Zeitenwende – Vom alten Denken zur neuen Politik

Markus Meckel am 12. November 2022 in der Evangelischen Akademie Tutzing

Dieses Datum – der 24. Februar diesen Jahres – wird uns allen wohl unvergesslich bleiben. „Wir sind in einer anderen Welt aufgewacht.“ – so drückte es Annalena Baerbock aus. Ja, wer hätte gedacht, dass wir das erleben müssen? Im 21. Jahrhundert ein Angriffs-, Eroberungs- und Vernichtungskrieg gegen einen friedlichen Nachbarn mitten in Europa, gegen ein Land, das ich immer wieder besucht habe. Das hätte ich bei aller Skepsis gegenüber Putin doch nicht für möglich gehalten.

Bomben – Raketen – Sterben – Zerstörung – Mord und vielfache Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung – Bilder, die wir von Kriegen in der tiefen Vergangenheit kennen, oder doch ganz weit weg, in verzwickten Konfliktlagen.

Hier ist dagegen alles, was die Analyse und Bewertung betrifft, ganz einfach: Hier gibt es einen autokratischen Präsidenten in Russland, der Angst vor Demokratie und Freiheit hat, in seinem Land selbst, denn das würde ihn hinwegfegen, in seiner Umgebung, denn das könnte auch in Russland Schule machen.

Ein Präsident, der der Vision der Wiedererrichtung des alten russischen Imperiums folgt, welches auch in der Sowjetunion weitergelebt hatte – und mit ihm zerfiel.

Dafür wirft er alles über den Haufen, das er selbst früher unterschrieben hat, alles, das als Lehre aus den

Schrecken der Weltkriege im 20. Jahrhundert als Grundlage des internationalen Lebens entwickelt wurde. Mit diesem Überfall auf sein Nachbarland reißt Putin diese Grundlagen ein und greift nicht nur die Ukraine an, sondern das internationale Recht, das zu erhalten schwer sein wird, aber für unsere Zukunft von grundlegender Bedeutung ist.

Ich bin, wie Sie wissen, in einer Diktatur aufgewachsen, in der „Recht als Instrument der herrschenden Klasse“ angesehen wurde. Recht war der Macht untergeordnet, und damit der Willkür der jeweiligen Herrschaft ausgeliefert. Es war die zentrale Errungenschaft der Revolutionen und Umbrüche von 1989, dass mit Demokratie und Freiheit wieder das „rule of law“, die Herrschaft des Rechts aufgerichtet wurde, dem auch die Macht sich unterzuordnen hat.

Die in den Ländern Mitteleuropas ausgerufene „Rückkehr nach Europa“ hatte genau dies zum Ziel. Gorbatschow bekannte sich in seiner Rede vor der UN-Vollversammlung am 7. Dezember 1988 zum internationalen Recht und zu den Menschenrechten und in den Verhandlungen von 1990 wandte er ein, wenn sein Gegenüber von westlichen Werten sprach, dass es sich um allgemeine Werte handele, die der Westen nicht allein für sich beanspruchen könne.

Dass es ein schwieriger Prozess sein würde, die Kultur des „rule of law“, die Herrschaft des Rechts auf den verschiedenen Ebenen durchzubuchstabieren und umzusetzen, war damals schon klar. Dass viele gar nicht verstanden haben und es erst mühsam lernen mussten, was das bedeutet, zeigte sich schnell. Wir haben damit bis heute in vielen Ländern zu tun, nicht zuletzt in Ungarn und Polen.

Aber die größte Herausforderung in dieser Hinsicht ist seit vielen Jahren Russland, das schon seit 2014 die Krim annektiert und in der Ostukraine einen verdeckten Krieg führte, dem im Laufe der Zeit Zehntausende zum Opfer fielen. Und nun, nach dem 24. Februar 2022 nun dieser Krieg – bei dem Russland nun mit Panzern, Raketen und Bombern sowie schrecklichen Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung die Ukraine als Nation vernichten möchte.

Selbst die größten Pessimisten hätten sich wohl einen solchen brutalen Eroberungskrieg – ja, mit Zügen eines Vernichtungskrieges – in der unmittelbaren Nachbarschaft der Europäischen Union nicht vorstellen können.

Kurz nach diesem Überfall sprach der Kanzler in einer Sondersitzung des Bundestages von einer „Zeitenwende“. In einer unglaublich kurzen Zeit gab die Bundesregierung als Reaktion darauf die Grundlinien einer neuen Politik bekannt, die für wohl die meisten Zuhörer (auch in der Koalition selbst) erstaunlich war.

Die Bundesregierung brach mit verschiedenen Grundlagen der bisherigen deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Russland wurde als Aggressor klar benannt und verurteilt, Deutschland stellte sich vorbehaltlos an die Seite der Ukraine. Für die völlig unterfinanzierte Bundeswehr wurden 100 Mrd. EUR angekündigt – sowie die künftige Erhöhung des Verteidigungshaushaltes auf mindestens 2 Prozent des Bruttosozialprodukts, eine Entscheidung, die vorher undenkbar schien. Deutschland war nun bereit, an die Ukraine auch Waffen zu liefern, um sich verteidigen zu können – nachdem bisher der unumstößliche Konsens galt, keine Waffen in Kriegsgebiete zu liefern.

Gewiss, es gab dann immer wieder neue Hürden und die schwer nachvollziehbare Diskussion um die Lieferung schwerer Waffen, dabei sollte man sich doch einig werden, dass einfach alles und so schnell wie möglich an die Ukraine zu geben ist, was wir zu geben vermögen, damit die Ukrainer sich verteidigen können. Jedenfalls ist das meine Überzeugung. Wenn Russland nicht Atommacht wäre, müsste man – wie damals auf dem Balkan bei Milošević – der Ukraine sogar beispringen und sie vor Schlimmerem bewahren helfen.

Mit dem Kriegsbeginn war schließlich auch die neue Pipeline North Stream II passé, um die noch kurz zuvor hart gerungen wurde.

Deutschland bekannte sich zu scharfen Sanktionen, die dann auch in erstaunlicher Geschlossenheit von der EU beschlossen wurden. Inzwischen wurden sie mehrfach verschärft.

