Confrontations
Die Filme der Regisseurin Sharon Ryba-Kahn
„Ein Ort, an dem ich mich zu Hause fühlen kann, muss farbenfroh sein und warm. Ich möchte dort auf die Straße gehen und Menschen begegnen können, die einander ansehen und grüßen, ein Ort, an dem gelächelt wird. Ich weiß, dass die Welt sehr groß ist und dass ich diese Orte noch ausfindig machen werde.“ (Sharon Ryba-Kahn, in: Jüdische Allgemeine 5. November 2020)
Sharon Ryba-Kahn hat 2020 ihren zweiten Dokumentarfilm veröffentlicht. Orte des Films sind Deutschland, Israel und Polen. Thema sind die zweite und dritte Generation der Schoah. 2015 erschien „Recognition“, der in verschiedenen israelischen und palästinensischen Städten und Dörfern spielt. Im Mittelpunkt stehen drei junge Frauen und ihre Familien. „Displaced“ ist Sharons Abschlussarbeit an der Filmuniversität Babelsberg. In ihrem dritten Film, der zurzeit geschnitten wird und den Titel „Liebe bis 120“ trägt, stehen drei Frauen im Mittelpunkt, die die Schoah überlebten. Seit Oktober 2020 arbeitet sie an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf an ihrer Doktorarbeit, Titel: „Visualisierung von Traumata in Dokumentarfilmen“.
Lebensfilme einer Weltbürgerin
In und mit ihren Filmen erforscht Sharon Ryba-Kahn sich selbst, schaut sich selbst auf den Kopf, durchwühlt ihr Inneres. Sie dokumentiert Begegnungen, in denen sie versucht, sich und die Traumata unserer und scheinbar vergangener Zeiten in ihren langfristigen und bis in die dritte Generation spürbaren Wirkungen zu erforschen. Beide Filme haben ausdrücklich biographische Bezüge, doch gelingt der Regisseurin immer wieder das, was allen (Auto-)Biograph*innen gelingen sollte. Sie lässt aus einer Lebensgeschichte eine Welt entstehen und macht Vieles verstehbarer.
Menschen – das ist eine Botschaft der Filme – lassen sich nicht auf ihre Biographie reduzieren. Sie sind die Biographie aller Menschen der Familie, der aktuellen wie der vergangenen Familien, der lebenden wie der verstorbenen und der ermordeten Familienmitglieder. Sharon versucht die Stammbäume – ein merkwürdiges Wort, als wären Menschen Teil einer wuchernden Vegetation im Dschungel der Erinnerung – ihrer Familien zu erforschen.
Aus dem Auto versucht sie, mit ihrem Vater, der zunächst wenig Interesse zeigt, darüber zu telefonieren. Sie benennt in „Displaced“ das Gerücht, dass die Familie Ryba ihre Herkunft bis zu König David und bis zu Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak, 1040/1041 bis 1105), einem der bedeutenden Kommentatoren der heiligen Schriften des Judentums, herleiten könnte. Diese Linie wird nicht weiter verfolgt, wohl aber ergibt sich eine intensive Suche nach Vorfahren in Polen, die in vielen Fällen die einzelnen Menschen aufscheinen lässt, aber nie ein konkretes Todesdatum erfahren lässt.
Begegnungen müssen er-lebt werden. Worte müssen gesucht und gefunden werden. Gespräche sind nichts Vorübergehendes, keine Momentaufnahme, sie bedürfen einer langen Vorbereitung, die oft genug eine Vorbereitung im Schweigen ist. In beiden Filmen gibt es immer wieder lange schweigende Einstellungen zwischen den Szenen, wir sehen Straßen, Treppen, Landschaften, Meer, Fahrten im Auto, im Bus, in der Bahn, mal im Inneren gefilmt, mal mit der Kamera auf das gerichtet, was außen vorbeizieht. Alltägliche Szenen lassen den Eindruck entstehen, dass gerade die Alltäglichkeiten nur eine kurze Pause zwischen den Phasen des Er-Lebens darstellen, beispielsweise Szenen, in denen Kaffee in eine Espressomaschine gefüllt wird, gekocht oder gegessen wird.
Die Titel beider Filme beschreiben im Grunde das Programm der Regisseurin:
- „Displaced“ greift die Bezeichnung auf, die 1945 nach der Befreiung Europas vom nationalsozialistischen Terror von den siegreichen Alliierten für die Menschen verwendet wurde, denen als Deportierte, als Verwandte der Ermordeten ihre Heimat genommen wurde, die auf Todesmärschen von Lager zu Lager verschickt wurden, überlebten und nicht in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren konnten. In eigens für sie eingerichteten „Camps“ warteten sie auf die Ausreise in ein anderes Land, nach Palästina, in die USA, nach Großbritannien. In Deutschland gab es etwa 1.800 dieser „Camps“, das letzte wurde 1959 aufgelöst. Manche „displaced persons“ kehrten in ihre ursprüngliche Heimat zurück, manche blieben in Deutschland, dem Land der Täter*innen, manchen gelang die Ausreise nach Israel, in die USA oder ein anderes Land. Sharon Ryba-Kahn sagt von sich selbst im als Motto dieses Essays zitierten Text der Jüdischen Allgemeinen: „Ein spezifisches Zuhause habe ich nicht.“
- „Recognition“ ließe sich vielleicht am besten mit „Wiedererkenntnis“ übersetzen. In dem Begriff schwingt jedoch auch ein Hauch von „Anerkennung“ mit, die die Einsicht meint, dass das, was immer schon da war, nicht nur wieder ans Tageslicht der Erinnerung geholt werden, sondern auch in seinen Wirkungen und Nachwirkungen verstanden und anerkannt, in die eigene Identität integriert werden muss. Alles liegt offen, alles ist erinnerbar, belegbar, kann erforscht, erfahren und ausgesprochen werden, und dennoch ist es ein mühsamer und schmerzhafter Prozess, fast schon an eine psychoanalytische Therapie mahnend, sich Vergangenheiten und Gegenwart selbst einzugestehen und wieder zu erarbeiten. Die vielen Sekunden des Schweigens vor, in und nach den im Film dokumentierten Begegnungen belegen, wie mühselig dieser Prozess ist.
