Weltliteratur im Exil

Ein Portrait der Plattform „Weiter Schreiben“

„Man kann das Mädchen aus der Diktatur holen, aber nicht die Diktatur aus dem Mädchen, das habe ich in Antje Rávik Strubels Roman ‚Blaue Frau‘ gelesen und ich glaube, da ist etwas dran. Die Diktatur hat sich einprogrammiert in meine Zellen und kein Versuch, sie mit neuen Informationen zu überschreiben, gelingt vollständig. Das Alte schimmert durch wie in einem Palimpsest, behauptet sich in Schatten, unter Lasuren.“ (Annett Gröschner)

Annett Gröschner wurde in der DDR geboren. Sie ist eine der Mitbegründerinnen von „Wir Machen Das“ (Caroline Assad hat das Projekt im November 2019 im Demokratischen Salon vorgestellt.) Annett Gröschner hat im Jahr 2019 gemeinsam mit Dima Albitar Kalaji das Angebot „Lebendiges Archiv – Umgang mit Diktatur“ gegründet. Ein Teil des Archivs ist der Podcast Offene Ohren, in dem junge Menschen über ihre Erfahrungen in einer Diktatur berichten. Diktaturen mögen sich vielleicht graduell voneinander unterscheiden, in Wahl und Ausmaß der Methoden der Unterdrückung, der Schikanen und Gängelung, in den Haftbedingungen und in den mehr oder weniger drakonischen Strafen für oppositionell denkende Menschen, aber nicht im Grundsatz. „Kommode Diktaturen gibt es nicht“, so Anna Kaminsky, die Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Für Menschen, die Texte, welcher Art auch immer schreiben, ist das Leben in einer Diktatur immer gefährlich. Und wenn es ihnen gelingt zu flüchten, müssen sie sich neu erfinden, eine neue Sprache lernen, andere Lebensgewohnheiten entschlüsseln, sich dem Blick der mehr oder weniger verständnisvollen oder verständnislosen Menschen des anderen Landes aussetzen, die Traumata der Vergangenheit – wie man so sagt – verarbeiten, sofern dies überhaupt möglich ist. Kaum jemand hat Status und Finanzkraft eines Thomas Mann, der in Pacific Palisades von sich behaupten konnte, da, wo er sich befände, befände sich auch die deutsche Kultur. Aber auch alle diejenigen, den Luxus eines Thomas Mann nicht genießen, schaffen im Exil Weltliteratur und es liegt an uns allen, dass wir dieser Literatur zu der Öffentlichkeit verhelfen, die sie verdient.

Die Plattform „Weiter Schreiben“                                         

Über die Plattform „Weiter Schreiben“ haben Autor:innen aus Afghanistan, aus dem Iran, aus Syrien und anderen Ländern die Gelegenheit, ihre literarische Arbeit fortzusetzen. Die Autor:innen der Plattform sind Botschafter:innen der Literatur des Landes, das sie verlassen mussten, und zugleich diejenigen, die in einer demokratischen Zeit die Grundlagen einer neuen Literatur in diesen Ländern schaffen könnten, wann auch immer das sein mag. Sie sind eine Brücke zur Demokratie.

Die Plattform besteht seit 2017. Sie wird zurzeit von der Crespo-Foundation, dem Deutschen Literaturfonds, der C.H.Beck Kulturstiftung, der Stiftung Preussische Seehandlung und einem Förderkreis finanziert. Auch weitere Fördermitgliedschaften sind möglich. Das Projekt wurde mehrfach ausgezeichnet, so 2023 mit dem Deutschen Kulturförderpreis für „Untold Narratives – Weiter Schreiben Afghanistan“ und 2022 mit dem Förderpreis des Hermann-Kesten-Preis. Alle in „Weiter Schreiben“ entstandenen Texte sind online in deutscher Sprache und in den Muttersprachen der Autor:innen verfügbar.

Die künstlerische Leitung liegt bei Annika Reich, die Projektleitung bei Lama Al Haddad. Annika Reich hat eine Schlüsselrolle in dem Programm und arbeitet eng mit Kurator:innen aus den jeweiligen Regionen zusammen, um die Autor:innen zu finden. Lama Al Haddad kam 2013 aus Syrien nach Deutschland. Sie hat in Damaskus englische Literatur und Linguistik studiert und erreichte den Bachelor-Abschluss. Den Master-Abschluss absolvierte sie in Deutschland. Lama Al Haddad ist verantwortlich für den reibungslosen Ablauf des Programms, sie sorgt für die Abwicklung der Finanzen, sie organisiert Veranstaltungen, poetische Performances, Workshops.

„Weiter Schreiben“ hat ein breites Angebot. Die Plattform veröffentlicht Texte, aber es gibt auch Publikationen in anderen Medien, beispielsweise in der ZEIT in „10 nach 8“ oder auch bei dem ein oder anderen Verlag. Die Autor:innen gehören verschiedenen Generationen an, sie sprechen verschiedene Sprachen, sind zu unterschiedlichen Zeiten nach Deutschland gekommen. Manchen Autor:innen half, dass sie bereits Englisch sprachen, als sie ihr Land verlassen mussten. Ihnen allen ist wichtig, auch in der Muttersprache zu schreiben, um weiter mit den Literaturszenen und Leser:innen ihres Heimatlandes verbunden zu bleiben.

