Das Demokratieparadox

Über die Attraktivität autoritärer Herrschaft

„Wir brauchen keine Diktatur der Mehrheit, keine Konsensgesellschaft, sondern gelebte Freiheit und Demokratie. Und das ist die faire, demokratische Aushandlungsarena, die Kompromisse sucht. In dieser Arena unterstellen sich die Kontrahenten gegenseitig, das Beste für alle zu wollen; als politische Gegner lehnen sie zwar Mittel, Methoden und Ziele der anderen gegenseitig zum Teil ab, aber sie behandeln sich gleichrangig als demokratische Partner.“ (Ilko-Sascha Kowalczuk, Diktatur der Mehrheit, in: taz 27. Juli 2024)

Der Tod der Demokratie, wie wir sie kennen, ist inzwischen ein gängiges und – so muss man sagen, auch wenn es zynisch wirken mag – beliebtes Thema in Talk-Shows, Features, Essays und nicht zuletzt in Büchern, die sich auch auf dem deutschen Markt gut verkaufen. Mitunter gehört das in die Kategorie „Sex and Crime sell“. Damit soll die Bedrohung, die von autoritären Anti-Demokrat:innen ausgeht, nicht verharmlost werden, allerdings sollten wir vielleicht den Gründen nachgehen, warum antidemokratische Parolen auf viele Menschen so attraktiv wirken.

Aber immerhin gibt es für den Augenblick (Anfang August 2024) auch Hoffnungszeichen. In Großbritannien siegte Labour über die sich immer mehr an anti-liberalen und anti-demokratischen Rechten orientierten Konservativen. Auch die Liberaldemokraten schnitten gut ab. In Frankreich haben sich zunächst die linken, im zweiten Wahlgang auch die liberalen Kräfte koordinieren können, um einen Wahlsieg des Rassemblement National zu verhindern und vielleicht gelingt ein solcher Wahlsieg demnächst auch Kamala Harris und den Demokraten in den USA. Die um Kamala Harris („Yes, we Kam“) entstandene Aufbruchstimmung darf durchaus Anlass zu Optimismus geben. Selbst bei den Europawahlen gab es – mit Ausnahmen bei den Gründungsmitgliedern – Gewinne für liberale und linke Parteien. Und wirtschaftlich ist der „globale Westen“ nach wie vor ohnehin deutlich stärker als die autoritären und totalitären Staaten dieser Welt. Die FAZ titelte: „Die Zeit spielt für den Westen“.

Ein Gegensatz in sich: die „illiberale Demokratie“

Interessant wäre allerdings auch die Frage, was eine Giorgia Meloni, eine Marine Le Pen, einen Recep Tayyip Erdoǧan, einen Geert Wilders, einen Donald Trump, einen Jarosław Kaczyńki, einen Viktor Orbán, einen Robert Fico, einen Narendra Modi, einen Benjamin Netanjahu und so manche Scheinries:innen der deutschen AfD und der österreichischen FPÖ voneinander unterscheidet. Es ließen sich noch einige mehr nennen wie Nayib Bukele (El Salvador) oder Sheik Hasina (Bangladesch, inzwischen nach Indien geflüchtet), auch einige scheinbar linke Politiker wie zum Beispiel Nicolás Maduro (Venezuela), der behauptet, er sei mit 51 Prozent der Stimmen wiedergewählt worden, oder Daniel Ortega (Nicaragua) und nicht zuletzt Sahra Wagenknecht, die einen beachtlichen Kult um ihre Person pflegt.