Hunderttausende und schon bald Millionen Ukrainer flohen vor dem Krieg, vor Tod und Zerstörung und fanden bei den westlichen und südlichen Nachbarn bereitwillige Aufnahme, in Polen besonders, aber auch bei uns. Eine Welle der Solidarität ging durch ganz Europa – und hält bis heute an. Auch hier gilt – wir leben anscheinend in einer neuen Zeit. Kein Streit in Deutschland über diese Aufnahme, sondern der Versuch, die Lasten zu teilen und mit offenen Armen solidarisch zu sein. Im Ausland, insbesondere im Süden, rieb man sich die Augen, hatte man doch noch den Streit von Horst Seehofer mit der Kanzlerin zur Begrenzung der Flüchtlingsströme im Jahr 2015 im Gedächtnis.

Die UNO-Vollversammlung hat in einer ungewöhnlichen Geschlossenheit den russischen Überfall und die Annexion von vier Distrikten im Osten der Ukraine verurteilt.

Inzwischen dauert dieser Krieg nun schon fast neun Monate lang. Anders als viele es befürchtet hatten, ist es der Ukraine mit der Waffenhilfe des Westens gelungen, die Eroberungen und das Vordringen der russischen Armee zu stoppen, ja, einige Gebiete konnten zurückgewonnen werden. Ungeheure Grausamkeiten und Kriegsverbrechen gegen die ukrainische Zivilbevölkerung traten zu Tage. Die Zerstörungen sind immens, gezielt wird von Russland Infrastruktur zerstört, um die Versorgung der Bevölkerung zu erschweren oder gar zu unterbinden.

Niemand weiß, wie lange dieser furchtbare Krieg noch dauert, in dem nicht nur die ukrainische Armee, sondern ein ganzes Volk sich gegen seine Eroberung und Vernichtung wehrt.

Gleichzeitig zeigen sich die Folgen des Krieges nicht nur in ganz Europa, sondern global. Fehlender Weizen aus der Ukraine und Russland hat die Hungersnöte in der Welt bedrohlich verschärft. Wir Deutschen – aber auch andere Länder – haben uns in den letzten zwanzig Jahren in eine zunehmende Abhängigkeit von russischen Energielieferungen gebracht, was uns heute in große Bredouille und Unsicherheit versetzt. Wir stellen uns die bange Frage, wie wir über den Winter kommen. Und dazu gehört dann auch diese, wie lange wir unsere Bevölkerung davon überzeugen können, dass die Solidarität mit der Ukraine notwendig ist, auch wenn sie uns vieles abverlangt. Wir dürfen uns m.E. nichts vormachen: Putin zerstört die Infrastruktur in der Ukraine auch, um die Lebensmöglichkeiten für die Bevölkerung so schwer zu machen, dass sie sich erneut auf den Weg machen. Er will neue Flüchtlingsströme erzeugen, nutzt sie als Waffe, um uns in der EU selbst an die Grenzen unserer Möglichkeiten zu bringen und möglichst die Akzeptanz für die Ukrainehilfe in der eigenen Bevölkerung zu untergraben.

Der Bundespräsident sprach kürzlich in seiner „Rede an die Nation“ (28. Oktober 2022) von einem „Epochenbruch“, den dieser russische Krieg gegen die Ukraine bedeutet, nicht nur für dies Land, sondern für uns alle. Ein solcher Epochenbruch ruft jedoch nicht nur nach Umsteuern in einer neuen Situation, er bedarf auch der Analyse seiner Vorgeschichte, um dann für die künftige Politik die rechten Schlüsse zu ziehen.

Entwicklungen müssen manchmal erst in unseren Köpfen ankommen – wir müssen lernen, sie zu verstehen.

Manchmal braucht es Mut und Entschlossenheit, sich dem zu stellen und nicht die Augen zu verschließen. Kritische Selbstbefragung ist geboten – doch darf sie nicht zu einer reinen Selbstbeschäftigung werden in einer Zeit, in der entschlossenes Handeln notwendig ist.

Im Titel, der mir vorgegeben wurde, ist von „altem Denken“ die Rede – und von „neuer Politik“. Diese aber braucht auch ein „neues Denken“. Bei dieser Formulierung werde ich an Gorbatschow erinnert, der ebenfalls von einem „neuen Denken“ sprach. In den Vorträgen und Gesprächen bisher gab es schon eine notwendige Auseinandersetzung mit den Fehlern der Vergangenheit in Bezug auf die Russlandpolitik. So möchte ich mich mehr den Fragen der Zukunft zuwenden.

  1. Es ist unser Krieg

Es ist oft gesagt: dieser Krieg ist ein Angriff auf die internationale, auf Werten und anerkanntem Recht basierende Ordnung, deren Entstehen durch die Schrecken zweier Weltkriege bedingt war (UNO-Charta). Schon in den Zeiten des Kalten Krieges war es eine schwere Herausforderung, diese Charta und ihre Grundlagen zu bewahren. Das Dilemma ist offensichtlich: wir müssen diese internationale Rechtsordnung als Grundlage des Zusammenlebens auf diesem Globus zu bewahren suchen – trotz der Attacken vieler, es ist ja nicht nur Russland! China und die Türkei haben auch ganz andere Interessen und suchen in den jeweils eigenen Regionen das Recht des Stärkeren durchzusetzen. Insofern ist die Solidarität mit der Ukraine zentral und gleichzeitig ist es die Verteidigung dieser Rechtsordnung, es ist also auch unser Krieg!

Nun aber ist Russland eine Atommacht – und wir können nicht einfach direkt an der Seite der Ukraine in diesen Krieg eintreten, wie wir es 1999 taten, als Milošević die Kosovaren vertrieb und ein Völkermord drohte.

Wie aber schützt man sich davor, letztlich erpressbar zu werden? Dies darf nicht geschehen!

