Vor dem Spiegel
Reflektionen mit Dilek Güngör über ihre Romane
„Ada hat in ihrer Wohnung Schränke, einen in der Küche und einen im Schlafzimmer. Sie hat Spiegel, gerahmte Spiegel, im Schlafzimmer, im Bad, im Flur, sie sind nicht an die Wand genagelt, sondern mit Dübeln und Schrauben befestigt. In den Spiegeln sieht sich Ada nicht so, wie sie ist, sondern so, wie sie nicht ist. Sie erkennt das Nichtrichtig auf Anhieb, hat einen feinen Sinn für das Nichtechte, Nichtganze, Nichtrichtige, Nichtwahre, einen Blick, für das was fehlt, sie sieht die Lücke, sie kann das Unsichtbare sehen / Ada geht nah an den Spiegel heran, öffnet den Mund, sieht Zunge und Rachen und Gaumen, aber nicht weit genug hinein, um die Schönheit in ihrem Innern zu sehen. Sie schließt den Mund und richtet das Haar, sie sagt nicht Spieglein, Spieglein, Ada weiß ganz allein, wer die Schönste ist, die Klügste ist, die Beste ist und auch mit ihren Schwächen und Fehlern die Beste ist. / Das hat Ada immer schon gewusst. Sie ist es nicht.“ (Dilek Güngör, A wie Ada)
Dilek Güngör, in Schwaben geborene Berlinerin mit türkischen Eltern, ist eine Meisterin der Präzision. Allein schon die vielfältigen Erfahrungen der eigenen Familiengeschichte, die sich im Alltag immer wieder neuformieren, neue und oft auch widersprüchliche Reaktionen ihrer Umwelt hervorrufen, dürften Anlass genug sein, diese Präzision zu entwickeln und zu pflegen. Dies tat Dilek Güngör in ihren Kolumnen, die in den Bänden „Ganz schön deutsch – Meine türkische Familie und ich“ (München / Zürich, Piper, 2007) und „Unter uns“ (Berlin, edition ebersbach, 2004) erschienen.
Ihre vier Romane spiegeln die Spanne und all die Widersprüche zwischen Vergangenheiten – die im Plural genannt werden müssen – und Gegenwart (auch die im Plural?), mit einem vorsichtigen Blick auf wie auch immer geartete Zukünfte. Es begann mit „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“ (München / Zürich, Piper, 2007) und setzte sich mit den folgenden drei Romanen fort, die alle im Berliner Verbrecher Verlag erschienen: „Ich bin Özlem“, „Vater und ich“ (2021) und „A wie Ada“ (2024). Mit „Vater und ich“ gelang Dilek Güngör ein Platz auf der Long List für den Deutschen Buchpreis. Im Demokratischen Salon habe ich ihre Bücher mit den Essays „Türke bleibt Türke“ und „Die Integrationshierarchie“ vorgestellt. „A wie Ada“ ist Anlass genug, es diesmal mit einem Gespräch zu versuchen, vielleicht sogar mit einem Hauch Making Of. Dazu hat sich Dilek Güngör auch bereits einmal in der ZEIT-Kolumne „Zehn nach acht“ mit dem Aufruf „Leute, schreibt!“ geäußert. Bei unserem Gespräch haben wir beide viel gelacht (auch da, wo es nicht ausdrücklich angemerkt ist). Es war eine sehr entspannte Atmosphäre.
Miniaturen über ein Inselleben
Norbert Reichel: „A wie Ada“ unterscheidet sich meines Erachtens von Ihren vorangegangenen Romanen. Ich empfand es als ein sehr lyrisches Buch. Jedes der kurzen Kapitel hätte auch für sich als Prosagedicht gelesen werden können.
Dilek Güngör: Geplant war das nicht. Kurz zuvor hatte ich für die ZEIT, für deren Kolumne „Zehn nach Acht“, über einen Vogel geschrieben. Einen vergleichbaren Gedanken gibt es in dem Gedicht „Der Vogel“ von Nemes Nagy Ágnes. Sie beschreibt einen Vogel, der auf ihrer Schulter sitzt, eine schwere Last, der sich in meine Schulter krallt, aber wenn er wegfliegt, verliere ich das Gleichgewicht und falle um. Dieses Gedicht ging mir nicht aus dem Kopf. Darüber habe ich einen Text geschrieben, ich hatte gleich den Ton für diesen Text und dieser Ton hat mich in „A wie Ada“ getragen. Ich wusste, dass ich über Freundschaft schreiben wollte, auch über Freundschaften, in denen es unangenehme Dinge gibt, die der Freundschaft als Hindernis im Weg stehen, nicht die übliche romantische Idylle, die man im Kopf hat, wenn man von Freundschaft spricht, auch das, das Freundschaft belastet.
