Warum nicht Klagenfurt

Auch eine Berliner Geschichte

In gewisser Weise ist dies auch eine Berliner Geschichte. Niemals war mir diese Stadt ein Ganzes, und sie ist es auch gegenwärtig nicht. Und das liegt nicht daran, dass sie noch nicht zusammengewachsen ist, da kann sie wachsen wie sie will, ihre Teilungen wachsen mit. Für die folgenden Generationen wird das nicht mehr in gleicher Weise gelten. Aber für meine Generation, für mich wird diese Stadt immer auseinandergerissen sein, und diese Art von Rissen und Zerfetzungen ist in mich eingewachsen. Das Zerrissene, das Zerfetzte bin auch ich.

Ein Foto: Ich sitze auf den Stufen, die zum Eingang des Berliner Doms hinaufführen. Ich trage Sandaletten und eine Dreiviertelhose. Blickrichtung ist die Straße Unter den Linden, an deren Ende sich das Brandenburger Tor erhebt. Ich bin 16 Jahre alt, es ist Ende August 1961. Wenige Wochen zuvor hatte ich meiner Mutter verkündet, ich ginge in den Westen. Mein Vater, der in München lebte, würde gezwungenermaßen für die Internatskosten aufkommen müssen. In einem Anfall unsäglicher Enttäuschung und Wut hatte ich die Schule geschmissen. Statt über eines der gewünschten und stillschweigend vorausgesetzten Vorbilder Thälmann, Lenin zu schreiben, hatte ich eine moralische Idee, eine Geste, gewählt, eine Geschichte aus Rilkes Malte Laurids Brigge. Mein empörter und in der Empörung beim Sprechen spuckende Deutschlehrer schrie etwas von unerträglichem und verbotenem bürgerlich-revisionistischen Gedankengut, dem ich offenbar verfallen sei. Er war Einsen für meine Aufsätze gewohnt. Er gab mir eine Drei. Seine Form von Kompromiss oder Entgegenkommen. Ich sagte, die Mittelmäßigkeit einer Drei sei unmöglich, es kämen nur eine Eins oder eine Fünf in Frage. Da schrie er: Wie du willst! Fünf! Aus! Und ich packte all meine Bücher, knallte sie auf den Lehrertisch und schrie: In diese verdammte Schule komme ich nie wieder! Ich nahm meine Schultasche und ging. Ich weiß nicht, sagte ich verflucht oder verdammt, aber es war eins dieser Worte von biblischer Wucht. Ein wunderbarer dramatischer Moment, ich schwenke meinen Pferdeschwanz, richte mich auf, strecke meinen Arm aus und verfluche die Schule. Noch immer lache ich, wenn ich daran denke. Auf dem Nachhauseweg weinte ich unablässig, erschrocken über mich und erleichtert zugleich, ängstlich, was nun werden solle, meine arme Mutter würde in zitterndes Gestammel verfallen. Allein die Elternversammlungen in den Schulen ihrer drei Töchter versetzten sie schon Tage zuvor in Erstarrung.

Ich färbte mir am gleichen Tag die Haare blond und schrieb einen langen Brief an den Lehrer einer westdeutschen Freundin, den ich im Jahr zuvor kennengelernt hatte, er möge mir ein Internat suchen. An dem Tag, an dem ich meiner Mutter sagte, ich würde in den Westen gehen, eröffnete meine Mutter mir, auch sie trage sich des längeren mit der Absicht und bitte mich zu warten, bis sie ihre Dinge geregelt habe. Der Bitte konnte ich mich allein schon deswegen nicht verschließen, weil meine sogenannte Republikflucht unweigerlich meine Mutter ins Visier der Staatsschützer gerückt hätte. Ich blieb, während wir, meine Mutter, meine Schwestern und ich die zu regelnden Dinge in winzigen Portionen Wäsche, Hammer, Nagel, Geschirr und Papieren auf unserer Haut über die Grenze brachten. Ihr Ratgeber, mein Onkel Karl aus Köln, hatte sie derart mit Besorgnis und Existenzangst vollgeimpft, dass jedes Stück in den Westen transportieren Hausrats ein Stück Sicherheit mehr und ein Stück Panik weniger bedeutete.