„Recognition“ und „Displaced“ sind Filme über die Suche nach der eigenen Identität, nur mit dem Unterschied, dass „Displaced“ Israel als Ort einer Zuflucht, „Recognition“ hingegen als in sich zerrissenen Ort darstellt. Beiden Filmen gemeinsam ist der Bezugspunkt Deutschland als Konstante, das als Land der Ungastlichkeit, der Verleugnung des Vergangenen, als Land oberflächlicher und unverbindlicher Begegnungen erscheint. Vielleicht ist der folgende Satz Sharon Ryba-Kahns eine Rettung? „Heute habe ich das Privileg, mich als Weltbürgerin zu fühlen.“
Es bliebe darüber nachzudenken, wie sich die beiden zitierten Sätze Sharons zueinander verhalten. Sie folgen im Text der Jüdischen Allgemeinen unmittelbar aufeinander: „Heute habe ich das Privileg, mich als Weltbürgerin zu fühlen. Ein spezifisches Zuhause habe ich nicht.“ Diese Reihenfolge lässt über die Frage nachdenken, ob das „Privileg“ aus der Not geboren wurde oder ob es die logische Folge einer sie stärkenden Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit ist. Oder vielleicht beides?
Schweigen und Sprechen
Sharon Ryba-Kahn sprach sieben Jahre lang nicht mit ihrem Vater, zehn Jahre nicht mit ihrem Großvater Chaim, war zwölf Jahre nicht in Israel, weil sie nicht zur Armee eingezogen werden wollte. Ihr Vater sagt in „Displaced“, man*frau dürfe nicht zu viel erwarten. Es bleibt offen, ob er von Gesprächen oder von Menschen spricht. Sein Vater, seine Mutter hätten mit ihm kaum über die Schoah gesprochen.
Die Vergangenheit „schwingt immer mit“, auch wenn sie nicht explizit angesprochen wird. Diese Spannung führte dazu, dass er 2016 nach Israel umzog, 2017 seinen deutschen Pass abgab und den israelischen Pass erwarb. Er habe „Genugtuung, Stolz, Zufriedenheit“ empfunden, auch und gerade als gefühltes Vermächtnis seines Vaters Chaim, der Auschwitz überlebte. Sharon und ihr Vater besuchen das Grab des Großvaters in Tel Aviv, auf dem wir lesen: „His legacy will live on in his family.“ Dieses Vermächtnis lebt in „Displaced“ von der ersten bis zur letzten Filmsekunde, eine Wiederauferstehung im besten Sinne.
Die Suche nach der Vergangenheit ist eine Suche nach Gefühlen, nach Identität, nach Vermächtnis, weniger eine Suche nach dem Geschehenen. Sharon spricht davon, es gehe ihr nicht darum, etwas zu „rechtfertigen“, sondern zu „verstehen“. Als der Vater meint, in der dritten Generation wäre das Leben mit der Vergangenheit der Schoah „eigentlich relativ normal“, antwortet Sharon auf Englisch: „the connection point in all of it is Germany“. Das Gespräch mit dem Vater dreht sich immer wieder um die Frage, wie „normal“ ein Leben nach der Schoah, mit den persönlichen und ererbten Erinnerungen der Schoah sein könne, und letztlich auch, ob und inwieweit sich das Gefühl der Erinnerung wie das Gefühl der Freiheit verbinden und verstetigen ließen.
Deutschland ist immer wieder der grundlegende Bezugspunkt eines tiefgreifenden Unwohlseins. Eine der Gesprächspartnerinnen Sharons sagt, sie habe ihren Eltern immer vorgeworfen, wie sie nur in das Land der Täter*innen zurückgehen konnten. Die Mutter dieser Gesprächspartnerin habe geantwortet, es wäre nur um das Überleben gegangen, den „Stolz“ hätte sie schon lange „abgeworfen“. Aber vielleicht gäbe es doch noch Hoffnung für diejenigen, die „in dieser mörderischen Zeit noch Liebe behalten“ hätten? Doch bei vielen wäre die „Liebe getötet“ worden, auch wenn sie überlebt hätten.
