Bildungsziel Demokratie
Zehn Thesen zur Zukunft der politischen Bildung
„Ghandi erkannte ähnlich wie Nietzsche, dass im Zeitalter des Pluralismus und der multiplen Perspektiven bereits die Tendenz zu einem Zeitalter des Nihilismus steckte – wo der Mangel an einer Gemeinsamkeit des Verständnisses, des Sinns und der Gemeinschaft das globale Dorf zum Schauplatz des globalen Bürgerkrieges macht. Gandhi erkannte auch – wie es die Philosophin Martha Nussbaum formuliert hat – dass die demokratische Politik lernen muss, die innere Welt der Menschen zu kultivieren, jeden einzelnen Bürger mit der Kraft auszurüsten, dass er der Leidenschaft nach Dominanz widerstehen und die Wirklichkeit und Gleichheit anderer akzeptieren kann.‘“ (Pankaj Mishra, Gandhis Vermächtnis, in: Lettre International 126, 2019)
Der Hintergrund: An der University of Ghana wurde eine Büste Gandhis entfernt, in Südafrika eine Statue beschädigt, in Indien werden Menschen aus dem Umfeld seines Mörders geehrt. Die Diagnose von Pankaj Mishra: Aktuelle politische Debatten werden nicht mit dem Ziel geführt, eine Einigung im Sinne möglichst vieler Menschen zu erreichen, sondern schließen geradezu eine solche Einigung aus.
Als Gegenpol zitiert Pankaj Mishra Gandhi: „Wir verschließen die Türen der Vernunft, wenn wir uns weigern, unseren Gegnern zu lauschen, oder ihnen zwar zuhören, sie dann aber anschließend verspotten. Wenn die Intoleranz habituell wird, riskieren wir, die Wahrheit nicht mehr zu sehen.“ Gandhi befürchtete, als er im Jahr 1925 diese Sätze schrieb, dass demokratische Staaten „offen totalitär werden“. Er begründet dies mit bestehenden und andauernden „Ungleichheiten, die auf Besitz oder Besitzmangel, Farbe, Rasse, Glaube oder Geschlecht beruhen“. Demokratie könne sich nicht durchsetzen, „solange der Abgrund zwischen den Reichen und den hungrigen Millionen weiter existiert.“
Aus heutiger Sicht könnten diese Sätze Gandhis und Mishras als Grundlage einer sozialliberalen Demokratie gelesen werden, einer Demokratie, in der Liberalismus und Sozialstaat nicht Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen und voraussetzen. Als Grundlage eines Sozialstaats müssten heute darüber hinaus die Sustainable Development Goals genannt werden. Gerechtigkeit übergreift Generationen und Ländergrenzen. Dann wäre das Zusammenspiel materieller Sicherheit und persönlicher Freiheitsrechte komplett.
These 1: Der Ort der Politischen Bildung ist immer mehr die informelle Bildung
Politische Bildung findet nicht nur in Schulen, Universitäten oder Volkshochschulen statt. Sie findet informell statt, im privaten wie im öffentlichen Raum, täglich.
Der private Raum dominiert, wenn – wie Studien plausibel belegen – die Menschen heute selbst dort, wo sie alle Zugang zu formeller Bildung haben, mehr als 70 % ihres Wissens in informellen Bildungsprozessen erwerben, in den Medien, in Peer Groups, in sozialen Netzwerken, durch das, was man so aufschnappt, durch das, was sich wie ein Lauffeuer verbreitet oder auch durch Botschaften, die in abgeschotteten und sich abschottenden Zirkeln vagabundieren. Denkbar wäre die These: Je schwieriger der Zugang zu formeller und nicht-formeller Bildung, desto höher die Bedeutung und Wirkung informeller Bildung.