Am 13. August war ein Teil unserer Dinge weg im Westen, aber wir waren noch da. In den Monaten darauf setzte meine Mutter alles daran, wieder in den Besitz zumindest der Familienpapiere und der Fotos zu gelangen. Ein Freund des Lehrers meiner westdeutschen Freundin Anne brachte sie einzeln und an seiner Haut zu­rück über die Grenze.

Als Zeichen ihrer Dankbarkeit abonnierte meine Mutter eine Reihe von Konzerten und Opern in der Staatsoper Unter den Linden. Wenn sie ihn nicht begleitete, tat ich es. In der Pause zu Boris Godunow fragte mich Henry, ob ich die Bilder einer Ausstellung kennen würde, und ich fragte, welcher denn. Die erste meiner eigenen Schallplatten, die ich mir kurz danach kaufte, abzuspielen auf einem Kofferplattenspieler, den Anne mir angeschleppt hatte, war Mussorgskys Bilder einer Ausstellung mit Svjatislav Richter.

Anne war zum Studium nach Hamburg gezogen. Von dort organisierte sie einen westdeutschen Pass für mich und schickte mir Kleidung; von der Unterhose bis zum Söckchen und zum Lippenstift Westzeug. Als es soweit war, wurden Passierscheine eingeführt. Ebenso verhielt es sich mit einem geborgten ausländischen Pass. Ich musste bleiben, wo ich war. Und wenn Anne mich fortan in Friedrichshagen besuchte, brachte ich sie anschließend zum Übergang Bahnhof Friedrichstraße. Wir rauchten unablässig in der kalten S-Bahn. Und wenn ich dann allein zurückfuhr in die Enge meines Lebens, war mir übel vor Kummer und Hoffnungslosigkeit.

Ein zweites Foto: Februar 1982, ich bin hochschwanger mit meinem dritten Kind, noch immer trage ich eine der eulenrunden Brillen, die ich bevorzugte. Die erste war eine Spezialanfertigung von einem Optiker in der Frankfurter Allee (Bei Augenqual zu Zapplethal), die ich hatte mehrmals reparieren lassen, bis kein Kleber mehr hielt. Schnee fällt. Ich befinde mich auf einem der Aussichtstürme an der Berliner Mauer, der Blick geht über die verschneite Fläche des Potsdamer Platzes, an dessen Ende sich eine Nebelwand erhebt. Das Weiß der Ebene geht über in verschwommene sich im Winterweiß verlierende Bauten und in einen weißen Himmel über all dem, über mir genauso wie über der Mauer und dem Platz und dem in der Ferne gewussten Ostberlin.

In meiner Wohnung in der Stauffenbergstraße hingen beide Fotos nebeneinander an einer Wand im Flur. Und sehr oft, wenn mein Blick darauf fiel, fühlte ich ein Gefühl von Teilung und Verdoppelung, von gleichzeitiger Gegenwart und Vergangenheit. Ich fühlte, wie sich die Zeit ineinanderschob, sodass Gegenwart in der Vergangenheit auftauchte und das Vergangene plötzlich gegenwärtig schien. Beider Blick geht ins Andere, in die versperrte Zukunft und die versperrte Vergangen­heit, und beides ist in beiden Fällen eins. Und das Gehirn der 37jährigen sendet in das Gehirn der Sechzehnjährigen eine Nachricht: Ich bin jetzt da, wo du damals sein wolltest. Aber in der Zwischenzeit habe ich einen nicht unbeträchtlichen Teil meines Erwachsenenlebens, meiner Kraft und meiner Phantasie dort investiert, und mein Herz hängt an diesen Stufen und dem Berliner Dom und dem Himmel darüber und dem kleinen geheimen Zugang unterhalb des Doms zum Kanal, wo ich manchmal mit meinen Zeichnungen saß. Und ich würde gern von Zeit zu Zeit dort gewesen sein mit einem neuen Zeichenheft und mit meiner kleinen Tochter, die im Westen geboren werden wird.