Ich habe mit kurzen Miniaturen angefangen. Ich wollte das schon lange einmal machen, in solchen Kurzformen schreiben. Doch dann wurde es zu einem zusammenhängenden Text. Das habe ich dann so gelassen. Dass der Ton so hineinkam, war vielleicht – so denke ich im Nachhinein – auch eine Stimmungslage. Es hat mir viel Spaß gemacht, auch dieses Sprachspielerische. Ich musste nicht an einer Story entlangschreiben, ich konnte immer neu ansetzen. Das war sehr schön.
Norbert Reichel: Keines Ihrer Bücher endet. Keine Katastrophen, kein Happy End. Nichts Endgültiges. Der Grundgedanke erschließt sich jederzeit, auch wenn man bei der Lektüre die Reihenfolge verändert. Wie bei Gedichtsammlungen. Jeder einzelne Text, jedes einzelne Gedicht steht für sich.
Dilek Güngör: Die Reihenfolge habe ich, als es in Druck ging, auch etwas gemischt. Bei Lesungen lese ich je nach Laune.
Norbert Reichel: Wie kamen Sie auf den Namen „Ada“?
Dirk Güngör: Meine „Ada“ hatte zunächst gar keinen Namen. Dann las ich zufällig im Internet das Posting eines türkischen Freundes, der in der Türkei lebt und der über den Geburtstag seines Sohnes schrieb, der „Ada“ heißt. Der Name ist im Türkischen ein Name für Jungen und für Mädchen. Er sagte, man muss sich in diesem Land, um einigermaßen gut leben zu können, seine kleine Insel schaffen. Politisch natürlich. Darauf dachte ich, der Name passt doch ganz gut. Ich hätte ihn aber nicht gewählt, wenn er nicht die Bedeutung „Insel“ gehabt hätte. Auf Deutsch klingt „Ada“ etwas vornehm. Ich habe da ganz andere Bilder im Kopf als bei einer Figur, die auf einer Insel lebt. Aber das ist eigentlich egal, denn wenn man den Text liest, kommt man schon schnell dahinter, dass es die „Insel“ ist.
Die Verbindungen zum Kontinent
Norbert Reichel: Oft wird John Donne zitiert: „No man is an island.“ Es geht dann im dritten Vers wie folgt weiter: „Every man is a piece of the continent“.
Dilek Güngör: Das passte ganz gut, aber ich habe nicht danach gesucht. Es fiel mir vor die Augen und ich dachte, es passt gut.
Norbert Reichel: In ihren Büchern sind die Hauptpersonen einerseits sehr alleine, nicht einsam, alleine, aber andererseits sind sie es nie, weil sie immer in Bezug auf Gruppen agieren, auf die Familie, die Onkel, die Tanten, auf die Freunde und Freundinnen, die Umwelt. Oder um im Bild zu bleiben: keine Inseln, eher Halbinseln. Alleine sein scheint mir so in Ihren Büchern etwas wie eine psychische Kategorie zu sein.
Dilek Güngör: Das zieht sich wie ein roter Faden durch alle meine Bücher. In meiner Nachbarschaft in Berlin gibt es einen Buchhändler, der sagt, meine Bücher wären eine unfreiwillige Trilogie und er verkaufe sie immer zusammen. Er fragte, ob ich damit einverstanden wäre. Klar, bei Ada gibt es viele Elemente, die auch in den anderen Büchern vorkommen, das in der Küche sein, mit dem Vater sprechen und doch nicht sprechen. Ich finde es schön, dass man Dinge wiedererkennen und trotzdem auch verstehen kann, wenn man die anderen Bücher nicht kennt. Es sind wiederkehrende Themen. Ich habe bei „Ada“ versucht, alle Scheu, alle Gefühle, ich hätte nichts anderes zu erzählen, ignoriert, sogar aktiv weggeschoben, all die Gedanken, dies macht man nicht, nein, ich mache es genau so.
Norbert Reichel: Ich finde die Art, in der Sie schreiben, immer sehr präzise. Ich genieße es auch, dass Sie das nicht in einem 600-Seiten-Roman geschrieben haben.