Es wird hier sehr darauf ankommen, dass die demokratischen Staaten in der UNO möglichst geschlossen agieren. Mit Recht versucht die Bundesregierung, den Vorsitz der G7-Runde dafür zu nutzen und auch im Rahmen der G20 das Gespräch mit den Demokratien anderer Kontinente zu suchen, um auch global eine möglichst große Geschlossenheit zu erreichen. Das darf jedoch nicht eine Eintagsfliege sein, sondern braucht ein Konzept, Glaubwürdigkeit und einen langen Atem. Leider ist es oft mit unserer Glaubwürdigkeit und dem langen Atem nicht weit her. Die konkreten Positionen sollten auch – mehr als bisher – vorher im Rahmen der EU entwickelt und abgestimmt sein. Hier spielt nach wie vor das deutsch-französische Verhältnis eine zentrale Rolle, das leider im Augenblick nicht genügend im Blick ist.

Vermutlich wird es nach dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ein neues Abwägen geben müssen, welche Chance besteht, die UNO, die ja ein Kind des zu Ende gehenden Zweiten Weltkriegs ist, den neuen globalen Gegebenheiten anzupassen. Die Zusammensetzung der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates und die Vetorechte – das passt nicht mehr in heutiger Zeit. Aber ich weiß – das zu ändern, wird schwer.

Bei allen Defiziten standen die USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer zu den Vereinten Nationen und ihrem Regelwerk. Angesichts der innenpolitischen Situation in den USA werden auch in dieser Beziehung die Rahmenbedingungen immer schwieriger, um eine auf Recht und gemeinsamen Regeln basierende internationale Ordnung zu etablieren und durchzuhalten.

  1. Globalisierung in gemeinsamer Verantwortung entwickeln

„Man sieht sich mindestens zweimal“. Ob es um Impfstoffe gegen die Pandemie geht, um seltene Rohstoffe oder Energie. Wir alle leben in dieser EINEN Welt und sind mehr als es uns oft bewusst ist in hohem Maße voneinander abhängig. Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine und Russlands gezielter Nutzung von Abhängigkeiten als Waffe, wird heute zunehmend bewusst, dass es darauf zu achten gilt, künftig einseitige Abhängigkeiten zu meiden, insbesondere da, wo es sich um Staaten handelt, die unsere Werte nicht teilen – um autoritäre Staaten und Diktaturen. Allzu oft wurde in der Vergangenheit das Kriterium von Menschenrechten für die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen für moralisch ehrenwert, aber realpolitisch naiv angesehen. So kann ich nur begrüßen, dass die Außenministerin einklagt, dass Deutschland für sein Verhältnis zu China eine neue Konzeption entwickeln muss, in welcher die verschiedenen Dimensionen unserer Interessen und Werte miteinander abgewogen werden müssen. In den letzten Wochen ist es nun auch Teil der öffentlichen Debatte geworden: Diversifizierung ist angesagt – das wird ein langer und komplizierter Umstrukturierungsprozess sein. Lieferketten müssen neu auf den Prüfstand kommen und mit Kriterien belegt werden. National voranzugehen ist in manchen Bereichen durchaus sinnvoll – letztlich aber wird man versuchen müssen, hier innerhalb der Europäischen Union Einigkeit zu einer gemeinsamen Konzeption (nicht nur der Chinapolitik) zu erzielen! Letztlich gehören die Bewältigung der Folgen dieses Krieges und die Herausforderungen durch das Klima und die Energie in EINEN Zusammenhang.

  1. Friedensethik auf dem Prüfstand

Die Kirchen in Europa, die noch im Ersten Weltkrieg ganz die jeweilige nationale Politik ihrer Regierungen unterstützten und Waffen segneten, wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Kraft des Friedens. Bei der Gründung des Weltkirchenrates 1948 in Amsterdam bekannten sie sich zu der Aussage: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!“ So spielte die Friedensethik gerade in den deutschen Kirchen in Ost und West eine zentrale Rolle.

Ich selbst z.B. habe als 17-Jähriger in der DDR den Wehrdienst totalverweigert, also auch den Dienst in den Bausoldaten. Das war für den Staat ein Affront. Die Friedensfrage hat mich mein Leben lang begleitet. In der Diskussion um die Nachrüstung Anfang der 1980er Jahre erstarkte in der DDR die Opposition. In der Zeit des Kalten Krieges, in der sich die Atommächte antagonistisch gegenüberstanden, war ich Pazifist, jedenfalls „Atom-Pazifist“. Später – in den 1990er Jahren – befürwortete ich die Einsätze der Bundeswehr, da ich überzeugt war, dass sie zur Erhaltung einer auf Recht basierenden internationalen Ordnung nötig waren und wir als Deutsche die Last der militärischen Einsätze nicht allein den anderen überlassen dürfen. In den Kirchen gab es hierzu viele Auseinandersetzungen. Die Friedensdenkschrift von 2007 hat dann dafür einen – wie ich finde, akzeptablen – Konsens geschaffen, der jedoch nicht wirklich trug, wie mir scheint. Hier wurde der Einsatz militärischer Gewalt als letzter möglicher Weg akzeptiert. Die Aussagen der EKD-Synode von 2019 tendierten dann wieder mehr zu einem grundsätzlicheren Pazifismus.

Angesichts des russischen Angriffskrieges ist die Debatte neu entbrannt, deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine werden infrage gestellt und nach einer Verhandlungslösung gerufen.

Bei der EKD-Synode war das ein zentrales Thema – und die innere Zerrissenheit, die ja irgendwie in jedem von uns ist, wurde deutlich. Wer will nicht, dass baldiger Friede sei? Doch gewiss zuerst die überfallenen Ukrainer selbst, die täglich Tod und Verderben erfahren. Aber welcher Friede? Nach den Entdeckungen der schlimmen Verbrechen an ukrainischen Zivilisten in Butscha – und seitdem an vielen anderen Orten, kann doch wohl die Überlassung ukrainischer Territorien mit ihrer Bevölkerung an solche Besatzung nicht ein Frieden sein, den wir empfehlen.

Oder Verhandlungen: Verhandlungen setzen das Vertrauen voraus, dass der andere sich an das verhandelte Ergebnis hält. Sollen wir der Ukraine zureden, dass sie Putin, der bisher alle Verträge brach, noch vertrauen?