Internet und soziale Netzwerke verwischen die Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Raum. Pankaj Mishra: „Twitter und Facebook haben die alte Technologie, die noch eher Informationen verbreitete, dezentralisiert. Jedermann kann über Ereignisse berichten und Meinungen und Wahrnehmungen erschaffen, ohne dass es irgendeines Gefühls der Verantwortlichkeit bedürfte. Und jedermann kann sich irgendeinem der kämpfenden Stämme dort draußen anschließen und für dessen Position kämpfen – tatsächlich ist Twitter ein Schlachtfeld, auf dem rund um die Uhr der Kampf tobt.“
These 2: Politische Bildung muss sich öffnen – raus auf die Marktplätze
Wir sind die „Guten“ – das ist das Mantra vieler Akteur*innen der politischen Bildung, die sich für den Klimaschutz, für die Menschenrechte, für die Rechte welcher Minderheit auch immer, gegen illiberale Politik einsetzen. Eine ständige Parole angesichts der Wahlerfolge der AfD lautet: wir brauchen mehr politische Bildung, wir brauchen Politikunterricht in den Schulen. Westdeutsche sprechen auch gerne in diesem Sinne über die Ostdeutschen.
„Wir sind die Guten“ – dieses Mantra motiviert Bürger*innen, sich zu welcher politischen Frage auch immer zu positionieren. Gerade junge Menschen – so ein Ergebnis beispielsweise der Shell-Jugendstudie 2019 – interessieren sich für Politik. Im öffentlichen Raum, auf den Straßen äußern sich Menschen, von denen vor einigen Jahren niemand gedacht hätte, dass sie sich jemals politisch äußern würden. Die Teilnahme an Demonstrationen ist heute relativ einfach, vor allem dann, wenn diese dezentral organisiert sind. Ein wenig erinnert dies an die Entstehungszeit der sogenannten „Ostermärsche“. Das gilt für Fridays for Future, Extinction Rebellion, Ende Gelände oder #unteilbar, auch für Gruppen wie Maria 2.0 in der katholischen Kirche. Das ist die eine Seite. Die andere Seite zeigen PEGIDA und sogenannte „Querdenker“-Demonstrationen, die in der Regel Gegenveranstaltungen der erstgenannten Seite motivieren.
Dieses öffentliche Engagement ist eine Chance, auch für die politische Bildung. Dialog über Konflikte und Proteste könnte mehr Verständnis und Respekt schaffen. Ängste, Ignoranz und Verweigerung des Gesprächs ähneln eher der gängigen Interpretation der Politik der berüchtigten drei Affen, obwohl diese vielleicht viel schlauer sind als manche Menschen, denn jeder der drei behält zwei Sinne offen. Das wäre eine andere Interpretation des Bildes: Multiperspektivität! Nur gemeinsam bekommen wir ein vollständige(re)s Bild. Politische Bildung wäre meines Erachtens erfolgreicher, wenn sie sich auf die Marktplätze einließe, auch auf die Marktplätze im Internet. Eine Bildungseinrichtung könnte vor Ort kontroverse Themen moderieren, nicht neutral, aber unvoreingenommen.
These 3: Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist nicht verhandelbar
Die AfD fordert von der Schule, von Journalist*innen immer wieder Neutralität. Jede Äußerung, die sie als Kritik an ihrer Programmatik verstehen will, habe zu unterbleiben. In einigen Ländern hatte die AfD vor etwa vier Jahren Meldeportale eingerichtet, über die Eltern und Schüler*innen Lehrer*innen anzeigen sollten, die sich kritisch zu ihren Positionen äußerten. Mit ähnlichen Anliegen wurden in dieser Zeit türkische und polnische Generalkonsulate bei Landesministerien vorstellig. Sie forderten Neutralität gegenüber der polnischen bzw. türkischen Regierungspolitik, sprich: das Unterlassen von jedem Widerspruch gegen ihre Politiken.
Die KMK hat sich eindeutig positioniert: Sie hat im Dezember 2018 die Meldeportale verurteilt und festgestellt: Der Beutelsbacher Konsens fordert mitnichten Neutralität, sondern klare Kante „im Geiste der Demokratie“. Ein Zitat aus der KMK-Empfehlung zur Demokratie: „Werden in der Schule kontroverse Thematiken behandelt, haben Lehrkräfte die anspruchsvolle Aufgabe, den Unterrichtsgegenstand multiperspektivisch zu beleuchten, zu moderieren, bei Bedarf gegenzusteuern, sowie Grenzen aufzuzeigen, wenn diese überschritten werden. Voraussetzung für die Umsetzung des Beutelsbacher Konsenses ist somit eine Grundrechtsklarheit und ein entsprechendes Selbstbewusstsein der Lehrkräfte.“
Eine Gleichberechtigung demokratischer und antidemokratischer Positionen gibt es nicht. Verletzende und stigmatisierende Äußerungen müssen zurückgewiesen, Invektiven gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung muss widersprochen werden. Die Menschenwürde ist unantastbar. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat ist nicht verhandelbar. Alles andere ist diskutabel.
