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Impulse zur Milderung von Kinderarmut und ihren Folgen

„Meine Mutter hat mir beigebracht, dass in diesem Land jeder die gleichen Chancen hat. Sie hat mich dazu ermutigt zu träumen. Obwohl sie sich in den Warteräumen des Jobcenters nicht als vollwertiger Mensch und oft hilflos fühlte, habe ich sie nie auf andere oder auf den Staat schimpfen hören. ‚Du kannst alles im Leben erreichen, was du willst‘, hat sie zu mir immer gesagt – obwohl sie wusste, dass sie mir dann irgendwann bei den Hausaufgaben nicht mehr würde helfen können, obwohl sie nachts von all den Leckereien träumte, die nie in unserem Einkaufswagen lagen.“ (Undine Zimmer, Nicht von schlechten Eltern – Meine Hartz-IV-Familie, Frankfurt am Main, Fischer, 2013)

Der beste Kumpel, den man sich vorstellen kann, ein Papa, der gut trösten kann oder der Lieblingskletterbaum – es gibt so vieles, das zu einer erfüllten Kindheit beitragen kann. Kinder greifen dankbar auf, was sich ihnen bietet und suchen instinktiv nach positiven Erlebnissen. Doch nicht auf alle Erfahrungen, die zu einem gelingenden Aufwachsen beitragen, haben Kinder und Jugendliche Einfluss: Die Mitgliedschaft im Wunschverein ist zu teuer, ein verborgenes Talent wird nicht entdeckt, die chronische Krankheit der Mutter beschert schlaflose Nächte. Die Rede ist von Kinderarmut und ihren Folgen. Der Anteil der von Armut betroffenen Kinder ließ sich bisher nicht deutlich reduzieren. Daher stellt sich vielmehr die Frage: An welchen Stellen und mit welchen Mitteln können die Kinder, die Jugendlichen unterstützt werden? Und was brauchen sie wirklich?

Den unsichtbaren Armutsrucksack leichter machen

Mit diesem Bild wurde die hier vorgestellte Veranstaltung beworben. © LVR

Unter dem Titel „Den unsichtbaren Armutsrucksack leichter machen – Welches Leben wollen wir für Kinder und Jugendliche?“ bot am 2. Juni 2023 ein virtuelles sozialpolitisches Fachgespräch von LVR und Demokratischem Salon den etwa 80 Teilnehmenden wichtige Impulse für die Armutsprävention. In dem Gespräch ging es nicht um die aktuelle Debatte um die Kindergrundsicherung, sondern um die möglichen Folgen von Armut, die sich sehr unterschiedlich auswirken und für deren Bewältigung unterschiedliche nachahmenswerte kommunale Modelle gibt. Die Koordinationsstelle Kinderarmut beim Landesjugendamt des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) sorgt dafür, dass Landesprogramme in den Kommunen umgesetzt werden können. Alexander Mavroudis leitet die Stelle und hat im Demokratischen Salon berichtet. Der programmatische Titel seines Berichts: Kommunale Gestaltungsvisionen.

Annette Berg (Stiftung SPI – Sozialpädagogisches Institut Berlin, vormals Beigeordnete beziehungsweise Amtsleiterin in Monheim, Essen und Gelsenkirchen), Heike Moerland, (Leiterin des Geschäftsfelds Berufliche und soziale Integration des Diakonischen Werks Rheinland-Westfalen-Lippe e.V.), Gerd Landsberg (bis Ende 2023 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes) und die Psychologin, Beteiligungspädagogin und Publizistin Marina Weisband diskutierten, wie Kindern und Jugendlichen mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden kann. Aus der Perspektive des Landesprogramms „kinderstark“ referierte Alexander Mavroudis (Leiter der LVR-Koordinationsstelle Kinderarmut). Autorin Undine Zimmer las aus ihrem Buch „Nicht von schlechten Eltern“ eindrückliche Passagen aus ihrer von Armut geprägten Kindheit vor, in der sie jedoch dennoch dank der Unterstützung ihrer Eltern ihren Weg fand. Norbert Reichel moderierte.

