Wehrhaft und emanzipiert

Ein Gespräch mit Marina Chernivsky über Prävention und Empowerment

„Was mich immer wieder staunen lässt, zuerst wütend und schließlich traurig stimmt, ist die Tatsache, dass mit Wörtern und ihren dazugehörigen Bedeutungen so schlampig, so salopp umgegangen wird. Hatte Freud, der Sprachliebhaber par excellence, nicht gewarnt: ‚Wer bei einem Wort nachgibt, gibt auch in anderen Dingen nach.‘“ (Anna-Patrizia Kahn, Die Sache zwischen uns – Israel, die Juden und die Deutschen, München, Droemer, 2007)

Marina Chernivsky beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Antisemitismusforschung und Antisemitismusprävention. 2005 gründet sie ihre ersten Projekte, 2015 entsteht auf dieser Grundlage ein Institut für Bildung und Forschung – das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment in Trägerschaft der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Das Kompetenzzentrum spezialisiert sich auf Fort- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften, berät Politik und Zivilgesellschaft, setzt Forschungsprojekte um. 2017 gründet sie mit ihren Kolleginnen die Beratungsstelle OFEK, zunächst als Beratungsprojekt, 2019 als gemeinnütziger Verein mit inzwischen 4 weiteren Standorten in Deutschland.

© Alex Hislop

Marina Chernivsky ist Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin. Geboren in Lviv (Lemberg) und aufgewachsen in Israel kam sie 2001 nach Berlin. Neben anderen Beschäftigungen ist sie Mitherausgeberin der Zeitschrift „JALTA – Positionen zur jüdischen Gegenwart” und Vorstandsmitglied von AMCHA e.V., einer Organisation, die psychosoziale Hilfe für Überlebende der Schoah und ihre Familien in Israel anbietet, sowie des Dachverbandes der transkulturellen Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im deutschsprachigen Raum (DTPPP e.V), der sich seit vielen Jahren für die Transkulturalität im Gesundheitswesen einsetzt.

Marina Chernivsky war Mitglied im Zweiten Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages, der 2017 seinen Bericht veröffentlichte (). Sie ist zurzeit u.a. Mitglied im Beratungsgremium des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus sowie in weiteren Expertengremien in Berlin und Sachsen.

Anlass meines Gesprächs mit Marina Chernivsky war unter anderem eine im November 2020 vom Kompetenzzentrum veröffentlichte und von ihr und Dr. Friederike Lorenz verfasste Studie zum Antisemitismus im Kontext Schule aus der Sicht von Lehrkräften in Berlin.

Außen- und Binnenperspektiven

Norbert Reichel: Seit 2017 führt das Kompetenzzentrum eigene Studien zu Antisemitismus durch. Im Spätherbst 2020 erschienen zwei neue Studien, zum Umgang von Lehrkräften mit Antisemitismus, eine weitere, die „Erfahrungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener“ beleuchtet. In Ihrer Presseankündigung lese ich: „Die Studie leistet einen Beitrag zur empirischen Fundierung des Fachdiskurses und zielt darauf ab, Wahrnehmungen und Reaktionen von Jüdinnen und Juden in den Vordergrund zu rücken.“ Mein Eindruck: die Zuwendung zu subjektiven jüdischen Perspektiven als Thema von Studien ist eine relativ junge Entwicklung.

Marina Chernivsky: Auf das Phänomen des Antisemitismus können wir aus unterschiedlichen Perspektiven blicken. Aus individueller Perspektive werden viele Situationen als antisemitisch erlebt. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist die Interpretation, ob eine Situation antisemitisch war und diese Wahrnehmung gerechtfertigt ist, durch Mehrheitseinstellungen und Normen beeinflusst. Darin verbirgt sich die Differenz in der Einschätzung von Antisemitismus. Antisemitismus gilt bis heute als anachronistisch, viele realisieren nicht, dass es sich um ein reales Problem handelt. Das hat dazu geführt, dass diejenigen, die von Antisemitismus betroffen sind, nicht im Fokus standen. Sicherlich führten auch andere gesellschaftliche Traditionslinien dazu, dass Gewalt und Diskriminierung aus subjektiver Sicht nicht erfasst und auch nicht ausreichend thematisiert wurden. Diese Schieflage hat sich über Jahrzehnte gezogen und hängt vielleicht auch damit zusammen, dass die Annäherung an den Nationalsozialismus und die Shoah aus großer biographischer und emotionaler Distanz erfolgte.

