Ausregiert?

Demokratie-Debatten in der Pandemie

„Wenn Dauerkrisen aus dieser Komplexität demokratischen Entscheidens eine kurzfristige binäre Logik von ‚Falsch oder Richtig‘ machen, schadet das langfristig demokratischer Resilienz.“ (Martin Florack, Die Krise als Normalzustand des Regierens, in: Martin Florack, Karl-Rudolf Korte, Julia Schwanholz, Hg., Coronakratie – Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Frankfurt / New York, Campus Verlag, 2021)

Jeder Text zur Pandemie leidet unter der Vermutung, er habe nur eine kurze Halbwertzeit. Nachdem ich im Juli 2021 hoffte, zum letzten Mal etwas ausführlicher über die Pandemie schreiben zu müssen, muss ich etwa ein halbes Jahr später – Anfang Januar 2022 – feststellen, dass fast alles, was ich damals schrieb, fast unverändert gilt. Meinem Dezemberblues 2020 folgt jedoch kein Dezemberblues 2021, denn der Ton, in dem über die Pandemie gestritten wird, ist rechthaberisch und aggressiv geworden. Gewalt prägt sogenannte „Spaziergänge“ von mehr oder weniger organisierten Gegner*innen der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie, Polizei wirkt überfordert, mehr oder weniger verantwortungsbewusste Politiker*innen versuchen zu beschwichtigen oder sich gegenseitig in der Ablehnung der Gewalt zu bestätigen. In der Bevölkerung verbreiten sich Frust und Unsicherheit. Andererseits ist dies alles vielleicht nur eine Folge eines unpolitischen, wenn nicht sogar bewusst entpolitisierenden Regierungshandelns. Allein die Tatsache, dass nicht die Parlamente, sondern die 17 Regierungen und in der Regel nur deren Spitzen entschieden, was zu welchem Zeitpunkt geschehen sollte, ließ politischen Streit unerwünscht erscheinen.

Krise der Demokratie?

Die Lage – meine Leser*innen mögen den militärisch anmutenden Begriff verzeihen – im Januar 2022 hat vielleicht etwas mit der enttäuschten Hoffnung zu tun, dass die bloße Existenz eines Impfstoffes schon zum Ende der Pandemie führe. Aber lag in der Hoffnung auf die durchschlagende Wirkung eines Impfstoffs nicht auch ein Hauch von Magie, eine Art moderner Schamanismus? Wenn Dinge unklar sind, neigen viele Menschen zu Vereinfachung. So entstehen binäre Debatten. Entweder gilt das eine oder das andere. Und vielleicht ist die Frage, wie eine liberale Demokratie sich durch binär zugespitzte Debatten selbst zu schaden vermag, von Bedeutung für ihre Zukunftsfähigkeit.

Adam Tooze hat in seinem Buch „Welt im Lockdown – Die globale Krise und ihre Folgen“ (deutsche Ausgabe 2021 bei C.H. Beck erschienen, die englischsprachige Ausgabe erschien ebenfalls 2021 mit dem Titel „Shutdown: How Covid Shook the World’s Economy“) eine Chronik des Jahres 2020 vorgelegt, die sehr genau zeigt, was Regierungen taten und was sie nicht taten. Die Präsidentschaftswahlen in den USA bestätigten eine Entwicklung, die sich schon lange Zeit abzeichnete, schon seit der Amtszeit Ronald Reagens, der Entstehung der sogenannten „Tea Party“. Corona war nicht mehr und nicht weniger als Katalysator dieser Entwicklung: „Wenn ein politischer Flügel in einer umstrittenen Demokratie radikal von den konventionellen Wahrheitsstandards abwich, wenn man sich nicht einmal auf die Realität einer Pandemie einigen konnte, gab es keinen Grund zu der Annahme, dass ein Wahlgang – ein Akt des kollektiven Zählens – ausreichen würde, um die Frage zu klären, wer regierte.“

Das war auch im Jahr 2016, dem Jahr, in dem eine Mehrheit der Brit*innen für den Brexit und eine Mehrheit der US-Amerikaner*innen für Donald J. Trump stimmten, schon so, als es noch keine Pandemie gab, die auch die sogenannten „westlichen“ Staaten erreicht hätte, sodass die Frage berechtigt wäre, ob es bei allen Debatten und Auseinandersetzungen rund um die Pandemie nicht um etwas anderes geht. Vielleicht ist der Streit um Impf- und Maskenpflicht, Quarantäne und 2- oder 3-G-Regeln nur der jeweilige aktuelle Anlass für eine grundlegende Krise der Demokratie, immerhin ein Anlass, der eine Eskalation herbeiführte, die in dieser Form in den europäischen Demokratien in diesem Ausmaß kaum jemand vermutet hätte, zumindest nicht in Deutschland.

Albrecht von Lucke zieht in seinem Essay „Demokratie am Kipppunkt – Die Ampel im Krisenjahrzehnt“ (in: Blätter für deutsche und internationale Politik Januar 2022) folgenden Schluss: „Während ironischerweise gerade die neuesten Staatsfeinde, nämlich Corona-Leugner, Reichsbürger und Verschwörungstheoretiker, die Allmacht des Staates behauten – ‚hinter Corona steckt eine Macht, die alles steuert‘ –, ist der Staat in der Coronakrise von echtem Durchregieren maximal entfernt. Faktisch haben sich die Machtverhältnisse also radikal verkehrt.“ Die Demonstrationen gegen die Maßnahmen der 17 Regierungen in Deutschland gegen eine weitere Ausbreitung der Pandemie haben zivilgesellschaftliche Methoden und Formen okkupiert, der Staat schwankt zwischen Verständnis und Härte. „Nachdem die Politik also mit dem harmlosen Zuckerbrot des bloßen Impfangebots radikal versagt hat – und dieses dann noch viel zu sehr abbaute –, versucht sie es nun mit der Peitsche.“