Mit Armutsbetroffenen sprechen und entscheiden

Wie Kommunen daran arbeiten, den möglichen Folgen von Kinderarmut frühzeitig entgegenzuwirken, erläuterte Alexander Mavroudis. Um kommunale Angebote für Kinder und Jugendliche gut abzudecken, seien Vernetzung, Abstimmung und Zusammenarbeit der Akteur*innen wichtig. Wie können wir helfen? Ist das, was wir anbieten, auch wirklich das, was gebraucht wird? Gibt es vielleicht einen Bedarf, der noch nicht entdeckt wurde? Diese Reflexionsfragen können Kommunen bei der Angebotsplanung helfen. Wie diese Angebote genau aussehen und was sie beinhalten, können die Adressat*innen jedoch selbst am besten beurteilen, schließlich kennen sie sich mit armutsbezogenen Themen aus. Heike Moerland vom Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. weist aus Sicht der freien Träger auf die Notwendigkeit der Abstimmung von Maßnahmen und Aktivitäten vor Ort hin. Die Stimme von Menschen mit Armutserfahrung sei zentral, um umzusetzen, was gebraucht werde, betont sie.

Treppe der Armutsprävention. © LVR

Aus der Sozialpsychologie ist bekannt, dass Menschen ihre eigene gesellschaftliche Position immer in Relation zu anderen bestimmen. Die Wahrnehmung, schlechter gestellt zu sein als andere, wirkt sich auf die eigene Lebenszufriedenheit aus. Arm in einem reichen Land – so fühlte sich Undine Zimmer, die, wie sie erzählt, „über lange Zeit viele Mängel erfahren“ hat. Die Autorin versucht, aus der Perspektive des Kindes zu beantworten, was damals eine gesellschaftliche Teilhabe erschwert hat und was dafür notwendig gewesen wäre. Vor allem die Stigmatisierung war für sie schmerzhaft. Sie erinnert sich, dass Menschen mit Armutserfahrung als „Asoziale“ wahrgenommen oder in Talkshows vorgeführt wurden. Sie fühlte sich in die Defensive gedrängt, musste ihre Eltern verteidigen. Doch diese gaben ihr Vorbilder, Wissendurst und Bildungshunger mit auf den Weg. Aus der Armut herausgeholfen haben ihr „Menschen, die an mich geglaubt haben“. Anstatt über Armutsbetroffene zu entscheiden, sollten sie wie Mündige behandelt werden, fordert Zimmer nachdrücklich.

Ähnlich formuliert es Diplom-Psychologin und Beteiligungspädagogin Marina Weisband. Ihr Ziel sei es, das Label von Armutsbetroffenen zu verändern. „Ich bin ein wertvolles Mitglied meiner Gesellschaft“ – so könnte man aus der Kinder- und Jugendperspektive das Ziel ihres digitalen Projekts zur Schüler*innenpartizipation namens „aula“ zusammenfassen. Sie bemängelt, dass Schüler*innen von Lehrkräften allzu oft als zu kontrollierende Masse gesehen werden. Das Mitbestimmungskonzept aula befähigt sie, nicht nur „Besucher*innen“, sondern aktive Mitglieder der Schule zu werden. „Wenn ich etwas tue, verändert sich etwas“, ist der Lerneffekt des Partizipationsgedankens – Selbstwirksamkeit und der demokratische Geist werden aktiviert, Ressourcen entdeckt. Zentraler Erfolgsfaktor ist jedoch, dass die vorgebrachten Ideen verbindlich umgesetzt werden. Die Schule muss bereit sein, Macht abzugeben. Eben dies gilt auch für alle anderen Akteure, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten.

Undine Zimmer und Marina Weisband stimmen darin überein, dass die gute Bildung ihrer Eltern ihnen sehr geholfen habe, mit schwierigen Situationen zurechtzukommen und ihren Weg zu finden, ungeachtet fehlender finanzieller Ressourcen und sozialer Verbindungen. Diese hätten sie sich jedoch mit der Zeit aufbauen können. Daher sei es eine wesentliche Voraussetzung, dass genau danach gefragt wird, was Kinder wirklich brauchen. Eine Gießkannenförderung helfe nicht, es bedarf – so auch übereinstimmend die Diskussionsteilnehmenden aus Kommunen und freien Trägern – einer hohen Sensibilität für die Bedürfnisse und Möglichkeiten der betroffenen Kinder und Jugendlichen.