Meine Mutter zu verlassen, wäre einfach für mich gewesen. Ich hatte ihr lange genug beigestanden, ich war meinem Vater nicht nach München gefolgt, als er mir diese Möglichkeit offerierte, ich bin sicher, gebeten hatte er mich nicht. Zu meinem Vater zu ziehen, war hingegen undenkbar, so gründlich war er in seinem neuen Leben mit neuer Frau und neuen Töchtern und aus meinem verschwunden. Dennoch wäre ich ihm näher gerückt. Jetzt, als ich frisch im Westen war, war ich ihm tatsächlich näher gerückt. Ich schrieb ihm, ich teilte ihm in dürren Worten meine und die Ankunft der Kinder im Westen mit und ersehnte im Stillen Väterliches, Rat und Unterstützung, ein herzliches Willkommen, all das, was meinen Erfahrungen gründlich widersprach und doch als Sehnsucht nicht auszurotten war. Eine Erinnerungslücke: Ich weiß nicht mehr, ob er mir überhaupt geantwortet hat und wenn ja, mit welchen Worten. Ich denke, wenn er es getan hatte, wüsste ich es, würde es irgendetwas ausgelöst haben in mir zwischen Enttäuschung, Verletzung, Ernüchterung. Aber vielleicht war es genau das und fügte sich nur ununterscheidbar in die Reihe anderer Enttäuschungen und Ernüchterungen ein.

Meine Mutter und meine Schwestern waren Anfang der 70er Jahre mit Hilfe einer Fluchtorganisation in den Westen gegangen. Bei den darauffolgenden Verhören wurde ich gefragt: Was wollen Sie noch hier? Was geschieht nun, da Ihre Mutter nicht mehr da ist, mit ihren Kindern, wenn Sie ins Gefängnis kommen?

Die zwischen den Fotos liegenden Jahre waren bestimmt vom Fußfassen im Er­wachsenenleben, von der „Kommune 1 Ost“, von einem Schwein namens Erich, von unendlich vielen Anfängen, die ins Leere liefen, aber angefangen werden mussten, was sonst wäre dieses Leben? Kindertheater, Lesungen, Ausstellungen… Zermürbt von Bespitzelung, Verhören, Hausdurchsuchungen, in den Westen geschubst, kam ich 1977 mit den Kindern nach Westberlin. Wir wohnten zunächst bei Anne, die eine einjährige Gefängnisstrafe im berüchtigten Frauengefängnis Hoheneck verbüßt hatte wegen irgendwelcher zusammenkonstruierter Fluchtgeschichten, in die nicht sie, sondern offenbar ihr Auto, das sie verliehen hatte, verstrickt war. Sie sprach nicht über diese Zeit, sie tat sie ab, sie tat, als könne ihr als einer Westfrau im Osten nichts wirklich Schlimmes widerfahren. Wir waren beide in einem merkwürdig somnambulen Zustand, von dem aus wir einander und unsere alten Geschichten kaum mehr erkannten.

Und doch gab es glückliche Momente, ein plötzliches Wiedererkennen und eine Er­innerung an Kaugummiautomaten, und die begehrten Fingerringe, die Micky-Maus-Hefte, das Haus in Neukölln, in dem eine Tante gewohnt hatte, U-Bahn-Eingänge, der Zoo, die Kinos, die Gerüche … Und in diesem Wiederfinden lag eine private kleine eigene Insel in diesem Meer aus Fremde. Und die konnte ich den Kindern zeigen und ihnen Erinnerungen aufzählen, die so gierig waren nach etwas, worüber sie sich freuen konnten und die so gierig danach waren, auf Freude bei mir zu stoßen.