Nach dem Krieg entschieden sich beide deutschen Staaten, auch wenn sehr unterschiedlich, mit der Verstrickung der breiten Gesellschaft in die deutschen Verbrechen wie auch mit dem fortwirkenden Antisemitismus nichts mehr zu tun zu haben. Gleichwohl wirkte Antisemitismus auf so vielen Ebenen und spiegelte sich auch in der Wahrnehmung des Jüdischen wider. Die grundsätzliche Distanz zu allem, was als jüdisch galt, die Verweigerung der Einsicht in die verheerenden Folgen deutscher Vernichtung, die Einfühlungsverweigerung, die nicht aufgearbeiteten, verschönerten, schlüssig erscheinenden, deutschen Vergangenheiten erweckte den Anschein, dass Antisemitismus der Vergangenheit angehört und die jüdische Bevölkerung eine unbedeutende Minderheit darstellt, was faktisch auch richtig war, die keiner besonderen Aufmerksamkeit bedarf. Dass die Sicht der jüdischen Bevölkerung auf Antisemitismus so verzögert in die Forschung eingegangen ist, spiegelt diese historisch tradierte Distanz von jüdischen Subjektperspektiven wider.

Die Thematisierung von Binnenperspektiven ist grundsätzlich nicht einfach, vor allem wenn diese nicht aus der jüdischen Gemeinschaft selbst entsteht, sondern ausschließlich Gegenstand analytischer wissenschaftlicher Bemühungen ist. Aber ich will würdigen: Es hat sich in den letzten Jahren etwas getan. Die bahnbrechende Studie des Zweiten Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus hat diesen Perspektivenwechsel – besonders im politischen Kontext – eingeleitet. Wir haben diesen Wechsel angeschoben und erlebt, dass solche paradigmatischen Änderungen möglich sind. Das Zusammendenken von Entstehungsbedingungen, Dynamiken, Entwicklungen und nun auch Wirkungen von Antisemitismus ist inzwischen zum Mainstream geworden. Dennoch wird es Jahrzehnte brauchen, bis wir einen solchen Wissens- und Erfahrungsverlust überwinden können. Die Wissenszugänge zu Antisemitismus führen über die Subjektperspektive, die nicht nur Betroffene einschließt, sondern auch jene, die Antisemitismus auslösen und aufrechterhalten, Das betrifft Menschen, Institutionen, die ganze Gesellschaft. Antisemitismus entsteht mitten in unserer Gesellschaft und wird von Menschen und Strukturen mitgetragen, Daher braucht es diesen systemischen Blick darauf.

Norbert Reichel: „Mainstream“ in allen von Ihnen genannten Dimensionen?

Marina Chernivsky: Im deutschsprachigen Raum gibt es kaum Forschung zu der Bedeutung von Antisemitismus für die jüdische Community. Im Verständnis und Erforschung des gegenwärtigen Antisemitismus gibt es noch viel Bedarf an weiterer Theoretisierung von Antisemitismus als Gewaltprozess und gesellschaftsinhärentes Gewaltverhältnis. Drüber hinaus sollte die Perspektive der betroffenen Gemeinschaft stärker in den Vordergrund rücken. Gleichwohl sollten Jüdinnen*Juden nicht als Opfer oder Betroffene erscheinen – das ist aber leider die Sprache, die hier oft benutzt wird. Die Zuwendung zu der Subjektperspektive bedeutet nicht die Entlastung der gewaltauslösenden Gesellschaft. Jüdinnen* Juden sind in ihren Erfahrungen nicht homogen und auch nicht ohnmächtig. Die Ratlosigkeit und Ohnmacht sind eher aufseiten der nicht jüdischen Gesellschaft, oder der Behörden.

Opfer und Täter*innen – die Gefahr der Essentialisierung

Norbert Reichel: Im Grunde eine Weiterführung der Opfererzählung?