Ein wichtiges Programmelement sind die Tandemarbeit und Briefwechsel mit in Deutschland lebenden und schreibenden Autor:innen. Zu den Tandempartner:innen gehören beispielsweise Max Czollek, Lena Gorelik, Olga Grjasnowa, Dilek Güngör, Nino Haratischwili, Ilma Rakusa, sodass neu angekommene Autor:innen die Möglichkeit haben, sich im Tandem auszutauschen und zurechtzufinden. Es gibt auch Autor:innen, die sich noch im Herkunftsland befinden, die in der Regel nur anonym schreiben können. Manche schreiben auch nach ihrer Flucht noch unter einem Pseudonym, um ihre Familien zu schützen. Ein solches Beispiel bietet der Briefwechsel zwischen Maliha (ein Pseudonym) in Kabul und Dilek Güngör in Berlin. Zwei von drei afghanischen Autorinnen leben inzwischen im Exil.

Die Autor*innen können die Sprache wählen, in der sie schreiben. Manche schreiben in Englisch, manche in Deutsch, aber die Muttersprache ist zentral. Eine wichtige Rolle spielen renommierte literarische Übersetzer:innen. Autor:innen kommen manchmal direkt auf das Projekt zu, manche kommen über eine Ausschreibung auf der Webseite oder über Social Media Multiplikator*innen. Im Jahr 2024 können fünf neue Autor:innen in das Programm aufgenommen werden. Allerdings wäre eine Ausweitung des Programms sicherlich hilfreich, denn die Nachfrage ist erheblich höher. Die ausgewählten Autor:innen können zunächst zwei ihrer Texte bei „Weiter Schreiben“ veröffentlichen, nehmen an Lesungen teil, erhalten Kontakt zu Buchhandlungen und Bibliotheken. Inzwischen gibt es auch erste Forschungen an Hochschulen, so forschenzum Beispiel die Georgetown University und die University of London zu dem Projekt.

Einige Autor:innen waren in ihrem Heimatland bereits etabliert, Schreiben war ihr Beruf. Sie arbeiteten als Journalist:innen, machten Podcasts, veröffentlichten Gedichte, Erzählungen und Romane. Manche arbeiteten allerdings auch in Berufen, die mit der Literatur nichts zu tun haben. In Deutschland erleben viele oft, wie sie nach Dingen gefragt werden, die mit ihrer literarischen Arbeit nichts oder nur am Rande zu tun haben. Sie werden eher nach der Situation von Geflüchteten gefragt, nach der Lage im jeweiligen Land, nach ihren Traumata. Dies sind aber Themen, über die niemand unbedingt mit jedem sprechen könnte, und vor allem wird ihre Literatur so auf die äußeren Rahmenbedingungen im Herkunftsland reduziert. Die literarische Qualität wird mehr oder weniger ignoriert. Umso wichtiger ist, dass es dem Programm gelingt, eine Atmosphäre zu schaffen, eine literarische Umgebung, in der die Autor:innen eben vor allem über ihre Literatur diskutieren können. Das bedeutet nicht, dass Politik keine Rolle spielte. Die veröffentlichten Texte belegen, dass sich Politisches natürlich literarisch niederschlägt, durchaus auch in dem Sinne des Eingangs zitierten Statements von Annett Gröschner.

Den eurozentrischen Blick auflösen

Es ist nicht einfach, Literatur aus Afghanistan, aus dem Iran, aus Syrien und aus anderen außereuropäischen Ländern angemessen zu würdigen, wenn man dies eigentlich nur aus der Sicht der eigenen europäischen Bildung kann. Der Anglist und Komparatist Martin Brunkhorst konterte vor langer Zeit einmal meine naive, bei mir als damaligem Studenten sicherlich verständliche Hoffnung, wie schön es wäre, mehrere Literaturen zu beherrschen, mit der Bemerkung, es wäre schon eine Leistung, eine halbe Literatur zu beherrschen.

Wer sich nun mit Literaturen beschäftigt, die in Sprachen geschrieben sind, die man nie gelernt hat, die nur selten übersetzt werden, die vielleicht einmal kurze Zeit als Gastland einer der beiden deutschen Buchmessen oder durch die Verleihung eines Literaturpreises beachtet werden, wird sehr schnell eingestehen müssen, wie schwer es ist, literarische und ästhetische Traditionen, Anspielungen an lokale und regionale, an historische, kulturelle und politische Gegebenheiten nachzuvollziehen. Ein Beispiel sei genannt: In einem ersten Entwurf dieses Portraits, den ich dem Team von „Weiter Schreiben“ zur kritischen Durchsicht schickte, schrieb ich vom syrischen „Bürgerkrieg“. Dima Albitar Kalaji wies mich darauf hin, dass kein:e Syrer:in diesen Begriff verwenden würde. Es gab im Jahr 2011 keinen „Bürgerkrieg“ in Syrien, sondern eine Demonstration gegen die Diktatur, die sich mit der Zeit wegen der Gewalt des Regimes zu einem „Bürgerkrieg“ entwickelte.

Hinzu kommt eine durchaus unangenehm anmaßende Voreingenommenheit in der westlichen Literaturszene, nicht nur in Deutschland. Das ist nicht nur Eurozentrismus, für viele gibt es sogar leider nur einen rein nationalen Blick auf Literatur. Vielleicht beschränkt sich die Kenntnis internationaler Literatur selbst bei literarisch gebildeten Menschen auf mehr oder weniger schnell übersetzte Blockbuster-Literatur. Und allen gemeinsam ist durchaus ein gewisser „Orientalismus“, wie ihn Edward Saïd in seinem bekannten Buch beschrieb.