Ich war nicht frei, ich war nicht offen für Zukunft, nicht für die Gegenwart, ich war nicht einmal selbst gegenwärtig, obwohl ich mich so anstrengte. Das Verschwun­dene war ja mehr als ein Land, eine Heimat und biografische Gegend. Ich war nicht gekommen, um hier zu sein, sondern weil ich dort wegmusste. Diese Art von gefühlter Staatenlosigkeit erleichtert ein Ankommen in der wirklichen Wirklichkeit nicht gerade. Wie Uwe Johnson sagte, die gesellschaftliche Lüge saß auch hier in Stich und Faden, aber die Weberichtung war eine andere und die Wahrheit schien an ganz unverdächtigen Stellen durch.

Ich war ja auch eins dieser verstoßenen Kinder von Vater Staat und Mutter Ideologie, denen es zusteht, mit den Eltern zu rechten und ihnen all ihre Enttäuschung und Verzweiflung vor die Füße zu schleudern oder ihnen entgegenzuspeien – der Grad der Enttäuschung erlaubt den Rückschluss auf das Ausmaß der Bereitschaft. Die es aber nicht ertragen, wenn von satter anderer Seite beschrieben und beurteilt wird. Da springt dann plötzlich dieses „Wir“ und dieses „Bei uns“ aus einem heraus. Oder womöglich diejenigen, denen die DDR ohne eine Überprüfung auf Wahrheit ein Ort der Erfüllung schien. Das wurde so vorgefunden. Schnell erwies es sich als lebenswichtig, Vereinnahmungen zu erkennen und ihnen auszuweichen. Es war nun so schwer nicht, Gleichgesinnte und Gleichgestimmte zu finden. Und mit ihnen zusammen einen eigenen definierten Raum in der Fremde zu schaffen, der sowohl genügend offene Türen als auch schützende Winkel vorzuweisen hatte, aber es dauerte.

Johnson sagt im „Dritten Buch über Achim“, es stelle sich heraus, dass der Westdeut- sche den Ostdeutschen nicht verstehe und dass der Ostdeutsche die Art, wie der Westdeutsche das Leben in Ostdeutschland zu erklären versuche, vehement missbillige. Sie haben eine gemeinsame Sprache mit Wörtern, die ähnlich klingen, aber für jeden einzelnen sind diese Wörter mit einer bestimmten Ordnung, einem System, einem bestimmten Wertsystem assoziiert und beziehen sich jeweils auf unterschiedliche Positionen. Was Johnson zu seiner Zeit nicht kennen konnte, wog womöglich noch schwerer, der Westdeutsche, den es naturgemäß ohnehin nicht gibt, hatte sich wie ein Regenwurm in hundert Einzelteile mit hundert politischen Spielarten geteilt, deren einige einer linken Gesinnung zuzuordnen waren, die sich als extrem einäugig und vereinnahmend erwiesen.

Ich existierte in einem schwer zu fixierenden und zu beschreibenden fragilen Zustand, der ständig drohte, in einen anderen fragilen überzugehen und zu zerbrechen oder sich zu verflüssigen und auszulaufen. Das wahrhaft Beängstigende daran war, dass ich ihn als einen solchen nicht erkannte, nicht anerkennen durfte, sondern ganz im Gegenteil, alles daransetzen musste, ihn vor mir selbst, den Kindern, allen ande­ren Menschen zu leugnen und zu verschleiern. Ich war lange Zeit damit befasst so zu tun als ob. Das hatte einige provokativ trotzige Züge: Egal, an welcher Stelle der Welt es mich verschlägt, ich werde nicht aufhören, Falsches und Ungerechtes zu bemerken und zu benennen (die Wahrheit erkennen, die überall durchscheint).