In der zweiten Januarwoche relativierte der Bundeskanzler die Impfpflicht, der Gesundheitsminister bestätigte sie einen Tag später, einen weiteren Tag später sprachen Politiker*innen der Regierungsfraktionen SPD und Grüne von einer Impfpflicht als Vorsorge für Herbst und Winter 2022. Und eine maßgebliche Gruppe aus der FDP, der dritten Regierungsfraktion, lehnt eine Impfpflicht grundsätzlich ab. Gleichviel wie jemand zu einer Impfpflicht stehen mag, konkrete Vorstellungen zu Umsetzbarkeit und Umsetzung wurden bisher nicht formuliert. Wäre eine Impfpflicht bereits im März 2020 als Option benannt und diskutiert worden, hätte die Radikalisierung der Anti-Impf-Bewegung vielleicht schon früher stattgefunden, wäre aber möglicherweise leichter zu bändigen gewesen, vor allem hätten ernst zu nehmende Vorbehalte und extremistische Instrumentalisierung voneinander getrennt werden können. Ebenso hätten Maskenpflicht und Abstandsgebote diskutiert werden können, nicht im Sinne einer endlosen Debatte, wohl aber im Sinne von mehr Transparenz der Gründe für die getroffenen Entscheidungen. Aber offenbar glaubten viele Politiker*innen, mit dem Versprechen, eine Impfpflicht stehe nicht zur Debatte, deren Gegner*innen befrieden zu können. Sie verkannten, dass es nur einem Teil der Gegner*innen um die Impfpflicht ging. Je weiter sie den Termin zur Einführung einer Impfpflicht jedoch verschieben, umso mehr werden sich die Gegner*innen bestätigt fühlen und jede Verschiebung als ihren Erfolg verbuchen. Wer zögert, verliert. Das heißt jedoch nicht, dass keine öffentliche Debatte erforderlich wäre. Aber das kann nicht bedeuten, dass alle warten, bis alle einverstanden sind. Debatte heißt nicht Konsens um jeden Preis.

Ähnlich unklar erscheinen die Ziele der Pandemiebekämpfung. War es lange Zeit der Versuch, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, der auch weitestgehend gelang, ist es im Januar 2022 das Ziel, den Zusammenbruch grundlegender Teile der Infrastruktur, von den Krankenhäusern über den örtlichen Nahverkehr bis zu Polizei und Feuerwehr, zu verhindern. Enttäuscht sind letztlich fast alle. Albrecht von Lucke spricht von einer „Politik, die sich ihrer eigenen Machtmöglichkeiten entledigt hat und auch deshalb heute fast nackt dasteht.“ Frustriert sind gleichermaßen die Ungeimpften, die „der Politik den Bruch ihres voreiligen Versprechens vorwerfen, wonach es definitiv keine allgemeine Impfpflicht geben werde“ sowie die „Geimpften, die darauf gehofft haben, dass sie, weil sie geimpft sind, jetzt wieder ihre Freiheiten zurückerhalten würden“.

Man mag die Analyse in Albrecht von Luckes Essay für übertrieben, zumindest für zugespitzt halten, doch liegt die Frage auf der Hand, ob nicht letztlich doch autoritäre Lösungen erfolgversprechender wären, vor allem, wenn wir das politische Management der Pandemie auf die Klimakrise oder auch auf andere gegenwärtige und zukünftige Krisen beziehen: „Denken wir etwa an die chinesische Herausforderung, dann verbirgt sich dahinter auch die Frage, ob Demokratien überhaupt in der Lage sind auf rechtsstaatlichem Wege und in hinreichend schneller Zeit die auch von der Ampel angestrebte ‚Transformation‘ zu einer klimaneutralen Gesellschaft zu leisten – oder ob die Welt sich auch hier in Richtung autoritärer Lösungen bewegt.“

Magische Worte

Seit Dezember 2021 haben wir einen neuen Gesundheitsminister in Deutschland, den manche angesichts seiner TV-Präsenz und wissenschaftlichen Expertise für eine Art Magier oder Schamanen halten möchten, es gibt mehrere neu eingerichtete Expert*innenräte, es gibt einen für die Leitung des Krisenstabs zuständigen ehemaligen General der Bundeswehr und es gibt eine weitere Variante des Virus, die mit dem elften Buchstaben des griechischen Alphabets bezeichnet wird. Die Zahl „11“ mag beruhigen, da wir offenbar neben Alpha und Delta immerhin auf acht Varianten zurückblicken können, die kaum bis gar keine Probleme verursacht haben. Das Zauberwort lautet inzwischen, dass die Pandemie „endemisch“ werden müsse.

Die aktuellen Reaktionen der verantwortlichen Politiker*innen auf die im Spätherbst steigenden Infektionszahlen unterscheiden sich von ihren Reaktionen zu Beginn der Pandemie: zentral ist der Appell, sich doch bitte impfen zu lassen, und dieser Appell wird eindringlich vorgetragen, als wäre dies die einzige Lösung, die Pandemie zu beenden. Ebenso eindringlich, um nicht zu sagen penetrant, sind die Proteste gegen die Impfpflicht, die diejenigen, die sie jetzt ankündigen, bis zum Sommer 2021 noch kategorisch ausgeschlossen haben. Eine Debatte, die in ihren vielen Facetten und Nuancen differenziert hätte ausgetragen werden können, wurde zu einer binär konfigurierten Debatte.