Armutssensibilität vs. Gießkannenförderung

Präventionsketten. © LVR

Die Erhöhung des Kindergeldes, der Rechtsanspruch auf KiTa und Ganztagsschule – schaffen es diese populären Maßnahmen, Kinder aus der Armut zu holen? Finanzielle Armut ist nicht nur ein Kinder-, sondern ein Familienproblem, daher profitieren arme und armutsgefährdete Eltern natürlich von finanziellen Entlastungen. Doch Gerd Landsberg stellt die Frage, ob dies möglicherweise falsche Schwerpunkte sind. Hätten Kinder aus Armutslagen bessere Teilhabechancen, wenn mehr Geld in die Strukturen wie zum Beispiel in die Schulen fließen würde? Ist es notwendig, dass auch Besserverdienende Kindergeld erhalten? Hier könnte helfen, die Mittel viel stärker auf finanziell arme Familien zu fokussieren. Diese würden außerdem bei den unterschiedlichen Leistungen stark von einem Bürokratieabbau profitieren. Denn trotz des hohen Bedarfs werde nur ein Drittel des Bildungs- und Teilhabepakets ausgeschöpft, unterstreicht Heike Moerland. „Erfolgreiche Bekämpfung von Kinderarmut erreicht man durch eine besserte Infrastruktur. Gute Kitas, Schulen, Jugendzentren und Sportvereine sind wichtiger für armutsbetroffene Familien als mehr Geld,“ ist sich Gerd Landsberg sicher.

„Schade, dass du nicht von deinem Urlaub berichten möchtest.“ Diese Feststellung einer Lehrerin kann ein Kind bloßstellen, dessen Eltern sich keine Urlaubsreisen leisten können. Eine andere Ansprache und ein anderer Blick auf die Kinder und Jugendlichen kann bereits viel verändern. Annette Berg, Vorstandvorsitzende der Stiftung SPI, Sozialpädagogisches Institut Berlin, blickt zurück auf das erfolgreiche Projekt Monheim für Kinder (MoKi), das sie seinerzeit als Leiterin des Jugendamtes Monheim begleitete. Das Wissen um Armutslagen, die besonderen Bedarfe armutsbetroffener Kinder sowie armutssensibles Handeln und Talentförderung sind aus ihrer Sicht von zentraler Bedeutung. Heute setzt sie diese Expertise in Berlin sowohl in der Praxis als auch in der fachlichen und strategischen Begleitung ein. Werden armutsbetroffene Familien nicht als Zielgruppe der Ämter, sondern als Akteur*innen und Expert*innen ihrer Situation wahrgenommen, wird deutlich, wo genau Unterstützung benötigt wird. In Familiengrundschulzentren und Familienbüros beispielsweise können Bedarfe, Sorgen und Nöte formuliert werden und Austausch stattfinden. Noch mehr solcher öffentlichen Orte wären wünschenswert. „Dies muss allerdings mit einer Kulturveränderung der Systeme einhergehen“, stellt Alexander Mavroudis klar. Nicht dass es diese nicht in manchen Kommunen schon gäbe, aber dennoch steht der Wille zu einer solchen Veränderung am Anfang in jedem Entwicklungsprozess.

In was soll investiert werden und wofür sollen Ressourcen zur Verfügung stehen? So lautet im Kontext Kinder- und Jugendarmut eine zentrale Frage, die sich unsere Gesellschaft stellen sollte. Armutsprävention ist nach Ansicht der Veranstalter eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. „Finanzielle Armut lässt sich nicht beseitigen, doch Benachteiligung lässt sich abmildern“, resümiert Mavroudis. Wichtige Elemente sind niedrigschwellige Zugänge, beispielsweise über Familienzentren in Kindertageseinrichtungen und Schulen oder über Familienbüros in Einkaufszentren und an anderen Orten, wo sich Menschen mit Kindern oder auch die Kinder selbst gerne aufhalten. Je einfacher der Zugang, umso eher lässt sich unnötige Bürokratie vermeiden, je individueller die Unterstützung, umso eher wird Hilfe zur Selbsthilfe, umso eher entsteht die Erfahrung der Selbstwirksamkeit.

Natalie Deissler-Hesse, Köln

(Anmerkungen: Die Autorin ist Mitarbeiterin im LVR-Landesjugendamt in Köln. Erstveröffentlichung im Juli 2023, Internetzugriffe zuletzt am 22. Juni 2023. Das Buch von Undine Zimmer ist im Buchhandel als Taschenbuch erhältlich. Das Titelbild zeigt eine Tafel aus dem Bildungshaus Bad Aibling, das im Demokratischen Salon als Paradies für Glückspilze“ portraitiert wurde.)