Oder, wenn es um Garantien Dritter für Ergebnisse von Verhandlungen geht – sind wir bereit, solche Garantien zu geben? Das hieße dann aber, dass wir bereit sind, beim Bruch von solchen Vereinbarungen selbst in den Konflikt zu gehen – ja, auch Kriegspartei für das Vereinbarte zu werden. Wer sollte solche Garantien geben? Wer, wenn nicht wir im Westen? Und im Westen – wollen wir wieder allein die Amerikaner dafür verantwortlich machen?

Und dann muss natürlich gelten: Verhandlungen dürfen nicht über den Kopf der Betroffenen hinweg geführt werden! („Nichts über uns ohne uns!“)

Wir merken, wie komplex das ist – und dass selbst der Ruf nach Frieden und Verhandlungen ganz konkrete Konsequenzen hat!

  1. Die Bedeutung der Geschichte für die Konflikte in Osteuropa

Für Deutschland wie für Russland spielt die Geschichte für die Außenpolitik eine zentrale Rolle. Für Deutschland gilt das nicht nur gegenüber Israel, sondern auch bei den östlichen Nachbarn und für ganz Osteuropa. Die Verantwortung, die uns als Deutschen aus den Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus erwächst, wurde in der Vergangenheit jedoch im Osten normalerweise auf Russland fokussiert. Das ging so weit, dass sie sogar als Argument für North Stream II herhalten musste. Dass dabei unter den Tisch fiel, dass diese Verantwortung alle unsere östlichen Nachbarn betrifft – Polen und die Tschechische Republik, die baltischen Staaten und mit ihnen eben alle Länder der ehemaligen Sowjetunion mit der Ukraine und Belarus als den größten unter ihnen, fiel weitgehend unter den Tisch. Nur Polen hatte hier bisher einen eigenen Rang.

So wird von Russland wie früher von der Sowjetunion der Hitler-Stalin-Pakt völlig verdrängt – aber eben auch bei uns in Deutschland. Dieses Bündnis der beiden großen europäischen Diktatoren des 20. Jahrhunderts kommt in unserem öffentlichen Bewusstsein und unserer Erinnerungs- und Gedenkkultur im Grunde nicht vor. Das hat in meinen Augen damit zu tun, dass wir in Deutschland die verschiedenen Kapitel unserer schwierigen Geschichte des 20. Jahrhunderts schön auseinanderhalten wollen. Das eine sind eben die unvergleichlichen deutschen NS-Verbrechen und das andere die kommunistischen – und das solle man nicht vergleichen, schon gar nicht gemeinsam betrachten, um der Gefahr der Relativierung ihrer Einzigartigkeit zu entgehen. Aber in der Zeit von 1939 – 1941 gehörten diese zusammen, sie fanden sogar gewissermaßen in Absprache statt. Selbst der sowjetische Mord an den mehr als 20.000 polnischen Offizieren in Katyn und anderswo hätte doch ohne diesen Pakt nicht stattgefunden – und damit gibt es eben sogar dafür eine deutsche Mitverantwortung. Da lässt sich für diese Zeit eben nicht alles säuberlich trennen, sondern gehört in tiefe Zusammenhänge, die wir bis heute weitgehend verdrängen. So wurde und wird es auch von den betroffenen Völkern selbst erfahren, nicht zuletzt von unseren polnischen Nachbarn. Deutsche Erinnerungskultur aber besteht auf der Differenz – und bringt die deutschen Verbrechen nur für sich stehend zur Sprache. So gibt es hier dann auch in diesem Feld in der Vergangenheit ein – zumindest faktisches – Zusammenspiel mit Russland, das die stalinistischen und anderen kommunistischen Verbrechen vergessen machen will – und allein den Sieg gegen Hitlerdeutschland zum einigenden Siegel des Volkes macht.

Es war ja wirklich so gut wie jede Familie betroffen von den deutschen Verbrechen (in Belarus etwa starb mehr als ein Viertel der Bevölkerung!) – leider gilt diese Breite der Betroffenheit der sowjetischen Bevölkerung eben auch von den stalinistischen Verbrechen, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist nicht gegeneinander aufzuwiegen!

Diese Zusammenhänge vergessend oder zumindest vernachlässigend – schaute die deutsche Politik lange mit einem gewissen Verständnis auf die Putin´sche Geschichtspolitik (hier habe ich besonders meine eigene Partei im Blick und muss insbesondere die Grünen und die Heinrich-Böll-Stiftung ausnehmen!). Es war für mich schon ziemlich schockierend, dass der große Mann der SPD und frühere Kanzler Helmut Schmidt, der in seinem Alter parteiübergreifend gewissermaßen zur Ikone deutscher Außen- und Europapolitik geworden war, noch kurz vor seinem Tod der Ukraine eine Eigenständigkeit als Nation absprach. Hier kumulierte eine in Deutschland und – wie ich glaube – ganz Westeuropa häufig anzutreffende tief gehende Unkenntnis der Geschichte Osteuropas und ihrer Probleme. Man hielt sie auch nach 1990 lange nicht für wichtig – der Abbau der wissenschaftlichen Forschung zu Osteuropa in den letzten Jahrzehnten ist dafür ein erschreckender Beleg!

Ich selbst wurde von solchen Fehlwahrnehmungen durch meine intensiven Kontakte mit Polen bewahrt (nicht etwa durch meinen Hintergrund als DDR-Bürger!). Gut erinnere ich mich etwa an ein Gespräch mit Bronisław Geremek im Jahr 1992, als er mir erklärte, warum die Anerkennung der Unabhängigkeit der Ukraine für Polen und ganz Europa von so großer Bedeutung sei.

Meiner Meinung nach wäre es von großer Bedeutung, wenn von Deutschland die Initiative für ein groß angelegtes „Europäisches Historisches Institut zur Geschichte des 20. Jahrhunderts“ (mit einem Schwerpunkt auf Osteuropa) ausginge. Es sollte in hohem Maße europäisch finanziert werden und in einem Netzwerk mit nationalen Partnern die Zusammenhänge und Verflechtungen erforschen und darstellen und so die oft noch allzu nationalen Narrative und Perspektiven überwinden helfen.

