War in Our Time

Über falsche Vergleiche und die Zukunft des Westens

„Der Westen muss Rückgrat zeigen. Das hätte schon lange geschehen müssen, spätestens beim Krimkrieg 2014. Wir müssen Putin zeigen, dass wir uns nicht einschüchtern lassen. Dass er nicht damit durchkommt, Kriege zu führen und politische Morde zu begehen.“  (Fiona Hill am 17. Februar 2024 im Tagesspiegel)

In der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938 unterschrieben Neville Chamberlain, Edouard Daladier, Benito Mussolini und Adolf Hitler in München das sogenannte „Münchner Abkommen“, das Teile der damaligen Tschechoslowakei dem Deutschen Reich angliederte. Neville Chamberlain sprach von „Peace in our time“ und deutete damit mehr oder weniger bewusst an, dass es offenbar nicht möglich war, den Frieden ohne Erfüllung der territorialen Ansprüche des deutschen Despoten zu bewahren. Frankreich und Großbritannien wiegten sich in Sicherheit, während sich im Deutschen Reich und in der Sowjetunion, die an der Münchner Konferenz nicht beteiligt war, bereits ein weiteres Abkommen abzeichnete, das elf Monate später, am 23. August 1939 von den Außenministerin Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow unterzeichnet wurde und als Hitler-Stalin-Pakt in die Geschichte einging. Am 1. Oktober 1938 marschierten deutsche Truppen in der Tschechoslowakei ein, am 1. September 1939 überfiel das Deutsche Reich Polen, am 17. September 1939 besetzten sowjetische Truppen Ostpolen.

Timothy Snyder hat in seinem Buch „Bloodlands“ die Folgen beschrieben. Er zeigt eine Karte mit der Molotow-Ribbentrop-Linie, die zeigt, wie sich Stalin und Hitler die Welt aufteilten. Wer sich die heutigen Grenzen in Osteuropa anschaut, wird vielleicht erstaunt feststellen, dass die Grenzen des heutigen Russlands unter Einschluss von Belarus, der Ukraine und der baltischen Staaten im Westen weitgehend mit der Ribbentrop-Molotow-Linie übereinstimmen. Wladimir Putin, von dem Angela Merkel 2014 sagte, er lebe wohl in einer anderen Welt, verbreitet nach wie vor und immer wieder die Botschaft, dass Polen den Zweiten Weltkrieg verschuldet habe, weil man die Gebietsansprüche Hitlers nicht erfüllen wolle. So auch kürzlich wieder in einem Gespräch mit dem ehemaligen Fox-News-Frontmann Tucker Carlson.

Dialektik der Friedensbewegung der 1980er Jahre

Wozu diese Einleitung? Was hat diese Erinnerung mit dem heutigen Herrschaftsanspruch Putins gegenüber der Ukraine und nicht zuletzt auch gegenüber den baltischen Staaten zu tun, die er kürzlich ebenso wie die Ukraine als von Nazis regiert bezeichnete? Meine These: heute, etwa zwei Jahre nach dem Überfall der russländischen Truppen auf die Ukraine, verkehrt sich die Rede von „Peace in our Time“ in das Gegenteil: „War in our time“.

Genau dies ist der Hintergrund der aktuellen Debatten um die Unterstützung der Ukraine, die Aufrüstung im Westen, den militärischen Schutz der Ostgrenzen der Europäischen Union, die Aufnahme von Ukraine und Moldawien in EU und NATO, einen eigenen atomaren Schutzschild für Europa, nicht zuletzt anlässlich jüngster Äußerungen des voraussichtlichen republikanischen Kandidaten für die US-Präsidentschaft Donald Trump über die Verlässlichkeit der USA als größtem Partner in der NATO. Trump äußerte sich im Stile eines Schutzgelderpressers, aber seine Forderung nach einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben der europäischen Partner wurde auch schon von seinem Vorgänger Barack Obama erhoben. Der aktuelle Krieg in der Ukraine begann bereits 2014 mit der Besetzung der Krim und von Teilen der Ost-Ukraine, aber all das wollten in Deutschland und anderswo viele nicht wahrhaben. Man fühlte sich wohl in seinem geliebten Appeasement.