Und es hatte deutliche Zeichen eines tiefen Unglücks. Ich wachte oftmals mitten in der Nacht mit einem Ruck auf, zitternd, und in dem Bewusstsein einer geradezu kindlichen, säuglingshaften Ängstlichkeit und Hilflosigkeit. Dann wusste ich, so erwachsen konnte ich gar nicht werden, dass ich imstande wäre, all die zur Sicherung unserer Existenz notwendigen Dinge zu tun, einschließlich Hoffnung, Fröhlichkeit und Gewissheit für die Kinder. Ich hatte mit dem Trinken angefangen, aber ich vertrug nichts, also ließ ich es wieder sein. Eine zumindest sporadische mit Gelassenheit verbundene Einnebelung alles Schweren und Dunklen hätte mir gefallen. In den schlaflosen Stunden schrieb ich. Und las. In den nur mir gehörenden Räumen voller alter literarischer Freunde, voller Zwiesprachen, voller wieder und wieder Gelesenem – das war mein Trost, das war meine Verankerung in der Welt der Worte. Lesen ist immer Handeln, es ist der vertraute Boden, auf dem sich zwei Bewusstseine berühren, und ebenso zwei Unterbewusstseine.

Eine der wenigen Dinge, die von wirklicher und am Ende erfüllter Erwartungsfreude begleitet waren, waren Bücher, Buchhandlungen, Bibliotheken, die diese im Osten geborene unstillbare Gier nach Literaturen, nach Gedichten, Romanen, Philosophie befriedigten. Ich entdeckte Dylan Thomas, ich las Virginia Woolf, Brink­mann, Handke, ich traf Helga Novak wieder, die von allen am Heimwehkrankeste. Sie briet mir Lammkoteletts in der Eisenbahnstraße, sie sagte, erzähl mir von Grün­heide, von Erkner, von Köpenick, und bei jedem Buch auf Tisch und Stuhl, das ich in die Hand nahm, sagte sie, nimm es mit, nimm es mit.

Wieder Johnson: Denn in Wahrheit ist es nicht allein die Sonne, der Himmel, der Steg am See oder die Ruine von Chorin, um deretwillen das Leben nötig ist, sondern zugleich das Gespräch darüber.

Meine erste eigene Wohnung hatte ich mir unter Zuhilfenahme einer gefälschten Bürgschaft von Prof. Dr. F.X. Eder erschlichen. Auf diese Weise hatte ich doch noch meinen Vater gezwungen, mir beizustehen. Im Grunde war die Wohnung eine Katastrophe, sie lag genau dort, wo der Westen, der Kapitalismus, die aggressive Warenwelt am Ungebrochensten und mit voller Wucht auf einen traf, Kantstraße, Ecke Wilmersdorfer. Ich behielt sie nicht lange. Sie wurde modernisiert, ich konnte sie nicht bezahlen, in meinem Unverstand kündigte ich und saß dann ohne etwas da. Vorübergehende Rettung kam von einem Menschen, der sich in meinem Umfeld bewegte und mir seine Wohnung für eine Zeit anbot. Zwei Zimmer, die wir vollgestellt hatten mit unseren Bücherkisten und Möbeln, es blieb kaum Platz für die Matratzen, den Kindern gefiel so viel Improvisiertheit. Später stellte es sich heraus, dass dieser Mensch für die Stasi gearbeitet hat, wie es ja einige taten im Westen und was ebenfalls vorsorglich zunächst geleugnet werden musste. Nach 89 rief er mich mehrmals an, er jaulte, er flehte um Bestätigung, dass er mir nie geschadet habe.

Ich erinnere mich an eine schöne Woche in der Kantstraße. Es hatte ununterbrochen geschneit, der Verkehr lag lahm, Schneeberge türmten sich zu beiden Seiten einer kaum befahrbaren Straße, alle Geräusche waren auf ein Gesumme und auf Gesäusel reduziert. Meine Tochter Fini und ich gingen jeden Tag spazieren, wir sangen laut und fassten uns bei den Händen und schlenkerten mit den Armen und erzählten uns Geschichten. Die einzige Zeit, in der nichts ausgespart war und in der es sich vollkommen natürlich ergab, dass wir auch von einem Früher sprachen und vom Schnee von gestern.