Marina Chernivsky: Die Thematisierung jüdischer Perspektive ist enorm wichtig, aber es darf nicht die Weiterführung der Opfererzählung sein, denn es geht ja darum, was es heißt, wenn Menschen zu Opfern gemacht werden. Es muss kritisch reflektiert werden, dass es eine Gleichzeitigkeit von Thematisierung und Essentialisierung geben kann. Diese Reflexion über die Position und Sprecher*in-Perspektive ist unumgänglich, damit die Reproduktion von antisemitischen Denkfiguren und Essentialisierungen unterbrochen werden kann. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die historische Verbindung bei einer gleichzeitigen (familienbiographischen und kollektiven) Distanz ein Bedürfnis erzeugen kann, sich dem Judentum anzunähern, aber oft aus der Position der Selbstvergewisserung. Die Vergegenständlichung jüdischer Geschichten und Biographien geht damit Hand in Hand. Das heißt nicht, dass alle das so machen. Wir sprechen hier von Beobachtungen und Tendenzen. Aber indirekt auch über die Studienbefunde.

Norbert Reichel: Bei der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft habe ich den Eindruck, dass jüdisches Leben auf die Opfergeschichte reduziert wird – und dann ist es für viele auch gut, es reicht, denn – so sagen sie – wir haben ja die Opfer als Opfer anerkannt, über Täter*innenschaft müssen wir dann nicht mehr reden.

Marina Chernivsky: Diese Einordnung ist quasi reflexartig, da historisch tradiert. Es ist faszinierend zu erleben, wie schwierig es ist, Antisemitismus als Gewaltverhältnis anzuerkennen und die Verantwortung für diese Dynamiken zu übernehmen sowie seine Effekte in den Blick zu nehmen, ohne diesen Umstand an Jüdinnen und Juden festzumachen. Darin zeichnet sich eine Delegation von Verantwortung: Sprechen die Betroffenen nicht mehr, so gibt es keinen weiteren Handlungsbedarf. Abgesehen davon ist es schwierig, wenn ausschließlich oder vor allem die (extraordinären) Vorfälle als Anlass der Intervention gesehen werden. Auf der einen Seite ist es wichtig, dass das Bewusstsein für die Exzessivität des Antisemitismus wächst. Auf der anderen Seite sollten wir die Beständigkeit des Antisemitismus nicht auf Exzesse reduzieren. Für die Debatte brauchen wir beides, das müssen das zusammendenken.

Ich würde auch sagen, unser Sprechen über Antisemitismus ist sehr eingeschränkt, weil es in der politischen und öffentlichen Kommunikation bestimmte Sprachbilder und Sprachkasten gibt, die das Sprechen über Jüdinnen und Juden, aber auch über Antisemitismus stark formen. Diese Dynamiken können wir aufbrechen, wenn wir diesen bewusst werden und ihre Reichweite begreifen. Selbst der Begriff „jüdische Perspektive“ musste geprägt werden, um diesen Leerstand, diesen Erfahrungsverlust und auch den Bedarf zu versprachlichen. Im Kontext von Antisemitismus wurde der Begriff im Zuge der Arbeit des Unabhängigen Expertenkreises an der Studie zu Erfahrungen von Jüdinnen und Juden eingeführt. 

Expertise versus Betroffenheit

Norbert Reichel: Für den Unabhängigen Expertenkreis wurde zunächst niemand aus der jüdischen Community benannt. Prof. Dr. Andreas Nachama, der damalige Leiter der „Topographie des Terrors“ in Berlin, und Sie wurden erst nach Interventionen öffentlicher Kritik, u.a. von der Seite des Zentralrats der Juden, Mitglieder des Expertenkreises.

Marina Chernivsky: Es kam nicht überraschend, dass der Expertenkreis diese Leerstelle nicht selbst als Problemanzeige bekundet hat. Erst durch Skandalisierung wurde die Entscheidung getroffenen, Sachverständige einzuberufen, die gleichzeitig einen Bezug zur Community haben. Ich habe mir zunächst sehr genau überlegt: will ich hier wirklich als Sachverständige berufen werden? In welcher Rolle werde ich einberufen? Als Jüdin, als Psychologin, als Wissenschaftlerin? Mit der Überbetonung eines Merkmals treten die anderen wichtigen Dimensionen der Persönlichkeit eines Menschen in den Hintergrund. Mit dem Wunsch die jüdische Perspektive einzuholen, kann auch eine Reduktion einhergehen und auch die Absprache der Kompetenz. Es war in diesem Fall dezidiert nicht so, aber es tritt oft ein, selbst in unserer Zunft. Der ganze Vorgang war am Ende doch ein Paradigmenwechsel und Beginn einer neuen Debatte.