Dilek Güngör: Das sagen mir viele Leute, da steht so viel drin, man zieht so viel mehr heraus, als wenn es drei Mal so lang gewesen wäre. Wenn ich schreibe, habe ich immer wieder das Gefühl, ich habe es doch schon gesagt, es doppelt sich ganz schnell, dann kürze ich und kürze immer weiter. Trotzdem ist alles drin. Es sollte nichts verloren gehen. Es sollte auch nicht anekdotisch wirken oder aphoristisch. Davor hatte ich ein wenig Angst. Es sollte schon etwas erzählen, aber nicht geschwätzig.
Norbert Reichel: Das verstehe ich als lyrisches Schreiben. Alles Überflüssige herausstreichen. Aus meiner Sicht zeichnet das Ihre Romane aus. Ich schlage irgendwo auf und finde etwas.
Dilek Güngör: So lese ich auch. Das heißt nicht, dass ich Bücher nicht von Anfang bis Ende lese. Aber ich schlage einfach auf, um in den Ton des Buches hineinzukommen.
Norbert Reichel: Bei 600-Seiten-Werken ist es manchmal ziemlich schwer zu behalten, welche Person wo schon mal vorkam.
Dilek Güngör: Ich finde es sehr anstrengend, wenn ich in einem Roman immer wieder nachdenken muss, wer ist dies, welcher Ort war das?
Norbert Reichel: Sie sagten eben, das Sprechen spiele eine Rolle, das etwas Aussprechen, das Miteinander Sprechen, das ständige Miteinander Vergleichen. Ich denke hier gerade an die Stelle, an der Sie das Schneewittchen-Motiv aufgreifen: „Spieglein, Spieglein“. Für mich eine ganz zentrale Stelle des Buches. Sie mahnen die Leser:innen zur Vorsicht.
Dilek Güngör: Manchmal gelingt es mit Sprache, manchmal reicht die Sprache nicht. Wenn man Kinder hat, merkt man, dass es nicht so wichtig ist, was man sagt, sondern in welchem Ton man es sagt. Es ist ihnen weniger wichtig, welche Worte ich verwende, viel wichtiger ist es, in welchem Zusammenhang das steht, was ich sage.
Norbert Reichel: Das ist auch bei Erwachsenen so.
Dilek Güngör: Ich glaube, wir achten weniger auf den Wortinhalt, mehr auf den Kontext.
Wie schreibt man (über) Gefühle?
Norbert Reichel: Was sieht Ada im Spiegel? Was sehen die anderen?
Dilek Güngör: Das weiß man halt nicht. Ich frage mich oft, sehen die anderen die Welt wie ich? Sehen Sie das Gleiche? Wir können das ja nicht überprüfen. Was sehen die anderen, wenn sie mich sehen? Was sehe ich, wenn ich mich sehe? Wie sehr beeinflusst sich, was die anderen sagen. Das Negative beeinflusst mich sehr, wenn jemand sagt, das kannst du nicht, das macht man nicht. Das beeinflusst einen mehr als wenn jemand sagt: Du machst das gut, du schaffst das. Der Zuspruch der anderen. Vielleicht bleibt er auch. Das sind Fragen, die sich jeder stellt.
Norbert Reichel: Vielleicht etwa so wie Ada in „Auf dem Schrank“? „Ihre Ansprüche hat Ada oben auf den Küchenschrank gelegt, ohne eine Leiter kommt sie nicht an sie ran. Das muss so sein, was soll Ada mit einem Anspruch, für den sie sich bloß auf die Zehenspitzen stellen muss? Arm austrecken, bitteschön, da hab ich ihn. / Mutter sagt, Ada schafft alles, Ada kann alles, Ada macht alles mit links. Was Ada mit links schafft ist nichts wert, es ist wichtig, dass Ada nichts mit links schafft. Auch mit rechts darf sie es nicht schaffen, sie darf es gar nicht schaffen.“ Und wenn uns Dritte labeln und wir das zulassen, verschärft sich dieses Gefühl auch noch.
Dilek Güngör: Ja, man kann ja nicht durch die Welt gehen und sagen, ich bin ich. Ich bin ja nicht alleine ich, ich lebe immer im Kontext.
Norbert Reichel: Das erleben meines Erachtens Ihre Personen immer wieder.
Dilek Güngör: Die Personen sind auch immer dieselben Personen. Ich habe mich immer selbst vor Augen, wenn ich schreibe.
Norbert Reichel: Schreiben Sie autobiographisch? Ich habe eher den Eindruck, dass Sie bestimmte Situationen beschreiben, die Sie verfremden, Situationen, die so sein könnten.