All diese Einschränkungen unseres Urteilsvermögens sollten wir bedenken, wenn wir über Literaturen sprechen, deren Geschichte und Hintergründe wir nicht kennen, unsere Assoziationen anmerken, die wir aber nie absolut setzen sollten. Wir müssen uns vor jeder Essenzialisierung anderer Literaturen beziehungsweise Kulturen hüten, uns selbst als Rezipierende stets in Frage stellen. Vielleicht entsteht so aus einer literaturkritischen oder literaturwissenschaftlichen Beschäftigung ein Dialog. Damit wäre schon viel erreicht. Das gilt natürlich gerade auch für diesen Essay! Und schließlich sollten sich eingestehen, dass Menschen in außereuropäischen Ländern oft viel mehr über die europäische Kultur wissen, deren Literaturen lesen und rezipieren, als umgekehrt Europäer:innen über außereuropäische Literaturen wissen.

Vielleicht darf ich mir den Wunsch leisten, dass doch alle Schüler:innen in Deutschland und in anderen europäischen beziehungsweise westlichen Ländern neben der eigenen Sprache und dem Englischen auch eine außereuropäische Sprache zumindest kennenlernen, wenn nicht vielleicht sogar mehrere Jahre intensiver erlernen. Und vor allem brauchen wir gute Übersetzer:innen. Sie sind die Mittler:innen, Menschen, denen es gelingt, zwei Sprachen miteinander in eine Beziehung zu bringen, aus der sich erahnen lässt, welche Bedeutungen der jeweilige Text in sich verbirgt.

Lama Al Haddad © Juliette Moarbes.

Zwei Anmerkungen von Dima Abitar Kalaji und Lama Al Haddad aus einem Gespräch, das wir zur Vorbereitung dieses Portraits führen konnten, bringen die große Aufgabe und den komplexen Hintergrund von „Weiter Schreiben“ auf den Punkt. Dima Abitar Kalaji sagte: Exiled authors find themselves often cornered and labelled.” Umso wichtiger sei „Weiter Schreiben” als “platform where authors are not cornered, are completely free to write what they want to write.” Lama Al Haddad fügte hinzu, es wäre wichtig, dass Deutschland bunter und realistischer werde, dass Stimmen, die oft unterrepräsentiert sind, sichtbar und hörbar gemacht werden. Manche Autor:innen seien in ihren Heimatländern durchaus bekannt, aber in Deutschland kenne sie (noch) niemand. Das sei nicht nur eine Frage der Literaturszene, sondern auch der gesamten Kulturszene, vor allem der Wahrnehmung von Kultur. Exiliteratur ist immer Weltliteratur. In den Worten von Dima Albitar Kalaji: „Exile will always be a part of literature. How to support authors in exile: empowerment, to empower exiled people! Exiled literature will always be there. It has always been, and always will be, and we have to find sustainable ways to empower exiled authors, and to more recognition to exile literature ”

Drei Portraits: Dima Albitar Kalaji, Atefe Asadi, Abdalrahman Alqalaq

Dima Albitar Kalaji lebt seit 2013 in Berlin. Sie studierte Arts and Journalism und ist seit 2017 Teil des Teams von „Weiter Schreiben“, unter anderem als Kuratorin und Redakteurin von „Weiter Schreiben“, aber auch Künstlerische Leiterin des Projekts „Lebendiges Archiv“ und „Weiter Schreiben Interventionen“. In Damaskus hatte sie eine Radiostation mitgegründet. Dort konnte sie ihre Texte nur anonym, under cover veröffentlichen. Schreiben ohne Zensur war unmöglich, man konnte versuchen, online zu veröffentlichen, wenn man sich durch geeignete Programme schützte, damit man nicht von den staatlichen Behörden erwischt wurde. Dima Albitar Kalaji ist auch Autorin und experimentiert mit der Sprache, in kurzen Formen.

Dima Albitar Kalaji © Juliette Moarbes.

Ihr Gedicht „Hagar“ übersetzte Kerstin Wilsch aus dem Arabischen. Hagar ist die von Abraham mit ihrem Sohn Ismael in die Wüste Verstoßene. Hagar spricht: „Ich bin Hagar, o Gott der anderen / Durch eine Luftspiegelung überlebte ich / und trank den Wüstensand als Wasser.“ Gott und Abraham, namentlich nicht genannt, aber als Gottes „Freund“ präsent, schaffen gemeinsam „Männer“ „die sich ins Feuer stürzen / und hoffen, es möge sie nicht verbrennen.“ Ist das ein Aufgehen in einer Art brennendem Dornbusch, den wir aus Bibel und Koran kennen, ein unzulässiger, im Grunde der Blasphemie verdächtiger Versuch, sich Gott zu nähern, selbst Gott ähnlich zu werden? Im Gedicht gibt es keine weitere diese „Männer“ charakterisierende Bezeichnung, weder das Wort „Mörder“ fällt noch das Wort „Verbrecher“. Aber sie verwendet das Wort „Opfer“, auch wenn sie sich gegenseitig töten. Das Wort „Märtyrer“ fehlt ebenso. Aber klar bleibt: das Opfer dieser brutalen anmaßenden männlichen Welt sind Frauen und Kinder, wie Hagar und Ismael. Dima Abitar Kalaji: kommentiert ihren Text mit folgenden Worten: „The story of Ibrahim and his sons, and how it reflects through all times left victims in all societies and not only women and children. It is a reflection of patriarchy in the whole society.”

