Wider die Empathiesperre

Ein Gespräch mit der Erziehungs- und Politikwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan

„Auf keinen Fall dürfen Muslime in Deutschland für islamistischen Terror in Haftung genommen werden. Denn die meisten Musliminnen und Muslime sind seit langem tief verwurzelt in unserer demokratischen Gesellschaft. Antisemitismus kann nicht mit Muslimfeindlichkeit bekämpft werden!“ (Nancy Faeser in ihrer Rede zur Eröffnung der Deutschen Islamkonferenz)

Wir können der deutschen Bundesinnenministerin danken, dass sie es zur Eröffnung der Deutschen Islamkonferenz am 21. November 2023 so deutlich sagte: „Antisemitismus kann nicht mit Muslimfeindlichkeit bekämpft werden.“ Man kann es nicht oft genug wiederholen. In manchen Medien wurde sie allerdings verkürzt mit dem Appell zitiert, die Muslimverbände, die Muslim:innen in Deutschland sollten sich von dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 distanzieren. Alle! Auch manche ihrer Kolleg:innen in der Politik äußerten sich entsprechend, fast automatisierte Sprechakte, die durchaus an Reaktionen nach 9/11 erinnern. Manche ergänzten ihre Appelle noch durch die Behauptung eines „importierten Antisemitismus“ und sprachen auf diese Weise alle Deutschen – die muslimischen und muslimisch gelesenen Deutschen waren nicht mitgemeint – von Antisemitismus frei. Manche schienen sich sogar zu freuen, dass sie endlich einen Grund gefunden hatten, eine härtere Migrationspolitik mit schnelleren Abschiebungen, mit strikteren Ein- beziehungsweise Nicht-Einreiseregeln für die ungeliebten von ihnen als Muslim:innen gelesenen Menschen durchzusetzen.

Meltem Kulaçatan, Foto: privat

Auf der Deutschen Islamkonferenz wurde der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit vorgestellt (siehe auch im Demokratischen Salon unter dem Titel „Die Frames der Muslimfeindlichkeit“). Der Bericht war vor dem 7. Oktober 2023 entstanden. Der Terrorangriff der Hamas und die folgenden Solidaritätsbekundungen für diese Terrororganisation in Deutschland veränderten die Diskurse der Konferenz. Meltem Kulaçatan hat auf der Deutschen Islamkonferenz die mit Kolleg:innen im Auftrag des Expertenkreises erstellte Teilstudie „Muslimische Perspektiven auf Islam- und Muslimfeindlichkeit“ vorgelegt. Seit Oktober 2023 ist Meltem Kulaçatan Professorin für Soziale Arbeit an der Internationalen Hochschule in Nürnberg. Im Demokratischen Salon stellte sie ihre Arbeit bereits in dem Gespräch „Feministisch, türkisch, deutsch“ vor. Wir sprachen damals auch über die in der Öffentlichkeit kaum anerkannten Leistungen der in der Gastarbeiter:innengeneration eingewanderten Frauen. Zur Zeit dieses Gesprächs war Meltem Kulaçatan noch an der Goethe-Universität Frankfurt tätig, unter anderem mit der Studie zu den Einstellungen junger Muslim:innen der DİTİB-Jugendorganisation. Zwischenzeitlich nahm sie die Vertretungsprofessur für „Sozialpädagogik in der Migrationsgesellschaft“ an der Universität Oldenburg wahr. Sie hat sich mit islamistischer Radikalisierung beschäftigt, sie war in den Jahren 2019 bis 2021 unter anderem Projektleiterin des Verbundprojekts Fem4Dem.

Die Studie „Muslimische Perspektiven“ – zur Methodik

Norbert Reichel: Ihr habt Ergebnisse eurer Studie „Muslimische Perspektiven auf Islam und Muslimfeindlichkeit“ in einem Panel der Deutschen Islamkonferenz vorgestellt und diskutiert. Zentrale Fragen waren die Entstehung von Stressoren, das Erleben von Muslimfeindlichkeit und des Umgangs damit. Wie seid ihr vorgegangen?

Meltem Kulaçatan: Wir haben die Studie gemeinsam mit dem Bielefelder Institut für Interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung, mit Andreas Zick und seinem Team durchgeführt. Unsere Aufgabe war es, die Perspektive der Betroffenen zu erheben. Das haben wir noch vor meinem Wechsel nach Oldenburg gemacht, entstanden ist ein Verbundprojekt zwischen dem Fachbereich Erziehungswissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt und der Universität Bielefeld. Wir hatten neun Monate Zeit, eine relativ knappe Zeit für ein so anspruchsvolles Vorhaben. Normalerweise müsste man mindestens zwei Jahre ansetzen. Wir wussten aber, dass der Expertenkreis Muslimfeindlichkeit nur für eine bestimmte Dauer vorgesehen war, dann auch aufgelöst würde. In den Bericht des Expertenkreises konnten auch nicht alle Ergebnisse unserer Studie einfließen. Wir werden aber unsere Studie demnächst publizieren, voraussichtlich im Februar 2024 bei VS Springer.

Wir haben eine qualitative Erhebung in der Form von Interviews mit rund 31 Personen durchgeführt, die etwa drei Stunden dauerten. Die anschließend vorgesehenen Fokusgruppen kamen leider nicht zustande, auch weil uns einige Interviewpartner:innen absagten, vor allem aber weil die Zeit der Auswertung drängte. Wenn wir eine Anschlussfinanzierung hätten, müssten wir genau hier ansetzen, um die Ergebnisse auch in einem zeitlichen Abstand zu überprüfen. Die Dynamik solcher Fokusgruppen kann die Ergebnisse verändern.

Der Bielefelder Standort hat eine quantitative Erhebung durchgeführt. Wir hatten vor, über 1.000 Menschen anzusprechen. Es wurden 492 Fragebögen vollständig ausgefüllt. Das ist teilrepräsentativ, das sage ich bewusst, weil der Zeitraum auch hier sehr kurz war. Die Auswertung der Fragebögen wurde einem spezialisierten Institut übergeben, mit dem die Universität schon lange zusammenarbeitet.

Moschee Köln-Ehrenfeld. Foto: Asif Masimov. Wikimedia Commons.