These 4: Zu (fast) jeder Frage gibt es eine Gegenfrage
Es hilft nicht, diejenigen, die illiberale Ansichten äußern, mit R-Wörtern, als „Rechte“ und „Rassisten“, oder mit dem F-Wort, als „Faschisten“ zu beschimpfen. Dies führt nur dazu, dass die Beschimpften sich verbal distanzieren, aber in ihren Einstellungen nur bestärkt fühlen. Vielleicht war der Versuch von Frank Richter, damals als Leiter der Landeszentrale für politische Bildung in Sachsen, heute Landtagsabgeordneter der SPD in Sachsen, richtig, Akteur*innen von PEGIDA den Dialog anzubieten. Vielleicht war es richtig, dass sich Sigmar Gabriel in eine solche Versammlung hineinsetzte. Ich plädiere nicht dafür, Björn Höcke oder Götz Kubitschek einzuladen. Es wäre aber wichtig, mit denen zu sprechen, die deren Versammlungen besuchen.
Elisabeth Kagermeier hat in der ZEIT Ali Cans #MeTwo-Initiative vorgestellt: „Ali Can ging schon 2015 auf Pegida-Demos und wollte mit Islamgegnern ins Gespräch kommen. Er richtete eine ‚Hotline für besorgte Bürger‘ ein, bei der bis heute jede Woche Leute anrufen. Jetzt will er die Menschen, die er dabei kennengelernt hat, nach Essen in sein Zentrum holen. 2017 diskutierte er vor dem Brandenburger Tor mit dem Chef der Jungen Alternativen. Danach schrieb er auf Instagram, er habe auch Positives mitnehmen können aus dem Gespräch. Eine Aussage, für die jeder CDU-Politiker einen Shitstorm kassieren würde. Ali Can steht für Dialog, und zwar mit allen, das hat er von seinen Eltern gelernt.“
Man mag den Ansatz und die Schlussfolgerungen von Ali Can oder Frank Richter naiv nennen. Aber ihr Vorbild ist jede Nachahmung wert, denn mit bloßer Verkündigung des „Guten“ ist niemandem geholfen. Vielleicht sollten Veranstaltungen, die auf Plakaten mit „N.N. spricht“ angekündigt werden, der Vergangenheit angehören. Vielleicht sollte es heißen: „Ihr*e Gesprächspartner*in“. Es gibt viele mutige Kommunalpolitiker*innen, die dies praktizieren. Diese bräuchten Ermutigung und Unterstützung auch von „ganz oben“, leider in manchen Fällen auch Polizeischutz. In solchen Formaten lassen sich vielleicht Widersprüche auflösen oder zumindest offen ansprechen.