Dima Albitar Kalaji beherrscht die prägnant kurzen Formen, im Gedicht wie in Aphorismus oder Epigramm. Sie schreibt „Einzeiler“, die sie auch selbst übersetzt. Sie fragt, ob sich das, was einen Menschen ausmacht, überhaupt niederschreiben, aussprechen lässt, eine einfache Schlussfolgerung, resignativ oder vielleicht doch einfach nur eine befreiende Einsicht? „Die wahrhaftigsten Geschichten sind die, die wir nicht erzählen.“ Vielleicht gibt es Hoffnung in einer Begegnung unter Menschen: „Wir begegnen uns, und die Gewissheit tritt ein.“ Aber vielleicht ist diese „Gewissheit“ auch das Gegenteil von Hoffnung: Verzweiflung? Es bleibt den Leser:innen überlassen, sich für das ein oder andere zu entscheiden oder die Frage einfach als Frage offen dastehen zu lassen. Was vermag Sprache, ist der angedachte Text überhaupt schreibbar? „Was bleibt von uns, wenn wir zu Salz an der Schulter einer geliebten Person geworden sind? Zitate, an die sich nur jene erinnern, die noch mehr liebten.“ Dies ist ein Auszug aus „Zitate aus einem langen, noch ungeschriebenen Text“. Leila Chammaa übersetzte. Die Welt setzt sich aus einzelnen Wortfolgen neu zusammen und stellt sich gleichzeitig immer wieder neu in Frage.

Atefe Asadi ist eine iranische Autorin, die seit 2022 in Hannover lebt. Sie schreibt fantastisch anmutende kurze Texte, die den Eindruck erwecken, als entführten sie in eine Fantasie, die sich jedoch als undurchführbar erweist. Nachdem einige ihrer Geschichten in unabhängigen Zeitschriften und Plattformen veröffentlicht werden konnten, wurden weitere Texte vom iranischen Kulturministerium „für nicht druckbar erklärt“. Atefe Asadi verließ den Iran nach Verhören, sie musste ihre Social Media Accounts schließen.

In der Erzählung „Die Tätowierung“, die Sarah Rauchfuß aus dem Persischen übersetzte, beschreibt sie einen Mann, den die Erzählerin zu waschen versucht. Der Mann hat eine Tätowierung mit dem Torso des Körpers eines Soldaten und der Parole „Dschihad auf dem Pfad Gottes“, die ihm – so berichtete er zu einer Zeit, als er noch seinen Kehlkopf hatte – ihm kurz nach seiner Einberufung zum Militär gestochen wurde, offenbar eine – wie wir den diesem Vorgang gegebenen Attributen entnehmen – edle Tat. Zumindest empfindet der Mann dies so: „Den Schmerz der feinen Nadeln mit goldener Endkappe, die ihm die zweifarbige chinesische Tinte unter die Haut führten, hatte er aus Liebe über sich ergehen lassen, damit ein schönes und einwandfreies Tattoo für ihn dabei herauskäme. Er erzählte mir, dass er das Tattoo kein einziges Mal bereut und sich nie dafür geschämt hatte, nur würde er, ließe sich die Zeit zurückdrehen, sich heute anstelle des Soldatentorsos lieber das Bildnis Khomeinis auf den Arm stechen lassen.“ Der eintätowierte Soldat erwacht zum Leben, die Angst getötet zu werden ist unabweisbar. Die Tätowierung als Bild eines nie vergehenden Traumas der beobachtenden Erzählerin? Und ein Zeichen der Identität des ehemaligen Soldaten, die er aufrechterhalten muss, um nicht zu verzweifeln?

In Atefe Assadis Text „Tricks und Kniffs für das Beisetzen eines Apfelbaumsetzlings im eigenen Garten“ wird ein Mädchen, Alma, die einzige Person, die in dieser Erzählung einen Namen trägt, von ihren Familienmitgliedern begraben. Das Begräbnis wird wie das Pflanzen eines Apfelbaums beschrieben, bei dem Europäer:innen sicherlich an Luther denken mögen, eine Assoziation, die hier sicherlich nicht passt, aber vielleicht passt eine andere, der Apfel Adams und Evas. „Zu dritt hoben sie Alma an und pflanzten sie in den Garten. Ihr Bruder versenkte seine Arme bis zu den Ellenbogen in der Erde, seine Finger erreichten Almas Zehen und drückten sie mit ganzer Kraft in den Grund, dass die Wurzeln sich tüchtig in der Erde verankerten und der Baum einen guten Stand bekommen würde. Nachdem sie Alma eingepflanzt hatten, riss der Vater den Mulchsack an einer Ecke auf und verstreute rings um sie herum einige Hände voll davon. Dann fasste die Mutter weinend Almas Arme von beiden Seiten, brachte sie in Astform und fixierte sie in der Luft. Almas geschlossene Faust, die darum gerungen hatte, den Brief zu verstecken, und in dieser Form erstarrt war, wurde zu einem jungen Zweig mit fünf trockenen Trieben schief und krumm an seiner Spitze.“ Ein Mensch wird zur Pflanze gemacht, aber wurde das Mädchen wegen einer unerlaubten Liebe wegen ermordet? Der entdeckte Brief legt diese Vermutung nahe.

Abdalrahman Alqalaq, ein syrisch-palästinensischer Lyriker, beteiligte sich im Jahr 2012 an der Gründung des literarischen Jugendtreffs „Shaghaf“ im Yarmouk Camp in Damaskus, einem Flüchtlingslager. Das Lager wurde von den Truppen Assads belagert, wenige Jahre später kontrollierte der sogenannte „Islamische Staat“ das Camp. Inzwischen hat die syrische Armee die Kontrolle wieder übernommen. Abdalrahman Alqalaq lebt in Berlin, und hat dort 2017 gemeinsam mit Martin Eckrich in Speyer die Lyrik-Performance „Die Flucht“ gestaltet.