In welcher Sprache lässt sich über die Schoah angemessen sprechen? In welcher Sprache lässt sich über Deutschland und mit Deutschen sprechen? Meines Erachtens zeigt „Displaced“, dass wir viele Sprachen brauchen. Der Vater spricht beispielsweise immer dann, wenn er etwas sagt, das einen religiösen Kontext hat, jiddisch, wünscht beispielsweise „git Shabbes“. Auch der Großvater spricht Jiddisch, eine Sprache, die Sharon nur in Teilen versteht.
Die Mehrsprachigkeit der beiden Filme spiegelt die Vielfalt, die eine weltbürgerliche Identität sowie die Integration und Integrierbarkeit vergangener Identitäten gleichermaßen begründen könnte. Wir hören Arabisch, Deutsch, Englisch, Hebräisch, Jiddisch (in alphabetischer Reihenfolge genannt). Die Untertitel sind in der Universalsprache unserer Zeit gehalten, in Englisch. Vielleicht ist auch dies ein Zeichen, dass Vergangenheiten er-lebt werden müssen, mit Bindestrich zwischen den Silben. Ein Erleben ohne Er-Leben bliebe nur an der Oberfläche und letztlich sprachlos.
Sprechen und Ausweichen
In „Displaced“ dokumentiert Sharon Ryba-Kahn drei Gespräche mit Freund*innen, Bekannten, die sie aus ihrer Schulzeit kennt, Deutsche ihrer Generation, somit auch Angehörige der dritten Generation mit Erinnerungen an die Schoah. In diesen Gesprächen spielt der Gedanke des „Othering“ eine zentrale Rolle, ein englischer Begriff, der in der deutschen Sprache am besten mit dem von Julia Reuter eingeführten Begriff der „Ver-Anderung“ wiedergegeben würde. Sicherlich ließe sich die Frage stellen, wer hier wen „ver-andert“, im Grunde eine Debatte über Henne oder Ei als Ursprung des Lebens? Doch wäre das „Ver-Andern“ der Kinder und Enkel*innen der Opfer durch Kinder und Enkel*innen der Täter*innen verhängnisvoll und zumindest latent antisemitisch, denn das Opfer wird erst durch die Tat Opfer und so ist die Schoah immer der Dreh- und Angelpunkt jeder Reflexion über das Mit- und Gegeneinander in einem Gespräch über die jeweiligen Vergangenheiten, die eigenen, die der Eltern, die der Großeltern.
Sharon Ryba-Kahn leitet ihre Gespräche mit Freund*innen und Bekannten im Mittelteil des Films mit für diese provokativ wirkenden Fragen ein. Sie fragt, wann sich eine Freundin jemals gefragt hätte, ob eine Äußerung antisemitisch sei, was aus nicht-jüdischer beziehungsweise deutscher Perspektive „nicht funktioniert“ habe, nach den Gefühlen nach der Thematisierung des II. Weltkriegs in der Schule. Einige Freund*innen weichen aus.
- Im ersten Gespräch sagt die befragte Freundin zu Sharon, sie nähme sie „nicht als Jüdin wahr“. Sharon sagte mir in einem unserer Gespräche, dass sie ihr damit die Identität als Jüdin abgesprochen habe. Ihre Gesprächspartnerin wolle sie nur in den Kategorien wahrnehmen, in denen sie sich selbst bewegt. Die Bezeichnung eines anderen Menschen als „Mensch“ erweckt geradezu den Eindruck, als ob eine solche Aussage überhaupt angezweifelt werden könnte, und unterschlägt all das, was einen Menschen zu dem macht, was sie*er ist, nimmt ihr*ihm jede Individualität, jeden Bezug zu ihrer*seiner eigenen Geschichte, „ver-andert“ sie*ihn.
- Die Partner*innen des dritten Gesprächs sprechen von „Scham“. Eltern und Großeltern werden von jeder Schuld freigesprochen. Der Großvater habe nicht zur SS gewollt, obwohl diese ihn aufgrund seiner Physis hätte haben wollen und wäre als Strafe für seine Weigerung zu einem Himmelfahrtskommando geschickt worden. Außerdem hätten ihre Großeltern „Leute versteckt“. Gesprochen hätte man*frau nur über Nebensächlichkeiten, zum Beispiel, dass frau im BDM mit dem Fahrrad unterwegs war. Sie reproduzieren geradezu sämtliche Klischees der Schuldabwehr und Schuldverschiebung. Wo gab es schon Täter*innen? Nicht in unserer Familie.
Letztlich fehlt bei allem gutem Willen jede Empathie. Sharon sagte mir, dass sie bei aller Kritik und allem Unverständnis den Mut ihrer Gesprächspartner*innen anerkenne, sich ihr zu stellen. Die Dialoge werden aber zu ungewollten Rechtfertigungen dafür, dass man*frau sich eigentlich mit der Schoah nicht befassen möchte. In beiden Gesprächen begegnen wir dem Arsenal der bekannten Strategien – ich erlaube mir diese militärische Begrifflichkeit, weil sie hier meines Erachtens durchaus angebracht ist – der Schuldabwehr, der Täter-Opfer-Umkehr, der Bagatellisierung, wie sie beispielsweise Samuel Salzborn in seinem Buch „Kollektive Unschuld“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2020) beschrieben hat. Anders gesagt: die Schoah ist eigentlich kein Thema, eigentlich möchte niemand darauf hingewiesen werden, dass ein*e Gesprächspartner*in Jüdin*Jude ist, und schon gar nicht darauf, dass die eigenen Eltern oder Großeltern an Verbrechen beteiligt gewesen sein könnten. Und dieses Schweigen vollzieht sich äußerst wortreich. Auch Geschwätzigkeit ist Schweigen, Verschweigen.