1979 zog ich mit den Kindern in die riesige Wohnung in der Stauffenbergstraße, die mir der damalige Kultursenator bzw. einer seiner Mitarbeiter verschafft hatte. Ein Gefühl von Behausung stellte sich ein, durch den Umstand erleichtert, dass sie quasi am Stadtrand lag, zwischen Tiergarten und der Mauer zum Potsdamer Platz.

Ich schrieb an einem Vorwort für ein Buch über die Jenaer. Ich war im Bahro- Komitee und beteiligt an der Vorbereitung des Kongresses. Ich hielt eine Rede. Heinrich Vormweg veröffentlichte sie in seiner L 76 und lud mich nach Köln ein. In der nächsten Ausgabe erschien meine Kurzprosa. Ich hatte Vormweg Gedichte von Frank-Wolf Matthies geschickt mit der Bitte, sie im gleichen Heft zu veröffentlichen. Das geschah. Und war ein Stück Vergewisserung und Besiegelung, dass Flugrouten für Worte immer existieren würden.

Das Fremde, es gibt kaum ein Wort von solch mysteriöser Beladenheit, Aufgeladenheit – das Fremde ist ja auch zu einem großen Teil deswegen fremd, weil es genährt wird von Verlust und Trennung. Das Fremde ist mehr als das Unbekannte. Es gibt nicht das Fremde an sich. In dem grandiosen Film „Vor der Morgenröte“ von Maria Schrader gibt es eine Szene, die mir nach Jahren und Jahren noch einmal und mit einem heftigen Schlag meinen damaligen Zustand von einem geradezu zwanghaften Bemühen um Beheimatung in der Fremde vergegenwärtigte, du stehst dir selbst im Wege und gleichzeitig bettelst du um Beheimatung und fahndest nach Beweisstücken, nach Dingen, die sich mit dir und deiner alten Geschichte und deiner alten Identität verknüpfen lassen. Und so steht denn auch Stefan Zweig mit einem Notizblock inmitten südamerikanischer Zuckerplantagen und versucht so zu agieren und so auszusehen wie der, den er in Erinnerung hat aus der alten Welt, der wie eh und je Recherchen betreibt und arbeitet und daraus seine Identität schöpft und verlängert und neu definiert. Trügerisch. Verzweifelt. Das gelingt nie. Und muss doch getan werden. Manchmal vergehen Jahre. Manche krie­gen nicht die Zeit.

Ein anderes Element aus diesen ersten Jahren ist das einer schnell laufenden Zeit, die mir nicht genügend Raum im Gegenwärtigen lässt, sondern schon weiter geeilt ist ins Zukünftige. Ich eile hinterher, ich kann nicht lange genug im Heute verweilen, um das, was ich wahrnehme und erfahre und erlebe zu vertiefen. Und so ist es der Mangel und die Flüchtigkeit, die sich vermehren, wenn ich einigermaßen mit dem Verlauf der Zeit Schritt halten will. Und nichts will ich lieber, als erschöpft die Zeit anzuhalten, statt atemlos hinter ihr hinterherzurennen. Aber ich kann auch nicht Halt oder Stop rufen, ich bin verloren, wenn ich mich dem Sog überlassen, der mich dann unweigerlich zurückzieht ins Vergangene und in einen Stillstand und in irgendeinen wie Tod und Verderben gefürchteten Strudel reißt. Wir erinnern uns fortwährend und fortwährend schauen wir in die noch unbetretene Zukunft. Die Gegenwart trägt immer alle Dichte des Vorher und Nachher in sich.