Dilek Güngör: Die Reise, die ich bei „Vater und ich“ beschreibe, gab es ja nie. Auch bei „Ich bin Özlem“ gibt es Szenen, die einerseits so waren, andererseits nicht. Ich orientiere mich am Gefühl, weniger an den Gegebenheiten, und versuche, es so darzustellen, dass es andere berührt. Das erlebe ich auch, viele werden von meinen Romanen berührt. Das gefällt mir auch gut. Es ist nicht so leicht, ein Gefühl zu erzeugen. Wie macht man das, dass andere etwa dasselbe fühlen wie man selbst. Irgendwie scheint es zu gelingen.
In meinen Schreibworkshops merkt man schon, ob jemand ein Gefühl hat, das er dann in eine Szene überführt, oder ob jemand beispielsweise eine Landschaft beschreibt, einen Fluss, Weiden, Zweige, die ins Wasser hängen und damit ein Gefühl erzeugen möchten. Bei mir geht es anders herum. Beispielsweise ein Gefühl wie beschämt werden. Das Gefühl, wegen seiner Herkunft beschämt zu werden, das kennt nicht jeder. Aber das Gefühl, beschämt zu werden, das kennen alle. Woher kenne ich das Gefühl, was geschieht da, was passiert da in meinem Kopf, wie fühlt sich das an? Dann fühlt jeder etwas, das man beschreiben kann. Ich glaube, dass auch diejenigen, die nicht leben wie Ada, die nicht ein Leben kennen, wie Ada es führt, dass sie das Gefühl kennen, aus anderen Zusammenhängen.
Schreiben und Lesen in der Zeitmaschine
Norbert Reichel: Sie erwähnten eben die Schreibworkshops, die Sie anbieten. Ich habe vor etwa 25 Jahren einmal selbst Lyrik-Workshops angeboten und dabei festgestellt, dass Menschen, vor allem Frauen im Alter von 50 plus, teilnahmen und das erste Mal den Mut hatten, ihre Gedichte jemandem zu zeigen. Schreiben ist meines Erachtens in der Tat ein sehr mutiger Akt, erst recht, wenn man mit dem Ergebnis in die Öffentlichkeit geht. Haben Sie in Ihren Workshops ähnliche Erfahrungen gemacht?
Dilek Güngör: Gerade in Schulen ist das für die Schülerinnen und Schüler eine mutige Sache. Sie kommen aus verschiedenen Klassen zusammen, Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters treffen sich in einer Gruppe, in der man sich nicht unbedingt näher kennt. Gerade im Teenager-Alter ist es vielleicht besonders unangenehm, etwas vor Anderen oder gar vor Älteren zu lesen, vor allem, wenn man es zum ersten Mal liest. Ich sage dann oft, dass ich sie sehr mutig finde, bedanke mich bei ihnen für das Vertrauen, dass sie ihre Texte zeigen, sie vorlesen.
Wichtig ist das Feedback, sie wertzuschätzen, ihnen zu sagen, was man gut findet, was nicht und das auch begründet. Es ist schön zu erleben, dass jemand merkt, ich habe etwas zu erzählen, egal ob mit 13 oder 16 oder als Erwachsene. Jugendliche denken oft, man müsse sich immer sehr gewählt ausdrücken. Ich sage ihnen dann, sie sollten schreiben wie sie sprechen, das was sie sagen wollen, ist relevant und wichtig. Man kann auch etwas falsch machen, das, was man zuerst schreibt, ist erst einmal ein Entwurf, dann ändert man. Wichtig ist das Gefühl, ich habe etwas zu sagen. Das ist ja keine Prüfung wie in der Schule. Wenn wir immer nur auf „später, später“ verweisen, veräppeln wir die Kinder nur. Es kommt auf das Jetzt an. Jetzt wird der Text vorgelesen, jetzt sprechen wir darüber.
Bei einem Kurs an einer Universität sagte zuletzt eine Studentin, es wäre ihr schwer gefallen, die Texte der anderen zu kommentieren, von Angesicht zu Angesicht. Wenn sie sonst in den Kursen über Literatur sprechen, sind es Schriftsteller:innen, die schon gestorben sind, oder die, wenn sie leben, auch nicht im Raum sind. Jetzt so von Angesicht zu Angesicht fiele ihr das schwer.
