Das „Stella-Dilemma“
Wahrheit und Verrat in der Erinnerungskultur
„Was hätte aus Stella werden können, die in Dr. Bandmanns Chor an der Goldschmidt-Schule Sopran sang? So wie ich sie noch als verführerische Athletin in Turnzeug vor mir sehe, kann ich sie mir auch als Sängerin einer amerikanischen Band im Fernsehen vorstellen – wenn ihr Vater sich eher bei den Verwandten in St. Louis um ein Affidavit bemüht hätte.“
Diese Frage stellte sich Peter Wyden (1923 – 1998), geboren als Peter Weidenreich, ein Mitschüler von Stella Goldschlag, der mit vielen Menschen, die Stella kannten, und vier Jahre vor ihrem Freitod auch mit ihr selbst hatte sprechen können und im Grunde so zu ihrem Biographen geworden ist.
Peter Wydens Biographie (Stella Goldschlag – eine wahre Geschichte, Steidl, englischer Originaltitel: Stella: One Woman’s True Tale of Evil, Betrayal, and Survival in Hitler’s Germany“), erschien 1992 und wurde jetzt etwa zeitgleich oder vielleicht in Reaktion auf den Roman von Takis Würger (Stella, Hanser 2019) wiederaufgelegt.
In Peter Wydens Buch finden die Leser*innen eine Fülle von Informationen zu den politischen, historischen und gesellschaftlichen Verwicklungen, in denen Stella Goldschlag lebte, leben musste. 46 Jahre hat der Autor an dieser Biographie gearbeitet, eine Arbeit, die er als sein „Stella-Dilemma“ und die ein von ihm konsultierter Psychologe als „Rest nostalgischer Zuneigung“ bezeichnet.
„Der verhinderte Star“
Vielleicht war Stella Goldschlag (1922 – 1994) „ein verhinderter Star“. Vielleicht hatten Stellas Eltern eine Idee davon, was ihre Tochter werden sollte, als sie diesen mehr oder weniger programmatischen Vornamen wählten. Peter Wyden bezeichnet Stella mehrfach als „Star“, in welcher Lebenslage auch immer. Nicht zufällig beginnt er die Darstellung ihrer Kindheit mit einem Verweis auf Marlene Dietrich, schreibt, sie sei die „Marilyn Monroe“ der Schule gewesen, betont immer wieder ihr tadelloses Aussehen und ihre schauspielerischen Fähigkeiten, auch bei ihren Lügen, beispielsweise während ihres Prozesses vor einem deutschen Gericht im Jahr 1957.
Mich erinnert Stellas Karriere als „verhinderter Star“ und als sogenannte „Greiferin“ an einen anderen prominenten Täter, dem es nach 20jähriger Haftzeit gelang, sich in der bundesdeutschen Öffentlichkeit als „Künstler“ und „Popstar“ zu inszenieren. Auch Albert Speer beeindruckte durch gepflegtes Aussehen und Auftreten. Nur: Albert Speers Verbrechen wurden angesichts seines öffentlichen Erfolges heruntergespielt.
Man könnte auch an andere Täterinnen und Täter denken, die gleichwohl Opfer waren oder zumindest welche sein konnten, die Kapos in den Konzentrationslagern, vielleicht sogar die sogenannten „Roten Kapos“ in Buchenwald mit ihrem Gesinnungsregime, oder auch manche informelle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Staatssicherheit in der DDR. Man könnte darüber nachdenken, warum gerade Stella eine so prominente Rolle in der Aufarbeitung der Rolle der Greifer*innen spielt, während andere durchaus auch mit Namen bekannt sind, aber in der Erinnerungskultur keine besondere Rolle spielen. Vielleicht hängt dies mit der Dokumentation der Prozesse zusammen, vielleicht auch mit ihrem „Star-Appeal“.
Das, was einem Albert Speer gelang, gelang Stella Goldschlag nicht, sie wurde erst mehr als zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod zum „Star. Stella wurde Titelfigur eines Musicals, dass die Neuköllner Oper 2016 uraufführte, sie war eine Nebenfigur in dem 2017 erschienenen Film „Die Unsichtbaren“, sie ist die Titelfigur des 2019 erschienen Romans von Takis Würger. In einer Kritik des Musicals im Berliner Tagesspiegel (online mit dem Datum 24.6.2016) schreibt Gunda Bartels, dass die Autoren des Musicals „aus der schönen, jungen Sängerin weder ein Opfer noch eine Täterin, sondern einen verhinderten Star“ gemacht hätten. Ich habe das als Lob verstanden.