Gemeinsam ist all den genannten Politiker:innen allen, dass sie illiberal denken und handeln. Victor Orbán gilt als der Erfinder des Begriffs der „illiberalen Demokratie“, mit dem autoritärer Politik ein demokratisches Mäntelchen umgehängt werden soll. Till van Rahden hat einem seiner Bücher den Titel „Demokratie – Eine gefährdete Lebensform“ gegeben (Frankfurt / New York, Campus, 2019). Sein Mantra: Demokratie lebt davon, dass sie zugleich liberal ist, ein Begriff, der völlig unabhängig von sich „liberal“ nennenden Parteien zu verstehen ist. Till van Rahden beruft sich unter anderem auf Hans Kelsen: „Laut Kelsen ist ‚gerade die Synthese‘ der liberalen Idee der Freiheit mit dem demokratischen Ideal der Gleichheit für die Demokratie charakteristisch. Damit wandte er sich gegen die lange Tradition, beide Prinzipien gegeneinander auszuspielen.“ Grundlegend ist die Schrift „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ von Hans Kelsen, die 1920 erschien (in der gelben Reihe von Reclam preisgünstig verfügbar). In dieser Denktradition argumentiert auch die Tübinger Philosophin Sabine Döring, die Peter Neumann in der Zeit unter der Überschrift „Sokrates gegen SUV-Fahrer“ porträtierte.

Ebenso lesenswert ist das Buch „The Struggle for a Decent Politics – On ‚Liberal’ as an Adjective” von Michael Walzer (Yale University Press, 2023): „Without the adjective, democrats, socialists, nationalists, and all the others can be, and often are, monist, dogmatic, intolerant, and repressive. The adjective, as I will try to show, constrains the use of force and makes for pluralism, skepticism, and irony.” Diese These belegt Michael Walzer in neun Kapiteln, in denen er unter anderem beschreibt, was Liberale auszeichnet, gleichviel ob als „Democrats“, „Socialists“, „Nationalists and Internationalists“, „Communitarians“, „Feminists“, „Professors and Intellectuals“ sowie „Jews“. Er schließt mit der Frage: „Who is and Who Isn’t?“ Fazit: Nicht alle, die sich „liberal“ nennen, sind auch tatsächlich „liberal“. Manche – dazu gehören leider auch große Teile der deutschen FDP – missverstehen „Liberalismus“ als eine Art Freifahrtschein für ihre persönlichen Vorlieben und unterschlagen damit, dass sie mit ihrem Freiheitsgebrauch anderen diese Freiheit nehmen.

Die Anhänger:innen „illiberaler Demokratie“ behaupten, es reiche, eine fiktive Mehrheit zu vertreten, auch wenn sie diese in der Realität bei Wahlen nur scheinbar erringen, weil sich die liberalen und demokratischen Kräfte lieber gegenseitig bekämpfen oder sie die Wahlen zu ihrem Vorteil zu manipulieren verstehen. Wie die Streitigkeiten liberaler und linker Demokrat:innen untereinander den Aufstieg eines autoritären Diktators begünstigen, hat Karl Marx in seiner Schrift „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852) eindrucksvoll beschrieben, sodass meine Idee, diese Schrift für eine Analyse der politischen Verhältnisse rund um Donald J. Trump aufzugreifen, nicht fern liegen mag. Wir erlebten in den Jahren 2016 und 2020 Varianten eine Art „18. Brumaire des Donald J. Trump“ und die Gefahr einer zweiten Präsidentschaft Trumps ist noch nicht gebannt, sodass die US-Wahlen am 5. November 2024 – in Umkehrung des Eingangssatzes von Karl Marx – die Geschichte der USA in einen Zustand überführen könnten, der „Tragödie“ und „Farce“ zugleich ist.

Ähnlich sieht dies Ben Rhodes, Autor von „After the Fall – The Rise of Authoritarism in the World We’ve Made” (Random House, 2022) in seinem Essay „American Descent“.  in der New York Review of Books. Anlass seines Essays sind Federico Finchelstein Buch „The Wannebe Fashists – A Guide to Understanding the Greatest Threat to Democracy (University of California Press, 2024) und Jacob Heilbrunns „America Last – The Right’s Century-Long Romance with Foreign Dictators (Norton & Co. 2024). All die genannten autoritären Politiker:innen – so Ben Rhodes – repräsentieren allerdings keine in sich geschlossene Ideologie: „Because they do not represent a single coherent ideology like communism or national socialism, it can be hard to make sense of why such a similar collection of autocrats from such different parts of the world have ascended at the same time.” Ben Rhodes zitiert Federico Finchelstein: „Wannabe fascists do not openly advocate for fascism, but they gravitate toward fascist political styles and behaviors.” Die Vorbilder heißen – je nach Gusto – Putin, Trump und Orbán. Diese drei könnten durchaus auch als verschiedene Entwicklungsstufen auf dem Weg zu einer nicht mehr rückholbaren autoritär-totalitären Herrschaft verstanden werden.