Wenn ich auf der Bühne sitze, habe ich ähnliche Gefühle. Ich denke dann schon, da sagt jetzt jemand etwas über diese Ada, dann darf ich nicht „ich“ sagen, auch wenn diese Figur nahe an mir dran ist. Das kippt dann mal in die eine, mal in die andere Richtung, nehme ich es persönlich, nehme ich es nicht persönlich?
Norbert Reichel: Ich erinnere mich noch an die Veranstaltung, die wir vor der Pandemie, vor dem ersten Lockdown, mal in Bonn angeboten haben.
Dilek Güngör erinnert sich sofort, dehnt ein „Ja“, geht mit der Stimme nach oben.
Norbert Reichel: Mir war gar nicht klar, wer da kam. Das waren hauptsächlich ältere Damen, etwa 90 Prozent des Publikums, die überhaupt kein Verständnis für „Özlem“ hatten, eine Teilnehmerin meinte, Özlem bräuchte einen „Psychiater“. Und man wusste nicht so richtig, ob sie die Figur oder die Autorin meinte.
Dilek Güngör lacht: Das war ganz fürchterlich.
Norbert Reichel: Mir war das richtig peinlich. Die hatten gar nichts begriffen. Nach der Veranstaltung sprachen mich zwei Frauen an, die es begriffen hatten und sich ihrerseits über das Publikum wunderten. Wir wollen die älteren Damen jetzt nicht beschimpfen, aber es zeigte schon, wie schwer es offenbar ist, sich auf andere Lebenswelten als die eigene einzustellen. Erleben Sie so etwas öfter?
Dilek Güngör: Es gibt alles Mögliche. Manchmal habe ich das Gefühl, ich komme in eine Art Zeitmaschine. Ich hatte aus meinem ersten Roman vorgelesen: „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“. Dann aus dem neuesten Roman. In der Einführung sprach jemand von den Gastarbeitern, die in den 1960er Jahren nach Deutschland kamen. Ich dachte sofort, dahin kann ich nicht mehr zurück, dieses Leben zwischen den Stühlen. Die Frau, die in die Veranstaltung einführte, war sehr sehr nett. Sie mochte meine Bücher, war sehr innig, aber trotzdem merkte ich, es gibt so viele Parallelleben. Diese Lücke kann und will ich jetzt gar nicht schließen. Ich lese jetzt einfach aus meinen Sachen und hoffe, dass das, was ich sage, sich einfach so vermittelt, oder dass ich sagen muss, dieses Leben zwischen den Stühlen ist jetzt nicht mehr so aktuell. Ich habe es dann doch angesprochen und gesagt, dieses zwischen den Stühlen ist kein Ort, da sitzt man einfach auf dem Boden. Ich musste es noch einmal sagen, aber im Publikum waren dann doch viele Leute, für die war das gar nicht mehr notwendig. Die hatten schon an mich angeschlossen. Die waren im Jahr 2024.
Wenn ich in Berlin lese, habe ich den Eindruck, da kommen viele Leute so wie ich. Da muss ich gar nichts mehr erklären. Aber das ist auch eine Blase für sich. Dann lese ich in einer Kleinstadt in einer Stadthalle. Es ist vielleicht die einzige Veranstaltung an dem Abend in dem Ort. Dann muss ich ganz viel über die Türkei, über meine Eltern erzählen. Und andere erzählen von ihren Familien, ihren Eltern. Da habe ich das Gefühl, es geht gar nicht mehr um den Text, sondern die Leute wollen einfach ins Gespräch kommen. Das gibt es alles. Ich befinde mich in unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Diskursen. Das Bedürfnis, die Art und Weise, wie über die Bücher oder ob überhaupt über den Roman gesprochen wird, das unterscheidet sich sehr deutlich. Ich muss mich jedes Mal neu darauf einlassen. Ich weiß nicht wer kommt, ich weiß nicht, auf welche Situation ich mich einstellen muss.
Norbert Reichel: Wenn ich das richtig verstehe, versucht das Publikum, in den Büchern, in den Autor:innen doch auch etwas Bestimmtes zu finden. Haben Sie vielleicht den Eindruck, dass Sie dann auch ein „Spieglein“ sind, in das die Leute hineinschauen wollen, um sich selbst wiederzufinden, sodass Sie zu einer Art Projektionsangebot werden?