Gelegenheiten zum Widerspruch werden leider viel zu oft verpasst. Als am Abend nach den Wahlen in Brandenburg und Sachsen eine Journalistin mutmaßte, es gäbe jetzt mit den Stimmen von CDU und AfD in Sachsen eine „bürgerliche Mehrheit“, blieb dies unwidersprochen. Warum fragte niemand, was sie mit „bürgerlich“ meinte? Eine Debatte, wie sich die Begriffe des „Bürgerlichen“ bei AfD und CDU zueinander verhalten, hätte die Unterschiede deutlich gemacht. Leider gibt es eine öffentliche Debatte darüber, was denn „bürgerlich“ sein könnte, immer noch nicht. Ähnliches gilt für den Umgang mit behaupteten Fakten: „Woher wissen Sie das?“ „Wer sagt das?“
Die Strategie von Michael Kretschmer in Sachsen zeigte, dass und wie das funktionieren kann. Er betrieb „Haustürwahlkampf“ im großen Stil. Er hat es sicherlich nicht geschafft, alle von ihm angesprochenen Menschen, die der AfD zuneigen, von ihren Positionen abzubringen, aber es gelang ihm offenbar, manche zu beeindrucken. Er schuf Vertrauen. Ein erster Schritt. Vergleichbares hat Bodo Ramelow in Thüringen getan und geschafft. Ein Ergebnis seiner Kampagne: auch unter CDU-Wähler*innen bescheinigen ihm viele, er sei ein guter Ministerpräsident. Für die SPD wäre Manuela Schwesig mit ihrem Wahlerfolg bei der Landtagswahl Mecklenburg-Vorpommern ein Vorbild. Eine ähnliche Strategie verfolgte Robert Habeck in Schleswig-Holstein. Er gewann bei der Wahl zum Bundestag 2021 sein Direktmandat in einem ländlich-konservativen Wahlkreis, alle anderen grünen Direktmandate kamen aus Großstädten.
Politiker*innen müssen auch mit denen reden, die ihnen eben nicht von vornherein zuhören wollen. Und warum sollte dies nicht auch zur Praxis politischer Bildung gehören? Damit wäre vielleicht auch ein Punkt in der ständigen Debatte um die „Meinungsfreiheit“ gewonnen. Allen Invektiven, Beleidigungen und Shitstorms von Seiten der „Rechten“ zum Trotz: Intoleranz kann man – auch wenn es schwerfallen mag – nicht mit Intoleranz bekämpfen. Wer konstruktiv diskutieren will, sollte sich mit Zwischen- und Gegenfragen zu Wort melden. Es reicht, sich zu zweit, zu dritt oder zu viert zu verabreden, auch auf das Risiko hin, niedergebrüllt zu werden. Das dürfte erheblich wirkungsvoller sein als ein Niederbrüllen wie es leider auch manche praktizieren, die sich zu den „Guten“ zählen.
Andererseits: Gewalt- und Morddrohungen, Aufmärsche vor Privatwohnungen von Politiker*innen, bewusste Ignoranz bestehender Gesetze – wie wir sie im Dezember 2021 erleben – sind nicht mehr hinnehmbar. Reden ist die eine Seite, Strafanzeigen gegen Gesetzesverstöße, gegen Gewalt sind die andere Seite einer wehrhaften Demokratie. Und wer öffentlich verkündet, dass sich hinter Gewaltaufrufen vielleicht doch nur berechtigte „Sorgen“ verbergen, macht sich mitschuldig.
These 5: Regierung und Opposition brauchen einander
Lenins Frage „Wer wen?“ lautet in der Demokratie „Wer mit wem?“ Sind demokratische Parteien wirklich untereinander alle und immer koalitionsfähig? Die neue Bundesregierung scheint Fronten aufzubrechen. Manche „rote Linie“ verschwand während der Koalitionsverhandlungen. Und vielleicht entdecken CDU und FDP eines Tages, dass auch die Linke eine demokratische Partei ist. In Berlin-Lichtenberg wählten CDU-Bezirksverordnete einen Linken zum Bezirksbürgermeister, ein kleiner Lichtblick, ansonsten regiert in der Regel das sogenannte „Hufeisen“. Bis zur Akzeptanz der Linken als demokratische Partei ist es bei CDU und FDP noch ein langer Weg.
Eine Regierung mit mehr als zwei Fraktionen ist in Deutschland ungewöhnlich. Aber warum eigentlich? Natan Sznaider hat seinem Leitartikel für die Jüdische Allgemeine vom 7. Oktober 2021 die Überschrift „Kunst des Koalierens“ gegeben. Im deutschen Parlament gibt es sechs Fraktionen, in der israelischen Knesset 13, von denen nur zwei über eine zweistellige Zahl von Mandaten verfügen, der Likud um Benjamin Netanjahu mit 30 und Jesch Atid, die Zukunftspartei, um Jair Lapid mit 17 Mandaten. Die Regierung wird in Israel von acht Parteien gebildet, der Ministerpräsident gehört nicht der stärksten Partei an, in der Mitte der Legislaturperiode ist ein Wechsel vorgesehen.