Die Daten wurden gewichtet, so dass sie nahezu repräsentativ sind sowie Aussagen zur Repräsentativität für die Grundgesamtheit aller Muslime in Deutschland überhaupt gemacht werden können. Die Studie „Muslimische Perspektiven auf Islam- und Muslimfeindlichkeit“ zeigt auf, dass antimuslimische Stereotype und Vorteile Stress für die Betroffenen bedeutet. Dieser Stress führt zu Belastungen und das kann wiederum zu Rückzug und schlechter Gesundheit führen. Wir wissen auch, dass Radikale ganz besonders belastete Personen ansprechen – unsere Studie zeigt deshalb auch Schutzfaktoren auf, die die Betroffenen für sich erarbeiten und einsetzen.

Was die Begriffe betrifft: Der Begriff „Antimuslimischer Rassismus“ hat sich inzwischen etabliert. Als ich im Jahr 2006 anfing, zu diesem Thema zu forschen, wurden auch Begriffe wie „Islamfeindlichkeit“ oder „Islamophobie“ – dieser übernommen aus dem angelsächsischen Raum – verwendet. Dies hat sich weniger durchgesetzt.

Norbert Reichel: Das war ja auch nicht unproblematisch. „Islamophobie“ klingt wie „Arachnophobie“ oder ähnliche Beschreibungen diverser Ängste, die Menschen so haben können, die in der „Muslimfeindlichkeit“ enthaltene Menschenfeindlichkeit geht unter. Das halte ich vom Framing für höchst gefährlich, weil die angefeindeten Menschen geradezu entmenschlicht werden.

Meltem Kulaçatan: Der phobische Charakter des Begriffs wurde im deutschen Sprachraum auch mit Recht stark kritisiert. Wir haben festgestellt, dass die jüngeren Generationen, etwa die sogenannte Generation Z, mit dem Begriff „Antimuslimischer Rassismus“ wie selbstverständlich umgeht. Ältere Generationen verwenden häufig die Begriffe „Muslimfeindlichkeit“ oder „Islamfeindlichkeit“.

Norbert Reichel: Wer waren die Befragten?

Meltem Kulaçatan: Das war sehr unterschiedlich. Mit unserer Auftraggeberin und auf unseren bisherigen Erfahrungswerten beruhend haben wir ein so heterogenes Bild wie möglich angestrebt. Unter den Befragten waren ehemalige Gastarbeiter:innen, Geflüchtete aus Syrien aus den Jahren 2013 bis 2015, darunter wiederum Menschen, die jetzt ab 2015 aus der Türkei geflüchtet sind. Es gab Menschen, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebten, in Deutschland geboren waren, aber auch Menschen, die für Muslim:innen gehalten wurden, aber keine sind, einige christliche Gesprächspartner:innen aus Syrien zum Beispiel. Wir hatten Studierende, Hausfrauen, Manager, auch einen Fußballtrainer. Wir haben so weit möglich einen Querschnitt angestrebt. Es waren junge Erwachsene ab etwa 17 Jahren bis hin zu älteren Menschen etwa zwischen 65 und 69 Jahren.

Strategien der Resilienz in der Diaspora

Norbert Reichel: Wie religiös waren eure Gesprächspartner:innen?

Meltem Kulaçatan: Das ist eine wichtige Frage. Wir haben das diesmal nicht explizit abgefragt, wohl aber in anderen Studien, beispielsweise in Fem4Dem und dem Loewe-Teilprojekt „Religiöse Selbstentwürfe junger Muslim:innen in pädagogischen Handlungsfeldern“, das ich noch in Frankfurt geleitet hatte.   

In diesem Projekt habe ich explizit nach der religiösen Praxis gefragt. Doch zur Beantwortung Ihrer wichtigen Frage: Zu einem großen Teil haben die Menschen selbst davon erzählt. Sie haben von ihrer religiösen Haltung gesprochen, berichtet, wie Religion sie bei Rassismus-Erfahrungen schützen kann, in Krisensituationen, die sie durch muslimfeindliche Kontexte erleben, da kam das häufig zum Ausdruck. Erwähnt wurden auch biographische Rückbezüge, wie religiöse Traditionen in der Familie gelernt wurden, wie sie umgesetzt wurden, Feste gefeiert wurden. Vor allem dann, wenn die Migrationserfahrung sehr frisch war.

Manche unserer Interviewpartner:innen waren selbst Eltern, vor allem die Mütter sagten, sie hätten Angst, ihre Kinder durch Assimilation, Akkulturation zu verlieren. Sie verwendeten natürlich andere Begriffe, die Angst wurde als „Anpassung“ beschrieben. In diesem Zusammenhang wurden auch innerfamiliäre Konflikte beschrieben. Genannt wurden oft die Väter, die eine restriktivere Religionspraxis anstrebten, um die Kinder möglichst nahe bei sich zu behalten. Die Mütter wiederum gingen mit einer raschen und selbstverständlichen Akzeptanz in die Gesellschaft hinein und sagten, sie müssten damit umgehen, dass die Kinder ein anderes Religionsverständnis entwickelten, als sie es in Syrien hatten, müssten auch damit umgehen, dass die Kinder andere Fragen stellten, als sie sie ihren Eltern gestellt hätten. Ich bezeichne das als Diaspora-Effekt. Wir wissen beispielsweise auch aus dem Projekt Fem4Dem, dass sich geflüchtete Frauen aus Syrien oder Afghanistan rasch integrieren und deutlich zügiger ihre beruflichen und persönlichen Chancen ergreifen als es ihre Ehepartner beziehungsweise die Väter ihrer Kinder vermögen. Ich selbst habe die These, dass diese Frauen eine höhere Resilienz während der Fluchtmigration entwickeln, was ich jedoch bisher nicht belegen kann.

Die Familie von Meltem Kulaçatan stammt aus Izmir und İstanbul. Im Bild sehen wir den Jüdischen Friedhof in Izmir Altindaǧ. Foto: privat.

Diese Diaspora-Situation konnten wir auch schon bei ehemaligen sogenannten Gastarbeiter:innen beobachten. Das sind ähnliche Effekte wie wir sie bei türkischen Gastarbeiter:innen beobachteten. Deren Ängste, ihre Kinder zu verlieren, konnten wir auch jetzt wieder beobachten, allerdings mit dem großen Unterschied, dass die weiblichen Interviewten, die Mütter tatsächlich entspannter waren. Ich möchte für ihre Einstellung nicht den Begriff „Toleranz“ verwenden, weil der es nicht trifft, aber sie haben eine hohe Akzeptanz ihrer Migrationssituation, seit etwa 2015. Diese Migrationssituation bedingt ein anderes Aufwachsen der Kinder. Das war bei den Frauen sehr deutlich erkennbar.   