Wer in der deutschen Friedensbewegung zu Beginn der 1980er Jahre sozialisiert wurde, mag so manches Unbehagen empfinden. „Unbequem und schmerzhaft“ ist es für die SPD, sich einzugestehen, dass „Wandel durch Annäherung“ oder „Wandel durch Handel“ der Vergangenheit angehören. Die Zeiten haben sich geändert – und das ist nicht so banal wie es klingt. Daher wage ich den Versuch, einige Unterschiede zu 1939 wie zur Zeit der frühen 1980er Jahre zu nennen, die – wenn wir sie ernst nehmen – zeigen, dass in der Tat „War in our time“ die Botschaft ist, der wir uns heute stellen müssen.

Ende der 1970er und im Anfang der 1980er Jahre gab es eine große Friedensbewegung in Deutschland, die unter anderem auch zur Gründung der westdeutschen Grünen führte, durchaus in Tradition vorangegangener Demonstrationen gegen Wiederbewaffnung, Vietnamkrieg und Atomkraft. Die großen Demonstrationen im Bonner Hofgarten lassen noch manche, die damals teilnahmen, in euphorischer Nostalgie schwelgen. Aus heutiger Sicht ist jedoch die These plausibel, dass die Friedensbewegung im Westen und der Nachrüstungsbeschluss der NATO zur Stationierung von Pershing-Raketen als Antwort auf die sowjetischen SS-20-Raketen erst in ihrer Verbindung die Abrüstungsverhandlungen der 1980er Jahre ermöglichten, die mit den Namen des US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan und des Generalsekretärs der sowjetischen kommunistischen Partei Michail Sergejewitsch Gorbatschow verbunden sind.

Hinzu kam, dass es auch im Osten eine Friedensbewegung gab. Die kommunistische Repression hatte ihre Bevölkerungen immer weniger unter Kontrolle, es gelang beispielsweise der SED nicht, die Friedensbewegung zu okkupieren wie andere Bewegungen in der Vergangenheit. Die DDR-Friedensbewegung war ein wesentlicher Faktor, der den Fall des kommunistischen Regimes vorbereitete. Die kommunistischen Herrscher hatten den Zugang zur von ihnen verherrlichten „Arbeiterklasse“ verloren. Am 13. Dezember 1981 musste der polnische Regierungschef, General Wojciech Jaruzelski, das Kriegsrecht verhängen, weil die unabhängige Gewerkschaftsbewegung Solidarność seine Herrschaft bedrohte. Sowjetische Truppen marschierten – anders als 1956 in Ungarn und 1968 in Prag – jedoch nicht Richtung Westen. Am 4. Juni 1989 wurde in Polen der erste nicht-kommunistische Ministerpräsident in einem ursprünglich sowjetisch dominierten Land gewählt, am 27. Juni 1989 durchtrennten die Außenminister Ungarns und Österreich den Grenzzaun. Die weitere Entwicklung ist bekannt.

Russland heute

Heute sieht dies anders aus. Russland ist stabil, Putin hat es in wenigen Jahren geschafft, ein autoritäres in ein totalitäres System zu verwandeln, in dem eine brutale Rechtsprechung, die Unterdrückung jeden Widerstandes auf der einen Seite, die Instrumentalisierung von Schulen und Hochschulen auf der anderen Seite dafür sorgen, dass die Putin’schen Vorstellungen von der Auserwähltheit Russlands Allgemeingut geworden sind. Eine nennenswerte Opposition gibt es in Russland nicht mehr. Der bekannteste Oppositionspolitiker, Alexej Anatoljewitsch Nawalny, wurde systematisch in den Tod getrieben. Jewgenija Kara-Mursa, deren Ehemann gerade zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, hat es in einem Interview mit Anastasia Tikhomirova auf den Punkt gebracht: „Putin hat nichts anderes als den Gulag geschaffen.“ Die ZEIT dokumentierte am 20. Februar 2024 das Schicksal von acht prominenten Gefangenen. Michael Thumann diagnostiziert eine „Mischung aus Paranoia und Allmachtswahn“.

In der Februarausgabe 2024 des Merkur beschrieb Alexander Blankenagel in seinem Essay „Ach Russland, war’s das?“ im Detail, wie Meinungs- und Pressefreiheit abgeschafft, Kultur und Bildungswesen gleichgeschaltet und kontrolliert, Justiz instrumentalisiert, letztlich die in der Verfassung von 1993 garantierten Rechte mit Füßen getreten werden: „Die Grenzen zwischen Staat und Gesellschaft, in denen das Recht gelten sollte, und dem Verbrechen verwischen immer mehr.“ Sebastian Hoppe hat in der Februarausgabe 2024 der Blätter für deutsche und internationale Politik die Entwicklungen in Putins Reich auf die folgende Formel gebracht: „Personenkult und Regression – Russlands Umbau zur Kriegsgesellschaft“.