Sharon nennt in den Gesprächen offen die „wirkliche Gefahr, dass man nicht dazu steht, woher man kommt“ und fragt, warum „wir nicht darüber reden“. Eine Antwort: „Ich weiß nicht, was du damit machst.“ Sharon: „Dann ist die Angst größer als die Freundschaft.“ Sharon resümmiert ihre Erfahrungen auf Englisch, nicht mehr auf Deutsch: „I‘d never had the courage to say to German friends: it hurts me that you don’t see that your family may have murdered my family. It hurts me and makes me angry to know that it is like the pink elephant in the room, but that you seem to forget about it while I can’t. I never said it.“ „Displaced“ endet mit dem Blick in das Auge der Kamera, eine Aufforderung an die Betrachter*innen, sich selbst zum Gegenstand des Films zu machen? Eine Aufforderung an die Betrachter*innen? Zum Er-Leben?
Es gibt jedoch auch einen Lichtblick in diesen Gesprächen. Im zweiten Gespräch formuliert ein Paar, sie Österreicherin und Jüdin, er Ostdeutscher, eine meines Erachtens plausible Erklärung, warum die Schoah so wenig im Bewusstsein von Schüler*innen präsent wäre. Sie charakterisieren die Ächtung von Antisemitismus in Deutschland als eine Art deutscher „Benimmregel“: Das wäre „wie so ‘ne Benimmregel, die unausgesprochen aufgestellt wurde.“ Es wurde „den Deutschen beigebracht, äußert euch nicht mehr antisemitisch.“ Die junge Frau amüsiert sich in der Szene über ihre eigene vergangene Naivität. Sie habe immer den Eindruck gehabt, dass Deutschland die Schoah besser aufgearbeitet hätte als Österreich, war dann in Berlin jedoch überrascht …
Allein in der Geschichte
Sharon und ihr Vater bleiben als Vertreter*innen der dritten beziehungsweise zweiten Generation der Schoah mit ihrem Er-Leben zunächst allein. Niemand begleitete sie, niemand fragte nach, was geschah, was bleibt, niemand scheint sich für das zu interessieren, was die Gefühle und Gedanken ein*er Freund*in prägt, oder wie Sharon es sagt, was „ich in mir trage“.
Hilfreich ist – wie der Historiker, mit dem Sharon spricht, sagt – das ausgezeichnete deutsche Meldesystem, das sämtliche Wohnorte auf den Karteikarten vermerkt, unter denen dann auch Auschwitz vermerkt wurde. Die Karteikarten, die Auschwitz und andere Konzentrations- und Vernichtungslager als Wohnort auswiesen, fanden nach 1945 noch lange Zeit Verwendung, die Eintragung der Menschen, so auch von Sharons Großvater Chaim Ryba, erfolgte als „heimatloser Ausländer“ mit letztem Wohnort Auschwitz, eine weitere Form bürokratischer Ignoranz.
Erst seit 2019 beziehungsweise 2020 ermöglichten Deutschland und Österreich Jüdinnen*Juden, deren Familien in der Zeit von 1933 bis 1945 aus Deutschland flohen, die Wiedererlangung der deutschen beziehungsweise österreichischen Staatsbürger*innenschaft. Portugal hatte dies für Nachkommen vertriebener und geflüchteter sephardischer Jüdinnen*Juden bereits 2017 geregelt, wie es so in der Sprache der Bürokratie genannt werden dürfte, Spanien im Jahr 2015, wenn auch mit Bedingungen wie beispielsweise dem Nachweis von Sprachkenntnissen und der zumindest einmaligen Präsenz während des Verfahrens in Spanien, eine Einschränkung, die für manch ältere Menschen unerfüllbar sein könnte.
„Displaced“ dokumentiert die Stationen der Vergangenheit, beispielsweise als Sharon in München vor dem ehemaligen Geschäft des Großvaters steht, über dessen Türsturz die Umrisse des Namens Ryba noch gut erkennbar sind, obwohl die Buchstaben selbst längst verschwanden, beispielsweise beim Gang über den zerstörten Friedhof in der Nähe des polnisch-schlesischen Będzin. Zerstörte jüdische Friedhöfe, zerstreute Grabsteine in Wäldern, der Natur anheimgefallene Gräber, das gibt es in Polen – und in anderen Ländern – an vielen Stellen.
Zerstörte Friedhöfe – das bedeutet: kein Vermächtnis, kein Wissen vom Schicksal der dort begrabenen Menschen, nur eine Ahnung, dass sie jede*r für sich ihr persönliches Schicksal hatten. Es bleiben Prozentzahlen, wenn ein Historiker erklärt, dass vor dem Krieg etwa 30.000 Jüdinnen*Juden in Będzin lebten, etwa 80 Prozent der Bevölkerung, jeder zweite Zahnarzt, jeder dritte Arzt waren Juden. Wie ein resignierender Kommentar zum Schicksal der Friedhöfe und der dort begrabenen Menschen wirkt eine Einstellung, in der die Ruine der Synagoge von Będzin zu sehen ist. Davor stehen Müllcontainer.