Doch der Reihe nach: Stella Goldschlag war schlank, blond, hatte blaue Augen, war eine gute Sportlerin, konnte singen und zeichnen – sie wäre gerne Modezeichnerin oder Sängerin geworden – sie war vor allem wie viele andere Jüdinnen und Juden ihrer Zeit – zunächst einmal Deutsche. „Stella fand die Ärmlichkeit ihrer Familie unerträglich. (…) Sie wollte ein Star sein, kein Fall für die Armenhilfe, und versuchte ihre Blondheit gezielt einzusetzen, um ihrer Erblast zu entrinnen. (…) Sie wollte mehr sein als nur eine Jüdin. Juden waren Verlierer. Deshalb log sie und hoffte ihre jüdische Identität abstreifen zu können.“ Stellas Verhängnis: Sie wurde von den Nazis „zur Jüdin gemacht“, die sie nicht sein wollte.
„Selektionen“
1935 musste Stella ihre Schule verlassen und wechselte an die jüdische Privatschule von Frau Dr. Goldschmidt im Grunewald, in der sich Peter Weidenreich und manch anderer Junge in sie verliebten. Die Ausreisepläne der Familie scheiterten. Es fehlte an Geld und Beziehungen, wohl aber auch – dies warf Stella ihrem Vater vor – am „Willen“. Er verweigerte ihr sogar eine mögliche Ausreise nach England, um die Familie nicht „auseinanderzureißen“. „Affenliebe (….) nannte Stella den Besitzanspruch ihres Vaters, wenn auch nur hinter seinem Rücken.“
„Selektion“ fand nicht erst an der Rampe von Auschwitz statt. Peter Wyden beschreibt, welche „Selektionen“ es schon beim bloßen Bemühen um die Ausreise gab. Das Nicht-Ergebnis der Konferenz von Evian aus dem Jahre 1938, das Verhalten der USA, als sich Präsident Franklin D. Roosevelt von antisemitischen Mitarbeitern beraten ließ, sodass seine Frau Eleanor sehr deutlich werden musste, um wenigstens die Aufnahme des Ehepaars Einstein zu erwirken, aber auch der Dünkel der Berliner Zionisten, die Nicht-Zionisten nicht unbedingt freundlich begegneten. Wyden spricht von einer „Emigrantenlotterie“, in der die Familie Goldschlag die „Nieten“ zog.
Das Unheil nimmt seinen Lauf, systematisch, bürokratisch, unerbittlich: 19.9.1941: Verpflichtung zum Tragen des gelben Sterns, 26.10.1941: Auswanderungsverbot, 27.2.1943 Fabrikaktion, der Stella noch entging, 2.7.1943 Verhaftung durch Inge Lustig, eine jüdische Bekannte, eine andere „Greiferin“. Stella wird gefoltert und erpresst. „Barsch informierte er (d.i. der Leiter des Lagers in der Großen Hamburger Straße, Walter Dobberke) Stella, dass er die Deportation aller drei Goldschlags noch einmal aufschieben würde, wenn sie ihre Bürgerpflicht tun und helfen würde Gesetzesbrecher aufzuspüren, angefangen bei Günther Rogoff (d.i. einer der Tarnnamen von Cioma Schönhaus). Stella zuckte die Achseln und nickte zustimmend. Der Pakt war geschlossen.“
Stella konnte ihre Eltern nicht retten. Ob es ihr hätte gelingen können, sich mit ihrem Partner und zweiten Ehemann Rolf Isaaksohn, von dem sich dann aber auch jede Spur verlor, abzusetzen, bleibt spekulativ, wie so manches andere auch. Sie wurde im Dezember 1945 verhaftet, zu zehn Jahren Haft in sowjetischen und DDR-Gefängnissen verurteilt, und kam damit möglicherweise sogar noch ‚gut‘ davon, denn andere Menschen wurden wegen bloßer Kontakte zur West-SPD und vermuteter Spionage auch schon mal zu 25 Jahren Haft verurteilt oder gleich nach Workuta geschickt. Auch andere Kollaborateure kamen besser davon, so beispielsweise Max Reschke, sogenannter „Jüdischer Leiter“ der Lager Große Hamburger Straße und Schulstraße, der freigesprochen wurde. Zeugen sagten für ihn aus, „er habe mit ‚Ruhe und vorbildlicher Ordnung‘ dafür gesorgt, dass ‚gute Zustände im Lager Hamburger Straße waren‘“. Was auch immer unter „Ordnung“ verstanden werden könnte.