Norbert Reichel: Was meinen Sie mit „Reduktion“ und „Absprache der Kompetenz“?

Marina Chernivsky: Da überwiegt die Tradierung und ein Objektivitätsanspruch. Jüdinnen* Juden wird zugeschrieben, sie wären nicht objektiv genug, zu betroffen. Es gibt verschiedene Thematisierungen der Forscher*innensubjektivität unter anderem in einzelnen sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen. Es ist aber wichtig zu erörtern, weshalb gerade hier das Problem der Subjektivität so häufig auftritt und als Vorwand eingebracht wird, Jüdinnen*Juden die Verfügungsmacht der Deutung über Antisemitismus und Antisemitismuserfahrungen zu entziehen.

Norbert Reichel: Ich kenne das auch aus Debatten um sexualisierte Gewalt, allgemein – so unpassend der Begriff ist – als „sexueller Missbrauch“ bezeichnet. Es gab mal eine ernsthafte Debatte darüber, ob die Opfer als Expert*innen bezeichnet werden sollte. Oder denken wir an das Sprechen über Geflüchtete, die oft als Menschen „mit Fluchterfahrung“ bezeichnet werden. Als wäre „Fluchterfahrung“ ein Verdienst, ein Qualifikationsmerkmal. Einfach zynisch. Ich habe in meiner vergangenen Zeit als Ministerialbeamter die Erfahrung gemacht, dass Kritik an diesen Formulierungen ein Kampf gegen Windmühlen ist. Wenn Sie in der von Ihnen beschriebenen Form als Expertin*Experte angesprochen werden, stellen Sie fest, dass Sie in eine Rolle gedrängt werden, in der Expertise und Opferstatus miteinander vermischt werden. Wie kommt frau*man da wieder raus?

Marina Chernivsky: Ich wehre mich und emanzipiere mich gleichzeitig. Ich nenne einen konkreten Vorfall: eine Kollegin wurde als Jüdin eingeladen, an einer Diskussion teilzunehmen. Als sie gesagt hat, sie würde gern ihre professionelle Perspektive auf Antisemitismus hervorhegen und nicht als Betroffene sprechen, wurde ihr gesagt, es gäbe schon genug Wissenschaftler*innen am Podium, sie möge sich bitte auf ihre Erlebnisse als Jüdin beziehen. Die Moderation hat im Laufe der Diskussion der besagten Kollegin persönliche Fragen gestellt, während die anderen als Expert*innen adressiert wurden. 

Immer spezifisch – niemals isoliert

Norbert Reichel: Ein Begriff, der viele verschiedene Gruppen zusammenfassen möchte, ist der von Wilhelm Heitmeyer eingeführte Begriff der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“. Ich bin mit diesem Begriff nicht glücklich, weil ich den Eindruck habe, dass hier Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, Sexismus etc. undifferenziert miteinander vermengt werden.

Marina Chernivsky: Die unterschiedlichen Gewaltverhältnisse haben viel gemeinsam. Und dennoch sind es verschiedene Phänomene mit ihrer je eigenen Geschichte und Wirkungsweise. Auch auf der Erfahrungsebene gibt es viele Schnittstellen, und doch sind die biographischen und sozialen Erfahrungsräume recht anders. Die Überkreuzung von unterschiedlichen Diskriminierungen ist die Basis von Diskriminierung, die Menschen entlang unterschiedlicher Achsen trifft. Gleichwohl dürfen diesen Erfahrungen nicht angeglichen werden. Der Versuch, Antisemitismus unter anderen Ismen unterzuordnen, hat Vieles veruneindeutigt und verunmöglicht. Das brüchige Wissen, die raren Bezüge, die ausbleibende Selbstreflexion der Dominanzgesellschaft ist ein Indiz dafür. Auch die Historisierung des fortwirkenden Antisemitismus als kollektives Ressentiment, als Wissensbestand, hat die Beständigkeit und Wirkung von Antisemitismus unsichtbar gemacht. 