In Russland herrscht ein enges Bündnis von Kirche und Staat, die Auserwähltheit des russischen Volkes wird somit auch noch religiös untermauert. Gary Saul Morson hat unter dem Titel „Russian Exceptionalism“ in der Ausgabe vom 22. Februar 2024 der New York Review of Books mehrere Veröffentlichungen zum durchaus religiös konnotierten Euroasianismus Putins vorgestellt, der mit Namen wie Aleksandr Dugin und Lev Gumilev (übrigens Sohn Anna Akhmatovas) verbunden ist. Wer mehr zu diesem Thema lesen möchte, greife zu einem weiteren Buch von Timothy Snyder: „Der Weg in die Unfreiheit – Russland – Europa – Amerika“.

Das russländische System ist stabil und dürfte dies in den folgenden Jahren bleiben. Ein Drittel der Wirtschaftsleistung wird in das Militär investiert, es gibt endlos viele junge Männer, die an der Front eingesetzt werden können. Die Verluste, die nach manchen Berichten sieben Mal so hoch sind wie die der Ukraine, haben bisher nicht zu Unruhen in Russland geführt. Es sieht auch nicht danach aus.

Und der Westen?

Ein weiterer wesentlicher Unterschied ist die partielle Unterstützung Putins aus dem Westen. Das ist nicht nur ein potenzieller amerikanischer Präsident Trump mit seiner Verwechslung des Beistandspakts der NATO mit einem Mafia-Schutzgeldsystem. Abgesehen davon ist nicht ausgemacht, dass Trump die Wahl gewinnt. Ich denke nach wie vor, dass er sie nicht gewinnen wird, auch wenn er ebenso wie vor vier Jahren seine Niederlage nicht so einfach hinnehmen wird. Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den frühen 1980er Jahren und der heutigen Zeit liegt darin, dass es damals im Westen keine einzige relevante Partei gab, die die Politik der Sowjetunion unterstützte. Die Sowjetunion war auch unter Breschnew nicht expansiv in Richtung Westen ausgelegt, es ging ihr lediglich um den eigenen Herrschaftsbereich. Sie hatte ihre Unterstützer im Westen längst verloren. Der insbesondere von Enrico Berlinguer in Italien, von Santiago Carillo in Spanien, in Teilen auch von der französischen Nomenklatura betriebene sogenannte „Eurokommunismus“ versuchte die Versöhnung von kommunistischen Idealen und demokratischer Praxis. Durchaus im Sinne des Prager Frühlings 1968.

Heute gibt es in Westeuropa eine Menge rechter und einiger linker Parteien, die Putin unterstützen oder zumindest nicht die Ukraine unterstützen wollen. Nach dem 24. Februar 2022 haben zwar einige rechte Parteien ihre Position verändert. Giorgia Meloni in Italien unterstützt die Ukraine, im Einvernehmen mit der NATO, Marine Le Pen hat ihre Putin-Unterstützung zumindest deutlich zurückgefahren, dürfte sich aber für den Fall einer Übernahme der Regierung ähnlich verhalten wie Meloni. Andere rechte Parteien, die sich an diversen nordeuropäischen Regierungen beteiligen, sind ebenfalls weitestgehend NATO-treu. Putin hat seine Hauptunterstützer in der österreichischen FPÖ und der deutschen AfD, die ein eurasisches Bündnis als Alternative zur EU propagiert, sowie beim niederländischen Politiker Geert Wilders, der bei den letzten Wahlen mit etwa 25 Prozent die meisten Stimmen erhielt, es aber offensichtlich nicht schafft, eine Regierung zu bilden. Ein weiterer Unterstützer – und damit der einzige Staatschef, der Putin offen unterstützt – ist der Ungar Viktor Orbán. Robert Fico verhält sich in Brüssel anders als er sich in sozialen Netzwerken äußert. Es ist nicht klar, wie weit diese Akteure sich in Zukunft deutlicher pro Putin oder vielleicht auch nur contra Ukraine im Sinne von „Peace in our time“ positionieren könnten, aber der Westen hat hier ein Problem. Gefährlich ist ebenso eine fatalistische Einstellung zur durchaus durch die unzureichende westliche Unterstützung (Munition, Taurus, aber nicht nur das) bewirkten fatalen aktuellen Lage der Ukraine.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das sich als linke Partei sieht, tut das Seine hinzu. Wenn heute ehemals Friedensbewegte der 1980er Jahre glauben, man könne den Krieg in der Ukraine durch einen Stopp der Waffenlieferungen und die Aufnahme von Verhandlungen einfach beenden, denkt nostalgisch und romantisch. Horst Kahrs hat dies am 9. Februar 2024 über das BSW in einem Gespräch mit Wolfgang Storz gesagt: „Und vieles von dem, was von dieser neuen Partei zu hören ist, knüpft ja an sozialdemokratische Leitbilder der 1970er Jahre an. Etwa wenn etwas romantisch an die Friedenspolitik von Willy Brandt angeknüpft wird. Als romantisch werte ich das, weil wohlweislich verschwiegen wird, dass unter den Brandt-Regierungen die Verteidigungsausgaben in einer Höhe von vier bis fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes lagen — heute wird darüber gestritten, ob wir von unten sozusagen an die zwei Prozent herankommen sollen —, und natürlich war es damals verboten, technisch hochwertige Wirtschaftsgüter in den sogenannten Ostblock zu verkaufen. Also viel geschönte Erinnerung.“