Norbert Reichel: Haben Sie auch nach den Erfahrungen der Frauen als Töchter fragen können?

Meltem Kulaçatan: Leider nein. Das hätte sicherlich auch etwas über Zäsuren ausgesagt. Wir können meines Erachtens davon ausgehen, dass die Erfahrungen als Töchter eine Rolle spielen.

Norbert Reichel: Das wäre vielleicht eine Frage für zukünftige Studien oder die von Ihnen genannten Fokusgruppen. Ich nenne einmal die Spannbreite, die ich wahrnehme. Das geht von engagierten Frauen wie Serap Güler oder Cansel Kızıltepe bis hin zu den Frauen, die zur Zeit des sogenannten Islamischen Staates nach Syrien ausgewandert sind, von denen sich jetzt viele in kurdischer Haft befinden und den Frauen, die kürzlich auf der Essener Demonstration getrennt von den Männern und mit deutlicher Verschleierung auftraten. Mich erinnert das aber auch ein wenig an das christliche Milieu der 1960er Jahre. Die Spannweite gibt es heute noch: Frauen, die beispielsweise radikal gegen Abtreibung auftreten oder evangelikalen Sekten angehören, und andere, die sich deutlich davon abgrenzen und ein liberales Christentum pflegen.

Meltem Kulaçatan: Ihre Frage macht mich noch einmal nachdenklich. Die Mütter sagten, selbstverständlich hätten sie Angst, ihre Kinder an andere kulturelle Eigenheiten zu verlieren, sodass ein Entfremdungseffekt einsetzt. Dieser Entfremdungseffekt wird durch Religion, durch religiöse Praktiken, durch Teilnahme am Gemeindeleben, zurückgehalten. Allerdings waren sich die Mütter deutlich stärker bewusst als die Väter, dass sie das letztlich nicht verhindern könnten und dass ihre Kinder umso rebellischer würden, je mehr man versuche sie zurückzuhalten. Das fand ich beeindruckend und lässt mich auch über vorherige Studien neu nachdenken, bezogen auf die Diaspora-Situation, so schwierig dieser Begriff ist, der eigentlich überholt ist. Die Frauen, die wir befragen konnten, wuppen die Fluchtmigration, begleiten ihre Kinder wohlwollend und eng und sind sich der Lebensumstände, der Zukunft ihrer Kinder bewusst, sodass auch Dynamiken entstehen könnten, die ihrem Verständnis von Religion, auch ihren damit verbundenen ethischen und moralischen Vorstellungen, nicht entsprechen.

Norbert Reichel: Gibt es Unterschiede zwischen denen, die 2015 als Flüchtende nach Deutschland gekommen sind, und denen, die zuvor im Rahmen der Arbeitsmigration kamen?

Meltem Kulaçatan: Wir haben festgestellt, dass die Fragen, über die ich eben sprach, die neu Zugewanderten mehr beschäftigten als diejenigen, die schon vor Jahrzehnten zugewandert sind. Dort wurden diese Fragen nicht explizit erwähnt. Überdies war bei der Arbeitsmigration ab etwa 1955 noch die Rückkehr in die Heimatländer dominierend. Das war also eine gänzlich andere strukturelle Situation.

Norbert Reichel: Diaspora heißt für mich erst einmal, dass man in einer Minderheit ist, sich aber so verhält wie es in dem Land war, indem man die Mehrheit stellte. Ich nenne mal einen anderen Kontext, die irische oder deutsche Zuwanderung in den USA. Die Zugewanderten haben sich dort genauso verhalten wie wir das heute bei Zugewanderten aus Südeuropa, aus arabischen oder afrikanischen Ländern, aus der Türkei erleben. Robert Fuchs, der Leiter des Migrationsmuseums DOMiD in Köln, hat mir in unserem Gespräch einiges dazu berichtet. Er selbst hat sich wissenschaftlich mit dem Heiratsverhalten von deutschen Zugewanderten in den USA befasst. Die Mehrheitsgesellschaft hat in den USA die eingewanderten Deutschen und Iren – wie auch andere Ethnien – ebenso wenig vorbehaltlos akzeptiert wie das heute in Deutschland der Fall ist. Robert Fuchs empfahl mir das Buch von Noel Ignatiev mit dem Titel „How the Irish Became White“. Es dauerte bis etwa in die 1960er Jahre, bis die Iren in den USA von den herrschenden White Anglosaxon Protestants als Weiße gesehen wurde. Das lässt sich bis in die Darstellung der Mafia-Organisationen im amerikanischen Film verfolgen, es gab immer Mafia-Organisationen unter Minderheiten, die italienische, die irische, die jüdische Mafia, übrigens sehr treffend dargestellt in der vierten Staffel von Fargo.

Meltem Kulaçatan: Ich musste gerade an Robert de Niro in „Once Upon A Time in America ” denken.

Norbert Reichel: Genau dies. Oder die Sizilianer:innen in „The Godfather“. Was verband, war die Familie. Nicht umsonst gab es die Five Families. Und was geschehen kann, wenn sich eine Community auflöst, hat Richard Sennett in seinem Buch „The Corrosion of Character“ beschrieben, das in der deutschen Fassung leider den viel weniger prägnanten Titel „Der flexible Mensch“ enthält und so die Auflösung einer Community als etwas Positives rahmt, das es nicht ist. Im Grunde finden wir hier das Elend oder vielleicht auch eine Tragödie der Diaspora-Situation.

Meltem Kulaçatan: Ich habe mit dem Begriff der Diaspora in meiner Doktorarbeit gearbeitet. Es geht um den Begriff der Zerstreuung bei weiterer Bindung in die Herkunftsländer, die nicht aufhört. Das steht für mich im Vordergrund. Die Bindung an Traditionen, an Gewohnheiten, die Strukturen geben, im Alltag. Das wird meines Erachtens unterschätzt, gerade in der Erinnerung, die damit einhergeht, mit den Traditionen, die auch Regeln und Routinen sind, die Sicherheit und Bindung geben können, auch mit schönen Aspekten verbunden, Feierlichkeiten, sich geborgen fühlen, aufgehoben, sich begleitet fühlen von Müttern, Vätern, Tanten, Onkeln. Einerseits die Situation des Verstreut-Seins, andererseits die Mitnahme von Gewohnheiten und Traditionen und die Pflege der Bindung in die Herkunftsländer, wo noch ein Teil der Familie lebt.