„Wir machen keine Gefangenen“

Einmal an der Regierung betreiben anti-demokratische, anti-liberale Politiker alles, um ihren Machtstatus zu stabilisieren und für möglichst lange Zeit zu erhalten. Sie reformieren das Wahlrecht zu ihren Gunsten, sie zerstören die Gewaltenteilung, indem sie Justiz und Medien ihrer Kontrolle unterwerfen. Wie schwer solche Entwicklungen rückgängig zu machen sind, erleben wir zurzeit in Polen, wo der der abgewählten PiS-Regierung nach wie vor treue Präsident die Rückabwicklung autoritärer Reformen zu verzögern oder gar zu verhindern weiß. So verbindlich und verlässlich zum Beispiel Giorgia Meloni außen- und europapolitisch agieren mag, so anti-demokratisch und anti-liberal ist ihr noch nicht abgewehrter Versuch, das italienische Wahlrecht zu verändern, den Ministerpräsidenten (sie gendert nicht) direkt wählen zu lassen und dessen Partei automatisch 55 Prozent der Abgeordnetensitze zuzusprechen, auch wenn diese Partei – so wie ihre Fratelli d‘Italia bei der letzten Wahl – vielleicht gerade einmal etwa ein Viertel der Stimmen erhalten hat. Bekannt ist auch ihre Antwort auf die Kritik der Oppositionsführerin Elly Schlein an ihrem Vorgehen gegenüber den öffentlich-rechtlichen Medien: „Ihr habt auch keine Gefangenen gemacht.“ Gleichzeitig gelingt es ihr und anderen rechtspopulistischen Parteien, die Basis konservativer Parteien zu kapern. Thomas Biebricher hat diese Strategie in seinem Buch „Mitte / Rechts“ (Suhrkamp, 2023) für Italien, Frankreich und Großbritannien analysiert.

Aber das beantwortet noch nicht die Frage nach der Attraktivität autoritärer Politiker:innen. Eine Erklärung bieten vielleicht zwei Paradoxien. Das eine Paradox ist das sogenannte „Tocqueville-Paradox“. In einer Gesellschaft, die sich demokratisiert, die an Wohlstand gewinnt, sinkt die Frustrationstoleranz. Man ist eher geneigt, kleine Abstriche, kleine Probleme für Grundsatzprobleme zu halten. Je wohlhabender große Teile der Bevölkerung werden, umso unzufriedener sind sie mit Einschränkungen ihres Wohlstands. Vergleichbar ist die von Aladin El-Mafaalani mit dem „Integrations-Paradox“ beschriebene Paradoxie: Je besser die Integration von Ein- und Zugewanderten funktioniere, umso unzufriedener seien viele Menschen der autochthonen Bevölkerung, weil sie besser gebildete, wohlhabendere Menschen mit einer Zuwanderungsbiographie auf einmal als Konkurrenz erleben, zumal diese ihren Platz in der Gesellschaft mit der Zeit deutlich einfordern. Insofern wären mit dem Begriff der „Fremdenfeindlichkeit“ belegte Ressentiments auch ein Zeichen gelingender Integrationsbemühungen.