Putin hat Unterstützer im Westen, die er auch finanziell unterstützt, er hat ungeachtet diverser Sanktionen und Sperrungen die Möglichkeit, seine Propaganda im Westen zu verbreiten, der Westen hat diese Möglichkeiten im Osten nicht, zumindest kann er sie nicht nutzen, weil alle, die dies täten, als „westliche Agenten“ kriminalisiert würden und ihre Freiheit riskieren. Wer an die Friedensbereitschaft Putins glaubt, verkennt die Lage, wer an Verhandlungen glaubt, die den Krieg jetzt beenden würden, fordert nichts anderes als die Kapitulation der Ukraine. Es ist wohlfeil, in Universitätsseminaren oder auf Parteitagen von Verhandlungen zu träumen, wenn eine der betroffenen Parteien aufs Ganze geht. Ohnehin stellt sich die Frage, wer überhaupt mit wem erfolgreich über was verhandeln könnte.

Putins Schwächen

Die große Schwäche Putins liegt woanders. Sie liegt in Peking. Putin hat es zwar geschafft, Nordkorea und den Iran direkt, China und manch andere Staaten indirekt für die Lieferung von Waffen, von Waffenbauteilen und Double-Use-Material zu gewinnen, aber er ist letztlich abhängig von China. Bemerkenswert war eine Äußerung Xi Jinpings bei seinem Besuch bei Joe Biden. Er sagte, die Welt sei groß genug für zwei Mächte wie die USA und China. Xi nannte keine dritte Macht. Russland hat solange die Unterstützung Chinas als dies China in seiner Konkurrenz mit den USA nützt. Die Putin’sche Fantasie eines großen Reiches, das dem ehemaligen Zarenreich oder zumindest der Sowjetunion entspricht, dürfte China nicht interessieren, wohl aber ein ihm höriges Russland, das er gegebenenfalls zur Unterstützung der eigenen Politik nutzen könnte. Das hat Putin wohl noch nicht gemerkt. Wenn er es merkt, könnte es für ihn schwierig werden.

Und natürlich könnte seine Fixierung auf die NATO eine Schwäche signalisieren. Wenn es die russländische Armee schon nicht schafft, ein kleines Land wie die Ukraine im Handstreich einzunehmen, kann das nur daran liegen, dass der Gegner in Wirklichkeit viel größer ist. Da bleibt dann nur die NATO übrig und manche Friedensbewegte im Westen fallen auch noch darauf herein und meinen, es handele sich um einen Stellvertreterkrieg zwischen Russland und der NATO, obwohl es keinerlei Anzeichen gab, dass die NATO irgendwann einmal Ansprüche auf russländisches Territorium erhoben hätte, Russland jedoch sehr wohl auf die Ukraine, der sie im Budapester Memorandum von 1994 noch eine Schutzgarantie zugesichert hatte. Russland wäre bei einem solchen angenommenen Szenario ohnehin Stellvertreter seiner selbst.