Diskriminierung in allen Lebensbereichen

Norbert Reichel: So weit vielleicht zur Ausgangslage. Es gibt eine gewisse Selbstwirksamkeit, die entsteht, weil man sich auf seine kulturelle Herkunft oder wie man das auch immer nennen möchte besinnt, bestimmte Traditionen wichtig findet und diese im Alltag pflegt. Das verstehen manche in der Mehrheitsgesellschaft eben nun einmal nicht. Und in diesem Zusammenhang stellt sich die Frage auch der „Muslimfeindlichkeit“, nach dem Erlebnis, angefeindet, diskriminiert, ausgeschlossen zu werden.

Meltem Kulaçatan: Eines unserer wichtigsten Ergebnisse: Es gibt de facto keinen Lebensbereich, der vom Erlebnis der Diskriminierung, der Anfeindungen ausgenommen ist. Es gibt keinen Bereich, in dem die von uns Befragten nicht mit Muslimfeindlichkeit umgehen müssen: Arbeitsplatz, Wohnungssuche, Schule – eine ganz große Baustelle –, die Situation in den Kommunen, die Erfahrungen mit der Verwaltung, vor allem dem Arbeitsamt, mit Polizei und Justiz. Wir hatten beispielsweise ein Interview mit einem ehemaligen Häftling, der erzählte, wie die Situation sich unter den Mitarbeitenden gegenüber Muslim:innen hochschaukeln kann. Polizeikontrollen sind ein weiterer Bereich. Wir haben einige Ergebnisse zum Gesundheitswesen, in Krankenhäusern, in Arztpraxen. Das müssen wir aber noch einmal genauer anschauen. Ich verweise auf die NADIRA-Studie, die zeigte, dass im medizinischen Bereich muslimische und Schwarze Menschen besonders diskriminiert werden.   

Norbert Reichel: Die MEGAVO-Studie hat ergeben, dass Polizist:innen sich in ihren Vorbehalten und Vorurteilen von der Gesamtbevölkerung nur in zwei Punkten unterscheiden: Sie haben größere Vorbehalte gegenüber Obdachlosen und gegenüber den Menschen, die sie als Muslim:innen lesen oder wie das oft in den Medien heißt, gegenüber Menschen mit „südländischem Aussehen“.

Meltem Kulaçatan: Oder „orientalisches Aussehen“. Ich möchte noch einen weiteren besonders auffälligen Bereich nennen, die öffentlichen Verkehrsmittel. In Bussen, in Straßenbahnen erleben vor allem Musliminnen, dass sie beschimpft werden, vor allem, wenn sie religiös sichtbar sind, ein Kopftuch oder einen Hijab tragen. Sie berichten, es werde versucht, ihnen das Kopftuch herunterzureißen oder dass sie genötigt würden auszusteigen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit hat hier stark zugenommen. Hinweise gibt es, aber wir haben noch keine finalen Ergebnisse.

Norbert Reichel: Es sind aber klare Trends. Wenn ich das so sagen darf.

Meltem Kulaçatan: Das dürfen Sie so sagen. Das würde ich unterstreichen.

Norbert Reichel: Ich erzähle eine andere Geschichte dazu. Ich bin mit 68 Jahren nun etwas älter, das sieht man auch, graue Haare, in den Bewegungen nicht mehr so agil wie das mal war. Wenn ich in einen Bus einsteige, bieten mir migrantische Jugendliche sofort einen Platz an, die deutschen nie. Höflich, freundlich, das haben die bei ihren Eltern wohl so gelernt.

Meltem Kulaçatan: Das erzählt mir eine Freundin genauso. Sie hat ein kleines Kind und steigt dann mit dem Kinderwagen ein. Sie ist Herkunftsdeutsche so wie Sie. Sie sagt, es sind immer die südländischen Jungs, die ihr helfen, den Wagen reinzubringen, ihr einen Platz freihalten. Die herkunftsdeutschen jungen Männer tun das nicht.

Norbert Reichel: Die herkunftsdeutschen jungen Frauen auch nicht. Die spielen auf ihren Smartphones und ignorieren alles, was um sie herum geschieht. Ich bin noch so erzogen worden, dass man für ältere Menschen im Bus aufsteht.

Meltem Kulaçatan: Ich auch. Man macht es einfach. Das ist mir schon sehr vertraut.

Straßenszene in Israel. Foto: privat.

Ich nenne jetzt zwei konkrete Beispiele aus unserer Studie, wie Muslimfeindlichkeit erlebt wird.

  • Eine Interviewpartnerin ist 2016 aus der Türkei geflüchtet, mit ihrer Familie, sie trägt ein Kopftuch, sie ist Akademikerin, die in der Türkei in ihrem Beruf gearbeitet hat, hier ist ihr das leider nicht möglich, ihrem Mann allerdings schon. Sie hat erzählt, wie sie beschimpft und angegriffen wurde. Jemand versuchte, ihr das Kopftuch herunterzureißen. Ihr Kind, etwa fünf bis sechs Jahre alt, hat das mitbekommen und verstanden, was da passierte. Das Kind fragte, warum beschimpft uns dieser Mann, warum ist dieser Mann böse? Aufschlussreich war, dass unsere Interviewpartnerin versuchte, dem Kind zu erklären, dass der Mann uns nicht kennt, vielleicht noch nie mit Muslim:innen zu tun hatte, auch noch keine Menschen aus der Türkei kenne, er habe Angst. Sie hat versucht, durch eine kognitive Kontrolle, in die sie sich selbst hineinbegab, ihrem Kind eine Perspektive zu eröffnen und ihre Angst, ihre Sorge – sie gab zu, dass sie Angst hatte – zu überspielen. Sie hat versucht, ihr Kind über diese Perspektive zu beruhigen. Sie hat uns gegenüber betont, dass sie ihrem Kind zeigen wollte, dass es kein Opfer ist. Sie erwähnte auch die Passivität der Mitreisenden, die nicht einschritten. Es wären genügend Menschen dagewesen, die etwas hätten sagen können.
  • Die andere Situation betrifft eine IT-Expertin in einer Firma. Sie wurde von ihrem damaligen Vorgesetzten nicht als Muslimin gelesen. Er wusste auch nicht, dass sie Muslimin war Sie kommt aus dem südostasiatischen Raum. Bei einem Durchgang durch die Firma hat er einmal gesagt, dass er alle von ihm als Muslim:innen gelesenen indischen und pakistanischen Mitarbeitenden in einen Raum sperren und erschießen wolle. Sie ist erstarrt, auch körperlich, hat Angst bekommen, aber nicht gesagt, sie wäre auch Muslimin.