Susan Sontag hat die Art und Weise, wie öffentlich über Krankheiten gesprochen hat, beschrieben. Die heutige Sprache der diversen Regierungen über die Pandemie verrät bei allem Zweckoptimismus viel Hilf- und Orientierungslosigkeit. Dies ist der aktuelle Subtext, gleichzeitig aber auch eine Folge der unverbindlichen Appelle der Vergangenheit. Albrecht von Lucke zitiert Angela Merkels Ankündigung vom Februar 2021, allen Bürger*innen bis zur Bundestagswahl ein Impfangebot zu machen. „Mit diesem Satz aber setzte sie den völlig falschen Ton. Stets war nur von Angeboten und nicht von irgendwie gearteten verstärkten Anstrengungen die Rede, geschweige denn von Druck auf die Corona-Leugner. Im Gegenteil: Die Politik duckte sich unter dem permanenten Protest der Maßnahmengegner wie ihrer medialen Verstärker, insbesondere der ‚Bild‘-Zeitung.“ Die Ankündigung oder Androhung einer Impfpflicht ist dann in der Tat die „Peitsche“, nachdem das „Zuckerbrot des bloßen Impfangebots“ verschmäht worden war.

Immer wieder bestimmen Kriegs- und Sorgemetaphern politische Reden zur Pandemie. Das war auch – wie Susan Sontag beschreibt – bei vergangenen Pandemien und Epidemien der Fall. Kriegsmetaphern haben eine durchaus magische Funktion, denn mit der Beschwörung eines Krieges wird an ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen appelliert, an eine Zeit, in der es – wir erinnern uns – keine Parteien mehr gäbe. Es wird an eine Art „volonté générale“ appelliert, obwohl eine solche in einer liberalen Demokratie geradezu obsolet erscheinen sollte, es sei denn, die Demokratie müsse durch den Ausruf eines „Ausnahmezustands“ zumindest temporär eingeschränkt werden. Die ständigen Appelle an die Sorge füreinander wirken nach demselben Muster. Wird jemand krank, waren die Kranken oder ihre Freund*innen und Verwandten schuld, denn sie haben offensichtlich nicht ausreichend für einander gesorgt. Auch die Metapher des verschmähten Angebots wirkt in diesem Kontext.

Und wer – wie der Bundeskanzler in seiner Neujahrsbotschaft 2022 – allzu oft von „Gemeinsamkeit“ spricht und eine „Spaltung“ der Gesellschaft negiert, bestätigt letztlich, dass genau das, was es nicht geben sollte, besteht: eine „Spaltung“ oder anders gesagt: Exklusion derjenigen, die sich dem Appell zur gemeinsamen Sorge für ein gemeinsames Wohl nicht anschließen wollen. Letztlich gießt dies Öl ins Feuer. Das tat schon Angela Merkel in ihrer Fernseh-Rede vom 18. März 2020. Jörg Häntzschel schrieb am 17. November 2021 in der Süddeutschen Zeitung: „In einer Krise, die Angela Merkel schon im März 2020 mit dem Zweiten Weltkrieg verglich, die aber 20 Prozent der Bevölkerung noch immer nicht ernst nehmen, klärt die Politik nicht auf, sondern sie beschwichtigt, beschönigt und stiehlt sich aus der Zuständigkeit.“ Wenn es sich denn nun wirklich um einen „Krieg“ handelt, ist ein „Angebot“ wenig hilfreich.

Gefährlich ist schließlich der Vergleich des Infektionsschutzgesetzes mit den Notstandsgesetzen, die einer der Auslöser der 1968er-Rebellionen waren, auf die sich sogar einige der Anti-Corona-Demonstrant*innen berufen. Das ist nichts Neues, denn die neue Rechte hat immer schon gerne linke Protestformen assimiliert. In der Tat können manche Debatten um Novellen des Infektionsschutzgesetzes als Déjà-Vu dieser Debatte um die Notstandsgesetze gelesen werden, es ließen sich auch Parallelen zur Impfgegnerbewegung im Kaiserreich und in der Weimarer Republik finden, wie sie Michaela Schwann in der Süddeutschen Zeitung am 8. Januar 2022 vorstellte. Antisemitismus gehörte immer zur Grundausstattung von Impfgegner*innen, ein deutliches Zeichen, dass es ihnen bei Weitem nicht nur um die Frage ging, ob der Staat eine Impfpflicht einführen solle oder nicht.

Es ist einfach so komplex

Aber darf ich Politiker*innen überhaupt einen Vorwurf machen? Andreas Busch schreibt in dem zu Beginn dieses Essays zitierten Sammelband „Coronakratie“ über die Dilemmata der Politikberatung: „Denn den Politikerinnen selbst fehlt die nötige Expertise, um in der Pandemie gute Politikergebnisse zu erzielen. Dabei speist sich die Resilienz von Demokratien aus einer Kombination von politischen input– und output-Faktoren. Die Nutzung von politikberatendem Wissen zur Bewältigung der Pandemie (…) vereinigt beide Aspekte in sich.“ (Anmerkung: In „Coronakratie“ wird grundsätzlich die weibliche Form genutzt, ich habe das in den von mir zitierten Passagen so belassen.)

Aber wer hat diese Expertise denn nun wirklich? Und welche Expertise wird gebraucht? Lassen sich Politiker*innen tatsächlich von einem Virus so beherrschen, dass sie bereit zu sein scheinen, viele Freiheitsrechte zumindest temporär außer Kraft zu setzen? Und wurden überhaupt Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt oder handelt es sich nur um eine pessimistische Imagination, eine Mythenbildung derjenigen, die die regierenden Politiker*innen ohnehin schon immer für Feind*innen ihrer persönlichen Freiheit halten?