Das Gedicht „Flüchtlingslager, schau durch meine Augen“ schrieb er in Haifa. Sandra Hetzl übersetzte es. Flughäfen, Schlauchboote, Plastiktüten, das Hinterlassene, die Getriebenheit, ein Blick, den diejenigen ignorieren, die von außen auf Menschen schauen, deren individuelle Identität sie mit den Bezeichnungen „Migranten“ oder „Flüchtlinge“ verweigern: „Flüchtlingslager, schau durch meine Augen / und weine nicht wegen mir, nicht um mich / wenn ich meine Arme von deinem Körper löse“. Orte und Gegenstände werden zu Personen, wo Menschen nur in einer Funktion existieren, aber eben einfach weder wissen noch ahnen, welche Geschichte ein Mensch hat, der ihnen zufällig begegnet: „Weine nicht, bloß weil der Taxifahrer dich fragt, woher du kommst / Weine nicht geschlossenen Auges / du musst doch etwas sehen“. Der Modus des Flüchtenden, des Geflüchteten bleibt das ewige Trauma.

Federico García Lorca am Klavier in Granada. 1919. Wikimedia Commons.

Leila Chammaa übersetzte den Prosatext „Flashback“. Abdalrahman Alqalag bezieht sich auf Louis Aragons Satz „Jeder hat sein Granada“. Granada ist die Stadt, in der im Jahr 1492 von den Truppen der Reyes Catolicos, die in der Kathedrale von Granada begraben sind, eine Hochkultur zerstört wurde. Granada ist auch der Ort, in dessen Nähe, in Fuente Vaqueros, der spanische Dichter Federico García Lorca im August 1936 von spanischen Faschisten ermordet wurde. Ein Ort im Süden der Stadt, auf einer Anhöhe, von der man Meer und Stadt gleichermaßen sieht, heißt im Spanischen „El puerto del sospiro del moro“, der Ort, an dem der vertriebene letzte König von Granada sich umblickend vor Trauer geseufzt, geweint haben soll. Salman Rushdies Roman „The Moor’s Last Sigh“ spielt auf diese Szene an. So wird auch Damaskus nicht aus der Erinnerung verschwinden, mehr noch, es ist und bleibt ein untrennbarer Teil der Persönlichkeit des aus Damaskus Geflüchteten. Damaskus wird Granada, Granada Damaskus: „Ich habe einen Flashback und werde mir bewusst, dass diese Erfahrung, wenn auch überstanden, weiterhin Konflikte in mir auslösen wird.“ Diesen Gedanken legen auch die Gedichte „Frag mich nicht nach Syrien“ und „Ich könnte ein wenig vom Tod berichten“ nahe. Doch was ist Europa? Das Dantesche „Paradies“, das man nur „durch die Hölle“ erreicht? Die Hölle der Verhöre, des Terrors, die Hölle der verständnislosen Blicke, „ich wollte Alltag und Kultur, ganz europäisch, war Schulter an Schulter mit Europäern, / als sie verstört zugegen waren, /als ihre Welt das blaue Samtkleid fallen ließ“.

„Literature is resilience, a release”

Ich hätte auch andere Autor:innen aus dem großen Angebot in „Weiter Schreiben“ auswählen können. Aber vielleicht bieten die von mir ganz subjektiv ausgewählten kurzen und in sich auch sicherlich unvollständigen Portraits einen ersten Eindruck, welchen Autor:innen, welchen Texten wir auf der Plattform begegnen können. Ein Thema, das sich immer wieder findet, ist natürlich das Thema der Flucht, des Flüchtens und der Fluchtanlässe. Eine Autorin möchte ich in diesem Zusammenhang noch kurz vorstellen. Lina Atfah wurde 1989 geboren. 2014 hat sie Syrien verlassen. Sie lebt heute in Wanne-Eickel. Als 17jährige wurde sie der „Gotteslästerung und Staatsbeleidigung beschuldigt“. Sie hat in Deutschland bereits mehrere Gedichtbände veröffentlicht: „Das Buch von der fehlenden Ankunft“ und „Grabtuch aus Schmetterlingen“ (beide erschienen bei Pendragon). Sie ist Co-Herausgeberin des Buches „Deine Angst – Dein Paradies – Gedichte aus Syrien“ (erschienen bei Wunderhorn), das unter anderem mit dem Satz beworben wird: „Die Dichter waren die ersten Demokraten“.

Am 25. März 2023 beschrieb Lina Atfah auf der Plattform „10 nach 8“ ihre Flucht und die Flucht ihrer Familie unter dem Titel: „Der Gesang der Gruppe im Gummiboot“. Sie schaffte die Flucht mit dem Flugzeug, sie beschreibt im Detail die Flucht ihrer Familie, des Bruders, der Schwester, der Mutter, des Onkels, die den Weg über das Mittelmeer nahmen, das tödlichste Meer der Erde. Die Schicksale der an und in diesem Meer gestorbenen Menschen dokumentiert das im Hirnkost-Verlag erschienene Buch „Todesursache Flucht“. Aber warum wählen Menschen diesen Weg? „Flucht ist ein Moment des Aufgebens, daher ist die kollektive Entscheidung zum Fliehen keine Option, sondern ein entmutigendes Schicksal. Nichts kann diese Flucht aufhalten. Der einzige Ansatz wäre, die Gründe zu beseitigen, die Menschen dazu veranlassen, unter Einsatz ihres Lebens, ihrer Menschlichkeit und ihrer Würde ihr Land zu verlassen.“ Und diejenigen, die es bis nach Europa, nach Deutschland schaffen? Lina Atfah schreibt: „Wenn eine Tragödie Menschen knetet, verändern sich sogar ihre Gesichtszüge – und etwas tief unten in den Seelen verschiebt sich für immer.“