Es gab auch Zeuginnen und Zeugen, die Stella nicht verurteilen wollten oder konnten. Peter Wyden dokumentiert seine Gespräche mit ihnen, darunter mit Cioma Schönhaus, den er u.a. mit den Worten zitiert: „Sie haben Stella zur Hexe erklärt, dabei war sie nur ein Mädchen. Die Leute haben heutzutage keine Ahnung, dass du, wenn du in den Klauen der Gestapo warst, darauf gefasst sein musstest, dass sie dir einen Zahn nach dem anderen abfeilten. Stella hatte wunderschöne Zähne…“
1957 erhielt Stella Goldschlag in ihrem zweiten, diesmal bundesdeutschen Prozess ebenfalls eine Strafe von zehn Jahren unter Anrechnung der verbrachten Haft. In einem dritten Prozess versuchte sie sich als Opfer des Faschismus anerkennen zu lassen, doch verlor sie auch diesen.
Stella’s „Choice“
Wie lebte sie im Alter? Peter Wyden konnte sie, die sich inzwischen Ingrid Gärtner nannte, in Freiburg besuchen. Zunächst der in doppeltem Sinne blendende Star. Doch dann: „Stellas Gesicht ließ vermuten, dass sie sich mit einem weiteren Verhör abgefunden hatte. Sie hatte im Lauf der Jahrzehnte schon so viele Verhöre überstanden. Noch mehr als bei meinen früheren Besuchen kam mir das kleine abgedunkelte Zimmer wie eine Zelle vor und die Jalousien wie Gitter. Hier wurde ein lebenslängliches Urteil abgebüßt. Die Stoffpuppen sahen diesmal wie Wärter aus.“
Täterin oder Opfer? Beides. Das entschuldigt nichts, erklärt aber manches. Peter Wyden vergleicht Stellas Geschichte mehrfach mit der einer anderen allerdings fiktiven Täterin, die auch Opfer war: Sophie aus „Sophie’s Choice“. Doch woher der posthume Starstatus? „War sie das Gegenstück zur liebenswürdigen Anne Frank, ihr Negativ, der böse Mr. Hyde, die dunkle Seite des freundlichen Dr. Jekyll?“ Und die Abhängigkeit von dem Handeln anderer: Peter Wyden widmet das Buch seiner Mutter Helen: „Wenn sie Hitler nicht richtig eingeschätzt hätte wäre ich nicht hier.“ Zur Erinnerung: Franklin D. Roosevelt und seine Entourage hatten offenbar eine andere Einschätzung.
Kann man Stella verstehen, vielleicht ihr Verhalten entschuldigen, sogar verzeihen? Eine unauflösbare Frage, aber genau diese Frage stellt aus meiner Sicht Takis Würger. Zu Recht, auch wenn viele Rezensentinnen und Rezensenten die Frage nicht für zulässig erklären möchten. Vieles von dem, was ich in diversen Kritiken lesen konnte, befasste sich weniger mit der Absicht und dem Können des Autors als mit der Frage, ob und wie man überhaupt über Stella Goldschlag schreiben dürfe.
Wer die Frage nach dem Ob negativ beantwortet, sollte sich darüber im Klaren sein, dass dann von Literatur nicht mehr viel übrigbleibt: Historische Personen scheiden als Gegenstand von Literatur ganz aus, oder sie werden – wenn mit anderem Namen versehen – zum Gegenstand einer der Lieblingssportarten der Literaturkritik, der Entschlüsselung von Schlüsselromanen. Es ist auch das Recht des Autors, eine historische Person in eine fiktive Geschichte einzubetten und die historische Zeit in eine fiktive Zeit, vom Jahr 1943 in das Jahr 1942 oder auch die Geburt von Stellas Tochter von Dezember 1945 in den September 1943 vorzuverlegen.
„Das Leben formt uns zu Lügnern.“
Berechtigt ist sicherlich auch die Frage, ob man eine Kollaborateurin als liebevolle, liebensbedürftige, verzweifelnde junge Frau darstellen darf, eine Frage, die sich durchaus mit der nach dem Recht vergleichen lässt, einen Nazi als gebildeten Mann darzustellen, in Würgers Roman die Gestalt des Tristan von Appen. Und doch stellt sich die Frage bei Stella Goldschlag anders: Stella Goldschlag war Kollaborateurin nur bedingt aus eigenem Willen, sondern zunächst aus einer für sie nicht auflösbaren Verzweiflung heraus.