Angesichts der Vielfalt und Widersprüchlichkeiten der Entwicklungen müsste es sich eigentlich verbieten, einem Buch den suggestiven Titel „Coronakratie“ zu geben. Der Titel klingt wie ein Zitat aus „Querdenker“-Demonstrationen. Zur Ehrenrettung der Herausgeber*innen, der Autor*innen und des Verlags: der Inhalt des Buches differenziert viel behutsamer als es der Titel befürchten lässt. 31 Autor*innen aus Wissenschaft, Journalismus und Politikverwaltung mit politikwissenschaftlicher, historischer, kommunikations- und sozialwissenschaftlicher Expertise beleuchten die Auswirkungen der Pandemie auf die Demokratie in 29 Essays. Thema sind Politikmanagement, Orte der Auseinandersetzung, Kommunikation, Macht, Wissensmanagement. Einige Beiträge referieren Studien mit Stichtag Herbst 2020, ein Zeitpunkt, zu dem es noch keine Zulassungen für einen Impfstoff gab. Andere Beiträge kommentieren die Entwicklungen im Modus eines Essays.

Zur Einstimmung empfehle ich den als „Nachwort“ deklarierten Text des Wissenschaftsjournalisten Gert Scobel, der sich auch als Vorwort geeignet hätte, da er alle Fragen anspricht, die angesichts der Komplexität des Themas diskutiert werden und werden müssten: „Erstmals erscheint Komplexität nicht mehr als abstrakter Begriff aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaften, sondern ist greifbare Alltagserfahrung geworden. Komplexität wurde mit der Pandemie zu einer zentralen Erfahrung unserer Zeit. (…) Es wurde häufig bemerkt, dass mit Corona schlagartig die Spaltungen, Abgründe und Schwachstellen deutlicher sichtbar wurden, die unsere Gesellschaft prägen.“

Der Beitrag von Gert Scobel mag auch als Gegenstück zu einem Text gelesen werden, den Armin Nassehi am 15. November 2021 in der ZEIT veröffentlichte. Armin Nassehis Frage lautete: „Haben wir nichts gelernt?“ Seine Antwort: „Der deutsche Corona-Winter wiederholt sich. Die Antworten, wie das hätte verhindert werden können, sind so klar wie die Gründe, warum es wieder nicht geklappt hat.“ Die Redaktion der ZEIT illustriert den Beitrag mit einem Murmeltier. Im weiteren Text thematisiert Armin Nassehi das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Bevölkerung, das in Deutschland leicht in pauschale Elitenkritik umkippe: Und es hat mit jener Form elitenkritischer, naturromantischer und auch trotziger Grundüberzeugung zu tun, sich von Eliten nichts sagen zu lassen. Das alte Vorurteil, wir Deutschen seien obrigkeitshörig, hat sich mangels Obrigkeit eigentlich erledigt. In seiner Abwehr aber lebt es fort, als populistischer Reflex gegen alle Eliten, die auch dadurch sofort zu höchstumstrittenen Teilnehmern werden, wo sie Diskurs und Prozesse mit anderen Handlungsperspektiven und Zeitvorstellungen versorgen könnten. In diesem Klima aber ist ein systemischer Lernprozess fast unmöglich.“

Komplexität führt zum Bedürfnis, Komplexität zu reduzieren. Martin Florack benennt die „Gefahren inflationärer Krisendiagnosen“. So wie die Debatten geführt werden, sind „Abnutzungseffekte“ und die „Banalisierung komplexer gesellschaftlicher und politischer Herausforderungen“ zu befürchten, die letztlich die liberale Demokratie bedrohen. Krisen – so Martin Florack – können „als plötzliche (sic!) auftretendes oder sich graduell verschärfendes Ereignis“ definiert werden. Im Frühjahr 2020 traf die erste Definition zu, im weiteren Verlauf der Pandemie verschob sich die Debatte immer weiter in Richtung der zweiten Definition. Entsprechend stieg die Gewaltbereitschaft der Gegner*innen der Regierungspolitik, entsprechend stieg aber auch die Bereitschaft der 17 deutschen Regierungen, mit Impfpflicht und anderen Verschärfungen der Einschränkungen zu drohen. Einer der häufigsten Sätze lautet, dass man nichts ausschließen wolle. Und je lauter betont wird, Schulen sollten auf jeden Fall geöffnet bleiben, umso mehr entsteht der Eindruck, dass auch diese Option bestehe.

Diese Eskalationsspirale galt und gilt weltweit, unbeschadet der Frage, ob und wie die jeweiligen Regierungen reagierten und regierten. Martin Florack: „Der kurze Verweis auf die Anschauungsbeispiele Japan, Ungarn, Schweden, USA, Brasilien und Deutschland muss als Illustration an dieser Stelle genügen: Japan folgte epidemiologischem Rat. Schweden ebenso, aber die Ratschläge wiesen inhaltlich in die entgegengesetzte Richtung. Deutschland zeigte Glanz und Elend föderaler Politikverflechtung. Ungarn stärkte die Exekutive formell bis an die demokratischen Grenzen. Und die USA und Brasilien zeigten an der Regierungsspitze eine verbissene Abwehrhaltung gegenüber jedwedem wissenschaftlichen Ratschlag.“ Teilweise erlebten wir paradoxe Ergebnisse. Während die Menschen in Brasilien die Verschwörungserzählungen des Staatspräsidenten weitgehend ignorierten und eine international beispielhafte Impfquote erreichten, ist in Deutschland eine Debatte um eine Impfpflicht für alle beziehungsweise für bestimmte Berufsgruppen entstanden, die den Eindruck erweckt, als befinde sich das Land auf dem Weg in eine nicht mehr ganz so liberale Demokratie.