Natan Szaider nennt die von Naftali Bennett geleitete Regierung „eine Neuerfindung. Es gibt nicht viel Gemeinsames außer das Miteinander gegen Netanjahu.“ Doch bei dieser reinen Anti-Haltung kann es natürlich mit der Zeit nicht bleiben. „Bei der Koalition in Israel geht es daher eher um Kategorien wie Selbsteinschätzung und Selbstwertgefühl. Das sind Fragen, die wohl auch in Deutschland eine viel größere Bedeutung haben werden als die klassischen politischen Selbstbeschreibungen. Gängige Positionen wie links, rechts oder liberal sind hier nicht mehr anwendbar, eher wohl die neue Formel der Postdemokratie.“
Das Verhältnis von Regierung und Opposition ist Indikator Nummer Eins für die Funktion einer parlamentarischen und rechtsstaatlichen Demokratie. Politische Bildung sollte das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition, zwischen Regierung und Zivilgesellschaft, zwischen Parteien und außerparlamentarischen Initiativen immer wieder thematisieren. Mehrheiten können wechseln, die Regierenden verdienen ebenso Respekt wie die Opponierenden, und beide sind keine homogenen Gruppen. Auch hier gilt das Spiel der Gegenfrage, institutionalisiert in der Gewaltenteilung. „Wer mit wem?“ ist keine exkludierende Frage, sie inkludiert, bei Wahrung der Grundprinzipien des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats. Ein gehöriges Maß an Institutionenkenntnis gehört dazu, aber dies erwirbt niemand ausschließlich auf der Schulbank. Institutionenkenntnis muss sich in der Praxis bewähren. Politische Bildung muss Wege finden, Menschen die Erfahrung demokratischer Prozesse in der Praxis zu ermöglichen.
These 6: Politiker*innen brauchen Mut
Bernd Ulrich plädierte im Oktober 2019 in der ZEIT in dem Artikel „Von der Angst diktiert“ für eine Politik, die sich nicht von der Angst bestimmen lässt, Wähler*innen zu verprellen. Er verwies auf die Entscheidungen zur Westbindung, zur Wiederbewaffnung, zur Ostpolitik, die alle nur mit knappen, aber immer demokratischen Mehrheiten durchgesetzt werden konnten, und forderte dies im Zweifel für den Klimaschutz.
Zwei Jahre später, kurz vor der Bundestagswahl, schrieb Bernd Ulrich gemeinsam mit Hedwig Richter in der ZEIT, dass offenbar „Zumutungsfreiheit zum zentralen Kriterium demokratischer Politik“ geworden sei.“ Sie fragten, wie „dieses Gebot der maximalen Zumutungsfreiheit aller Politik“ entstanden sei: „Diese Idee von der konsumierbaren Demokratie, die Reduktion des Staates auf seine Dienstleistung?“ Ihre Analyse: „Und darin liegt der große Frevel der Politik systematischer Beschwichtigungen: Sie nimmt den Wählenden die Chance, gegen den eigenen inneren Schweinehund zu optieren. Und sie bietet nicht an, was in diesen Zeiten der großen Transformation am nötigsten ist: eine redliche Politik der Zumutungen, um den Kampf mit den Krisen aufzunehmen. Und womöglich sogar zu gewinnen.“
Das sah die GroKo anders. Als sie ihre Beschlüsse zum Klimaschutz verkündete, nannte sie sie „das maximal Mögliche“, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie noch mit niemandem darüber gesprochen hatte, was denn maximal möglich und was unmöglich wäre, geschweige denn es jemandem erklärt hätte. Das „maximal Mögliche“ erschien als gefühlte Größe vorauseilenden Gehorsams gegenüber einer Fiktion von Bürger*innenwillen. Mit Bürger*innenbeteiligung hat das nichts zu tun.