Unser Teammitglied hat bei der Mutter aus dem ersten Beispiel gefragt, was sie mit ihrer Wut mache, die ginge nach innen, würde nicht adressiert, auch nicht ausgelebt. Das sei auf Dauer eine destruktive Perspektive. Sie sagte, was bringt mir denn die Wut?

Norbert Reichel: Resignativ.

Meltem Kulaçatan: Resignativ. Ja. Sie signalisierte, ich bin ja ganz allein in meiner Wut. Mein Kind erlebt mich wütend und bekommt vielleicht Angst vor mir.

Norbert Reichel: Sie wollte das Kind schützen, indem sie den Angriff herunterspielte.

Meltem Kulaçatan: Das war ihr Primäranliegen. Mein Kind schützen, raus aus der Situation, auch aus der Resignation heraus. Nicht überreagieren, weil sie auch meinte, sie könne damit ihr Gegenüber noch stärker provozieren, würde vielleicht geschlagen, oder vielleicht würde auch das Kind geschlagen.

Diese beiden Beispiele haben mich sehr lange beschäftigt. Zwei Frauen, die auch- vor allem im zweiten Fall – mit einer Vernichtungsfantasie konfrontiert wurden.

Norbert Reichel: Im zweiten Fall war das die Androhung von Genozid. So nach dem Motto: wenn ich die Macht hätte, würde ich euch alle umbringen. Wenn man hört, wie manche AfDler über „Remigration“ faseln, wird einem eigentlich schnell klar, was die wirklich wollen. Ich sage es mal deutlich, eine Fantasie von 1933.

Meltem Kulaçatan: Ja, wenn ich die Macht hätte, würde ich euch abknallen.       

Norbert Reichel: Zwei Berichte von Frauen. Wie sieht das mit Männern, mit Jungen aus?

Meltem Kulaçatan: Wir haben Beispiele von jungen Männern, Jugendlichen, aus der Schule. Sie werden mit Stereotypen konfrontiert, in denen sie mit dem Thema der Gewalt konfrontiert werden, ihnen wird wörtlich gesagt, aus dir wird eh einmal ein Terrorist. Das wird so salopp dahingesagt. Es wird eine grundsätzliche Bereitschaft zu Gewalttätigkeit, zu extremistischen Weltbildern unterstellt. Das, was ich jetzt genannt habe, sagen Lehrkräfte im Unterricht. Damit werden Jungen deutlicher als Mädchen in der Schule konfrontiert. Bei Mädchen wiederum gibt es den „Klassiker“ mit der Behauptung, du wirst eh verheiratet, du bist doch sicher schon verlobt. Es ist eine entindividualisierende Sprache, Jungen und Mädchen werden im Kollektiv angesprochen. Jungen müssen sich auch noch rechtfertigen, dass sie ihre Freundinnen nicht misshandeln und dass sie keine Affinitäten zum sogenannten Islamischen Staat haben.

Zivilgesellschaftliche Perspektiven

Norbert Reichel: Die Studie ist vor dem 7. Oktober angefertigt worden.

Meltem Kulaçatan: Daran muss ich oft auch denken. Wir haben aber ein Ergebnis in der Studie, dass wir vielleicht mit dem 7. Oktober verbinden könnten. Ich möchte aber betonen, dass sich diese Erkenntnis auf die hiesige Migrationsgesellschaft bezieht, nicht auf Israel, nicht auf den Nahen Osten. Viele jüngere Interviewte haben angegeben, dass sie sich engere Verbindungen mit gleichaltrigen Jüdinnen und Juden wünschen, aber eine große Hemmschwelle haben, auf Jüdinnen und Juden zuzugehen, weil sie Angst haben, markiert zu werden oder dass auf der anderen Seite eine Angst vorhanden sein könnte. Das ist sehr reflektiert, aber der Wunsch ist da, sich als zwei Minderheiten zusammenzutun, die beide bedroht sind und bedroht sein können. Viele Gesprächspartner:innen bezogen sich auf Hanau und auf Halle, auch die Zusammenhänge. Die Generation Z wünscht sich diese Verbindung zwischen beiden Minderheiten viel stärker. Auch bei Nachfragen zu Empowerment, Allianzen, Verbündeten wurde das deutlich. Das sind Begriffe, mit denen diese Generation auf den Social Media umgehen. Aber Sie haben natürlich recht, die Studie wurde im letzten Spätsommer abgegeben, also vor dem 7. Oktober.

Norbert Reichel: Sie kennen das Buch NACHHALLE. Eine der Überlebenden von Halle, Anastassia Pletoukhina, habe ich interviewt. Manches, was sie sagt, lässt sich auf das Thema der Muslimfeindlichkeit übertragen. Die Frage ist sicherlich berechtigt, ob es – wie Sie selbst vor unserem Gespräch auch sagten – Diskursverschiebungen nach dem 7. Oktober gibt. Auf jeden Fall droht ein erheblicher Kollateralschaden im Hinblick auf Muslimfeindlichkeit und Migrationspolitik. Das war schon in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober deutlich festzustellen. Es wurde auch in den Berichten über die Islamkonferenz deutlich, die die Rede von Nancy Faeser deutlich verkürzten und auf die Aufforderung reduzierten, Muslim:innen und ihre Verbände mögen sich von der Hamas reduzieren.

Meltem Kulaçatan: Dazu kann ich Ihnen etwas erzählen. Ich war eingeladen, auf einem Podium der Deutschen Islamkonferenz unsere Teilstudie vorzustellen. Mit mir eingeladen waren Riem Spielhaus, Sina Arnold, Axel Kreienbrink vom BAMF, das eine eigene Studie zum Thema erstellt hatte, und Matthias Rohe. Der Anlass der Fachkonferenz war die Frage, wie erleben Muslim:innen, muslimisch gelesene Menschen Muslimfeindlichkeit, antimuslimischen Rassismus. Dann geschah der 7. Oktober, der terroristische Angriff auf Jüdinnen und Juden in Israel. Es gab eine Veränderung in der Ausrichtung der Fachtagung, im Hinblick auf Antisemitismus und die Auswirkungen des 7. Oktober auf die hiesige Gesellschaft. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber auch erwähnen, dass an der Deutschen Islamkonferenz viele Menschen von der Basis teilgenommen haben.