Gert Scobel zeichnet ein Bild all der Widersprüche, in denen Politiker*innen genauso leben wie die Bürger*innen. Für sie alle gilt eigentlich „das Prinzip des rationalen Handelns durch kritische Prüfung“. Wenn die Ergebnisse der Prüfung jedoch nicht eindeutig sind, stellt sich die Frage nach der „Kunst des politischen Entscheidens und Handelns“. Die politischen Entscheidungen lassen sich an niemanden delegieren, auch nicht an Wissenschaftler*innen. Und für alle Entscheidungen müssen Mehrheiten gesucht werden. „Mit der Bewältigung der Pandemie stand und steht demokratische Politik selbst auf dem Prüfstand. Der Widerstreit der Positionen hat zum Teil unkontrollierte, eruptive Ausbrüche von Stimmungen und Gefühlen ausgelöst, stärker vielleicht noch als nach dem ‚Wir schaffen das‘, stärker auch als nach den rechtsextremen Anschlägen und einem immer unverhohleneren, offen zu Tage tretenden Faschismus. Angst und Aggression nehmen zu – auch das erweist sich als Konstante der neuen Politik in Zeiten der Pandemie. All das erschwert nicht nur die Kommunikation, sondern auch die besonnene Urteilsfindung.“ Karl Lauterbach zitierte zu Beginn seiner Amtszeit Angela Merkels berühmten Satz, aus dem sich im Rückblick gleichermaßen magische Stärke und tragisches Scheitern ableiten ließen. Keine der beiden Interpretationen des Satzes traf beziehungsweise trifft die Wirklichkeit.

Adam Tooze bietet im ersten Teil seines Buches eine beeindruckende Chronik der Monate Februar und März 2020: „Überall auf der Welt drückte sich der Widerstand in nationalen Ideolekten aus.“ Es wurde geleugnet, heruntergespielt, all dies jenseits der in Politik gerne zitierten Rechts-Links-Schemata. Der mexikanische Präsident, der eher auf der linken Seite zu finden ist, agierte ähnlich wie der als Rechtsextremist bekannte brasilianische Präsident. Boris Johnson sowie die italienische und französische Linke beriefen sich auf die Freiheitsrechte jedes Menschen und agitierten gegen jede Einschränkung. „Die Schwierigkeit, eine Sprache zu finden, um komplexe gesellschaftliche Zielkonflikte zu erfassen und sie auf vernünftige und annehmbare Weise zu ordnen, führte zu Streitereien, Missverständnissen, unmenschlicher Rhetorik, Vorwürfen und institutionellem Chaos.“ Politische Gegensätze werden diffus.

Inkohärente Performance

Im Frühjahr 2020 waren sich die demokratischen Parteien in Deutschland weitgehend einig, die meisten Bürger*innen waren noch recht geduldig, auch wenn es schon erste Demonstrationen gegen Maskenpflicht und andere Einschränkungen gab. Als Angela Merkel sich am 18. März 2020 an die Bevölkerung wandte, wurde die Wirkung ihrer Rede – so Benjamin Scheller in „Coronakratie“ – durch „seltene Kontextbedingungen begünstigt: eine akute Bedrohung, klare kurzfristige Ziele, einfache Handlungsempfehlungen und das alles gesellschaftlich relativ unumstritten.“ Es gab durchweg große Zustimmungsraten. „Alle Berichte über eine ‚kippende Stimmung‘ waren nie mehr als Medienlegenden, zum Teil Wunschdenken.“

Doch dann räumten einige Politiker*innen mit der einen Hand ab, was sie mit der anderen aufgebaut hatten. Prototyp dieser sich selbst konterkarierenden Nicht-Strategie war – so Timo Grunden in seinem Beitrag zur „Coronokratie“ – Armin Laschet. „Er wurde zu seiner eigenen Kontrollgruppe. Auf dem Höhepunkt seiner Popularität (und am Anfang eines unerklärten Wettbewerbs mit dem bayrischen (sic!) Ministerpräsidenten um die Kanzlerkandidatur der Union), stellte er die bisherige Pandemiepolitik in Frage. (…) Laschet machte aus der Pandemiebekämpfung etwas, was sie für die Bürgerinnen nicht war, ja nicht sein durfte: einen politischen Konflikt.“

Das im März 2020 noch relativ einheitliche Bild der zu verfolgenden Ziele bei der Prävention gegen Infektionen mit einem bisher unbekannten und unerforschten Virus verlor Kohärenz und Stringenz. Simon Hegelich in „Coronakratie“: „Zunächst war die klare Zielvorgabe, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Im Verlauf der Pandemie bekam die Geschichte, dass dies mit Social Distancing und weiteren politischen Maßnahmen erfolgreich gelungen ist, immer mehr ‚Risse‘. Die These des Beitrags ist, dass durch das Festhalten an diesem Narrativ die evidenzbasierte Politik umschlägt, in ihr Gegenteil: Eine reine Glaubensfrage.“ Damit bin ich wieder bei der Frage, ob und wie Politiker*innen mit Unwissen und Unwägbarkeiten umzugehen verstehen und über welche Risiken sie bereit sind nachzudenken und öffentlich zu sprechen.