In ihrem letzten auf Englisch geführten Gespräch fragt Sharon ihren Vater, „what made you you?“. Sie fragt: „Are you sad?“. Seine Antwort: „I can‘t change life.“ Der Vater versucht, Sharons Recherche zu historisieren, bezeichnet sich als „rational thinking“, „from a rational point of view“ und bemerkt ein wenig lakonisch, das sei „part of history, of the history of the Ryba family“.
Karussell der ldentitäten
„Recognition“ ist ein Film über die Stabilität und die Fragilität verschiedener Identitäten, vor allem über die Entwicklung hybrider Identität. Es geht um die Identitäten von drei jungen Frauen, Noga, Moran und Hanadi, als jüdische Israeli, als zukünftige Soldatin, als Frau, als Religiöse, als Enkelin von Überlebenden und Ermordeten der Schoah, als Araberin mit israelischem Pass, als Schülerin und Studentin. „Recognition“ ist im Grunde auch ein Film über das Erwachsenwerden als junge Frau, die ihren Weg in der Gesellschaft im Gespräch mit Gleichaltrigen in der Universität, mit Freund*innen und Geschwistern, mit den Eltern, den Großeltern suchen. Identität hat jedoch auch viel mit einem Komplementärbegriff zu tun, der sich eigentlich aus dem Militärischen ableitet, dem Begriff der „Sicherheit“, der letztlich die Persönlichkeit jedes einzelnen Menschen betrifft und vor allem die Zweifel daran, ob das, was frau*man tut, zu tun plant, das Richtige ist oder nicht. Es geht somit um die Sicherheit, die von außen garantiert wird, insbesondere durch Armee und Polizei, sowie die Selbstsicherheit im Inneren.
In der ersten Einstellung von Moran sehen wir sie versunken, lesend, betend, eine in sich ruhende Sicherheit: „Der Glauben ist integraler Bestandteil meiner Identität.“ Moran lebt in Sderot, einem Ort, der ständig aus dem Gaza-Streifen mit Raketen beschossen wird, und sagt, dass hier im Unterschied zu anderen Orten „niemand meinen Rock anschaut und denkt ‚Eine Religiöse‘“. Sie sagt aber auch, dass es manchmal schwierig wäre, einer nationalen religiösen Bewegung anzugehören, der frau*man nicht immer angehören wolle. Moran studiert Sozialarbeit mit dem Schwerpunkt „Traumata nationaler Sicherheit“, es geht um Verlust und Trauer in der israelischen Gesellschaft.
Moran nennt ihre jüdisch-religiöse Identität als einen Grund, warum sie nach anfänglicher Skepsis sich entschieden habe, in dem Film mitzumachen. Es geht ihr aber auch darum, den Film als einen Film über Israel zu verstehen. Ein Gegenbild ist für sie Deutschland. Sie möchte Sharon nicht in Deutschland besuchen: „Ich stehe in einem ungelösten Konflikt mit dem Land.“ Dieser Szene folgt ein Gespräch mit Morans Großeltern, die eine Plantage bewirtschaften. Ihre Heimat sind ihre Bäume, für die sie sich persönlich verantwortlich empfinden. Sie sind in Palästina geboren, der Großvater erzählt, niemand spreche mehr Jiddisch, am Tag seiner Bar Mizwa im Jahr 1942 habe er erstmals von Auschwitz erfahren. Ein Familienbild führt zu einer Szene, in der Moran von der Ermordung ihrer Verwandten berichtet, sie liest sichtlich ergriffen einen Brief vor, der Selektion und Ermordung in Auschwitz beschreibt, die nur ein Mitglied der Familie, der Autor des Briefes, überlebte, der die verbliebenen Verwandten in Israel um elementarste Hilfe bittet, denn „um Mensch sein zu können, muss man wie einer gekleidet sein.“
Hanadi ist Araberin mit israelischem Pass. Auch sie lebt in Sderot. Sie nimmt in der Universität an einer Dialoggruppe teil, in der alle Beteiligten sich über unterschiedliche Aspekte ihrer Identität unterhalten. „Recognition“ zeigt zwei Kurstermine. Im ersten Termin bittet die Kursleiterin die Teilnehmer*innen, das zu benennen, was ihnen zur Beschreibung ihrer Identität am wichtigsten wäre. Sie nennt Beispiele wie „Jüdischsein, Arabischsein, eure sozioökonomische Stellung, arm und reich, Religiosität, Spiritualität, Säkularismus“. Hanadi stellt ihre Entscheidung mit dem Hinweis vor, dass sie eigentlich zur Kategorie „Mensch“ gehören wollte, die aber offenbar an der Wand nicht vorgesehen war, und dann die zweite Wahl traf: „Araberin“. Sie begründet diese Wahl ex negativo, denn sie lebe in „eine(r) Gesellschaft (…) die nicht immer versteht, was es bedeutet, eine Sprache zu sprechen, die nicht meine Muttersprache ist.“
Hanadi sehen wir nach der Kursszene bei einer befreundeten jüdischen Familie, die sie zum Schabbat eingeladen hatte. Sie erzählt von einem jüdischen Studienkollegen, der sie zum Kaffee eingeladen habe, was – wie alle lachend feststellen – ihren und seinen Eltern sicher nicht gefallen würde. Die gelockerte Stimmung verändert sich, als Hanadi von einem Ausflug zur Grenze nach Gaza erzählt, der sie emotional tief bewegt habe: „Ich fühle mich den Menschen so nah. Warum müssen wir getrennt sein?“ Die Szene endet mit einer Einstellung auf den gleichzeitig anteilnehmenden und skeptischen Blick der Hausherrin.