Norbert Reichel: Ein Problem besteht meines Erachtens nach wie vor darin, dass die Muslim:innen keine Organisation haben, die sie als Gruppe, als Religionsgemeinschaft vertritt. Es gibt keine Vertretung, die dem Zentralrat der Juden vergleichbar wäre.

Meltem Kulaçatan: Ich möchte daher beispielhaft auf die Vereine und Organisationen verweisen, die sich in der Sozialen Arbeit engagieren. Darunter sind muslimische Organisationen, die zu einem großen Teil von Frauen gegründet wurden. Viele dieser Frauen sind Pädagoginnen, Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen, viele waren vorher in muslimischen Organisationen tätig, die sie dann aber verlassen haben, weil sie gemerkt haben, dass sie mit den patriarchalischen und paternalistischen Strukturen dieser Organisationen nicht arbeiten könnten. Ich plädiere dafür, dass wir ein deutlicheres Augenmerk, eine deutlichere Präsenz auf die diverse Zivilgesellschaft richten und uns darauf konzentrieren. Wir haben einen sehr starren Repräsentationsbegriff. Wir sollten die Zivilgesellschaft hineinnehmen und schauen, welche Bündnisse es bereits gibt, welche geschaffen werden wollen. Dieser Teil der Gesellschaft ist bedeutend flexibler und fluider als es Verbände sein können, schon qua Struktur, qua Organisation.    

Norbert Reichel: Manchmal entsteht in den Medien und leider auch in den Äußerungen mancher Politiker:innen der Eindruck, als wären alle Muslim:innen per se antisemitisch eingestellt. Das ist ja nun einmal Unsinn, was nicht heißt, dass es keinen muslimischen Antisemitismus gibt. Man sollte allerdings auch deutlich sagen, dass das, was sich auf der Essener Demonstration mit dem dortigen Ruf nach einem Kalifat Deutschland und auch auf anderen Demonstrationen mit der Übernahme von Hamas-Parolen zeigt, nicht repräsentativ für alle Muslim:innen gilt.

Meltem Kulaçatan: Das ist mir wichtig, dass wir das hier auch noch einmal sagen.

Norbert Reichel: Ein Problem ist natürlich, dass die Polizei je nach Ort ganz unterschiedlich aufgestellt ist. In Dortmund funktioniert es wie ich vom dortigen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde höre sehr gut, im Falle der Demonstration in Essen sprechen manche von Polizeiversagen. Aber wenn wir nicht aufpassen, treiben wir sogar möglicherweise junge Muslim:innen in die Fänge islamistischer Gruppierungen, indem wir sie alle unter Generalverdacht stellen. Hinweise von Beratungsstellen wie dem Violence Prevention Network in Berlin lassen dies vermuten. Dort hat sich die Zahl von muslimischen Eltern, die sich sorgen, dass ihre Kinder sich radikalisieren, binnen kurzer Zeit verdreifacht.

Meltem Kulaçatan: Auf der Fachtagung wurde ein besonderes Augenmerk auf die muslimische Bevölkerung und auf antisemitische Einstellungen, die der muslimischen Bevölkerung zugeschrieben werden, gelegt. Der Antisemitismus der sogenannten Mehrheitsgesellschaft war ein eher marginalisiertes Thema.

Das Käsebrot

Norbert Reichel: Hubert Aiwanger spricht jetzt von „importiertem Antisemitismus“ und spricht damit alle Deutschen per se von Antisemitismus frei. Nur am Rande: dass und wie Christen und Deutsche fleißig daran gearbeitet haben, Antisemitismus in den arabischen Ländern zu verbreiten, sodass sich die Frage stellt, ob Antisemitismus von Muslim:innen sich nicht besser als Re-Import bezeichnen ließe, ist nicht nur bei Aiwanger, sondern auch bei vielen Menschen in der deutschen Bevölkerung kaum bekannt.

Meltem Kulaçatan: Ich lebe in Mittelfranken. Menschen wie Hubert Aiwanger und Markus Söder wohnen bei mir sozusagen um die Ecke. Am 8. Oktober waren in Bayern und in Hessen Wahlen. Die AfD legte enorm zu, die Freien Wähler in Bayern ebenso. Ich bin fest davon überzeugt, dass Hubert Aiwanger wegen seiner antisemitischen Haltung, die ich ihm unterstelle, zugelegt hat.

Als ich am 9. Oktober zu meiner Arbeit ging – es war der erste Seminartag als Professorin für Soziale Arbeit –, war ich wie paralysiert, einerseits durch den genozidalen Terrorangriff der Hamas, andererseits durch die Wahlergebnisse vom 8. Oktober. Ich komme am Bahnhof an, dort steht ein junger Mann in völlig entspannter Haltung, hat sein Auge auf mich und zwei weitere Männer mit dunklem Haar gerichtet und erklärt: „Euch Muslime müsste man jetzt alle sofort verbrennen.“ Neben mir stand ein Mann, vielleicht Ende 20, Anfang 30, der aß ein Käsebrot. Er aß es völlig entspannt weiter, während der andere uns anschrie: „Euch Muslime müsste man jetzt alle sofort verbrennen.“ Ich überlegte: gleich hast du dein erstes Seminar, du hast junge Menschen vor dir, die darauf warten, dass ihre neue Professorin kommt. Eigentlich müsste ich jetzt die Polizei rufen. Aber dann komme ich zu spät zu meiner Arbeit und müsste sagen, es tut mir leid, ich wurde gerade mit Rassismus konfrontiert, ich komme erst in drei Stunden. Ich schob auch den Gedanken weg, zu ihm gehen zu wollen und ihm zu sagen, dass hier niemand verbrannt wird und ich selbst jüdisch-muslimischer Herkunft bin, ob er mich immer noch verbrennen möchte. Das wäre absurd und nutzlos gewesen. Aber so irrationale Ideen und Gesprächsblasen schießen einem eben durch den Kopf in so einem Moment. Und das war meine Situation: Der Mann mit dem Käsebrot, in dieser entspannten Haltung, der in aller Seelenruhe weiter aß, obwohl es alle hörten, euch muss man verbrennen, jetzt! Das war heftig. Ich kann es gar nicht beschreiben. Ich gehe natürlich nicht in einen Diskurs mit einer solchen Person. Allein die Androhung – aufgrund eines Wahlsiegs, der auf Antisemitismus und auf Rassismus beruhte – und dies in dem Kontext des bewussten genozidalen Vorgehens der Hamas – das war für mich unfassbar erschütternd.