Doch wie war und ist das Leben zuvor? Antworten finden wir in dem leider bisher nur in englischer Sprache erschienenen Band „My Pen is the Wing of a Bird – New Fiction by Afghan Women“. Das Buch erschien über das Programm „Untold“, ein wichtiger Partner von „Weiter Schreiben“ und wurde 2022 bei MacLehosePress veröffentlicht. In ihrem Vorwort schreibt Lyse Doucet, internationale Korrespondentin der BBC: „Literature is resilience, a release.“ Die 23 Texte des Buches wurden von 18 Autorinnen geschrieben, davon einige unter Pseudonym. Besondere Anerkennung gebührt den fünf Übersetzerinnen (aus Paschtu und aus Dari). Stilistisch erinnerten mich die Texte an Short Stories von Raymond Carver, gerade auch in ihrer Prägnanz und dem Bezug auf Alltäglichkeiten, in denen sich Erkenntnisse über historische, gesellschaftliche, politische Zusammenhänge zeigen. Lyse Doucet stellt fest: „Everyday places are crime scenes; kitchens can provide refuge but also pose risks.” Alle Erzählungen wurden vor der Rückkehr der Taliban an die Macht geschrieben. Einige der Autorinnen sind auch bei „Weiter Schreiben“ präsent (die englische Transkription der Namen unterscheidet sich gelegentlich von der deutschen).

Maryam Mahjoba beschreibt in „Companion” den Alltag einer einsamen Frau. Ihre Kinder leben alle im Ausland und sie ist froh, dass sie sie fortgeschickt hat. Sie selbst nimmt die Außenwelt nur noch über das Fernsehen, Fotographien der Vergangenheit und die Begegnungen mit einem Gemüsehändler am Marktplatz wahr. Dem Gemüsehändler sagt sie, er möge bitte nachschauen, ob sie noch lebe, wenn er sie zwei Tage hintereinander nicht sähe. Freshta Ghani lebt nach ihrer Flucht aus Afghanistan in Tadschikistan. Der Name ist ein Pseudonym. Sie hat „Daughter Number Eight“ (deutsche Übersetzung bei „Weiter Schreiben“) in der Ich-Form geschrieben. Eine Frau bekommt ein Kind, nach sieben Töchtern wieder eine Tochter. Ihr Mann nimmt sich eine Zweitfrau, sie ist wehrlos.

Masoma Kawsary, eine Ingenieurwissenschaftlerin, die jetzt in Stockholm lebt, gibt in „Dogs are not to blame“ einen Einblick in das Leben des Schreibers Saber. Saber schreibt Petitionen und macht so etwas wie eine Rechtsberatung. Er ist zutiefst verunsichert, er hat schon vor langer Zeit aufgehört, die Moschee zu besuchen: „He had become uncertain of everything – even of God.“ Eine Petentin trägt vor, dass ihr Schwager jemanden getötet habe und nun dem Bruder des Getöteten ihre Tochter als Schadenersatz zur Frau geben will. Sie hat keine Dokumente, nur ein Babyfoto der Tochter. Er sagt, er könne ihr nur helfen, wenn sie ein aktuelles Foto ihrer Tochter bringe, doch diese darf das Haus nicht verlassen. Er brauche auch die eigenen Worte der Tochter. In all seiner Arbeit bleibt seine unerfüllte und unerfüllbare Liebe zu Meena. Ihm bleibt nur die Vorstellung, sie könne ihn lieben. In der Erzählung „An Imprint on the Wall“ beschreibt Masoma Kawsary die Leiden von Ranna. Sie muss ihre Mutter pflegen, die an Alzheimer leidet, der Vater ist Vorbild und dennoch unerreichbar, er kämpft „his jihad“: „Like God, he was not afraid of anyone. He could do whatever he wanted.” Ranna bleibt einsam, vaterlos, gottlos, aber das ist wohl dasselbe: „Today too, as Ranna lay between the bloodied walls and thought of her mother, God was silent. When the explosion had happened and everyone was thrown together into the sky, once again. God did not say a thing.”

Raketenangriffe prägen den Alltag auch anderer Personen der Erzählungen. Die Erzählung „The Late Shift“ von Sharifa Pasun endet wie sie beginnt. Hauptsache bleibt, dass den Personen, um die es geht, nichts geschieht. Sie haben einfach Glück und können wieder ins Haus gehe. Anders in „The Most Beautiful Lips in the World“ von Elahe Hosseini. Die Erzählung beruht auf dem Anschlag einer Selbstmordattentäterin auf eine Hochzeit in Kabul am 18. August 2019. Sie wird aus zwei Perspektiven erzählt, aus der Perspektive der Attentäterin und aus der Perspektive einer Besucherin der Hochzeit, die die Zerstörung beschreibt: „You walk through the carnage, the piles of fallen cement and pieces of metal.“ Die Attentäterin berichtet von den Worten ihres Vaters, der die zu Tötenden als Ungläubige („infidels“) bezeichnet, deren Platz der tiefste Ort der Hölle sei. „They have to die to rid the world of cruelty and depravity.” Ihr verspricht der Vater das Paradies: „Your mother is waiting for you. I read this prayer to you – you will see your mother. You will got to paradise, and meet her.” Es klingt alles sehr lakonisch und einfach. Die Sprache verstärkt so den Eindruck der mörderischen Naivität des Vaters, die die Tochter folgsam akzeptiert.