Simon Hegelich ist sich des Dilemmas bewusst, dass es – zumindest in der Frühphase der Pandemie – keine Wirkungsstudien zu den einzelnen Maßnahmen geben kann. Allerdings hätte Politik der Annahme einer Überlastung des Gesundheitssystems vielleicht auch anders begegnen können, möglicherweise hätten auch die schnell bereitgestellten Finanzmittel anders eingesetzt werden können: „Denn eine Frage muss gestellt werden: Wo ständen wir heute, wenn die Mittel, die in Social Distancing und das Auffangen der wirtschaftlichen und sozialen Kosten investiert wurden, ins Gesundheitssystem geflossen wären? Vielleicht wären wir dann sogar für die nächste Pandemie vorbereitet.“ Diese Frage ist jedoch akademisch und ich denke, man hätte das eine tun und das andere nicht lassen sollen, um eine Eskalation der dramatischen Krankheitsfälle zu verhindern und gleichzeitig das Gesundheitssystem auszubauen, beispielsweise auch Pfleger*innen in Senior*innenheimen und Krankenhäusern deutlich besser zu bezahlen. Die Länder, die der neoliberalen Ideologie der vergangenen 40 Jahre folgend Gesundheitsvorsorge nach rein ökonomischen Kriterien bewertet hatten, schufen erhebliche Probleme, die sie bis heute nicht haben beseitigen können. Im internationalen Vergleich steht Deutschlands Gesundheitssystem noch recht gut da. Allerdings droht sich der ohnehin schon bestehende Personalmangel in den nächsten Jahren erheblich zu verschärfen.

Letztlich entschieden nicht Erfolge im Kampf gegen die Pandemie die Bundestagswahl 2021, auch wenn einige Politiker*innen im August und September 2021 wiederum den Eindruck erwecken wollten, als wäre es nur eine Frage von Wochen, dass die Pandemie beendet wäre. Ein FDP-Politiker mit Regierungsverantwortung in seinem Bundesland kündigte für den 3. Oktober 2021 einen „Freedom Day“ an. Dieser „Freedom Day“ wurde nach der Bundestagswahl in den März 2022 verschoben, inzwischen blieb davon nur noch die Idee. Es war aber eine andere Krise, die die Bundestagswahl entschied: die Überschwemmungen an Ahr und Erft, ein „plötzliches Ereignis“ im Sinne der bereits zitierten Krisendefinition von Martin Florack.

Während Armin Laschet zum falschen Moment lachte, zeigte sich Olaf Scholz staatsmännisch gefasst mit der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Er stützte langsam voranschreitend nicht nur die Ministerpräsidentin, der das Gehen aufgrund ihrer bekannten Krankheit sichtbar schwerfiel, sondern damit auch alle, die dies sahen. Insofern hat Peter Dausend recht, wenn er in seinem Beitrag zur „Coronakratie“ – wohlgemerkt ein Text, der vor der Flut an Ahr und Erft geschrieben wurde – darauf verweist, dass nicht Zahlen die Zustimmung in der Bevölkerung entscheiden, sondern die Performance in einer akuten Krisensituation.

Die Flut an Ahr und Erft wirkte sich nicht auf die Debatten um die Klimakrise aus, bestätigte aber das Politikmodell des gefühlten Krisenmanagements angesichts einer akuten Bedrohung. Die Häuser werden wieder aufgebaut. Ob es klug ist, sie an derselben Stelle aufzubauen, wird nur am Rande diskutiert. Nachhaltig war und ist das Krisenmanagement nicht, aber für die Bundestagswahl spielte das keine Rolle.

Risikobereitschaft

Adam Tooze sieht einen Zusammenhang des Managements der Pandemie mit dem Umgang mit in den vergangenen Jahrzehnten virulenten Krisen. Letztlich geht es um Risikomanagement und nicht zuletzt auch Risikobereitschaft: „Die weit verbreitete Verwendung des Begriffs ‚Lockdown‘ ist ein Indiz dafür, als wie umstritten sich die Politik des Virus erweisen sollte. Gesellschaften, Gemeinschaften, Familien stritten erbittert über Gesichtsmasken, social Distancing und Quarantäne. Dabei ging es oftmals scheinbar oder tatsächlich um existenzielle Dinge. Es war schwer, das eine vom anderen zu unterscheiden. Das Ganze war ein Beispiel im großen Stil für das, was der Soziologe Ulrich Beck in den 1980er Jahren als ‚Risikogesellschaft‘ bezeichnet hat.“

Das, was der gesamten Debatte um die Maßnahmen zur Eingrenzung der Pandemie fehlt, ist – so Adam Tooze – eine offene, öffentliche und ehrliche Debatte über Risiken, die sich an Ulrich Becks Analyse der „Risikogesellschaft“ (1986 bei Suhrkamp erschienen) hätte orientieren können. Stattdessen kommuniziert Politik im permanenten Panikmodus. Es ist schlimm, es wird schlimmer, es wird noch viel schlimmer. Ein wenig wirken manche Politiker*innen wie der Hütejunge, der sich jede Nacht den Scherz erlaubte auszurufen, der Wolf risse die Schafe. Als der Wolf wirklich kam, glaubte ihm niemand mehr, alle schliefen weiter und der Wolf feierte mit seinen Freund*innen ein Schlachtfest.

Im Hinblick auf die Gentechnik haben Christine und Ernst-Ulrich von Weizsäcker den Begriff der „Fehlerfreundlichkeit“ in die Debatte eingebracht. „Risikobereitschaft“ ist die andere Seite der „Fehlerfreundlichkeit“. Aber weder Bildungsinstitutionen noch Medien vermitteln die Kompetenzen, mit Risiken, mit vorläufigem, unvollständigem Wissen umzugehen. Politiker*innen möchten als anerkannte Macher (immer nur in der männlichen Form verwendet!), als kompetente Krisenmanager*innen erscheinen. Fehler und Unsicherheiten gehören nicht zum Berufsbild. Es muss immer alles eindeutig und richtig sein, doch dies kann es weder in der Wissenschaft noch in einer komplexen Gesellschaft sein. Das Uneindeutige, Vorläufige muss bedacht und kommuniziert werden. Dann lassen sich Wahrscheinlichkeiten, Unwägbarkeiten, Risiken errechnen, besprechen, beraten, in Modellierungen und in Entscheidungsprozessen und vor allem auch in die politische Kommunikation einbeziehen.