Norbert Reichel: Damit wären wir bei einer Debatte um Präzision im Kontext Intersektionalität. Kann Intersektionalität im Kampf gegen Antisemitismus gegebenenfalls auch schaden?

Marina Chernivsky: Die Ausformulierung und die Fundierung von Intersektionalität ist eine wichtige und bahnbrechende Errungenschaft und sie muss nicht zwangsläufig mit der De-thematisierung von Antisemitismus einhergehen. Auch jüdische Menschen werden entlang diverser Merkmale diskriminiert, als Juden, als Migrant*innen, als Schwarze, auch entlang von Geschlecht und Alter, sozialer Herkunft usw. Ihnen das nicht einzugestehen ist ein Problem, da sie dadurch in ihren Erfahrungen noch einmal entwertet werden. Was nicht passieren darf, dass die Genese und Wirkungsweise des Antisemitismus als Unterkategorie von Rassismus eingeordnet wird. Das widerspricht aus meiner Sicht dem Konzept von Intersektionalität. Für mich habe ich die Formel geprägt: Immer spezifisch, niemals isoliert. Aber wir sind oftmals noch nicht so weit. Gerade beim Thema Antisemitismus sind wir ganz am Anfang, auch in der Forschung, der Erfassung. Wir müssen andere Zugänge ausprobieren, die zeitgemäß sind, Antisemitismus auch aus anderen Blickwinkeln versuchen zu verstehen. Das, was wir in Deutschland haben – bei allen Verdiensten und Errungenschaften – das ist ein Verständnis von Antisemitismus als Einstellungspraxis, die dann auch noch individualpsychologisch erklärt wird.

Norbert Reichel: Was meinen Sie mit individualpsychologisch?

Marina Chernivsky: Es ist ein Problem, wenn Antisemitismus überwiegend durch Einstellungen erklärt wird. Dieser Zugang reicht nicht aus, um der ideologischen und vor allem strukturellen Dimension von Antisemitismus gerecht zu werden. Betrachten Menschen Antisemitismus als persönliche Fehlhaltung, glauben sie, sie können durch das richtige Wissen die Einstellungen verändern. Auch wenn das ein sinnvoller Ansatz ist, wird Antisemitismus durch Projektion und Affekte mobilisiert und ist in der Gesellschaft strukturell tief verankert. Das heißt, die Veränderung von individuellen Einstellungen schafft die Strukturebene nicht weg. Es sind keine Meinungen oder Fehlurteile einer einzelnen Person, es sind gesetzte kollektiv geteilte und legitimierte, zum Teil auch normierte Ressentiments, Vorstellungen, Annahmen, die sich nicht durch Begegnung mit jüdischem Leben, oder durch das richtige Wissen ohne Weiteres korrigieren lassen. 

Deutschland – postnazistisch, aber demokratisch

Norbert Reichel: Das ist keine einfache Aufgabe. Zuletzt erlebte ich am 14. Oktober 2020 anlässlich eines Podiumsgesprächs zum Antisemitismus in Erfurt, wie schwierig und frustrierend das sein kann. Die Moderatorin war sehr bemüht, irgendwie kämpfte sie um die richtigen Worte, aber sie wurde leider dem Thema und ihren Gesprächspartnerinnen nicht gerecht.

Marina Chernivsky: Es gibt viele Gespräche, wo das Ringen um Sprache deutlich wird. Es ist aber auch eine logische Konsequenz der Wirkungsgeschichte der Shoah und der Beziehungsgeschichte zwischen jüdischen und nicht jüdischen Menschen hierzulande. Es sind die gekappten Verbindungen zu dieser Vergangenheit bei einer gleichzeitigen Thematisierung. Es hat Folgen für die Nachkommen, die sich auf der Achse der biographischen und emotionalen Distanz versuchen anzunähern und dabei viele Leerstellen feststellen.