Extremerfahrungen
In der nächsten Szene sehen wir Moran an der Grenze. Sie berichtet ebenfalls von einem Ausflug, in dem sie ihren Begleiter gefragt habe, was er täte, wenn aus einem der Häuser auf der anderen Seite auf sie geschossen würde. Sie spricht von der „existenzielle(n) Bedrohung“ an der Grenze, die dann auch als Stichwort zur nächsten Szene überleitet, einem Gespräch Hanadis mit einer arabisch-muslimischen Freundin über Diskriminierungserfahrungen, verweigertes Schulmaterial, die Aufkündigung einer Freundschaft.
Existenzielle Bedrohungen prägen den Alltag nicht nur in Form von Raketen, eine Sirene unterbricht jäh: „Alarmstufe Rot“. Die beiden jungen Frauen flüchten in Sicherheit, wir sehen und hören, wie sehr diese Situation Hanadi belastet: „Dieses Land ist echt scheiße. Ich kann nicht reden und sollte es besser lassen, widerlich.“ Im Übergang zur nächsten Szene sehen wir eine Straße, eine vom Wind verwehte Plastiktüte, es folgt eine Szene über die Bedrohung der „Red Alerts“, die das Leben in Sderot strukturieren und Hanadi zu der Aussage veranlassen, dass sie eine „Identitätskrise“ erlebe: „Und ich bin hier und denke an die Menschen in Gaza.“ Die „Identitätskrise“ ist vielleicht und nicht zuletzt auch eine „Loyalitätskrise“.
Im zweiten Termin der Kursgruppe – hier ist Hanadi die Kursleiterin – geht es um Berichte von Extremerfahrungen. Hanadi selbst berichtet von einem jungen Mann, der sich von der Grußformel „Salem aleikum“ bedroht gefühlt habe, weil er offenbar nicht wusste, dass dies „Friede mit dir“ bedeute, sie habe ihn als „Rassisten“ beschimpft. Eine junge Frau berichtet vom Tod eines Freundes bei einem Einsatz der Armee am Golan. Dies habe in ihr Hass erzeugt. Erst später sei sie moderater geworden, als sie auch andere Meinungen und Menschen kennengelernt habe, doch zunächst habe sie über Araber „nichts Positives hören wollen.“
Ein junger Mann nennt 60 Raketen, die in einer Woche auf Sderot abgeschossen worden wären, all die schönen Worte von „Frieden und Koexistenz“ wären doch leere Worte, letztlich sei jeder Einsatz eine „Sisyphos-Arbeit“, ein anderer das Erlebnis, dass bei einer Demonstration ein Freund an der Grenze von einem Scharfschützen der israelischen Armee – wie sich nachher herausstellte ohne nachvollziehbaren Anlass – in den Kopf geschossen wurde und sieben Monate später an den Folgen starb, eine Studentin berichtet von einem Erlebnis in London nach ihrem beendeten Militärdienst, zu Beginn der Operation „Gegossenes Blei“ (2008), als sie in einer Bahn erlebte, wie junge Muslime israelische Fahnen, die sie mit einem Hakenkreuz versehen hatten, bei ihren Protesten verbrannten, und dass auf großen Plasmabildschirmen Tausende von Tourist*innen Explosionen in Gaza sehen konnten, ihre Reaktion: „Hass will ich nicht sagen, aber es war nicht weit davon entfernt.“
Die Szene endet mit Schweigen, einer Pause und einem Hinweis auf das, was zehn Minuten später besprochen werde, anhand einer Liste der Gegensätze: „Nakba – Unabhängigkeit“, hier die Unabhängigkeit Israels, „Besatzung – Unabhängigkeit“, hier die palästinensische, „Nakba – Schoah“. Ein Kommentar: „Klingt wie eine Bücherliste“, die Antwort: „Das ist unsere Geschichte“, ein Lichtblick: das Possessivpronomen „unser“ umfasst alle Beteiligten, unabhängig davon, ob sie Jüdinnen*Juden, Palästinenser*innen, Araber*innen sind. Ein Problem, das von Hanadi implizit benannt wird: es sind „wieder allgemeine Themen“, die in einem zurückhaltenden Modus besprochen werden können, während die Berichte über die Extremerfahrungen die eigene jeweilige jüdische, israelische, arabische, palästinensische Identität erschüttern. Das Ergebnis der Runde: Sprachlosigkeit, Unverständnis, Resignation, Hass. In der folgenden Szene erzählt Hanadis Großmutter ihrer Enkelin, wie sie 1948 die Vertreibung, den Verlust ihrer Heimat erlebte.