Eine solche Kommunikationsstrategie wäre sicherlich klüger als die Verkündigung scheinbar unabänderlicher Wahrheiten, die wenige Wochen später nicht mehr gelten. Eben dies geschah zum Start der deutschen Ampelkoalition. Wer Fehler von vornherein einbezieht und auch bereit ist, sie zuzugeben, hätte es sicherlich leichter, aus Fehlern zu lernen. Adam Tooze plädiert daher für eine Politik der „dritt- und viertbesten Optionen“, die die Omnipotenz, die sich Politiker*innen gerne zuschreiben – Stichwort: sich nur keine Blöße geben – aufheben: „Die wichtigste Gegenkraft zur Eskalation der globalen Spannungen auf politischem, wirtschaftlichem und ökologischem Gebiet ist daher Krisenmanagement, in immer größerem Maßstab, durch den Notfall bedingt und ad hoc. Das mag nicht die Erhabenheit oder Ambition transformativer Politik haben, aber es ist nicht ohne historisches Bewusstsein oder historische Konsequenz. Es bedeutet die Wahl zwischen den dritt- und viertbesten Optionen und als solche ist es wirklich wichtig.“ Das wäre eine Spielart von Realpolitik!

Adam Tooze: „Krisenbekämpfung ist unerbittlich und hektisch zugleich. Sie ist getrieben von der Dringlichkeit der unmittelbaren Situation. Sie ist gefangen in einem Geflecht von Interessen und muss sich ihre Instrumente während ihres Tuns zusammenstellen. Sie wird aber auch geleitet von der Reflexion über vergangene Krisenbewältigung. Ob in Form von Büchern, Artikeln oder ‚Volkserzählungen‘ – Zeitgeschichte ist Teil dieses kollektiven Lernprozesses. Geschichts-Schreibung ist ein Teil des Geschichte-Machens.“ Politik wirkt nicht nur in der Geschichte, sondern vor allem in den vielen Geschichten, die erzählt werden und die sich mehr oder weniger zu einem Gesamtbild zusammenfügen ließen, selbst dann, wenn sie sich widersprechen. Reflexion von Geschichte ist in hohem Maße Reflexion von Sprache.

Felix Heidenreich fordert in der Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ vom Januar 2022 ein neues Staatsverständnis (Titel des Essays: „Den Staat neu denken: Corona und die Krise der Demokratie“). Er beschreibt den „Staat 1.0“, der – orientiert am Muster der katholischen Kirche autoritär von oben „in Befehlsketten, Verwaltungsbescheiden und Institutionen der Disziplinierung“ handele sowie den „Staat 2.0“, der auch auf Kooperation setze: „Dieser ‚Staat 2.0‘ arbeitet nicht nur korporatistisch, sondern auch kooperativ; er bindet die Zivilgesellschaft ein, betreibt Fürsorge und legitimiert sich nicht durch Autorität, sondern durch den Wohlstand, den er den Bürgerinnen und Bürgern ermöglicht.“ Der Wohlfahrtsstaat brachte mit seinem Wohlstands- und Aufstiegsversprechen sozusagen als Nebenwirkung, die zur Hauptwirkung wurde, den Neoliberalismus mit sich. Für die weniger Erfolglosen gab es Hilfen „in Form langsamer Gerichte und nachsorgender Sozialarbeit“. Beide Typen hätten ausgedient. Felix Heidenreich fordert daher einen „Staat 3.0“, den er an drei „Dimensionen“ misst: „am Präventionsstaat 3.0, am Sozialstaat 3.0 und am Rechtsstaat 3.0“. Dieser Staat „muss – bezüglich Klima, Energie, Migration, Pandemien, Industriepolitik – langfristige Strategien verfolgen. Damit kehrt die klassische Idee einer res publica zurück: Der Staat 3.0 verabschiedet auch das neoliberale Paradigma einer maximalen Privatisierung.“ Ein wesentliches Merkmal dieses „Staates 3.0“ sind „Instrumente institutionalisierter Risikowahrnehmung“.

Fragile Sicherheit – fragile Bündnisse

Karl-Rudolf Korte gibt in seinem einleitenden Essay zur „Coronakratie“ mit dem Titel „Kuratiertes Regieren“ eine mögliche Erklärung. „Wir wissen aus der Wahlkampfforschung, dass nicht nur begrenzte Aggressivität und Unterscheidbarkeit Wahlkämpfe ausmachen, sondern vor allem Sicherheitsbotschaften und Zukunftskompetenz (…) Wahlen sind keine Erntedankfeste, sondern transportieren konkrete Zukunftserwartungen. (…) Ein Gefühlsmanagement des Muts kommt insofern in Corona-Zeiten sicher an.“ Wäre denkbar gewesen, aber mit der Zeit verschwand die Zuversicht, dass alles gut werde. Sicherlich ist „Sicherheitskonservatismus“ von Belang, nach Karl-Rudolf Korte „eine politisch-kulturelle Konstante in Deutschland“, doch was geschieht, wenn die Bürger*innen diese „Sicherheit“ keiner Seite mehr zutrauen, wenn an Stelle von Zuversicht nur Angst regiert?