Politische Bildung könnte solche Blockaden und Selbst-Blockaden aufbrechen helfen, durch Einmischung und Moderation, auch bei hoch kontroversen Themen. Sie könnte Menschen miteinander ins Gespräch bringen, die von selbst nicht auf die Idee kämen, dass sie miteinander sprechen sollten und könnten. Bürger*innenbeteiligung ist die eine Seite der Medaille, Bereitschaft zur Entscheidung und auch zu diesen Entscheidungen zu stehen die andere. Die Geschichte der Krisenbewältigung während der COVID-19-Pandemie ist ein Lehrstück für eine Politik, die so zumutungsfrei wie möglich agieren möchte, dann aber immer wieder gezwungen ist, sich Entwicklungen zu ergeben, die bei einer vorsorgenden und partizipativ angelegten Politik vermeidbar gewesen wären.
Michel Friedman brachte dies in seinem Buch „Streiten? Unbedingt!“ (Berlin, Dudenverlag, 2021) auf den Punkt: „Konsens belohnt den Opportunismus. Er belohnt die Kritiklosigkeit. Er belohnt die Beliebigkeit. Er bedroht sogar den Fortschritt. Er bedroht den Widerspruchsgeist. Er bedroht die Individualisierung des Denkens. Er bedroht den kreativen Wahnsinn.“ Und das brauchen wir heute, innen- wie außenpolitisch, „kreativen Wahnsinn“!
These 7: Politische Bildung ist keine Besserwisserei
Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sprach anlässlich des Festaktes „100 Jahre Volkshochschule in Deutschland“ in der Frankfurter Paulskirche über den „Bildungsauftrag des Grundgesetzes“ (nachlesbar in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 15. April 2019): „Die Mütter und Väter des Grundgesetzes vermieden es, der jungen Bundesrepublik einen paternalistischen Erziehungsauftrag zu verordnen; der Staat sollte nicht besserwisserisch belehren, von oben herab elitär bevormunden.“
Das heißt nicht mehr und nicht weniger als „Democracy First“. Den Begriff prägte in dieser Form Monika Grütters. Das Gegenstück aus dem Wahlkampf 2017 ist bekannt. Verfassungsauftrag ist nicht die Vermittlung sogenannter Kulturtechniken, so wichtig ihre Beherrschung auch immer sein mag. Das Grundgesetz schreibt nicht vor, wie viele Fremdsprachen jemand beherrschen, über welche naturwissenschaftlichen Kenntnisse jemand verfügen oder wie sich das Gymnasium von anderen Schulformen unterscheiden solle. Verfassungsauftrag ist Demokratiebildung. Bildung muss nach Jahrzehnten der Entpolitisierung endlich wieder politisch verstanden werden:
Ein Paradox: Es gab und gibt kaum mehr politische Bildung als in den Ländern, in denen Demokratie und Liberalismus keine Rolle spielen. In der DDR gab es Pflichtbesuche in Buchenwald, Staatsbürgerkunde war Pflichtfach in der Schule, Staatsfeiertage wie der 1. Mai und der Gründungstag der DDR wurden gemeinsam mit Großdemonstrationen gefeiert, bei denen die örtlichen SED-Größen von der Tribüne herabwinkten. So in anderen Ländern des sowjetischen Einflussbereichs, so in China.
Auch ursprünglich demokratisch verfasste Länder sind gegen einen solchen Missbrauch politischer Bildung nicht immun: In der Türkei, in Russland, in Ungarn und in Polen regieren Politiker*innen und Parteien, die sich wenig um Minderheitenschutz und Gewaltenteilung scheren, sondern ein majoritäres Verständnis der Demokratie pflegen. In diesen Ländern werden Schulbücher umgeschrieben, um die eigene Geschichte zu heroisieren und sich selbst von jeder Kollaboration mit welchem Feind auch immer zu exkulpieren. Oppositionelle werden diffamiert, schikaniert, verjagt oder sogar eingesperrt.
Das gilt auch für die Inanspruchnahme von Wissenschaft und Presse. Es reicht nicht aus, sich auf wissenschaftliche Ergebnisse und journalistische Recherchen zu berufen, um sich zu bestätigen, im Recht zu sein, moralisch formuliert: zu den „Guten“ gehören. Was von „wissenschaftlichem Sozialismus“ und „wissenschaftlich-technischer Intelligenz“ zu halten war, wussten in der DDR fast alle. Der Vorwurf der „Lügenpresse“ mag seine Vorbilder in der Sprache des „Schwarzen Kanals“ des Karl-Eduard von Schnitzler haben. Dort wurde alles, was USA, BRD, NATO und andere Verkörperungen des Klassenfeindes von sich gaben, der „Lüge“ bezichtigt. Die Tweets von Donald Trump klingen übrigens kaum anders als der „Schwarze Kanal“. Die „Bösen“ – das waren und sind immer die anderen.