Doch nun zu Russland selbst:

Putin hat den Krieg gegen die Ukraine ganz explizit in seiner Rede kurz vor Kriegsbeginn historisch begründet. Einem alten nationalistischen russischen Narrativ folgend bestritt er die Existenz einer ukrainischen Nation und der Ukraine das eigenstaatliche Existenzrecht. Das aus dem Abwehrkampf gegen das NS-Deutschland stammende und in Russland so tief verwurzelte Feindbild „Faschisten“ übertrug er auf die Ukraine, ebenso wie das Feindbild „Amerika“ beziehungsweise „NATO“ aus der Zeit des Kalten Krieges. Nur von Amerika, vom Westen angestachelt und verführt, kann er sich vorstellen, dass die Menschen in der Ukraine sich dem Westen zuwenden – dabei wollen sie schlicht und einfach selbstbestimmt, frei und in einem demokratischen Gemeinwesen leben und sehen dafür in der Zuwendung zur EU größere Chancen.

Für Putin jedoch bedeutet solcher Wille in der Nachbarschaft eine Gefährdung seiner Macht – denn dieser Freiheitswille könnte ja auch auf die russische Gesellschaft übergreifen. Putin, der als KGB-Offizier fünf Jahre in Dresden verbracht hat, hat dort die Friedliche Revolution 1989 erlebt. In ihrem Gefolge verließen er und die ganze Dienststelle im Januar 1990 fluchtartig die Stadt. Vorher hat man noch alle geheimen Unterlagen vernichtet. Ich bin überzeugt, für Putin bedeutete diese Revolution und diese Flucht ein Trauma, das bis heute nachwirkt. Hier schließt sich der Kreis für das Verständnis seiner Politik – innenpolitisch der Aufbau von autoritären und letztlich wieder diktatorischen Strukturen und nach außen die Hoffnung auf alte imperiale Machträume. Leider hat die deutsche Politik solche Zusammenhänge allzu lange nicht gesehen oder nicht sehen wollen.

  1. Das Gewicht der Außen- und Sicherheitspolitik stärken

1990 sagte mir Hans-Dietrich Genscher in den Verhandlungen zur deutschen Einheit, mit einem vereinten Deutschland brauche es kein zusätzliches Personal im Auswärtigen Amt – es sei alles da, was zur Vertretung Deutschlands in der Welt nötig sei. Das erwies sich als großer Irrtum. Nicht nur mit dem Zerfall Jugoslawiens und der Sowjetunion wuchs der Bedarf – auch schon mit der zunehmend wachsenden Bedeutung Deutschlands in Europa.

Trotzdem wurde in den folgenden Jahren nicht nur die Bundeswehr, sondern auch das Auswärtige Amt finanziell zunehmend gestutzt. Zwar habe ich hier die aktuellen Zahlen nicht überprüft, aber ich gehe fest davon aus, dass auch heute noch das Auswärtige Amt allein von der personellen Ausstattung der Außenministerien in Frankreich oder Großbritannien nur träumen kann.

Hier nicht nur beim Verteidigungsetat, sondern auch bei der Ausstattung des Auswärtigen Amtes eine Trendwende herbeizuführen, erscheint mir von hoher Bedeutung. Außen- und Sicherheitspolitik sind nun einmal nicht nur militärische Hardware! Als wäre alles gut, wenn wir demnächst das Zwei-Prozent-Ziel der NATO erfüllen. Wir sind aber in diesen Feldern auch konzeptionell und verwaltungsmäßig schlecht aufgestellt! Von der letzten Reform des Auswärtigen Dienstes berichtete mir 1990 noch Horst Ehmke mit leuchtenden Augen.

Die Ampelkoalition arbeitet heute unter Führung des Auswärtigen Amtes an einer Nationalen Sicherheitsstrategie. Dies hat sie sich schon vor dem Krieg vorgenommen, mit diesem Krieg und seinen Folgen wird es noch dringlicher. Wie ich höre, soll es hier darum gehen, „integrierte Sicherheit“, die also nicht nur die militärische Seite in den Blick nimmt, nicht nur als Theorie, sondern in ihren notwendigen Strukturen vorzubereiten. Darüber bin ich hoch erfreut! Wir reden seit vielen Jahren vom „comprehensive approach“, von einem vernetzten Ansatz der Sicherheit, in dem zivile und militärische Dimensionen der Sicherheit zusammengeführt werden, dazu kommt heute die Cybersicherheit.  Doch sind wir nach wie vor weit entfernt von Strukturen, die diesen Ansatz kohärent macht und auch nur für die eigene Entscheidungsfindung und ihre Vorarbeit gewährleistet. (Beispiel: Bundesinnenminister in Auswärtigen Ausschuss wegen Polizeiverantwortung in Afghanistan). Dazu kommt die Notwendigkeit einer kohärenten Kommunikation mit EU und NATO.

Ich war tief zufrieden, als Lars Klingbeil kürzlich von der Bereitschaft sprach, dass Deutschland bereit sein müsse, außenpolitisch eine Führungsrolle zu übernehmen, wie sie übrigens schon der polnische Außenminister Radosław Sikorski vor 15 Jahren von uns eingefordert hat. Nur sehe ich dafür bisher nicht die Fähigkeit. Aber es ist gut, dass es nun die Bereitschaft gibt, sich dieser Herausforderung zu stellen. Führung aber darf man nicht allein proklamieren, sondern muss es ausfüllen – durch kluges und integrierendes Moderieren, mit eigenen Ideen und ausreichenden Ressourcen.

In den letzten Jahrzehnten hat die politische Klasse in Deutschland die Bevölkerung im Glauben gelassen, dass Sicherheitsfragen für sie keine große Bedeutung mehr haben würden – oder, nicht besser, dass andere dafür aufkommen würden. Verschiedene Weckrufe, wie auf der Sicherheitskonferenz 2017, blieben letztlich ungehört. Eine Regierung, die sich – wie die jetzige nach der schockierenden Erfahrung dieses Krieges – diesen Themen zuwenden will und muss, braucht jedoch Rückhalt in der Bevölkerung. Hier sind wir alle gefordert, nicht zuletzt auch die Kirchen und ihre Akademien. Denn bis heute weht jedem in Deutschland, der sich den Herausforderungen der Sicherheit stellt, bei der Diskussion zu diesen Themen der Wind heftig ins Gesicht.