Ich denke, dass diese Analysen sich auf die Demokratie übertragen lassen. Dabei wäre vorauszuschicken, dass „Demokratie“ erst einmal kein Inhalt ist, sondern ein Verfahren, somit Spielregeln beschreibt, die dafür sorgen sollen, dass möglichst alle zu ihrem Recht kommen. Diese sind nicht per se attraktiv, vor allem, wenn alle glauben, dass es sich um Selbstverständlichkeiten handelt. Albert Koschorke beschrieb das Problem in der Augustausgabe 2024 des Merkur unter dem Titel „Fluch der Macht“. Er sieht Bezüge zu den Thesen Sigmund Freuds in „Totem und Tabu“ und von James George Frazer in „The Golden Bough“ (London, 1911). „Wie bei Freud nicht anders zu erwarten, sah er hinter dem ambivalenten Verhältnis der Untertanen zu ihrem Herrscher das Bild des Vaters aufscheinen, der gleichzeitig Objekt der Bewunderung und Ziel feindseliger Regungen ist. (….) Etwas Ähnliches wäre über die Wähler in heutigen Demokratien zu sagen, wenn sie ihren politischen Repräsentanten die Schalthebel der Macht an die Hand geben, nur um sie kurz darauf wegen ihrer Abgehobenheit zu beschimpfen, am liebsten gleich wieder zum Teufel zu jagen und so ein Zustimmungsklima für tatsächliche Gewalttätigkeiten zu schaffen.“

Philip Manow hat diesen Gedanken in seinem Buch „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“ mit einem meines Erachtens bedeutenden Zungenschlag zugespitzt. Er sagt, wir hätten keine Krise der Demokratie, wohl aber eine Krise der Repräsentanz. In einem ZEIT-Interview bezeichnete Philip Manow die Attraktivität des (nicht nur) rechten Populismus mit Bezug auf Cas Mudde als „die illiberale Antwort auf einen undemokratischen Illiberalismus“. Anders gefragt: Warum erleben viele Menschen die liberale Demokratie als undemokratisch?

Eine mögliche Antwort bietet Ivan Krastev in einem Gespräch mit Mariam Lau für die ZEIT: „Die Leute glauben: Der Rechten gelingt es vielleicht nicht, irreguläre Migranten aufzuhalten, aber die Linke will Migranten ins Land holen. Sie glauben, Meloni habe Verständnis für ihre Sorgen, während die Linke sie als Rassisten beschimpft. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Politiker werden zunehmend nach ihren Absichten beurteilt, nicht nach ihren Resultaten.“ Vielleicht lässt sich damit erklären, warum selbst große und nachhaltige wirtschaftliche Erfolge Wahlentscheidungen nicht so sehr beeinflussen, dass die für diese verantwortlichen Politiker:innen auch gewählt werden. Eben dies war das Dilemma von Joe Biden. Verbalradikalismus wirkt. Es geht eben in erster Linie nicht um Ideologien oder wirtschaftlichen Wohlstand, sondern um gefühlte Ungerechtigkeiten. Ideologien bilden sich mit dem Wahlerfolg von selbst. Viktor Orbáns „Illiberale Demokratie“ ist eine weiche, letztlich noch instabile Version, wie das Ergebnis der Europawahlen zeigte, Putins „Russische Welt“ die harte, die mit systematischer Repression und einer totalitären Umgestaltung des öffentlichen Lebens, nicht zuletzt des Schulsystems einhergeht.

Ilko-Sascha Kowalczuk bezieht sich in seinem Essay „Diktatur der Mehrheit“ auf Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill und erinnert an die verführerische Attraktivität eines paternalistisch verstandenen Staates: „Demokratie und Freiheit sind keine hohlen und leeren Begriffe. Aber sie müssen erlernt werden, immer wieder neu. Doch in den Jahren nach 1990 gingen Ost- wie Westdeutsche davon aus, Freiheit und Demokratie seien selbsterklärend. Sind sie aber nicht. Und niemand brachte den Ostdeutschen nahe, dass das Leben in der Freiheit weitaus anstrengender ist als in der Diktatur. Ständig muss man Entscheidungen treffen, ‚ich‘ sagen, sich in seine Angelegenheiten einmischen. In der Diktatur übernimmt das alles der Staat. Die Regeln waren einfach und überschaubar: Tu einfach, was man dir sagt! Und ‚man‘ ist der Staat.“ Partizipation ist nicht vorgesehen und offenbar von denen, die als Bürger:innen partizipieren sollten und könnten, nicht einmal erwünscht.