Zwei Szenen später werden wir Zeug*innen eines Streits in der Dialoggruppe, wer die Kriege begonnen habe, was die Aktion „Gegossenes Blei“ rechtfertige, was nicht. Alle reden durcheinander, sie werden immer lauter, auch die Musik, die letztlich zu versuchen scheint, den Streit zu übertönen, sodass niemand so recht versteht, was im Einzelnen gesagt wird.
Berufswunsch Kampfpilotin
Die Frage nach der Selbstdefinition scheint Noga eindeutig beantwortet zu haben. Noga orientiert sich an dem aus ihrer Sicht gängigen Lebensweg eines*einer israelischen Staatsbürger*in, Kindergarten, Schule, Militär, „das ist das Rad des Lebens“, „weil man das einfach macht“. Sie erklärt, dass ohnehin alle Gespräche im privaten Bereich bei der Armee endeten. Sie würde auch dann zum Militär gehen, wenn es keinerlei Konflikte zwischen Israel und Palästina, Jüdinnen*Juden und Araber*innen beziehungsweise Palästinenser*innen gäbe. Auf der anderen Seite verfolgt sie ihren Plan, zu einer Kampfeinheit zu gehen, hartnäckig und zielgerichtet auch mit anderen Argumenten. Bereits zu Beginn des Films begründet sie ihren Wunsch mit dem Satz: „Weil ich das Gefühl habe, das Land beschützen zu wollen.“
Doch dann entsteht aus diesem Satz eine Debatte über das Thema, ob und wenn ja wie es für Frauen eine Rolle im Militär geben solle. In der Schulklasse diskutieren die Schüler*innen mit ihrem Lehrer darüber, wie Männer auf den Wunsch einer Frau, einer Kampfeinheit anzugehören, reagieren. Manche, nicht alle, stellen diesen Wunsch als unweiblich in Frage, was den Lehrer zu dem Kommentar veranlasst: „Typischer Chauvinismus“.
Es folgen Gespräche Nogas mit ihrem Bruder und einer Freundin. Der Bruder vertritt die Ansicht, Mädchen sollten bei der Armee etwas machen, womit sie nachher im Beruf etwas anfangen könnten, durchaus verständlich, denn die Armee erfüllt in Israel auch eine grundlegende Funktion bei Berufsvorbereitung und Berufswahl. Nogas Bruder sagte es nicht explizit, meint aber offensichtlich, dass die Zugehörigkeit zu einer Kampfeinheit nicht dazugehöre. Die Freundin versucht mit großem Engagement Noga alle Unbilden zu nennen, die sie in einer Kampfeinheit erleiden müsse. Sie müsse „draußen schlafen“, die Prüfungen wären schwer, sie könne nur alle drei Wochen nach Hause, dürfe in der Woche nicht telefonieren, habe „kein Privatleben“, müsse, wenn ihr Freund (auch) bei einer Kampfeinheit wäre, immer um dessen Leben fürchten. Noga muss sich anhören, sie habe mit 18 „noch keine Ahnung vom Leben“. Noga beeindruckt dies alles nicht. Die Frage „willst du für mich töten“ beantwortet sie ohne zu zögern: „Ich werde für dich töten.“ Es sprechen zwei Teenager, die sich ihre Freundschaft, ihre Verbundenheit erklären.
Es folgt ein Gespräch über Männlichkeit. Was ist von einem jungen Mann zu halten, der sich die Fußnägel lackiert? Noga antwortet, er mache das mit Klarlack, um die Stabilität der Nägel zu stärken. Was ist von ihm zu halten, wenn er immer nur von seiner Mutter spricht? Die traditionellen Geschlechterrollen werden von den Menschen im Umfeld von Noga reproduziert. Sie scheitert bei ihrem Versuch, Pilotin zu werden, als Brillenträgerin am Sehtest, versucht es dann bei der Marine, sie bleibt bei ihrem Vorhaben, auch als sie weitere Prüfungen nicht besteht. Sie scheitert, doch steigt sie in der sehr emotionalen Szene der Verabschiedung im Kreis ihrer Familie schließlich in den Bus, der sie zu ihrer zukünftigen Einheit bringt, in welcher Funktion, bleibt offen. Sie tut dies, obwohl sie in einer Fahrt im Auto mit Sharon eingesteht, dass sie „in etwas eintrete, dass ich nicht wirklich kenne“. Sie hat „Angst“, aber es ist ein „Neubeginn, Anfang meines Erwachsenenlebens“.
Als Noga mit ihrer Familie Familienbilder, darunter Bilder des Großvaters, der in der russischen und polnischen (sic!) Armee gegen die Deutschen gekämpft habe, anschaut, erhält Nogas Wunsch eine weitere Dimension. Der Vater zeigt seine Mutter mit ihren drei Söhnen in Armeeuniform: „Stell dir vor, eine Schoah-Überlebende, die drei Kinder in der Armee hat.“ Subtext: Wir sind nicht mehr wehrlos! Aber auch: die Angst einer Mutter um das Leben ihrer Kinder. Nogas Vater erklärt, dass Europäer*innen nicht verstehen können, welche Ängste Menschen in Israel haben und welche Ängste ihnen ihre Eltern „mitgegeben“ haben.