Dilek Güngör: Ich denke schon. Viel mehr auch noch das Buch. Ich suche beim Lesen ja auch immer mich selbst. Die Stellen, die ich mag, haben ja auch etwas mit mir zu tun, berühren etwas, was ich im Kopf habe, beschreiben etwas, das mich gerade umtreibt oder etwas, das ich noch gar nicht wusste, jetzt aber total spannend finde. wir knüpfen an das an, was da ist, die Person, die da vorne sitzt. Allein die Situation ist ja schon so, dass ich genau so eine Projektionsfläche bin wie das Publikum meine Projektionsfläche ist. Ich schaue natürlich, wie reagieren die Leute, hören sie zu? Lacht jemand? Welche Fragen werden gestellt? Sprechen mich die Leute hinterher an? Das ist oft so, dass Leute nicht im Raum, sondern erst beim Signieren ihre Frage stellen.
Norbert Reichel: Manche vielleicht aus Diskretion, andere vielleicht aus Scheu.
Dilek Güngör: Ich denke gerade, ich habe noch nie bei einer Lesung eine Frage gestellt. Selten. Was soll man auch fragen? Man will es auf sich wirken lassen, hineinhören.
Norbert Reichel: Manchmal fallen einem die Fragen auch erst am nächsten Tag ein. Die Autor:innen kann man ja in der Regel dann nicht anrufen. Takis Würger hatte in seinem Roman „Stella“ am Schluss seine e-mail-Adresse veröffentlicht. Das fand ich schon ziemlich mutig. Wenn ich mich richtig erinnere, hat er mir dann von einigen Tausenden Mails erzählt. Sein Buch war ja nicht so ganz unumstritten. So waren dann auch die e-mails. Übrigens gehört meine Rezension des Buches („Das Stella-Dilemma“) in meinem Magazin zu den am meisten nachgefragten Texten. Was projizieren Sie ins Publikum hinein? Gäbe es so etwas wie ein ideales Publikum für Sie?
Dilek Güngör: Ich freue mich natürlich, wenn jemand sagt, Sie haben das so schön beschrieben, das kenne ich auch, und ich wenn ich dann denke, das, was ich sagen möchte, wird verstanden, es geht auf dem Weg von mir zum Publikum keine Informationen verloren, wenn dann eine Art Verbindung entsteht, das sind die schönsten Momente.
Norbert Reichel: Und das Gegenteil?
Dilek Güngör (zögert etwas mit der Antwort): Das Gegenteil ist etwa das, wenn Leute Ratschläge geben, warum stellt sich Ada so an, sie müsste doch nur, sie könnte doch. Aber darum geht es ja gar nicht.
Norbert Reichel: Das wäre wieder die ältere Dame in Bonn, an die wir uns eben erinnerten?
Dilek Güngör: Oder sagen, man muss es nur so oder so machen. Das ist aber nicht so. Das sagen wir uns nur so. Es ist nicht so einfach. Es ist nicht die Wahrheit. Es ist auch nicht die Wahrheit, dass wir die Lösung wissen. Ich mag, wenn Leute das aushalten können. Trotzdem muss es humorvoll sein, es darf nicht so selbstbemitleidend sein.
You can be an island
Norbert Reichel: Selbstbemitleidend sind ihre Texte ja nun gar nicht, manchmal sind sie auch humorvoll, so wie Sie das eben beschrieben. Eine Menge satirische Situationen, zumindest aus der Distanz. All die Situationen, in denen die Personen rund um Özlem ihr erklären wollen, wie es eigentlich geht. In „A wie Ada“ verdichtet sich diese Situation immer wieder in den Miniaturen. Ob die Personen das in der beschriebenen Situation auch selbst so empfinden, ist eine andere Frage. Ich finde in Ihrer Art zu schreiben viel Empathie für die beschriebenen Personen.
Manchmal gibt es schon Stellen, bei denen man den Eindruck hat, dass die jeweilige Person unter der Situation leidet, das ist bei Özlem der Fall, auch bei Ipek, manchmal bei Ada, obwohl Ada erheblich reflektierter spricht und meines Erachtens genau weiß, wo das Problem liegt und dass es gar nicht unbedingt ein Problem ist.
