: Ich weiß es nicht, aber es hat sicherlich auch damit zu tun, ob man mit Zutrauen und Gewissheit eine demokratische Position vertritt. Das hat sicherlich auch etwas zu tun mit dem Mut, Diskurse zuzulassen, die Gesamtheit von – im doppelten Sinne – kritischen Autor*innen zu sehen. In meinem Büro hängt ein Plakat von Hannah Arendt, das meine Mitarbeiterin aufgehängt hat, dieses ikonische Bild, auf dem sie ihre Zigarette raucht, aber wenn man liest, was Hannah Arendt über die Menschen in Afrika geschrieben hat? Soll ich es abhängen? Nein, ich hänge es nicht ab. Ich höre auch gerne Eric Clapton, obwohl er sich widerwärtig über Schwarze Musiker ausgelassen hat und im Grunde auf der Bannliste der gesamten Black Music steht. Aber er hat auch Lieder von Bob Marley in seinem Programm. Darf er das?

Ich will jetzt nicht den Begriff der „Cancel Culture“ verwenden, aber das, was Sie beschreiben, geht ja weg vom Plakativen hin in die Recherche. Wir haben aber so eine Plakat-Matrix in unserem Denken. Viele Lehrer*innen und Schüler*innen denken offenbar nur noch in Überschriften oder maximal einmal scrollen, aber sie erreichen die Tiefenströmungen des Feuilletons nicht mehr, weil nicht gelesen, nicht recherchiert wird, weil nicht nachgeschaut wird, wer ist denn eigentlich diese indonesische Künstlergruppe, die auf der documenta fifteen ihr Uraltplakat aufgehängt hat, das vor 25 Jahren kein Aufreger war. Das ist die eine Geschichte. Die andere ist die, welche Diskursmatrix stülpt der sogenannte globale Norden dem globalen Süden über und was ist das für ein Diskurs, wenn wir über den globalen Norden oder den globalen Süden reden?

Dazu gab es einige kluge Kommentare, aber in den Tagesthemen sehe ich dann einen Bericht über die Synagoge in Augsburg, die noch renoviert werden muss. Das ist eine der wenigen Synagogen, die die Nazi-Zeit überstanden haben, jetzt allerdings mehr oder weniger baufällig ist. Der einzige Satz, mit dem der Anchorman die anwesende Kulturstaatsministerin Claudia Roth präsentierte, war der Verweis, dass sie „jüngst wegen des Documenta-Skandals um ein antisemitisches Pamphlet in die Kritik geraten“ war. Da kommst du nicht mehr durch. Warum kein Stopp? Da ist doch noch mehr bei bestimmten Figuren, Namen, Künstler*innen, Literat*innen, Politiker*innen.

Norbert Reichel: Da wird auf ein einziges Ereignis reduziert, auf eine Äußerung, auf ein Merkmal. Alles andere wird ignoriert. Sie kennen sich in Indonesien aufgrund ihrer langen Zeit, die sie dort gelebt haben, gut aus. Wir sprachen in unserem ersten Gespräch ausführlich darüber. Ich fand zuletzt einen Text von Robin Detje in der Süddeutschen Zeitung, in der er sinngemäß die These nahelegte, dass sich die selbsternannte kunstaffine Öffentlichkeit in Deutschland mehr oder weniger aus der Affaire gestohlen habe, indem sie die Verantwortung für Werke mit antisemitischen  Elementen oder Inhalten an die indonesischen Kollektive delegierte, die das Plakat erstellt beziehungsweise die gesamte documenta fifteen kuratiert hatten. Hat die Leitung der documenta fifteen die Kurator*innen und die Künstler*innen instrumentalisiert, das zu sagen, was man sich selbst nicht traute? War das Schlamperei bei der Prüfung der Kunstwerke oder bewusstes Wegschauen?

Harry Harun Behr: Ich bin nicht wirklich drin in diesem Diskurs. In Indonesien gibt es schon Diskurse, die in den letzten 30 Jahren sehr stark durch eine arabische oder arabophile Israelfeindlichkeit beeinflusst sind, sodass es eine antisemitische Einschreibung in Predigten, in Diskursen, in den Medien, staatlichen Verlautbarungen gibt, auch in der Richtung Ost gegen West, Nord gegen Süd. Ich habe das hautnah erlebt, nicht in Indonesien, aber in Malaysia, als ich um 2014 dort war. Das war zwei Wochen, bevor die malaysische Maschine über der Ukraine abgeschossen wurde. Das ist der Linienflug von Amsterdam, der zwei Mal am Tag fliegt. Mir ist der Schreck in die Glieder gefahren, als ich das hörte. Ich war in Malaysia im Auftrag der Ständigen Delegation der Europäischen Union, die diese bei den ASEAN-Staaten hat. Ich wurde als Wissenschaftler zu einer Tagung geschickt, an der Staatssekretäre und Außenminister teilnahmen. Es ging um den Report der Human Rights Working Group 2012 Djakarta zur Frage, wie geht es religiösen Minderheiten in den zehn ASEAN-Staaten. Es waren Leute aus Myanmar dabei, aus Vietnam, aus Indonesien.

Es gab ein Treffen mit dem damaligen Ministerpräsidenten, der inzwischen wegen Korruption im Gefängnis sitzt. Der nannte mich im Radio einen Left-Wing-Muslim. Ich nannte ihn Right-Wing-Muslim. Da waren wir uns einig. Was war der Hintergrund? Kuala Lumpur hatte im Ramadan die Losung ausgegeben: „Keine Spenden an die Armen, sonst gewöhnen sich die da dran“. Ich habe gesagt, es gibt in Bayreuth, wo ich wohne, einen Ententeich, an dem steht, bitte nicht füttern, weil die Enten sich sonst daran gewöhnen. Ob er denn die Armen in Kuala Lumpur für Tiere halte, die ihre soziale Situation nicht verstünden und deshalb abhängig würden von der gebenden Hand, und wie er das mit der islamischen Ethik des Spendens und der sozialen Fürsorge verbinde, und das im Ramadan?! Das gefiel ihm nicht. Das zweite war die Debatte um Daesh, den sogenannten „Islamischen Staat“. Er vertrat die Meinung, dass Daesh eine ziemlich coole Bewegung wäre, weil sie zeige, dass Muslime keine Angst hätten vorm Sterben. Das ist eine Denkart, in der andere Vorurteilsnarrative, ethnische Minderheiten, chinesische Minderheiten, Juden, in einen globalen Kontext gestellt werden als der globale Jude, der globale Chinese, der globale Muslim, der globale Christ, der globale Migrant. Wenn das von der Staatsspitze in einem politischen Diskurs erfolgt, dann sehe ich schon Diskussionsbedarf, auch mit solchen Künstler*innengruppen, egal wie wir hier in Deutschland zu Antisemitismus stehen.

Norbert Reichel: Aber diese Debatte hätte geführt werden müssen.

Harry Harun Behr: Genau! Dafür ist eine documenta doch da.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2022, Internetzugriffe zuletzt am 1. September 2022)