Synagoge Ermreuth. Foto: Michaelplanegg. Wikimedia Commons.

Ich habe an anderen Stellen darüber gesprochen, dass ich zurzeit schon beeindruckt bin, wie viele Menschen es gibt, die sich schon seit jeher, eine Zahl, die mir bisher unbekannt war, gegen Antisemitismus einsetzen. Aber das ist ein Engagement aus der Zivilgesellschaft! Ich nennen Ihnen zwei Beispiele: Ich wohne nicht weit entfernt von der Wohnung, in der Shlomo Lewin und Frida Poeschke von einem Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann erschossen wurden. Zwei Straßen entfernt. Einmal im Jahr findet hier in Erlangen am Bürgermeistersteg – so heißt die Straße – eine Gedenkveranstaltung der Initiative Kritisches Erinnern Erlangen für Shlomo Lewin und Frida Poeschke statt. Organisiert wird die Veranstaltung von unterschiedlichen antifaschistischen Gruppen. Ich persönlich habe aber bisher keinen einzigen prominenten Landespolitiker, keine Landespolitikerin aus Bayern dort kommen und gedenken sehen – vielleicht täusche ich mich auch. Die Synagoge Ermreuth ist auch nur ein paar Kilometer von meiner Wohnung entfernt. In Ermreuth gab es Sylvester 2022 einen versuchten Brandanschlag. Das war keine große Titelei wert und wurde auch nicht mit bestehenden antisemitischen Strukturen und Aktivitäten in Bayern in Verbindung gebracht.  

Ein drittes Beispiel ist die ehemalige Psychiatrie, jetzt Kopfkliniken, an der Universitätsklinik. Dort gibt es ein Gebäude, in dem in der Zeit des Nationalsozialismus Menschen schwer misshandelt wurden, mit Nahrungsentzug, Wasserentzug, psychisch Kranke, geistig behinderte junge und alte Menschen. Dieses Haus ist jetzt zugunsten des Max-Planck-Instituts abgerissen worden. Trotz unterschiedlicher Initiativen war es schwierig, überhaupt ein Gedenken sichtbar zu machen. Es soll jetzt eine Stele geben. Auf der Internetseite der Kliniken kein Wort zu dieser Geschichte. Wir brauchen eine Gedenkstätte, auch an dieser Stelle.

Norbert Reichel: Ich möchte noch einen Satz zu dem Menschen mit dem Käsebrot und zu dem Menschen, der sie mit seinem genozidalen Satz bedrohte, sagen. Ich bin alles andere als davon überzeugt, dass diese beiden in irgendeiner Form projüdisch oder proisraelisch eingestellt wären.

Meltem Kulaçatan: Das ist der Punkt! Ja, das ist der Punkt!

Norbert Reichel: Nach dem Motto: Alles, was fremd ist, muss raus. Und jetzt gibt es endlich mal wieder einen guten Grund, Muslime zu beschimpfen und gleich alle, die irgendwie orientalisch oder südländisch aussehen. Das wird ja von all den Abschiebefantasien verschiedener Politiker:innen auch noch getriggert, obwohl niemand weiß, wohin man jemanden überhaupt abschieben soll, den wahrscheinlich niemand nimmt und der womöglich sogar Deutscher oder staatenlos ist.

Empathiesperre – Gesprächssperre

Norbert Reichel:  Und was ist mit all den Hamas-freundlichen Deutschen, nicht zuletzt in der antikolonialistischen Linken? Erschreckend ist auch die Tragödie der Linken – ich meine nicht die Partei, sondern Linke als eine Gruppe von Menschen, die sich eigentlich den Menschenrechten verbunden fühlen sollten. Gerade in Bezug auf Israel tun viele das nicht. Es gibt leider nur wenige, die sich so klar äußern wie Klaus Lederer.

Meltem Kulaçatan: Ich muss allerdings betonen, dass das, was da geschieht, auch selbstverschuldet ist. Ich muss die letzten Jahre naiv gewesen sein, weil es mir nicht wichtig genug erschien. Ich war entsetzt, als die Hamas als Befreiungsorganisation bezeichnet wurde und Bezüge zu den Schriften des Denkers Frantz Fanon hergestellt wurden. Ich habe meine Diplomarbeit über Frantz Fanon geschrieben, in einer Zeit, als er eigentlich out war. Ich habe bei seiner Arbeit als Psychiater in Algerien angesetzt und bei seiner Theorieentwicklung, die sich für Befreiung und gegen Gewalt stellte. Er hat Konzepte entwickelt, wie sich Menschen vor inneren Beschädigungen schützen können, wenn sie Gewalt erleiden, physische Gewalt, bei den Kämpferinnen Vergewaltigungen, die sie ertragen mussten, in der Hoffnung, dass sie lebend aus der Situation herauskämen. Das ist etwas, womit sich Frantz Fanon sehr stark beschäftigt hat, auch mit dem Wunsch, Algerien möge sich zu einem friedlichen Nationalstaat entwickeln, an den Punkt zu kommen, an dem man sich von den Oppressionen befreit und eine gewaltfreie Gesellschaft errichtet. Es hat mich eiskalt erwischt, dass dieser Konnex zwischen Frantz Fanon und der Hamas erstellt wurde. Ich bin nach wie vor beeindruckt, versuche das aber als Wissenschaftlerin zu betrachten. Ich bin beeindruckt von der Empathiesperre, der ich auch in meinem persönlichen Umfeld begegne, die Empathiesperre gegenüber den Opfern der Massaker der Hamas, gegenüber den Kibbuzim, gegenüber den Besucher:innen des Supernova-Festivals.