Meine subjektive Zeit fand keinen Halt und keinen Anschluss an die tatsächliche Zeit der Gegenwart. Das bedeutete ein immenses Leid. Eine Art Kleinkind-Verunsicherung, die sofort als lebensbedrohlich empfunden wird. Das Aufeinandertreffen und Auseinanderdriften von anscheinend Gleichem, Mensch, Sprache, der uns umgebenden alltäglichen Dinge, Speise Fahrzeug, der uns alle betreffende Regen, Winter … schafft im höchsten Maße eine Verdächtigung: Das alles hier hat seine offenkundige Berechtigung und Kontinuität, nur du selbst bist falsch darin.

In einer Zeit, in der mein Leben perforiert war von Unsicherheit und Ängstlichkeiten, einem schwankenden existentiellen Boden, wo allein die monatliche Miete, die Gänge zu Ämtern und Behördenbriefe einem den Angstschweiß auf die Stirn treiben können, saß ich durchaus nicht in eine Ecke gekauert und biss mir auf die Lippen, sondern ich strengte mich an, ich schrieb, ich kümmerte mich um meine Freunde im Osten, ich kaufte Babycremes und Windeln, und schickte die Dinge durch Freunde, die in den Osten fahren durften. Ich machte mich mit jedem einzelnen Lehrer und jeder Lehrerin der neuen Schule in der Nähe der neuen Wohnung bekannt, um für meine ostschulgeschädigte Tochter jemand Verständnisvolles ausfindig zu machen (was gelang), ich hatte immer das Haus voller Gäste und immer stand eine Suppe auf dem Herd.

Wieder eine Erinnerungslücke: Ich kann mich nicht erinnern, mit welchen Worten und in welcher Weise mir Heinrich Vormweg von Klagenfurt erzählte: War es eine Mitteilung, er habe mich nach Klagenfurt eingeladen, war es ein Vorschlag, verbunden mit den Worten: Könnten Sie sich vorstellen … Gab es eine Erörterung, eine Erkundigung, ob ich so weit wäre … Ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht mehr, wie viel Zeit mir blieb, vermutlich einige Monate. Denkbar ist, dass ich auf eine Frage von Vormweg so etwas wie „warum nicht?“ geantwortet habe. Eine der vielen Sonderbarkeiten, die mir geschahen und denen ich begegnete, als wären sie ganz natürlich, aber hatten mit mir doch nichts oder wenig oder nur in einem sehr abstrakten Sinne zu tun. Ich war eingeladen nach Paris, und ich flog und hielt eine Rede und flog wieder zurück. Ich berichtete den Freundinnen und Freunden. Es war mir wichtig, dass sie mich für einen Menschen hielten, der sich überall in der Welt zu bewegen weiß, und dass sie mich weiterhin als auf „ihrer Seite“ stehend wussten, der „bei uns“ und „wir“ sagte.

Ich schrieb an einem Text für Klagenfurt. Ich wusste, in der Jury saßen Walter Jens, Marcel Reich-Ranicki. Ich wusste, du liest deinen Text und ziehst dich dann als Person zurück, sitzt stumm da, während die Kritiker schlimmstenfalls über den Text herfallen und bestenfalls etwas Anerkennenswertes finden können. Ich hatte mir einmal eine Übertragung im Radio gehört. Und natürlich las ich Ingeborg Bachmann. Dass die Wahrheit dem Menschen zumutbar sei, wusste ich schon in der DDR. Aber Klagenfurt und Bachmann waren nicht dasselbe, mir schien sogar, als hätte das eine mit der anderen gar nichts zu schaffen. Ich konnte mich irren. Denkbar ist auch, dass ich jedes Stück Wirklichkeit bestehend aus den Elementen Ankunft in Klagenfurt, Auslosung der Reihenfolge, Lesung, Kritik, Unterkunft, Österreich … vollständig aus meinem Bewusstsein gelöscht hatte, wie ich vieles löschte, um einen Tag nach dem anderen zu bestehen, um Schritt für Schritt zurücklegen zu können. Was ziehst du an, fragte mich eine Freundin. Ich war vollkommen verdutzt von dieser Frage. Je näher der Termin kam, desto größer wurde der Spalt zwischen dem Wirklichen und der Unwirklichkeit. Ich bekam Telegramme und Fahrscheine und eine Mappe mit Unterlagen. Die dafür verantwortliche Dame hieß Romy. Sie wünschte mir eine gute Reise. Da war ich vor Angst wie erfroren. Am Tag vor meiner Abreise hätte ich Heinrich Vormweg antworten können: Nein, ich bin nicht so weit, in jeder nur denkbaren Hinsicht. Der Text bin ganz ich, ich bin der Text. An meinem Herzen werden sie reißen, an meinen Eingeweiden zerren, das werde ich alles nicht ertragen können. Aber ich hatte diese Worte nicht. Ich sollte mich dem obersten Gericht stellen, ich war aber nur ein kleines Mädchen, und ich hatte nichts Schlimmes getan. Ich schickte ein Telegramm, ich käme nicht, ich sei krank.