Würgers Roman verbindet unaufdringlich historische Hintergrundinformationen, Originalauszüge aus den Prozessakten und die eigentliche Geschichte, auch graphisch voneinander abgesetzt, die Geschichte im Blocksatz, Aktenauszüge und historische Informationen in Flattersatz, die Aktenauszüge auch kursiv. In der Anlage entspricht der Roman der Definition einer Novelle durch Goethe: „eine unerhörte Gegebenheit“. Exemplarisch, grundlegend, bedeutsam. In klaren knappen Worten dokumentiert Takis Würger gekonnt – das Buch enthält kaum ein überflüssiges Wort – die Liebesgeschichte zwischen dem jungen Schweizer Friedrich und Stella Goldschlag, die er unter dem ebenso programmatischen falschen Namen „Kristin“ kennenlernt. Es geht um Schuld, Lüge, Wahrheit und – angesichts der Farbenblindheit des Erzählers mit doppelter Bedeutung – den „Graubereich“.
Friedrichs Mutter ist auch so etwas wie ein verhinderter Star. Sie gibt vor zu malen, bringt Friedrich die Liebe zur Malerei nahe, ist Alkoholikerin. Friedrich findet – als er schaut, was auf den Leinwänden zu sehen ist – kein einziges Bild, nur Grundierungen, die er zumindest zum Teil wohl selbst angefertigt hat. Der Vater hingegen vertritt die Auffassung, dass man nicht lügen dürfe, denn „die Wahrheit sei ein Zeichen von Liebe. Die Wahrheit sei ein Geschenk.“ Etwas weiter im Text: „Weißt du, dass Schweigen manchmal schlimmer ist als Lügen?“ fragte er. (…) Wir schwiegen gemeinsam.“ Immer öfter schweigt in Berlin auch Friedrich oder weicht Fragen aus. Konsequent ist der Vater jedoch auch nicht. Auf Friedrichs Vorwurf, er lüge „über Mutter“, antwortet er mit einem Gleichnis. Die Mutter verehrt Hitler und ist offene Antisemitin, der Vater lehnt den Nationalsozialismus ab und sucht sein Glück in Istanbul.
Friedrich fährt nach Berlin, denn er möchte „Gerüchte von der Wirklichkeit trennen“, das Gerücht, in Berlin „fahre nachts ein Möbelwagen ins Scheunenviertel und hole die Juden.“ Friedrich sieht zunächst keine Möbelwagen, erst bei seinem Besuch in der Großen Hamburger Straße, aber auch ohne Möbelwagen bestätigt die Wirklichkeit das Gerücht. Berlin entpuppt sich als Stadt der Lüge: „Groß waren nur die Kulissen, die Fahnen vor allem.“ Eine „Zeit der Ausrufezeichen“, der Scheinwahrheiten. Doch die Lüge ist auch das, was Kristin / Stella – zunächst – nicht nur im Untergrund am Leben erhält, die Wahrheit hingegen führt sie ins Verderben.
Im Verlauf der Erzählung werden die Lügen entlarvt, auch ihre Motivationen. Stella, die in ihrer Rolle als Kristin die Wahrheit verschweigt, um nicht verraten zu werden, Stellas Eltern, die Friedrich bei seinem Besuch bitten, Stella zu erzählen, wie gut es ihnen ginge und wie bald sie „wieder in Freiheit sein werden“, hoffend, dass diese Lüge Stella davon abhielte, ihren Verrat fortzusetzen. Doch letztlich ist der Erfolg einer Lüge eine Frage der Macht. „Dobberke brach sein Wort einfach so, weil er es konnte.“
„Lüge“ wird „Verrat“. Und die Wahrheit über den „Verrat“ ist unerträglich. Vor der Wahrheit flieht Friedrich aus Berlin und denkt „an das Leben, das ich nicht haben würde“. Sein Fazit: „Ich könnte versuchen, sie zu vergessen. Das Leben formt uns zu Lügnern. (…) Ich dachte an eine Lügnerin. Ich wusste nicht, wie viele Menschen sie verraten hatte, hundert, zweihundert. Ich dachte an meine Frau. Ich dachte an dich.“
Gibt es Schuld, und wenn ja, welche? Friedrichs Vater behauptet, es gebe keine Schuld, Friedrich möchte ihm gerne glauben, kommt jedoch zu einem anderen Schluss. Friedrichs Mutter schreibt ihm: „Das eigene Leid ist ein Einzelschicksal, das zu vergessen ist.“ Würgers Roman wiederlegt dies, vielleicht ganz im Sinne von Milan Kundera, der „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ mit einem Massaker aus dem 14. Jahrhundert beginnen lässt, das für die Weltgeschichte wenig bedeutete, aber für jede einzelne ermordete Person alles. Und dort liegen „Schuld“ und „Wahrheit“, genau dort.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2019, Interlink zur Seite von Takis Würger wurde am 22. September 2022 hinzugefügt.)