Ilko-Sascha Kowlczuk verweist auf einen Essay von Uwe Johnson aus dem Jahr 1970 über „ostdeutsche Flüchtlinge im Westen“: „viele von ihnen redeten über den SED-Staat, als handele es sich um einen Teil ihrer Familie.“ Allerdings ist dies, da möchte ich den Gedanken von Ilko-Sascha Kowalczuk fortführen, kein Spezifikum der Ostdeutschen. Auch im Westen war die Formel vom „Vater Staat“ oder etwas kuscheliger formuliert von „Papa Staat“ gängig. Damit wären wir auch wieder bei Sigmund Freuds „Totem und Tabu“!

Inzwischen hat sich dies in der Diktion verändert: viele – in Ost und West – reden vom Staat, als handele es sich um ein Einkaufszentrum oder einen Handwerksbetrieb, die zu „liefern“ hätten. Wehe wenn nicht! Oder um eine Sicherheitsbehörde – siehe den Duktus der Migrationsdebatten. Was die Politik nicht richtet, sollen – so die Analyse von Philip Manow – die Gerichte richten oder – wie in Deutschland üblich – eine eigene Behörde, der Verfassungsschutz. Hierzu Philip Manow in dem oben schon zitierten ZEIT-Interview: „Die AfD ist Ausdruck des Misstrauens gegenüber den etablierten Parteien. Versteift man sich auf den juristischen Kampf gegen sie, weitet sich das Misstrauen nur aus und erfasst dann alle Institutionen. So wird die wehrhafte Demokratie Teil der Radikalisierung, die sie doch eigentlich bekämpfen wollte.“ Keine Frage, dass die AfD – wie andere autoritäre Parteien auch – bei einer Regierungsbeteiligung die Institutionen der „wehrhaften Demokratie“ massiv umgestalten wird. Dann werden nicht mehr sie, dann werden eben Linke, Grüne und Liberale vom Verfassungsschutz beobachtet. Und wie sich die Polizei unter der Leitung eines AfD-Innenministers verhält, ist auch eine offene Frage, die für die Zukunft einer „wehrhaften Demokratie“ sogar bedeutender ist als die Frage nach der Anzahl tatsächlich rechtsextremistischer Polizist:innen im Dienst.

Der tiefe Staat der Autoritären

Diverse Umfragen und Studien belegen regelmäßig große Mehrheiten für die Frage nach der Zustimmung zur Demokratie. Die Zustimmungsraten liegen in der Regel deutlich über 70, oft über 80 Prozent. Soweit so gut. Selbst diktatorische Systeme nutzen demokratische Instrumente. Sie halten sich zwar nicht an die Spielregeln allgemeiner, freier und geheimer Wahlen, fälschen diese nach Lust und Laune, aber ihre Staatsführer behaupten ständig, sie wären demokratisch legitimiert. Vielleicht außer Xi Jinping, der es offenbar gar nicht nötig hat, sich durch irgendeine Wahl bestätigen zu lassen. Sobald in den genannten Umfragen konkrete Anliegen angesprochen werden, sinkt allerdings die Zufriedenheit mit der Demokratie. Dabei geht es dann aber nicht mehr um die Demokratie, sondern um die jeweilige Regierung, um politische Eliten, denen wer weiß was alles unterstellt wird, bis hin zu Verdächtigungen, diese schüfen einen „Deep State“.