Franziska Groszer, Berlin

Die Autorin:

Ines Geipel porträtierte Franziska Groszer in dem von ihr mit Joachim Walther sel. A. 2015 im Lilienfeld Verlag herausgegebenen Buch „Gesperrte Ablage“. Das Buch wurde im Jahr 2024 neu aufgelegt und erhielt ein neues ausführliches Nachwort, in dem Ines Geipel die Rezeptionsgeschichte der in der DDR unveröffentlichten Autor:innen beschreibt, darunter auch ausführlich zu Franziska Groszer.

Franziska Groszer wurde 1945 in Berlin-Friedrichshagen geboren, wo sie auch heute lebt. Sie war 1969 eine der Gründer:innen der „Kommune 1 Ost“. Sie schrieb schon immer, hatte jedoch nur einen einzigen öffentlichen Auftritt mit Thomas Brasch und Bettina Wegner, nach dem sie Schreib-, Auftritts- und Veröffentlichungsverbot erhielt. Auch das von ihr gegründete Kindertheater wurde verboten. Sie protestierte unter anderem gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns sowie gegen die offizielle Lesart der Verbrennung von Oskar Brüsewitz. Sie verließ die DDR im Jahr 1977. In West-Berlin arbeitete sie unter anderem in der Initiative „Frauen für den Frieden“. Sie erhielt 1987 den Erich-Kästner-Kinder-und-Jugendbuchpreis für „Rotz und Wasser“. Im Jahr 2008 wurde sie vom tschechischen Staatspräsidenten für ihre Proteste gegen den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in der Tschechoslowakei 1968 geehrt. Sie erhielt 2012 das Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland. Demnächst erscheint ein Buch von Franziska Groszer über das Jahr 1956.

Bücher von Franziska Groszer:

  • Rotz und Wasser – eine Jugend in Osterberlin, 1987.
  • Kaos mit Katze, 1988.
  • Tilly in der Pfütze, 1990.
  • Julia Augenstern, 1991.
  • Das Landei, 1995.
  • Claire und Sophie, 2004 (alle in Hamburg bei Dressler).
  • Der blaue König und sein Reich, Leipzig, Altberliner 2005.
  • Anton und das unheimliche Haus, München, Terzio, 2008.

Weitere Veröffentlichungen sind auf Franziska Groszers Internetseite zu sehen. Ein Beispiel ist der Text „Wenn meine Schuhe vor Müdigkeit weinen“, in: Julia Franck, Hg.‘in, Grenzübergänge, Frankfurt am Main, S. Fischer, 2009.

(Anmerkungen: Der Text „Warum nicht Klagenfurt“ entstand im Jahr 1979, er wurde bisher nicht veröffentlicht, aber im Jahr 2021 im RBB vorgetragen. Diese Veröffentlichung ist die erste nachlesbare Veröffentlichung des Textes. Erstveröffentlichung im Mai 2024, Internetzugriffe zuletzt am 28. April 2024. Auf dem Titelbild ist Franziska Groszer auf der Westseite der Berliner Mauer zu sehen, Foto: privat.)