Der Wandel vom Gefühl der Zuversicht in das Gefühl der Angst im Verlauf der sogenannten „Flüchtlingskrise“ ließe sich mit der Kölner Sylvesternacht datieren. Die Stimmung kippte, als die Frage der Integration zu einer Frage der inneren Sicherheit wurde. Alles, was sich dann in politischen Debatten abspielte, hätte eigentlich auf mögliche Debatten zur Pandemie vorbereiten können. Die „Flüchtlingskrise“ war eine Kommunikationskrise, denn es ist unbestreitbar, dass viel „geschafft“ wurde, ebenso wie unbestreitbar ist, dass die Integration von Ein- und Zuwandernden Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, dauern kann, je nachdem wie ernst die Aufgabe von Politik, Behörden und Bevölkerung des Aufnahmelandes genommen wird. Markus Böick – ebenfalls Autor der „Coronakratie“ – sieht in den aktuellen „‚Hygiene-Demos‘ (…) möglicherweise einen schrillen Vorgeschmack auf die erwartbaren langfristigen materiellen Verteilungs- wie kulturellen Anerkennungskämpfe, die sich aus den übergreifenden Kosten und gesellschaftlichen Lasten der jüngsten Staatsinterventionen des Jahres 2020 ergeben dürften.“

In diesem Sicherheitsdiskurs trauen diejenigen, die den Staat für allmächtig halten – Stichwort „Coronakratie“ – ihm offensichtlich erheblich mehr Macht zu als den regierenden Politiker*innen. Sie glauben aber auch an deren externe Steuerung durch einen Bill Gates oder einen George Soros oder wen auch immer. Viele glauben tatsächlich, dass der Staat nur tun müsse, was sie für richtig halten, und alle Probleme lösten sich in Nichts auf. Andere resignieren. Sie erleben den Staat ohnehin als machtlos, weil die Pandemie nach wie vor andauert und sich offensichtlich andere Probleme wie Inflation und Mietpreise auch nicht lösen lassen. Ein Wahlkampfslogan der Grünen, an den sich heute kaum noch jemand erinnert, hieß einmal: „Zukunft ist aus Mut gemacht.“ Der Slogan der 2021er-Bundestagswahl war da schon verhaltener um nicht zu sagen resignativer: „Bereit weil ihr es seid“. Erst dann, und bitte ja nicht zu früh. Der „Veggieday“ hat einen langen Schatten.

Timo Grunden fragt, ob es vielleicht in Bezug auf die Klimakrise wie im März 2020 zu Beginn der politischen Maßnahmen gegen die Pandemie einen „rally around the flag-Moment“ geben könnte. Er ist skeptisch. Er glaubt, dass die Grünen und ihre traditionellen Bündnispartner*innen aufs falsche Pferd setzen. Ein „Bündnis aus Kapital aus (sic!) akademischen Mittelschichten“ wird nicht zum Erfolg führen, denn: „Wer das Ende des Monats mehr fürchtet als das Ende der Welt, wird neue Verbrauchssteuern oder Nebenkosten nicht einfach hinnehmen, ganz gleich welche ökologische Lenkungswirkung sie haben mögen.“ Aber vielleicht entsteht ein anderes Bündnis, so unwahrscheinlich es zurzeit klingen mag: „Wer die ökonomischen Interessen von Gering- und Normalverdienerinnen an die ökologischen Ziele anschlussfähig macht – auch und gerade kommunikativ – wird die Politik des 21. Jahrhunderts prägen. Auf diese Rede warte ich gespannt.“

Die im Gesundheitssystem, in Pflegeeinrichtungen, in den Supermärkten tätigen Menschen müssten sich für ein solches Bündnis interessieren. Sie wurden im März 2020 für „systemrelevant“ erklärt, ihre Kinder hatten ein Recht auf „Notbetreuung“ in KiTa und Ganztagsschule. Eine bessere Bezahlung wurde angesprochen, aber es blieb bei unwesentlichen Prämien für ausgewählte Gruppen. Britta Rehder schreibt in „Coronakratie“: „Die Konfliktfähigkeit dieser Beschäftigungsgruppen wäre – auch jenseits der Ärzteschaft und außerhalb von Pandemiephasen – eigentlich enorm: alle Räder stünden still, wenn die Pflegekraft es will. Diese Konfliktfähigkeit wird allerdings nicht abgerufen.“ Während der Streiks im Herbst 2021 um eine bessere Bezahlung mussten sich die im Gesundheitsbereich tätigen Menschen vorhalten lassen, dass es angesichts der Pandemie moralisch verwerflich wäre zu streiken. Metallarbeiter*innen in der Auto- und Rüstungsindustrie haben es in der Tat leichter. In einem Land, in dem ein*e Metallarbeiter*in in Kurzarbeit deutlich mehr verdient als eine Pflegekraft oder ein*e Erzieher*in in Vollzeit, ist meines Erachtens etwas faul.

Raus aus dem binären Denken

Aus Gert Scobels Essay in „Coronakratie“ zitiere ich zum Abschluss einen Satz, den Karl Marx in einem Brief an Arnold Ruge schrieb: „Wir können also die Tendenz (…) in ein Wort fassen: Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche. Dies ist eine Arbeit für die Welt und für uns. Sie kann nur das Werk vereinter Kräfte sein“. (MEW Bd. 27) Wer die vereinten Kräfte sein sollten und wer nicht – das müsste eigentlich auf der Hand liegen. Wie sie sich finden könnten? Das ist eine andere Frage und hängt davon ab, wie es gelingt, eine entpolitisierte Debatte wieder zu repolitisieren, offene und öffentliche Debatten zu führen. Eine solche Debatte müsste aber als institutionalisierter Dialog geführt werden. Eine Aneinanderreihung von Statements über die mehr oder weniger sozialen Medien ist keine Debatte und schon gar keine politische. Und das ist meines Erachtens entscheidend für die Zukunft der Demokratie, ganz im Sinne der Prolegomena eines „Staates 3.0“, wie ihn Felix Heidenreich einforderte, jenseits des binären Codes von „richtig“ und „falsch“.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Januar 2022, Internetzugriffe zuletzt am 9.1.2022.)