Norbert Reichel: In Berlin gibt es einen einzigen Club, der Empathie mit den Opfern des Festivals zeigte, das ://aboutblank. Dort gab es eine Veranstaltung, unter anderem mit Anastasia Tikhomirova, Nicholas Potter und DJ Ori Raz. Die taz veröffentlichte ein Interview mit Ori Raz zu dieser ausdrücklich als Solidaritätsveranstaltung mit den Opfern des Supernova-Festivals konzipierten Veranstaltung. Ori Raz berichtete aber auch von der Angst in der Szene, sich in einer Form, das heißt mit den Opfern des Massakers fühlend, zu äußern, die die eigene Karriere ruinieren könnte. Anastasia Tikhomirova hat mit Überlebenden des Festivals gesprochen. In der von Ihnen angesprochenen Empathiesperre wird es – und das ist tragisch – immer schwerer, sich mitfühlend zu Opfern in der palästinensischen Zivilbevölkerung zu äußern.

Meltem Kulaçatan: Ich spreche ganz bewusst von einer Empathiesperre und nicht von Empathielosigkeit. Empathielosigkeit könnte sich auf viele unterschiedliche Bereiche beziehen. Diese Empathiesperre ist jedoch eine ganz bewusste Entscheidung, wem ich mein Mitgefühl, meine Trauer, meine Verbundenheit zukommen lasse, wessen Tötung, wessen Vergewaltigung, wessen Schändung ich betrauere und wessen Tötung, wessen Vergewaltigung, wessen Schändung ich nicht betrauere. Das ist für mich auch als Wissenschaftlerin ein wichtiger Moment: diese Empathiesperre und auch die Aufrechterhaltung dieser Sperre, denn diese muss ja immer wieder genährt werden. Ich denke immer noch darüber nach, welche Mechanismem des Nährens, des Fütterns dahinterstecken. Ich nenne ein drastisches Beispiel: Einige der Frauen auf dem Festival und in dem Kibbuz wurden während der Vergewaltigung von dem Täter gefilmt und erschossen. Wenn ich das auf der Grundlage der forensischen Ergebnisse, die wir mittlerweile kennen und nachlesen können, heißt es allenfalls, okay, ist passiert, ist halt Krieg. Diese Haltung ist ein Aspekt, den ich auch als feministisch denkende Frau, als Frau, die versucht, feministisch zu handeln, was mir nicht immer gelingt, noch nicht gelöst habe: eine Empathiesperre, die unter dem Begriff der sexualisierten Gewalt als Kriegswaffe subsummiert wird. Ich bin der Meinung, dass es nicht bloß um eine Kriegswaffe geht und ging, sondern auch um einen sadistischen und lustvollen Aspekt, den die Hamas-Terroristen ganz klar verwendet haben.

Norbert Reichel: Es ging um Demütigung, um Entmenschlichung. Es gibt das Telefonat eines der Terroristen, der seiner Mutter zurief, sie könne stolz auf ihren Sohn sein, weil er schon zehn Juden getötet habe.

Meltem Kulaçatan: Damit sind wir aber auch schon mittendrin in unseren Lebenswelten, in unserer Migrationsgesellschaft. Mich rufen viele muslimische Kolleginnen an, die ein Kopftuch tragen, die ihren Glauben praktizieren, und fragen: Meltem, wir sind erschüttert von dem, was da passiert ist, und mich fragten, wie können, wie können wir unsere Solidarität zeigen, Frauen, die mich weinend anriefen, als sie hörten, dass auf der Sonnenallee Baklava verteilt wurden, und sagten, wie sehr sie sich dafür geschämt haben. Ich möchte auch über diese Frauen berichten können, die sich auch in ihrem Glauben angegriffen fühlen, die sagen, wir können diese Menschen nicht als Muslime bezeichnen, das sind Terroristen, das sind Täter.

Ich komme damit zu unserem Ausgangsaspekt zurück: Die sehr einseitige Form der Fokussierung des Antisemitismus auf einen sogenannten „importierten Antisemitismus“ ignoriert diese Frauen, weil sie wie eine Bildstörung sind, weil sie nicht hineinpassen. Wie kann es sein, dass eine muslimische Frau sich mit Jüdinnen solidarisiert? Das passt nicht ins Bild. Frauen, die fragen, wie sie in Kontakt mit Jüdinnen treten könnten, und fragen, wollen Jüdinnen das überhaupt, wollen sie es vielleicht gar nicht, dass wir auf sie zugehen. Was können wir für die jüdischen Frauen tun?

Norbert Reichel: Lässt sich das auflösen?

Meltem Kulaçatan: Wir müssen weitermachen, das ist die einzige Lösung.

Norbert Reichel: Ich versuche immer dafür zu werben, dass Minderheiten sich miteinander verbünden, sich nicht gegenseitig beschuldigen, nicht die reine Lehre zu vertreten, und dass sie sich auch mit den Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft verbünden, die ihre Ansichten und ihre Ängste teilen. Stattdessen spalten sich viele Vertreter:innen von Minderheiten in Mikrogruppen auf, die sich untereinander das Leben schwer machen und Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft per se unterstellen, dass sie alle Minderheiten grundsätzlich diskriminierten, ausschlössen. Das ist leider auch in manchen Parteiorganisationen so Usus, zum Beispiel bei BuntGrün. Das war auch ein Thema von „Frenemies“ und „Triggerwarnung“, die Meron Mendel mit seinen Kolleg:innen im Verbrecher Verlag herausgegeben hat. Die von Ihnen beschriebene Empathiesperre führt auch zu einer Gesprächssperre.

Meltem Kulaçatan: Gespräche werden oft auch gar nicht gewünscht. Die Empathiesperre geht mit Dehumanisierung einher, dem Absprechen von Leid, von existenzieller Angst. Abgesprochen wird das Gedächtnis, die Vorgeschichte des Leids, die Erinnerung an die Shoah, die durch transgenerationale Vererbung weitergetragen wird. Aber so weit muss man gar nicht gehen. Allein die Entscheidung, ich sperre mich, ich halte diese Sperre aufrecht, ich rechne das eine Kind gegen das andere auf. Man kann das Bild einer palästinensischen Mutter, die ihr Kind in einem Leichentuch an sich presst, es küsst, mit Blutspuren am Tuch, und das Bild einer jüdischen Mutter, die um ihr Kind in der Geiselhaft bangt, doch nicht gegeneinander aufrechnen. Ich frage mich, wie man mit diesem Umstand umgeht. Dieser Umstand wird uns noch lange beschäftigen.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2023, Internetzugriffe zuletzt am 5. Dezember 2023. Titelbild: Hans Peter Schaefer. )