In der Augustausgabe 2024 der Blätter für deutsche und internationale Politik hat Jon D. Michaels anschaulich beschrieben, wie „Trumps tiefer Staat“ ausschaut. Trump macht sich zum Messias all derer, die der US-amerikanischen Regierung und vor allem den Demokraten, aber auch ihnen nahestehenden Richter:innen, Medien- und Kunstschaffenden, Lehrer:innen, Hochschuldozent:innen pauschal unterstellen, sie hätten einen „tiefen Staat“ geschaffen, der die „wahren“ Interessen der Bevölkerung ignoriere. Mit dem „Project 2025“, das durchaus als Regierungsprogramm einer zweiten Präsidentschaft Trumps betrachtet werden darf, schüfe er jedoch genau den „tiefen Staat“, den er abschaffen wolle, indem er alle verfügbaren Positionen mit ihm willfährigen Leuten besetze, die bereit wären, zu seinem Vorteil auch Unrecht Recht werden zu lassen. „Trump spielt nicht länger die Rolle des unverfrorenen Unternehmers, der sich über die lästige Einmischung von Regierungsvertretern ärgert, sondern die eines messianischen starken Mannes, der versessen darauf ist, die staatliche Macht voll auszuschöpfen, um die Gesellschaft und Kultur sowie die Gesetze der USA umzugestalten.“ Jon D. Michaels sieht Trump auf dem Weg „von antistaatlicher Rhetorik zum autoritären Staatsumbau“. Bücher- und Debattenverbote, wie sie in manchen Counties und flächendeckend unter dem Gouverneur Ron de Santis in Florida um sich greifen, weisen den Weg sogar zum Übergang von einer autoritären in eine totalitäre Diktatur.

Ob das „Project 2025“ nach den anstehenden Wahlen, die nach einer der üblichen kryptischen Anmerkungen Trumps die letzten sein könnten, mit der Perspektive einer Präsidentschaft auf Lebenszeit, allenfalls mit dem Wechsel zu seinem Ziehsohn verbunden, dem zweifachen Konvertiten J.D. Vance, gelingt, ist meines Erachtens nach dem Wechsel von Joe Biden zu Kamala Harris weniger wahrscheinlich geworden. Aber dennoch müssen wir uns das Prinzip, das dahintersteht, sehr genau anschauen. Demokratie wird einfach als Mehrheitsentscheidung behauptet, gleichviel wie diese Mehrheit zustande gekommen ist, doch das entscheidende Merkmal einer Demokratie, der Liberalismus, der Minderheitenschutz, wird eliminiert.

Liberalismus ist heutzutage für viele ein Schimpfwort geworden. Dies liegt auch daran, dass sich autoritäre Herrscher anmaßen, nicht nur ihre eigenen Mehrheiten zu organisieren und gegebenenfalls mit Rechtsbruch und Gewalt durchzusetzen, sondern auch ihre ökonomische Macht auszuspielen. Dazu muss man sich nicht gleich als pubertierender Kettensägenfan gerieren, das funktioniert einfacher und schleichender. 2016 inszenierte sich Trump als der „Deal-Maker“ und all seinen Vorläufern – angefangen mit Ronald Reagen und Margaret Thatcher sowie Silvio Berlusconi bis hin zu den Anhängern eines sogenannten „Dritten Wegs“ mit Bill Clinton, Gerhard Schröder und Tony Blair – ist es gelungen, Steuern zu diffamieren und einen Staat zu fordern, der so wenig wie möglich steuert. Liberalismus wurde auf ein Wirtschaftsmodell reduziert. Die eigentliche liberale Botschaft wurde vergessen: Minderheitenschutz und Chancengleichheit, ungeachtet von Vermögen, Herkunft und Status.