Grundsätzlich gilt: Rechthaberei ist aggressiv, sie ist gewalttätig, aber auf längere Sicht hilft sie niemandem. Mit Gelassenheit und Hartnäckigkeit ließen sich Angriffe auf Wissenschaft und Presse leicht dekonstruieren. Politische Bildung sollte allerdings jeden Eindruck vermeiden, sie gebe die Ergebnisse jeder politischen Analyse vor. Auch die Erarbeitung wissenschaftlicher Begründungen braucht den demokratischen Dialog, der die Freiheit des anderen respektiert, mit dem Mut zum Widerspruch und der Gelassenheit, Widerspruch zu ertragen. Sie braucht das, was Thomas Bauer „Ambiguitätstoleranz“ nennt.
These 8: Die Schule könnte, wenn man sie ließe
In Veranstaltungen zu Stand und Strategie politischer Bildung wird immer gerne auf die Schule verwiesen. Da müssen alle hin, da kann (fast) niemand weglaufen. Der Schule wird oft vorgeworfen, dass es zu wenig politische Bildung gebe, dass das Fach Politik nur randständig sei, die Lehrpläne zu viel Wert auf Wirtschaft legten (das taten schon die alten Lehrpläne zur Arbeitslehre, also nichts Neues), vier von fünf Politikstunden fachfremd unterrichtet würden, in der Lehrer*innenbildung Demokratie und Politik keine Rolle spielten. Selten angesprochen wird die Frage, ob es denn so sinnvoll ist, im Fach Politik Noten zu vergeben, eine Frage, die nach dem 9. November 1989 in diversen Gremien zur Neuordnung der Bildungseinrichtungen der DDR intensiv diskutiert wurde.
Alles an dieser Kritik stimmt. Und doch stimmt sie nur zum Teil. Die Kultusministerkonferenz (KMK) ist politisch aufgeklärter als ihr nachgesagt wird. Sie beschloss anspruchsvoll differenzierende Empfehlungen zur Demokratie und zu den Menschenrechten (beide 2018), zur Erinnerungskultur (2014) sowie zwei gemeinsame Erklärungen mit dem Zentralrat der Juden (2016 und 2021). Die Botschaft: Demokratie ist der Kern einer guten Schule, ganz im Sinne des Grundgesetzes, Partizipation die Methode.
Viel wäre erreicht, wenn diejenigen, die Lehrpläne schreiben, Abituraufgaben formulieren oder Fortbildung anbieten, die KMK-Empfehlungen ernst nähmen. In der Regel ignorieren sie die KMK-Empfehlungen. Wir müssen viel mehr als bisher Schulleiter*innen ermutigen, engagierte Lehrkräfte zu unterstützen, auch dann, wenn jemand aus der Elternschaft oder aus der örtlichen Kommunalpolitik protestieren könnte. Hier hätte Schulaufsicht eine sinnvolle Aufgabe.
Und wenn es gelänge, dass Schüler*innen in ihrer Schulzeit immer wieder Gelegenheit hätten, konkrete demokratische Prozesse zu gestalten, wäre viel erreicht. Ein Beispiel: Ein Gymnasium in der Nähe von Aachen lässt Schüler*innen lokalpolitische Themen auswählen, die ihnen wichtig sind. Es werden Anträge für den Stadtrat formuliert, Gespräche mit dem Bürgermeister und den Ratsfraktionen geführt, öffentliche Aktionen durchgeführt. Im Ergebnis werden oft genug die Ideen der Schüler*innen umgesetzt, nicht immer im vollen Umfang, aber es gibt immer zumindest ein Teilergebnis. Das gibt es nicht nur dort. Die Buddy-Kinderrechteschulen und das Förderprogramm „Demokratisch handeln“ fördern und dokumentieren erfolgreiche Projekte dieser Art in allen Schulstufen und Schulformen, nicht nur in Gymnasien.