Hier stehen wir noch ganz am Anfang.

  1. Geschlossenheit des Westens – Neukonstituierung des Westens

Es war wohl nach dem 24. Februar 2022 nicht nur für Putin, sondern auch für viele von uns überraschend, wie schnell und klar der Westen auf diesen Überfall auf die Ukraine reagiert hat. Die vorher so zerstrittene EU war in einer für sie ungewöhnlichen Schnelligkeit zu gemeinsamem Handeln fähig – und das auch noch gut abgestimmt mit den USA, Kanada und den Briten.

Das war ein Hoffnungszeichen, auch wenn sich inzwischen wieder Risse zeigen, wenn ich nur an die Sonderrolle von Ungarn denke. Sorgen macht auch die offensichtlich nicht ausreichende Abstimmung zwischen Deutschland und Frankreich, doch das scheint mir erkannt.

Die Herausforderungen, die auf uns, nicht nur in Deutschland und Europa, zukommen, sind immens und wir alle wissen, dass wir sie nicht allein bewältigen können, sondern nur in der Gemeinschaft der EU und der NATO, also des Westens insgesamt.

Viel wird davon abhängen, wie intensiv die Kommunikation zwischen den verschiedenen Akteuren ist – und hier rede ich nicht nur von den großen Staaten. Gerade auch die kleinen müssen ernst genommen werden, wie wir es ja gerade von dem Gewicht der Urteile der baltischen Staaten lernen können. Dazu gehört Transparenz – und das öffentliche Erklären von Politik, auch der schwierigen Fragen und der Dilemmata. Oft habe ich in diesen Monaten insbesondere Robert Habeck bewundert, nicht weil er alles richtig gemacht hätte, sondern weil er teilhaben lässt an den Denkwegen, den Abwägungen, die zu schwierigen Entscheidungen führen. Solches Öffentlich-Machen nimmt Menschen mit und lässt verstehen, solidarisch und loyal sein, selbst wenn man nicht jede Entscheidung richtig findet – aber hier wird deutlich, dass „da oben“, wie die Leute sagen, nicht nur Maschinen Politik machen, oder gekaufte Schurken, wie die Verschwörungstheoretiker glauben, sondern dass da meist Menschen am Werk sind, die es ernst meinen und ihr Bestes geben. Das hat für die Demokratie eine immense Bedeutung.

Für die Geschlossenheit des Westens oder auch eine integrierte Sicherheitspolitik in der NATO ist es wichtig, dass man sich gegenseitig kennt und vertrauen kann. Beides geschieht nicht automatisch und bleibt eine Aufgabe für jeden, der in eine Funktion kommt. Das hat einmal eine schlicht menschliche Dimension – aber auch eine institutionelle. Menschen schauen sich in die Augen, erleben sich – und können miteinander, oder auch nicht. Gerade bei letzterem spielt dann das institutionelle Zusammenspiel eine zentrale Rolle. Und das muss sensibel austariert werden.

Es muss vorher klar sein, wo es in einer akuten Situation eingeübte Mechanismen gibt, auf die man sich verlassen kann, oder ob es offene Fragen gibt, die politisch entschieden werden müssen.

Zwei Beispiele: Kann die NATO z.B. damit rechnen, dass aus einem integrierten Waffensystem (wie bei AWACS) die deutschen Teilnehmer in jedem Fall dabei sind – oder schafft der deutsche Parlamentsvorbehalt Unsicherheit?

Im Falle einer europäischen Armee hat jedes Land nicht mehr alle Fähigkeiten. Hier stellt sich für jedes Land sofort die Frage: Können wir uns auf die anderen verlassen? Werden sie im Falle einer Gefährdung ihre Ressourcen auch wirklich einbringen. Nur dann, wenn das Vertrauen da ist, wird es gelingen!

  1. Die NATO stellt sich neu auf

Als Putin 2007 bei der Sicherheitskonferenz in München seine berühmte Rede hielt, in welcher er dem Wesen vorwarf, alle Zusagen gebrochen zu haben, hatte ich als erster deutscher Politiker die Chance, kurz auf ihn zu reagieren. Ich hielt ihm entgegen, dass die Osterweiterung der NATO nicht ein aggressives Projekt der Amerikaner oder des Westens gewesen sei (diese hätten es gar nicht im Sinn gehabt), sondern der Wunsch der neuen Demokratien wie Polen und Tschechien – der Präsidenten Vaclav Havel und Lech Wałęsa, die sich vom Westen alleingelassen fühlten. Ich hielt ihm entgegen, dass Russland sich absolut sicher fühlen könne, wenn alle seine westlichen Nachbarn der NATO angehörten. Sein Problem liege anderswo.

Erst ab 1993, nachdem Madeleine Albright durch die Länder Mitteleuropas gereist war und insbesondere von diesen beiden Präsidenten überzeugt wurde, begann die NATO sich auf die Erweiterung einzustellen. Noch 1997, mit der Schaffung des NATO-Russland-Rates, hat Russland die Erweiterung der NATO um diese neuen Demokratien akzeptiert und nach neuen Strukturen der Sicherheitskooperation gesucht. Das war dann mit Putin zu Ende.

Russland unter Putin jedenfalls suchte seine Sicherheit nicht in der Kooperation und in verlässlichen gemeinsamen Strukturen, sondern wie in Zeiten des 19. Jahrhundert in Pufferzonen, in Einflussbereichen des „nahen Auslands“, wie sie in der russischen Sicherheitsstrategie seit langem genannt werden, wobei den Nachbarländern damit eben die Souveränität verweigert wird, die ihnen nach internationalem Recht (und sogar schon nach den KSZE-Prinzipien) zusteht. Das aber bedeutete und bedeutet, dass Putin Sicherheit nach imperialen Maßstäben misst, nach dem Prinzip des Rechts des Stärkeren.