Souveränität statt Menschenrechte

Anne Applebaum, die am 20. Oktober 2024 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten wird, hat diese Strategie in ihrem jüngsten Buch „Autocracy, Inc. – The Dictators Who Want to Run the World“ im Detail beschrieben. Eine ihrer Kernthesen: „Kleptocracy and autocracy go hand in hand, reinforcing each other but also undermining any other institutions that they touch.” Sie belegt dies nicht nur mit den üblichen Verdächtigen, sondern auch mit eher am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit agierenden Staatschefs, nicht zuletzt in Venezuela, in Zimbabwe, in Südafrika. Der persönliche Reichtum der Staatsführer und ihrer Gefolgschaft wird zum entscheidenden Kriterium ihres Erfolgs, der vielleicht zu Beginn der Erfolg eines Aufstands gegen vorhergegangene Eliten gewesen sein mag, mit der Zeit aber zum Selbstzweck wurde, der mit den erforderlichen brutalen Repressionen durchgesetzt und aufrechterhalten wird. Antikolonialistische Demokratie-Bewegungen mutieren zu illiberalen autoritären Systemen, mal mit etwas mehr, mal mit etwas weniger demokratischen Verfahren bemäntelt. Das Kapitel, in dem Anne Applebaum dies beschreibt, trägt den passenden Titel „Kleptocracy Metasizes“. Die Opposition lässt sich einfach ausschalten, indem man sie mit Korruptionsvorwürfen überzieht. „Corruption accusations against dissidents also deflect attention away from the corruption of the ruling party.” Das hat schon mafiöse Züge. „Putin’s Russia was not an old-fashioned totalitarian state, isolated and autarkic. Nor was it a poor dictatorship, wholly dependent on foreign donors. Instead, it represented something new: a full-blown autocratic kleptocracy, a mafia state built and managed entirely for the purpose of enriching its leaders.”

Damit dies alles aber gelingt, ist es erforderlich, die Narrative zu kontrollieren, das heißt Medien unter die eigene Kontrolle zu bekommen, um damit die jeweiligen Informationen, die dem eigenen Machterhalt dienen, ungeachtet ihres Wahrheitsgehalts, zu verbreiten. Dies gelingt über die sozialen Medien, aber nicht nur über diese. China bietet die Blaupause: „To prevent the democratic wave then sweeping across Western Europe from spreading to the East, China’s leaders set out to eliminate not just the people but the ideas that had motivated the protests: the rule of law, the separation of powers, and all the principles that the described as ‘spiritual pollution’ coming from the democratic world.” Entsprechend muss auch der Demokratie-Begriff neu definiert werden. Dem Westen lässt sich – auch mit Unterstützung der antikolonialistischen Linken – unterstellen, dass die westliche liberale Demokratie nichts anderes wäre als eine Fortsetzung des Kolonialismus mit anderen Mitteln. Es geht nicht mehr um Menschenrechte, sondern um Souveränität. eine Strategie, mit der Khomeini 1979 die westlichen Demokratien für sein Projekt der Islamischen Republik Iran gewinnen konnte. Katajun Amirpur hat in ihrer Khomeini-Biographie (C.H. Beck, 2021) im Detail beschrieben, wie sich Khomeini als Anti-Imperialist und Anti-Kolonialist gab, um einen autoritär-totalitären Islamismus durchzusetzen. An diese Strategie knüpfen die heutigen Gegner des demokratisch-liberalen Westens an. Die verschiedenen „My Country First“-Bewegungen tun nichts anderes.

Autoritär-totalitäre Staaten wie China oder Russland oder Iran vermögen sich die im Westen zugelassene Opposition zunutze zu machen und agitieren gegen jede Form von Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten, obwohl man selbst alles tut, um mit seinen gut ausgebauten nachrichtendienstlichen Möglichkeiten westliche Demokratien mit den eigenen Narrativen zu destabilisieren und zu delegitimieren. Die Verwendung des Wortes „democracy“ wird in den sozialen Medien blockiert und gegebenenfalls verfolgt. Anne Appelbaum beschreibt, wie es vor allem China zunehmend gelingt, den Diskurs des freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaats und der Menschenrechte in einen Diskurs über Souveränität zu verwandeln. Gleichzeitig gelingt es, separatistische Bewegungen in westlichen Demokratien wie beispielsweise in Katalonien als Freiheitsbewegungen darzustellen, eine Einmischung, die man bei sich – siehe Tibet, siehe Xinjiang – verbitten würde. Putin brandmarkt die westliche Unterstützung der Ukraine ebenso als westliche Einmischung in inner-russische Belange.