Ein Thema, das westliche Leser:innen nicht erwartet hätten, wähle Batool Haidari in „I Don’t Have the Flying Wings“. Ein junger Mann weigert sich, an der Hochzeit seines Cousins teilzunehmen. Dass er ein junger Mann ist, erfahren wir erst etwas später. Zu Beginn könnten wir ihn für eine junge Frau halten, die sich zurecht macht, sich schön finden möchte. „I dance as if I have been liberated from my body. Despite the heat of my skin, my liberty keeps me cool. I admire my own beauty. I open my thin lips, ready to sing out the poem that has always rested in my throat.” Doch ihr Vater erwischt sie:ihn, droht, sie:ihn in Stücke zu schneiden, schneidet die Haare mit einem Dolch ab. Von nun an muss sie:ihn den Vater überall hin begleiten, aber es gibt einen Lichtblick: „I wear perfume, so that when I walk in I am invited by the mullah to stand directly behind him during the prayer. From him, I get only admiration. The mullah admires my attendance, my cleanliness, my beauty. He shakes my right hand on occasion, but usually he just touches my hair. That’s the only time I know I am admired, for who I am, for who I would like to be.”

Afghanische Frauen. Foto: Annemarie Schwarzenbach (1908-1942), die Afghanistan 1939 gemeinsam mnit Ella Maillart bereiste. Zur Fotografin eine Leseempfehlung: Annemarie Schwarzenbach, Orientreisen – Reportagenaus der Fremde, Berlin, edition eberbach, 2010)

Gott, Väter, eine patriarchalische Gesellschaft, die Einsamkeit und Hilflosigkeit der Frauen, die an die Dunkelheit gewöhnt sind wie das erblindete Mädchen in der Erzählung „Bad Luck“ von Atifa Mozaffari, das nur einen Mann heiraten kann, der ein bei der Explosion einer Landmine ein Auge und ein Bein verloren hat. Ihr Cousin schafft es, ihr Geld für eine das Augenlicht wiederherstellende Operation zu besorgen, aber sie lehnt ab: „I am used to darkness now.“ Eine andere junge Frau, von der Anahita Gharib Nawaz in „D vor Daud“ erzählt, opfert sich für einen Jungen, dem sie in der Schule half, den sie ein wenig betreute, der aber den Bürgermeister, den „chief“ des Ortes, mit dem er verwandt ist, bei einer Vergewaltigung erwischt und mit dreizehn Messerstichen tötet. Sie nimmt die Schuld auf Sicht und lässt sich zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilen. Er wäre wohl – das lässt sich erschließen – zum Tode verurteilt worden. Die Hingabe der Frauen ist die andere Seite der Medaille der herrschaftlich auftretenden Männer. Selbst eine Flucht ist letztlich die Entscheidung der Männer, so in der Erzählung „My Pillow’s Journey of Eleven Thousand, Eight Hundred, and Seventy-six Kilometers“ von Farangis Elyassi.

Eine starke Frau beschreibt Fatema Khavari in „Ajah“. Es ist die Geschichte von Ajah, die keine Kinder bekam, weil ihr Mann zeugungsunfähig war, die nach einem Erdbeben beginnt, einen Kanal zu graben, um ihren Obstgarten und das Dorf vor der Flut zu schützen, gegen alle Widerstände ungläubiger Männer, die sagen, dies wäre eine Männeraufgabe, aber selbst keine Initiative zeigen. Sie gewinnt Frauen für die Arbeit und hat schließlich Erfolg. Im dritten Jahr geht die Flut vollständig am Dorf vorbei:

Literatur als Resilienz, als Erleichterung? Diese und die anderen Erzählungen lassen einen tragischen Alltag erfahren, in dem es kaum Möglichkeiten gibt, sich dem – so könnte man es vereinfachend nennen – gesellschaftlichen Druck zu entziehen, oder vielleicht doch? Möglicherweise sind der junge Mann, der gerne eine Frau sein möchte und die Selbstmordattentäterin beide zwei Seiten einer Medaille und die Frauen, die über sie schreiben, diejenigen, die diese unterschiedlichen Wege dokumentieren, nüchtern, klar, nicht wertend und doch mit dem Ziel eines Plädoyers für Menschlichkeit als Alternative zu scheinbar göttlichen Weisungen. „Eventually, war and insecurity forced us, like so many others, to leave. My husband made the decision that we should become immigrants. I wasn’t happy at all.” Fatema Khavari beschreibt einen anderen Weg: Selbstwirksamkeit, die entsteht, wenn sich Frauen zusammentun: „How difficult is digging a tiny channel weh we women come together?“

Die Kraft der Tandems

Briefe, Dialoge sind vielleicht ein Weg, die gegenseitige Fremdheit, das Erleben von Fremdheit zu erfahren, sich selbst zuzugeben und es vielleicht so ein wenig zu überwinden. Die Plattform „Weiter Schreiben“ zählt inzwischen allein neun Briefwechsel mit afghanischen Autorinnen, von denen einige anonym bleiben müssen, da sie noch in Afghanistan leben. Die Lage in Afghanistan war für alle Kreativberufe schon seit langem hoch problematisch. Frauen, die es nach Deutschland schaffen, sind die Ausnahme. In der ZEIT beschrieb Arnfried Schenk den Weg einer 42jährigen hoch gebildeten Frau, die es dank des Hilde-Domin-Programms des DAAD und des Auswärtigen Amtes (das sich in vielen anderen Fällen deutlich zurückhielt, sodass man eine erfolgreiche Flucht als große Ausnahme bezeichnen darf). Dies ist bei Weitem nicht der einzige Bericht über die unerträgliche und menschenverachtende Situation von Frauen im Afghanistan der Taliban: „Die jahrzehntelange Instabilität am Hindukusch führte dazu, dass zu wenig Raum für kreativen Ausdruck und Vernetzung besteht. Kreativindustrien wie z.B. das Verlagswesen waren schon vor der Machtübernahme durch die Taliban praktisch nicht existent, seither gibt es keine Möglichkeit mehr, im Land zu veröffentlichen. Besonders in der aktuellen Lage wird uns von den teilnehmenden Autorinnen immer wieder rückgemeldet, wie wichtig es ist, einen gemeinsamen Rahmen zu haben, in dem sie weiterschreiben können.“