These 9: Politische Bildung braucht eine andere Förderstruktur
Eine Förderstruktur, die vorrangig Teilnehmende zählt, ist wenig geeignet, die hier skizzierten Grundlagen politischer Bildung umzusetzen. Wir müssen uns ferner von dem üblichen Gießkannenprinzip der Förderung verabschieden, das die Großen der Branche bevorzugt, die Kleinen, unter denen es viele höchst kompetente Initiativen gibt, aber an den Katzentisch der Projektförderung verweist.
Es gibt Einrichtungen, die es geschafft haben, über einen Mix von Finanziers so etwas wie eine quasi-institutionelle Förderung hinzubekommen und ihren Mitarbeiter*innen angemessene Gehälter zu zahlen, beispielsweise die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main. Bei vielen Initiativen ist dies jedoch nicht möglich. Die Mitarbeiter*innen sind befristet angestellt und wechseln häufig, sodass eine kontinuierliche Arbeit erheblich erschwert wird. Sie arbeiten irgendwo zwischen Ehrenamt und prekärem Beschäftigungsverhältnis, mit viel Selbstausbeutung.
Warum gibt es eigentlich keinen auf lange Sicht angelegten Demokratieförderplan wie es Kinder- und Jugendpläne gibt, auf Bundesebene und in den Ländern, warum nicht mehr institutionelle Förderung? Warum können Förderpläne nicht unter Beteiligung der Betroffenen erstellt werden, beispielsweise nach dem Modell der Planungszelle? Der neue Koalitionsvertrag enthält eine Absichtserklärung für ein „Demokratiefördergesetz“. Das hatte auch schon die Groko verabredet, doch aus der Absicht wurde nichts. Jetzt lesen wir: „Die Finanzierung sichern wir dauerhaft ab.“
These 10: Die konkrete Utopie der politischen Bildung: Empowerment
Grundrechtsklarheit braucht Gelassenheit. Carlo Strenger nannte diese Einstellung „Zivilisierte Verachtung“: „Eine Kultur der zivilisierten Verachtung beruht somit auf einer intellektuellen Selbstdisziplin, die dazu verpflichtet, Informationen zu sammeln und diese sorgfältig abzuwägen (…). Zivilisierte Verachtung ist dann angebracht, wenn Menschen sich diesen Anforderungen entziehen, weil sie es bequemer finden, Tatsachenbehauptungen zu akzeptieren, die zu ihren emotionalen oder weltanschaulichen Präferenzen passen, selbst wenn sich leicht Indizien finden lassen, die diesen Behauptungen widersprechen. Eine solche Tendenz zur kognitiven Verzerrung ist in allen Lagern zu finden“. (Carlo Strenger: Zivilisierte Verachtung – Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit, Berlin, Suhrkamp, 2015)
Ein wenig erinnern die Worte von Carlo Strenger an die Beschreibung des Zivilisationsprozesses durch Norbert Elias. Das macht Hoffnung, denn letztlich setzten sich die Anliegen einer zivilisierten Gesellschaft immer wieder durch – barbarische Rückschläge unbenommen. Damit Demokratie und Zivilisation siegen und Barbarei verschwindet, brauchen wir politisch aktive Bürger*innen, die wissen, was sie tun.
In den Worten von Andreas Voßkuhle: „Ein Schlüssel zum status activus des Staatsbürgers ist Bildung. Bildung nicht im klassischen, die Ungebildeten ausschließenden Sinne, sondern Bildung verstanden als „Empowerment“ Das Grundgesetz will den kritischen und informierten, vor allem aber neugierigen Bürger.“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Der Essay ist eine im Dezember 2021 veröffentlichte Fortschreibung meines Essays „Fünfte Gewalt oder fünfte Kolonne?“ vom Dezember 2019. Ich habe ihn in dieser Form am 7. Dezember 2021 in einer Veranstaltung der GEW mit Lehrkräften der Sekundarschulen in Nordrhein-Westfalen vorgetragen. Internetzugriffe zuletzt am 6.12.2021.)