Die eigenen Bürger:innen werden mit dieser Propaganda beschallt, andererseits aber auch systematisch demotiviert, sich gegen die Führung aufzulehnen. „They don’t offer their fellow citizens a vision of utopia, and they don’t inspire them to build a better world. Instead, they teach people to be cynical and passive, because there is no better world to build.” Das betrifft allerdings nicht nur Menschen in Ländern, die man nun wirklich nicht als Demokratien bezeichnen kann, sondern auch Menschen in Demokratien. Die Strategie westlicher Antidemokrat:innen ist vielleicht sogar viel subtiler als die der etablierten Autoritären. Eines der wirksamsten Instrumente ist Klassismus. Wer nicht zu den Reichen, den Wohlhabenden, den ökonomischen und politischen Eliten gehört, soll nicht mehr und nicht weniger als selbst daran schuld sein, in den Worten Hillary Clintons „a basket of deplorables“. Diese Verachtung von linker und liberaler Seite wird jedoch durch die Subtilität der sich als Respekt verkleidenden Strategie von rechts getoppt. Ein klassischer Fall ist der von Trump als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten nominierte J.D. Vance, Autor der „Hillbilly Elegy“, deren Lektüre Bundeskanzler Olaf Scholz – so sagt er – zu Tränen gerührt hätte.

Wolfgang M. Schmitt fragt in seiner Filmanalyse zur „Hillbilly Elegy“: „Was lehrt der Film über JD Vance und Trump?“. Es geht um Identitätspolitik, aber da gibt es eben Unterschiede. Auf der einen Seite gebe es den Umgang mit Schmähungen und Angriffen gegen queere Menschen. Deren Problem ließe sich politisch mit einfachen Maßnahmen lösen, beispielsweise mit der „Ehe für alle“, Anti-Diskriminierungs-Geboten etc. Auch Rassismus ließe sich als Problem aus der Welt schaffen, zumindest lässt sich dies mit Gleichstellungs- und Integrationsmaßnahmen erreichen. Beim Klassismus ist das anders. Da geht es nicht um Respekt vor jemand anderem, denn mit Respekt schafft man die Armut nicht ab. Aber genau hier setzen Trump und Vance an. Sie versprechen – so Wolfgang M. Schmitt – den Armen, den – wie man so sagt – „Abgehängten“ nichts Materielles, sie versprechen ihnen Respekt, den ihnen die linksliberalen woken Demokraten verweigerten. Vance fordert „Anerkennung für seine Leute“, er fordert nicht, etwas an den Verhältnissen zu ändern, die sie arm machen, er fordert zum Beispiel nicht eine Krankenversicherung, damit sie ihre Arzt- und Krankenhausrechnungen bezahlen können, im Gegenteil.

Und genau so gelingt es Anti-Demokrat:innen, auch diejenigen für sich zu gewinnen, deren Interessen es eigentlich nicht erlauben dürften, für eine kleptokratische, mafiöse und klassistische Politik zu stimmen. Stattdessen suchen sie ihr Heil in einem Mix von autoritärem Paternalismus, anti-imperialistischer und anti-kolonialistischer „My Country First“-Rhetorik, Klassismus, unterstützt von einer antikolonialistischen Linken mit ihrer scheinbar internationalistischen „My Country Last“-Variante, mit der sie glauben, die Welt befreien zu können, Hauptsache, denen, die sie für ihre Lage und die Lage aller Unterdrückten dieser Welt verantwortlich machen, den – im Sinne der Formulierung von Cas Mudde – „undemokratischen Liberalen“ geht es an den Kragen. Und eben dies ist das Paradox der Demokratie, von dem hier die Rede ist.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2024, Internetzugriffe zuletzt am 6. August 2024. Für Inspiration und wichtige Hinweise danke ich Christina Morina und Till van Rahden. Titelbild: Arina Nâbereshneva: Submissive Chain Swallowing. Rechte bei der Künstlerin.)