Das Problem der letzten zwei Jahrzehnte ist, dass ihm das von den in Deutschland Verantwortlichen letztlich zugestanden wurde. Von Gerhard Schröder sowieso, aber auch von den Nachfolgeregierungen. Als dann nach der Annexion der Krim und während des verdeckten Krieges Russlands gegen die Ukraine in ihrem Osten die Sorge bei den östlichen NATO-Mitgliedern groß wurde und die NATO wenigstens mit symbolischen Stationierungen im Osten begann, wurde das in Deutschland noch „Säbelrasseln“ genannt. Obwohl die deutsche Politik heute eine andere ist – das ist bei unseren östlichen Nachbarn nicht vergessen. Hier kann jetzt aber nicht die ganze Geschichte erzählt werden.

Wichtig ist: Mit diesem Krieg musste Putin erkennen, dass er sich verrechnet hatte. Alle Versuche, den Westen zu spalten und zu schwächen haben letztlich nicht gefruchtet. Die NATO stellt sich neu auf als Sicherheitsanker des Westens. Ja, Länder, die sich bisher als neutral definierten, suchen diese gemeinsame Sicherheit im Bündnis. Finnland und Schweden werden Teil der NATO. Das ist ein wichtiges Signal! Beide Länder werden auch wichtig sein, wenn es darum geht, dass künftig die europäischen Länder innerhalb der NATO ein deutlich größeres Gewicht haben werden – und auch mehr Ressourcen werden aufbringen müssen. Ob das mit zwei Prozent des BSP getan ist, wird sich zeigen. Europa wird in sehr viel höherem Maße für seine Sicherheit selbst verantwortlich sein müssen. Die USA werden ihren Schwerpunkt mehr auf den asiatischen Raum verlagern – aber, wenn sie einer rationalen Politik folgen, weiter der zentrale Sicherheitspartner in der NATO bleiben. Aber wer weiß, was nach den nächsten Wahlen in den USA geschieht. Schon der Gedanke daran muss uns dankbar dafür machen, dass es uns geschenkt war, dass mit Joe Biden jetzt in dieser Krise, während dieses Krieges ein erfahrener Außenpolitiker und ein verlässlicher und starker Partner im Weißen Haus sitzt! Gleichzeitig muss es uns doch bedenklich erscheinen, dass unsere Sicherheit in so hohem Maße von unsicheren Wahlergebnissen in den USA abhängt!

Die Ukraine hat kürzlich einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft gestellt. Hier teile ich die Haltung der meisten NATO-Länder, dass es heute vor allem darauf ankommt, dass wir der Ukraine alle nur erdenkliche Hilfe und militärische Unterstützung zuteilwerden lassen, um sich zu verteidigen, aber eben nicht selbst Kriegsteilnehmer werden.

Gleichzeitig aber gilt es, Russland in Bezug auf andere Länder der Region eine klare rote Linie aufzuzeigen.

Ich denke hier vor allem an Moldau. Wir sollten meiner Meinung nach Moldau nicht nur in Bezug auf seine Hilfe im Einsatz für die vielen ukrainischen Flüchtlinge Unterstützung geben, was erfreulicherweise schon geschieht, sondern auch bereit sein, Sicherheitsgarantien für Moldau abzugeben. Wie das konkret auszugestalten wäre, wäre mit Moldau zu klären, das sich in seiner Verfassung als neutral erklärt.

Nach diesem Krieg wird dann auch über weitere Mitgliedschaften der NATO im Rahmen einer neuen Sicherheitsstrategie nachzudenken sein. Auch das Verhältnis von EU und NATO muss strukturell vertieft werden. Lange hat die Türkei das verhindert, doch diese Blockade muss überwunden werden.

Für die absehbare Zeit wird Sicherheit in Europa als Sicherheit vor Russland konzipiert werden müssen.  Mit welchem Russland wir es in der Zukunft zu tun haben werden, bleibt heute offen. Dabei bleibt es zu hoffen, dass es doch einmal ein Staat wird, der ein verlässliches Glied der internationalen

Staatengemeinschaft ist – und damit dann auch wieder Partner in Sicherheitsfragen werden kann.

  1. Die Europäische Union nimmt endlich die Herausforderung an

Es ist in der deutschen Öffentlichkeit nach meinem Eindruck nicht ausreichend wahrgenommen worden, welch grundlegenden Politikwechsel die EU mit dem russischen Eroberungskrieg in der Ukraine vollzogen hat. Die Bereitschaft, der Ukraine und Moldau (und Georgien, sobald es sich dafür reif erweist), einen Kandidatenstatus zu geben, ist wirklich ein von vielen lang ersehnter Durchbruch und Politikwechsel, der vorher fast undenkbar schien. Hier kann die deutsche Bundesregierung nicht genug gelobt werden, die das mit bewerkstelligt hat und sich jetzt auch eindringlich für die Integration der westlichen Balkanländer einsetzt. Hoffentlich gewinnt diese Politik nun endlich an Fahrt!

Natürlich kann es keinen Schnell-Beitritt zur EU geben, denn sie ist eine Rechtsgemeinschaft – und dieses Recht mit seinen Institutionen muss erst auf den Weg gebracht werden. Das bedeutet dann auch ein Ende der Oligarchenherrschaft – und das ist nicht zuletzt für die Ukraine eine große Herausforderung! Einen Strukturvorschlag auf dem Weg in die Mitgliedschaft möchte ich aber doch machen. Ich habe ihn in den 1990er Jahren schon gemacht, da hatte er keine Chance – aber ich halte ihn nach wie vor für sinnvoll und hilfreich: ich meine einen Beobachterstatus im Europäischen Parlament für die Länder, die im Beitrittsprozess zur EU stehen. Solche Beobachter – die dann ja den Parteien in der Regierung wie der Opposition angehören – würden die politische Kultur im EP kennenlernen und die Diskurse in ihre Heimat tragen. Ich bin überzeugt, das hätte einen riesigen Effekt und würde zu mehr Realismus und Differenzierung beitragen. Ein Kenntnistransfer in beide Richtungen! Diesen Kenntniszuwachs, wie er in diesen Kriegsmonaten begonnen hat, brauchen wir und wir müssen ihn institutionell auf Dauer stellen.