Noga kommentiert in einer folgenden Szene, Jüdinnen*Juden waren „immer verfolgt“, „wir waren immer die kleine Gruppe“, „sie wollten uns immer vernichten“. Sie könne niemandem vertrauen, vielleicht wegen ihrer Erziehung. Ihre Freundin wirft ein, „weil du Israelin bist“, wird jedoch von Noga sofort unterbrochen. Erwachsenwerden erhält jetzt eine neue Bedeutung. Es bedeutet, sich der eigenen Geschichte und der Geschichte der Jüdinnen*Juden, der Geschichte Israels zu stellen, sie zu akzeptieren, seine Identität als Israeli, als Jüdin, das Vermächtnis der in Europa ermordeten Jüdinnen*Juden zu wahren. Noga: „Es liegt uns im Blut, in Angst zu leben, in Kriegen, in der Defensive.“ Und hier spitzt Noga ihre Motivation einer Kampfeinheit anzugehören zu. Sie ist Jüdin, sie ist Israelin, sie will das Land verteidigen, weil es sonst niemand tut.
Schuldgefühle
„Recognition“ beginnt mit einem Gespräch Sharons mit ihrer ehemaligen palästinensischen Schulkollegin Muna. Sharon hat das französische Gymnasium in Westjerusalem besucht, das auch von vielen Schüler*innen aus den besetzten Gebieten besucht wurde. 70 Prozent der Schüler*innen waren Palästinenser*innen, viele Lehrer*innen orthodoxe Jüdinnen*Juden. Thema des Gesprächs ist Sharons Flucht vor der Armee. Als Achtzehnjährige entschied sie sich, Israel zu verlassen, um nicht zur Armee eingezogen zu werden. Sie zog nach Paris und kehrte erst zwölf Jahre später wieder zurück. Muna kommentiert Sharons Entscheidung: „You are my friend“ und wendet sich dann mit einem Seitenblick auf Sharon an das Publikum mit der Frage: „You see the guilt part?“
Die Szenen, in denen Muna und Sharon miteinander sprechen, strukturieren „Recognition“. Sie spielen die Rolle eines Meta-Kommentars. Muna überzeugt Sharon, nach Bethlehem, Nablus und Ramallah zu fahren, denn sonst habe der Film „keinen Sinn“. In Bethlehem werden sie Zeuginnen der Beerdigung eines von israelischen Soldat*innen getöteten Palästinensers, dessen Leiche nach zwölf Jahren zurückgegeben wurde. Wir sehen einen Autokorso mit Lautsprechern, Pick-Ups mit Bewaffneten. In der Geburtskirche in Bethlehem konfrontiert Muna Sharon mit den Veränderungen der Zeit, in der sie nicht in Israel gewesen wäre. Doch was hat sich verändert? „We were politically involved and twelve years later we have no political affiliation.“ Alle Erwartungen, sofern es welche gab, waren „illusions“.
Muna und Sharon besuchen einen Souvenirshop, vor dem Muna Sharon ein kleines palästinensisches Fähnchen zeigt. Sharon sagt, sie habe bisher nicht gewusst, wie die palästinensische Fahne aussähe. Muna: wenn Palästina „independent“ würde, würden alle mit den Fahnen wedeln. Sharon gibt ihr das Fähnchen mit den Worten: „You are independent“, nach einer kurzen Pause: „I have given you independence“. Erneute Pause. „I am so powerful.“ Wer gibt hier wem was? Wer hat hier welche Macht?
Etwas später sehen wir, dass Muna Sharon ihren Eindruck mitteilt, wie sie sich in der Zeit ihrer Abwesenheit verändert habe: „out of Jerusalem you became more bias (…) for the jewish case“. Und zum Schluss sprechen sie darüber, ob sich Sharon schuldig gefühlt habe, dass sie nicht zum Militär gegangen wäre. Sharon: „I felt guilty all along.“ Doch dann hörte dies auf. Sie habe aber „no right to be here“, ihr Zuhause sei ihr Herz. Muna widerspricht, ihr Zuhause sei nur hier, mit „identity“ habe das nichts zu tun. Sharon wiederum fühlt sich jetzt doppelt schuldig, denn Muna lebt unter der Besatzung, sie nicht.
Das Gespräch, das auch endlos so weitergeführt werden könnte, verliert sich in der Musik der Gitarristin und Sängerin Tamar Capsouto, deren Musik wir in vielen Übergangsszenen bereits hörten und die wir jetzt als Straßenmusikantin im Bild sehen. Wir sehen Bilder vieler Menschen, die in dem Film vorkamen. Tamar antwortet im Off auf die von ihr selbst gestellte Frage, eine Frage, die eigentlich an alle Menschen in der Welt zu richten wäre, die Frage, woher die Menschen mehr Sicherheit bekommen könnten, vielleicht über die Verständigung, was dem Gemeinwohl zuträglich wäre. Tamar: „die Musik vielleicht“. Vielleicht erinnere das daran, „welch wunderbare Geschöpfe des Lebens wir sind.“ Mit dem Abspann rauscht im Off das Meer, Kinder laufen, lachen, Stimmen, vielleicht eine Straßenszene.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2020, Internetlinks wurden am 15. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft. Von den in den Filmen gesprochenen Sprachen beherrsche ich nur Englisch und Deutsch, daher zitiere ich die englischen und deutschen Texte im Original, alle anderen in meiner deutschen Übersetzung der englischen Untertitel.)