Norbert Reichel: Das sind verschiedene Dinge, auch hier wird alles zusammengeworfen. Das ist auch ein Problem der deutschen Opfererzählungen. Aktuelle Studien, beispielsweise die MEMO-Studie 2020, belegen, dass viele Deutsche sich nach wie vor als Opfer fühlen. Diese unsägliche Schmonzette „Unsere Mütter, unsere Väter“ ist das beste Beispiel. Dort wird der Antisemitismus auf den Polen verlagert. Deutsche Antisemit*innen gab es offenbar nicht. Auch die Deutschen wollen sich als Opfer verstehen.

Marina Chernivsky: Wir haben hier eine Besonderheit: Deutschland ist immer noch eine postnazistische Gesellschaft, wenn auch eine demokratische.

Norbert Reichel: Das wird auch noch lange, lange so bleiben.

Marina Chernivsky: Auch die Frage der gefühlten Opferschaft und die Lösung historischer Rollen aus ihren Verankerungen sind Produkte einer Erinnerungsgemeinschaft, die sich als Weltmeister der Erinnerung versteht. Und „post“ bedeutet nicht vergangen. Es bedeutet, dass eine solche unliebsame Vergangenheit immer in die Gegenwart hineinwirkt und unser Verhalten formt, hier im Übrigen auch das Verständnis von Bildungsinstitutionen. Es ist eine Herausforderung, diesem Erbe gerecht zu werden, dass dieser große Elefant im Raum ständig übersehen wird.  Bemerkenswert ist das Interesse an der Geschichte und die Bezugnahme auf Geschichte, aber nicht ihre (familienbiographische) Durchdringung.

Norbert Reichel: Erbe kann Vieles meinen. Auch die Frage, wer überhaupt was als Erbe versteht.

Marina Chernivsky: Wir denken und fühlen Geschichten, die nicht unsere eigenen sind. Oft wissen wir nicht, woher sie kommen und wo sie uns hinführen. Sie wirken aber weiter in uns, wenn wir es zulassen. So wehren wir uns gegen bestimmte Entwicklungen, reproduzieren, können die Kritik nicht einordnen. Wir verstecken, oder verheimlichen etwas, aber am häufigsten können wir es einfach nicht greifen, es entgleitet uns. Nicht nur Menschen, auch Gesellschaften haben mit dem Erbe zu kämpfen. Dabei geht um immaterielle und materielle, implizite und sogar sehr explizite Aufträge und Aufgaben. Die Unfähigkeit der Vielen die Geschichte und ihre eigene Vergangenheit einzuordnen bringt Menschen auf die Straße, sie tragen den – wie sie es nennen – „Judenstern“, stilisieren sich zu Opfern und fühlen sich im Recht.

Verrätselung

Norbert Reichel: Und was müssten wir tun? Ich bin ja ein Verfechter der Verbindung von historischer und politischer Bildung. Das gehört zusammen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.

Marina Chernivsky: Das finde ich gut.

Norbert Reichel: Aber es gibt natürlich auch die Widerstände. Ich habe manchmal die Sorge, dass Historiker*innen durch Historisierung distanzieren. Der Gegenstand wird unscharf, opak. Diejenigen, die Lehrpläne machen, sind oft Meister*innen dieser distanzierenden Disziplin.

Marina Chernivsky: Genau das ist der Punkt. Historisierung, Distanzierung, Verrätselung. Diese Pfeiler sind zentral in der Rezeption des Antisemitismus. Antisemitismus wird als etwas Abstraktes erlebt, als etwas Diffuses, was der Vergangenheit angehört.

In unserem Forschungsbericht zu der Studie Antisemitismus im Kontext Schule sehen wir Lehrkräfte, die sehr gewillt sind und engagiert, die aber um ihre Sprache ringen und vieles darin verrätseln. Sie geben das weiter, was sie selbst erlebt und (nicht) erfahren haben. Der Umgang mit Antisemitismus hat etwas mit ihnen selbst zu tun, wenn sie das nicht begreifen, wird es schwierig sein, dagegen wirksam vorzugehen.

Norbert Reichel: …oder sie individualisieren, indem sie sagen. Der*die Schüler*in, die gerade angegriffen wurde, soll mal nicht so empfindlich sein. So entlasten sich Lehrkräfte.