In der folgenden Stelle sehe ich beispielsweise diese Mischung von Selbstbewusstsein und doch dann einem Hauch von Zurücknahme, bei der ich aber nicht weiß, ob es Ironie oder Sarkasmus ist: „Ada weiß, dass ihre Haare, ihre Augen, ihre Wangen, ihre Lippen, ihre Arme, dass sie selbst eine Währung ist, mit der man hier nichts kaufen kann. Schön anzuschauen, aber wertlos.“ Und sofort nimmt sie auch das wieder zurück und findet sich selbst als wertvoll wieder: „Für Mädchen gibt es in der ganzen Stadt keine Wechselstube. Für Mädchen wie Ada braucht es besondere Liebhaber.“ Denn sie selbst ist doch eine ganz „besondere“ Frau. Der Schlussabschnitt ist geradezu Programm: „Ada hat es sich gut eingerichtet auf ihrer Insel.“ Es ist letztlich egal, ob es um sie herum gefährlich ist oder nicht. „Die Sonne scheint mild, es gibt nichts, wovor sie sich fürchten muss, nur das, wovor sich alle fürchten müssen.“
Dilek Güngör: Ich glaube, man ist selbst, wenn man in einer anderen Situation ist, jemandem aus seiner Lage heraushelfen möchte, mit guten Ratschlägen dabei, weil man auch selbst aus so einem unangenehmen Gefühl heraus will. Manchmal muss man nur da sein, es aushalten, dem Anderen das Gefühl geben, man ist da.
Ich erinnere mich an den Moment der Geburt meiner Tochter. Als die Wehen einsetzten, rief meine Mutter an und sagte, die Wehen werden wehtun, du wirst schreien, es wird wehtun, aber alle vor dir haben es überstanden, du wirst es auch überstehen. Es war nicht so, dass sie sagte, als Mutter merkt man das alles nicht, sondern sie sagte, es ist eine Plackerei. Es wird sehr sehr wehtun, dieser Realismus, dieser Pragmatismus, dieses Zutrauen, das mag ich lieber als dieses Zukleistern so etwa, wenn das Baby da ist, ist alles vergessen. Ich mag das, den Dingen realistisch ins Auge zu sehen und anderen die Wahrheit zumuten.
Norbert Reichel: Ich finde den Verweis auf das Sich-etwas-Zutrauen eigentlich zentral, Selbstwirksamkeit und Resilienz würden Psycholog:innen sagen. In Ihren Büchern finde ich immer wieder folgende Linie: die Hauptperson zweifelt an sich, die Umwelt zweifelt an ihr, aber sie schafft es dann, mit dem Leben zurechtzukommen, sich einzurichten.
Dilek Güngör: Das ist auch so ein Charakterzug von mir. Ich hatte vor Kurzem einen Uni-Workshop, nach dem ich dachte, die halten mich jetzt für komisch und unprofessionell. Dann finde ich ganz viele Beweise dafür, dass das auch stimmen muss. Ich brauche dann so etwa eineinhalb Tage, bis sich das legt. Das Gefühl ist so stark, dass es die Realität einfärbt. Dann aber denke ich, ich darf den alle diese Sachen über das Schreiben erzählen, weil ich schon so lange schreibe, und das sind Studierende, die gerade damit anfangen zu schreiben. Ich habe so viel Erfahrung. Selbst, wenn ich die Auszeichnungen, die ich erhalten habe, nicht erhalten hätte, könnte ich ihnen viel über den Schreibprozess erklären. Man kann sich unsicher fühlen, man kann zweifeln, und trotzdem kann man es gut machen. Das ist okay, dass das eine da ist und das andere auch. Man darf diese Unsicherheit nicht wegdrücken, denn das Gefühl lässt sich nicht wegdrücken. Man kann sich sagen, schau, das ist dein soundsovielter Roman, das verkauft sich gut, du wurdest nominiert, die Rezensionen sind super. Das hilft dann nichts. Man muss sagen, Gefühl der Unsicherheit, ich höre dich, aber ich mache trotzdem weiter.
Norbert Reichel: Ich lese die Romane der Trilogie jetzt in der Reihenfolge, wie sie geschrieben wurden: „Ich bin Özlem“, ein Buch, in dem Leute im etwa selben Alter wie die Hauptperson, „Vater und ich“, eine Erzählung über zwei Generationen, „Ada“ ist dann ein Buch eines Menschen, der bei sich selbst angekommen ist.
Dilek Güngör: Ich habe auch das Gefühl, es zentriert sich. Es geht von außen nach innen. Es ist – so sage ich es jetzt mal – das „meinste Buch“. Da ist am meisten von dem drin, was ich gerne mache. Mit Sprache spielen, Dinge verkürzt zu sagen, das Springen und Assoziieren, all das macht mir Spaß. Die Dinge hintereinander weg zu erzählen fällt mir schwer. Ich dachte, ich mache jetzt bei diesem Buch alles, wozu ich Lust habe. Dass es so gut ankommt, bestätigt mir, dass ich ein gutes Gefühl dafür hatte, dass ich in das vertrauen kann, was ich mache.