Diese Beobachter sollten in den Ländern auch gewählt werden – und damit gäbe es einen Europawahlkampf in diesen Staaten. Man stelle sich das politische Signal vor: ein Europawahlkampf in der Ukraine!

Vielleicht haben wir es in diesen Monaten gelernt: Der europäische Osten ist für uns eine Schicksalsfrage!  Wir müssen ihn – weit mehr als bisher – besser kennenlernen in seiner differenzierten Geschichte – und ernst nehmen. Dafür werden noch viele Anstrengungen nötig sein.

Ganz akut besteht die riesige Herausforderung der Wiederaufbauhilfe für die Ukraine. Hier ist eine gemeinsame große Anstrengung nötig, die aber nicht heißen kann: zurück in den status quo ante!

Wiederaufbau wird mit Modernisierung zu verbinden sein, etwa mit der Klimafrage, erneuerbarer Energieversorgung, moderner Verkehrsinfrastruktur, aber auch für die Administration. Hier ist ein Feld, bei dem zum Beispiel deutsche und polnische Akteure hervorragend zusammenarbeiten sollten.

Abschließend:

  1. Außenpolitik und Zivilgesellschaft

Ich gehöre zu denen, die die Ost- und Entspannungspolitik Willy Brandts und Egon Bahrs für segensreich hielten für uns im Osten Deutschlands. Sie hat, davon bin ich überzeugt, einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass schließlich der Kalte Krieg überwunden werden konnte. Eine Fehleinschätzung jedoch muss für die Protagonisten dieser Politik festgehalten werden: Sie rechneten nicht damit, dass im Ostblock, in diesen Diktaturen, aus der Gesellschaft heraus ein politisches Subjekt erwachsen würde, das Wirkmächtigkeit gewinnt. Als die Solidarność dann 1980 entstand (und später ebenso die Gruppierungen von Opposition in anderen Ländern), wurde sie in ihrer Bedeutung völlig verkannt und eher für eine problematische Entwicklung und Gefährdung der Ostpolitik angesehen. So wurde auch die Gründung der Sozialdemokratischen Partei in der DDR von Egon Bahr als Gefährdung seiner Politik angesehen. Bahrs Priorisierung der Stabilität hat Willy Brandt – wie mir Gerd Weisskirchen erzählte – in einem Gespräch in kleinem Kreis einmal mit der Bemerkung „mein kleiner Metternich“ kommentiert, und traf damit den Punkt. Willy Brandt selbst hat diese Akzentuierung auf die Stabilität und die Verkennung der Bedeutung der gesellschaftlichen Forderungen nach Menschenrechten Bronisław Geremek gegenüber bei einer Tagung in Paris kurz vor seinem Tode sehr klar als Fehleinschätzung bekannt.

Diese Fehleinschätzung blieb in der Außenpolitik der SPD über lange Zeit noch wirksam. Gerade Egon Bahr hielt lebenslang an dieser Linie fest – und sein Einfluss auf die SPD-Außenpolitik war groß. So erklärte er noch 2013 in einer Heidelberger Schule: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie und Menschenrechte. Es geht um Interessen und Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erklärt.“ (Quelle: Der Spiegel, 11. Juni 2022)

Demgegenüber muss in meinen Augen, gewissermaßen als Lehre des Jahres 1989, festgehalten werden, dass Demokratie zwar nicht exportiert werden kann (das war ein anderes Fehlurteil früherer Jahre), aber dass es eine zentrale Herausforderung ist, mit den kleineren und größeren Pflänzchen demokratischer Zivilgesellschaft in autoritären und diktatorischen Ländern solidarisch zu sein und sie zu unterstützen. Die Demokraten dieser Länder brauchen internationale Solidarität und Unterstützung zur Ermöglichung ihrer jeweils sehr konkreten Aktivitäten, zugleich trägt internationale Öffentlichkeit wenigstens ein wenig zu ihrem Schutz bei.

Es fällt auf, dass gerade Länder mit einer kommunistischen Vergangenheit diese Lektion gelernt haben und in der EU genau dafür eintreten. Doch ist Deutschland, sind wir als EU in diesem Feld noch recht schwach und unterentwickelt. Hier können wir wahrhaftig von den USA lernen, und sollten es.

Vor zehn Jahren wurde als Instrument für dieses Ziel in der polnischen EU-Präsidentschaft der „European Endowment for Democracy“ geschaffen, um dem Charakter von Zivilgesellschaft entsprechend mit kleinen Summen flexibel und schnell Unterstützung zu leisten. Diese europäische Stiftung leistet eine beachtliche Arbeit. Leider werden dieser Aufgabe und auch dieser Institution weder in der EU selbst noch bei den Mitgliedsstaaten genug Anerkennung und Finanzierung zuteil, um dieser immensen Aufgabe, die in vielen Ländern auf der Hand liegt, gerecht zu werden. Hier sollte dringend mehr geschehen, wir sollten die Instrumente nutzen, die wir haben!

Ganz aktuell gilt dies für die Zivilgesellschaft in Russland und in Belarus. Inzwischen ist in beiden Ländern im Lande selbst nur noch wenig möglich (und passiert doch mehr, als wir wahrnehmen!). Doch gilt es, eben gerade auch das demokratische Exil zu unterstützen. Es wäre eine große Aufgabe, Deutschland zu einem Land des demokratischen Exils zu machen. Für Belarus sind das heute Polen und Litauen. In Korrespondenz dazu könnte Deutschland dies für das russische Exil werden. Dazu gehörte eine schnelle und flexible Visavergabe, die institutionelle und finanzielle Förderung durch eine Infrastruktur, die diesen Menschen erlaubt, auch von Deutschland aus international aktiv zu sein für das, wofür sie sich schon in Russland selbst eingesetzt haben – ein demokratisches Russland.

Markus Meckel, Berlin

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im Dezember 2022)