Zurück zum Jahr 23. August 1938. Damals versuchten das Deutsche Reich und die Sowjetunion sich die Welt untereinander aufzuteilen. Das war in der Intention vielleicht vergleichbar mit dem Vertrag von Saragossa vom 22. April 1529 zwischen Spanien und Portugal. Dazu gibt es heute jedoch kein Gegenstück. Putins Vorhaben ist revisionistisch, eine wirtschaftliche Entwicklung, die unabhängig von seiner Kriegswirtschaft wäre, ist nicht absehbar. Im Grunde ist sein Vorhaben post-kolonialistisch, als Akteur im Spiel der Kräfte ist Russland weniger bedeutend als es gerne wäre. Die Wirtschaftskraft der EU ist nach wie vor sieben Mal so hoch wie die Russlands. Russland hat eigentlich nichts Attraktives für die Wirtschaft, nur Öl, Gas und Waffen.

„War in our Time“ – Boris Pistorius hat den Nagel auf den Kopf getroffen, als er davon sprach, dass die Bundeswehr „kriegstüchtig“ werden müsse. Er hat „kriegstüchtig“ gesagt, nicht, wie manche sofort befürchteten, „kriegsbereit“. Ein Angriffskrieg ist weder geplant noch denkbar, das Grundgesetz verbietet ihn. Es geht um Verteidigung und die beginnt heute zwar nicht am Hindukusch wie es Peter Struck (meines Erachtens der letzte Verteidigungsminister mit Format vor Boris Pistorius) formulierte, sondern in der Ukraine, an den Ostgrenzen der Europäischen Union, in den baltischen Staaten, in Polen und letztlich auch in Moldawien, das wie die Ukraine jetzt EU-Beitrittskandidat ist. Alles andere hieße, den Kopf in den Sand zu stecken und darauf zu hoffen, dass Putin irgendwann zu einer Einsicht käme, die den Frieden in Europa sichere. Das wird nicht von selbst passieren.

Das Schicksal Europas und das Schicksal der Ukraine hängen eng miteinander zusammen. Timothy Garton Ash formulierte es am 11. Februar 2024 klar und deutlich: „Das Schicksal der Ukraine liegt in Europas Hand“. Zwei Prozent des Bundeshaushalts werden nicht reichen, um die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands im Rahmen der NATO zu sichern und dies darüber hinaus für jeden potenziellen Angreifer welchen NATO-Landes auch immer sichtbar zu machen. Thorsten Benner, der Direktor des Global Policy Institutes in Berlin, nennt am 20. Februar 2024 im Tagesspiegel drei Ziele, die erreicht werden müssen: „Bewahrung der Staatlichkeit und Selbstständigkeit, wirtschaftliche Tragfähigkeit sowie Abschreckung zukünftiger russischer Aggression.“

Wer den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat verteidigen und erhalten will, braucht Geduld und langfristige Planung. Geduld ist letztlich die einzige Stärke von Despoten. Dank ihrer Repression können sie sich diese Geduld leisten, aber vielleicht ist unsere demokratische Stärke die offene Debatte. Dazu gehört auch die Debatte um die Schuldenbremse, die – so Thorsten Benner – „ein eklatantes Sicherheitsrisiko“ ist. Es geht leider nicht nur um Investitionen in die Bauwirtschaft oder um Nebensächlichkeiten wie den Agrardiesel, die Cannabisfreigabe, Fahrradwege und Parkplätze, schon gar nicht um Hunderte individueller Befindlichkeiten. Bernd Ulrich am 21. Februar 2024 in der ZEIT: „Jetzt, da der Westen seine Übermachtkrise durchlebt, gibt es keine politische Handlungsfreiheit mehr ohne staatsbürgerliche Opferbereitschaft. Diese epochalen Tatsachen möglichst nicht anzusprechen und dagegen anregieren zu wollen, ist ein Verzweiflungsprojekt. Die Mitte dieser Gesellschaft hier nicht in die Pflicht zu nehmen und nicht in eine neue Selbstwirksamkeit zu führen, ist ein historisches Versagen.“ Noch deutlicher wurde Timothy Garton Ash am 23. Februar 2024 in der Süddeutschen Zeitung: „Ihr seid im Krieg und wollt es nicht wahrhaben“. Er forderte „die zweite Wende nach der Zeitenwende“. In anderen Worten: Es geht ums Ganze!

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 25. Februar 2024.)