Norbert Reichel: Das Buch geht auch gegen Lesegewohnheiten an. Es ist eben keine hintereinanderher erzählte Geschichte, deren Plot sich leicht zusammenfassen ließe. Man muss schon etwas nachdenken, und dies lässt sich mit jedem Einzelnen der kurzen Kapitel beginnen. Ada hat auch Distanz zu dem was sie tut. Zum Beispiel „Igel“: „Wer nicht fremd ist, braucht nichts zu fragen, wer nie fremd ist, weiß. Wer nie fremd ist, braucht nicht zu lernen. (….) Wer nicht fremd ist, weiß schon und kennt schon. Wie der Igel ist er immer schon da, wenn Ada kommt, und sie hat sich so beeilt. (…) Ada läuft und läuft, denn wer so läuft, kann nicht auf einen Schlag stehenbleiben. Wer so läuft, kann nicht auf einen Schlag stehenbleiben. Wer so läuft, muss locker auslaufen und dann kehrtmachen, sonst schlägt es einen auf die Fresse.“ Ada ist in sich gefestigt. She can be an island.
Dilek Güngör: Ja, die Inseln muss auch nicht irgendwo andocken. Das ist kein Zustand. Man kann auch sehr gut eingebunden sein, die Nähe haben, die man braucht, man kann auf seiner Insel bleiben. Ada ist nicht auf der Suche danach, keine Insel mehr zu sein. Sie probiert dies und jenes aus, geht da hin und dort hin, aber andererseits: ich habe noch nicht so den Ort gefunden, an dem man steht.
Norbert Reichel: Meinen Sie mit „ich“ sich selbst oder Ada?
Dilek Güngör: Beide. Ich bin jetzt 52 Jahre alt, und ich dachte immer, das tut man, dass man irgendwann seinen festen Punkt erreicht.
Norbert Reichel: Ich bin 69 Jahre alt und weiß das auch nicht – mit meinen vier Leben. Nichts ist abgeschlossen. Und die Trilogie?
Dilek Güngör: Es kommt bestimmt ein neues Buch, aber es fühlt sich zurzeit nicht so an. Eine Idee habe ich noch nicht. Aber „A wie Ada“ ist ja auch gerade vor ein paar Monaten erschienen. Zwischen „Mein Vater und Ich“ und dem Beginn von „A wie Ada“ lagen auch etwa zweieinhalb Jahre. Dann ging es aber sehr schnell. Im August 2023 sagte der Verbrecher Verlag, wir könnten im Frühjahr 2024 ein neues Buch von mir veröffentlichen. Abgabefrist etwa sechs Wochen. (beide lachen). Ich habe schon etwas geschickt, woran ich schrieb, eigentlich zeige ich nichts, bevor ich das Gefühl habe, es ist fertig. Wir haben noch etwas verlängert, im Oktober habe ich abgegeben, bis November noch etwas redigiert und dann ging es in Druck. Dafür liebe ich den Verbrecher Verlag. Das geht alles sehr unkompliziert und schnell. Und zwischen Autorin und Verlag gibt es einfach ein großes Vertrauen. Bei einem großen Verlag liegt das dann schon einmal eine Weile.
Ich habe zurzeit aber auch nicht das Gefühl, ich müsste alleine am Schreibtisch sitzen. Ich möchte ein bisschen raus, mich mit Kollegen treffen. Ich mache zurzeit Sprachcafés, lese in Grundschulen mit Kindern. Wenn das Buch dann kommt, dann kommt es von alleine. Das kommt nicht durch Nachdenken, durch Suchen. Ich dachte nach „Mein Vater und ich“ schon, ich versuche mal, etwas zu schreiben, aber das ging dann nicht. Ich dachte, ich veräppele mich nur selber.
Norbert Reichel: Haben Sie einen harten Blick auf sich?
Dilek Güngör: Ich glaube schon. Nicht auf meine Figuren, aber auf mich schon. Ich muss mir schon beibringen, dass etwas in Ordnung ist. Letztens sagte eine Freundin zu mir, du bist viel besser als du denkst. Manche denken, sie müssten mich erst etwas beruhigen und mir diesen strengen Ton mit mir selbst nehmen.
Als Ada rauskam und auf so viel Lob stieß, dachte ich erst, ich schreibe einfach weiter. Ich hatte den Ton noch so im Ohr, ich könnte einfach weiterschreiben. Aber wie gesagt.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2024, Internetzugriffe zuletzt am 1. Juli 2024. Foto: Pixabay.)