Das Magazin von „Weiter Schreiben“ veröffentlicht Texte verschiedener Autor:innen in gedruckter Form sowie Interviews. Die vierte Ausgabe vom Oktober 2022 trägt den Titel „Dieser Schatten ist nicht ich“. Der Titel geht auf den letzten Vers eines Gedichts von Mariam Meetra zurück, das die Autorin selbst ins Deutsche übertrug und das Sylvia Geist nachdichtete, Titel: „Ich bin noch wach“. „He, ihr müden Mädchen der Stadt des Schweigens / und der Nacht! / Kann man in diesem dunklen Land / An den Mond glauben, der da vor dem Fenster / hängt? / Oder im Schein eines enttäuschenden Sterns / Gedichte lesen? / Als wäre ich schon gestorben / Glauben die Wörter nicht an meine Stimme / Und die Jams sind leer von ihr. / Glaubt mir! / Ich bin noch wach / Obwohl meine Kehle längst versagt / Schreit meine Stimme sich seit Jahrhunderten wund: / Glaubt mir! / Dieser Schatten ist nicht ich.“ Mariam Meetra studierte Journalismus und Sozialwissenschaften in Kabul, ihr Masterstudium schloss sie in Berlin ab. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Leipzig und literarische Kuratorin bei der Deutschen Welle und beim Beethovenfest in Bonn. 2023 erschien ihr erster Gedichtband „Ich habe den Zorn des Windes gesehen“ (Göttingen, Wallstein).

Beeindruckend ist vor allem in Bezug auf die Bilder, die sich zwei Menschen voneinander machen, die sie aber beide versuchen zu überwinden, der Briefwechsel zwischen Heike Geissler und Mawsoma Kawsary. Mawsoma Kawsary ist Ingenieurwissenschaftlerin, sie lebt jetzt in Stockholm. In ihrem ersten Brief stellt sie sich vor, welche charakterlichen Eigenschaften Heike Geissler haben könnte. Das eigentliche Thema des Briefes ist jedoch die ungeheure Kraft, der ungeheure Mut einer Frau, die es geschafft hat, sich zu befreien. „Als ich jedoch verstanden habe, dass Du Deutsche bist, nahm ich an, dass Du wohl so ähnlich wie die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel sein müsstest. Das freundliche Gesicht einer hart arbeitenden Frau, die in den Augen der Asylsuchenden ein Sinnbild der Menschlichkeit ist und vielleicht allen Frauen ähnelt, die in der freien Welt leben, studieren, politisch aktiv sind, ehrgeizige Ziele verfolgen und diese oft auch erreichen. Frauen, die die Möglichkeit haben, sich zu verlieben und wenn sie mit Untreue konfrontiert sind, diese nicht ertragen müssen. Ohne dass sie Angst vor Einsamkeit oder Obdachlosigkeit haben müssten, treffen sie Entscheidungen für ihr Leben, stehen wieder auf und beginnen von vorn.“

Heike Geissler antwortet, dass sie ein anderes, ein widersprüchliches Bild von Angela Merkel habe, gerade auch angesichts der deutschen Politik, die Angela Merkel nach dem September 2015 zu verantworten habe, und wie schwer es sei, genau hinzuschauen. Heike Geissler spricht in einem weiteren Brief auch von „Unterdrückung“, die sie hasse, aber als Leser des Briefwechsels darf ich mich fragen mich, ob beide von derselben „Unterdrückung“ sprechen, ob „Unterdrückung“ überhaupt eine universal gültige Kategorie ist, letztlich auch, wo die Unterschiede nur graduell sind und wo sie grundsätzlich sind. Letztlich ergibt sich daraus auch die Frage, ob Menschen, die in einer Demokratie leben, überhaupt eine Vorstellung davon haben können, was es heißt, in einer Diktatur zu leben. In diesem Sinne dekonstruiert Mawsoma Kawsary die Bilder, die deutsche Frauen über die Medien von einer Afghanin haben dürften, die sie möglicherweise nur als unselbstständig, als Opfer sähen: „Ich bin eine der wenigen Frauen, die es geschafft haben, sich aus dem Strudel herauszuziehen. Ja, ich habe mich herausgezogen. Wie Wasser, dem kein Stein den Weg versperren kann, habe ich mich durch nichts aufhalten lassen.“

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 25. Januar 2024. Das Titelbild zeigt den Río Genil in Fuente Vaqueros, der Ort, an dem Federico García Lorca ermordet wurde (Foto: LopezSuarez, Wikimedia Commons). Eine wichtige Grundlage dieses Textes waren Gespräche, die ich mit dem Team von „Weiter Schreiben“ führen durfte. Lama Al Haddad, Dima Albitar Kalaji und Annika Reich danke ich für die kritische Durchsicht des ersten Entwurfs dieses Portraits. Sie bewahrten mich vor einigen Fehlern. Ich darf ihnen für den freundlichen, offenen und inspirierenden Austausch danken.)