Marina Chernivsky: Ja, das ist eine Praxis, die genau das macht, was ich vorhin angesprochen habe – die Individualisierung eines strukturellen Problems. Auch die Delegation der Verantwortung auf die Jugendlichen. Gleichzeitig geraten die Betroffenen aus dem Blick. Über ihre Perspektiven und Bedarfen wird in den Interviews nicht viel gesprochen. Es fehlt offensichtlich an Konzepten und Ideen, wie es anders sein kann. Es geht um das System Schule, nicht um einzelne Lehrer.

Norbert Reichel: Reden sich um Kopf und Kragen?

Marina Chernivsky: Wir sind sehr dankbar, dass wir das Feld besser verstehen können. Unsere Arbeit hat über 15 Jahre Geschichte. Darin ist die Prämisse der Selbstreflexion fest etabliert. Die emotionalen und familienbiographisch verwobenen Themen brauchen einen anderen Zugang. Es ist erstaunlich, dass sowohl die Beschäftigung mit der Shoah als auch die Hinwendung zu Antisemitismus diese Ebene so lange vermisst haben. Neben einzelnen Ansätzen aus der außerschulischen Bildungsarbeit gab es vor 20 Jahren kaum Lernformate, die darauf abgezielt haben.

Norbert Reichel: Was war vor 18 oder 20 Jahren? Ich erinnere mich noch gut an die Auseinandersetzung zwischen Jürgen W. Möllemann und Michel Friedman. Das, was Jürgen W. Möllemann damals von sich gab, war nicht nur ein Spiel mit antisemitischen Formeln, das war schon mehr. Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz haben u.a. im Kontext dieser Affaire E-Mails und Zuschriften an die israelische Botschaft und an den Zentralrat der Juden ausgewertet. Dort fand sich bereits die gesamte Palette der aktuellen antisemitischen Vorfälle. Das hatte System und wurde von dem genannten FDP-Politiker befeuert. Hat sich in den 18 Jahren wirklich etwas verändert?

Marina Chernivsky: Alles kleine Schritte, aber die muss frau*man kennen.

Raum für Selbstreflexion – Plädoyer für ein neues Bildungsverständnis

Norbert Reichel: Wer sollte all diese Schritte kennen?

Marina Chernivsky: Alle. Das muss ins Studium. Die eigene Positionierung, die Auseinandersetzung mit familienbiographischen Narrativen, die Frage der kritischen Bildung und kritischen Pädagogik, die nicht reproduziert, sondern selbstreflexiv einordnet. Die Entwicklungsgeschichte des Umgangs mit Antisemitismus ist ein wichtiger Punkt, der bei einer solchen Einordnung helfen kann. 

Norbert Reichel: In der eigenen Biographie, in der eigenen Geschichte recherchieren?

Marina Chernivsky: Es geht nicht um Recherchieren, sondern darum, dass über Bildungsveranstaltungen, die selbstreflexiv angelegt sind, Möglichkeiten geschaffen werden – genau dies machen wir seit vielen Jahren –, die Aneignung dieses Wissens mit erfahrungsbezogenen und biographischen Zugängen zu verbinden. Menschen brauchen diesen Raum. Und was Gedenkstättenbesuche bewirken, das ist eine offene Frage.

Norbert Reichel: Raum schaffen in allen Ausbildungen, für Lehrkräfte, für Jurist*innen, für Polizist*innen, für Sozialpädagog*innen und viele mehr. Sollten es Pflichtmodule sein? Wie begegnet man*frau dann der Gefahr, dass das einfach abgearbeitet wird?

Marina Chernivsky: Ganz ehrlich: wenn wir das als systemisches Problem konsequent weiterdenken, werden alle Beteiligten eingebunden. Ein systemisches Problem braucht eine systemische Korrektur, und das muss alle Ebenen erfassen, die uns zugänglich sind. Wir brauchen Transfer in die Regelstrukturen, Supervision und Fallarbeit. Wir brauchen Beschwerdestellen mit Durchgriffsrechten und bessere Schulgesetze, mutige und innovative, den empirischen Erkenntnissen entsprechende Empfehlungen der KMK und vieles mehr.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2021, alle Internetzugriffe am 24.6.2021)