Demokratischer Pop

Von Smartphones, Dorfkneipen und Teppichstangen

„Es gibt (…) dieses Gefühl von Kontrollverlust in Bezug auf die zahlreichen Veränderungen einschließlich der Klimapolitik – das zieht sich bis tief in die Mittelschicht. Eine passende Antwort ist aber nicht, das Thema von den Menschen fernzuhalten, wie Scholz es macht. Vielmehr muss man den Menschen zeigen, wie sie zu handelnden Subjekten der Transformationsprozesse werden. Als Partei der Arbeit kann die SPD das vor allem im Berufskontext machen. Die Botschaft wäre dann: Ihr Facharbeiter in den Fabriken, ihr baut das neue emissionsfreie Auto. Ihr Handwerker baut die neue Heizung ein und sorgt für die klimafreundliche Dämmung der Häuser. Ihr Bauarbeiter buddelt die Löcher und verlegt die Rohre für die neuen Wärmenetze.“ (Johannes Hillje im Gespräch mit Nora Zaremba für den Tagesspiegel.)

Johannes Hillje fordert nicht mehr und nicht weniger als das Vertrauen in die eigenen Kräfte, an Selbstwirksamkeit. Seine Aufforderung an die SPD ließe sich auch als Aufforderung an alle demokratischen Parteien lesen, an CDU und CSU, FDP und Grüne, ja, auch an die Linke und vielleicht auch an das BSW, wenn es sich nicht von seiner Chefin in anti-demokratische Gefilde treiben lässt. Müsste Angela Merkel heute sagen: „Wir schaffen es nicht“? Das verlangten ihre Gegner:innen, allen voran der damalige CSU-Vorsitzende, schon kurz nachdem sie sie den legendären Satz ausgesprochen hatte. Diese durchweg pessimistische Grundeinstellung hat sich inzwischen so weit verbreitet, dass kaum noch jemand wagt, ein Wort wie „Optimismus“ in den Mund zu nehmen.

Deutsche Ideologie: Ruhe ist das erste Bürgerrecht

Die Tübinger Philosophin Sabine Döring warnte in einem bewusst provokant mit „Wahrheit und Bullshit“ überschriebenen Gastbeitrag in der FAZ vor der Annahme, Politiker:innen müssten immer das tun, was sie in Talkshows oder in Meinungsumfragen hören. Sabine Döring zitiert Walter Scheel, den wir meines Erachtens ohnehin wieder neu entdecken sollten: „Es kann nicht die Aufgabe eines Politikers sein, die öffentliche Meinung abzuklopfen und dann das Populäre zu tun. Aufgabe des Politikers ist es, das Richtige zu tun und es populär zu machen.“

Die Appelle von Johannes Hillje und Sabine Döring verhallen bisher ungehört. Olaf Scholz argumentiert nicht mehr und nicht weniger paternalistisch als sein aussichtsreichster Konkurrent um das Kanzleramt, Friedrich Merz. Wir regeln das schon für euch. Noch nie konkurrierten in Deutschland zwei Politiker miteinander um das Amt des Bundeskanzlers, die so wenig auf junge Menschen wirken dürften wie diese beiden. Friedrich Merz oder Olaf Scholz als Pop-Phänomen? Nein, das sind zwei ältere bräsige Männer, die nur eine Botschaft kennen: Mit uns wird sich für euch nichts ändern. Alles wird wie früher. Irgendwie.

Beide Politiker ignorieren die kreativen Potenziale der Selbstwirksamkeit in der Gesellschaft. Eine Start-Up-Gesellschaft war Deutschland ohnehin noch nie. „Selbstwirksamkeit“ mag ihnen als eine Vokabel aus psychosozialen Dokumentationen zu erscheinen. Aber was hat das mit dem Politiker-Leben zu tun? Dabei wäre ein Blick in so manches gute Demokratie- oder Kulturprojekt ganz aufschlussreich. Marina Weisband hat im Demokratischen Salon ihr aula-Projekt, Sandro Witt das von ihm geleitete Projekt „Betriebliche Demokratiekompetenz“ vorgestellt. Projekte, die auf die Entwicklung demokratischer Kompetenzen, auf Kreativität und auf Selbstwirksamkeit setzen, müssen allerdings befürchten, dass sie bei den Haushaltsaufstellungen im Bund und Ländern deutliche Etat-Kürzungen erleiden. Viele werden Personal entlassen, manche werden ihre Arbeit ganz einstellen müssen.

Zuversicht, dass wir es dennoch schaffen? Offenbar nur wenig. Bernd Ulrich fragte in der ZEIT: „Regiert da noch wer?“: Die Probleme sind fast allen Menschen bewusst, aber offenbar ist die Regierung hilf- und ratlos: „Existenzielle Probleme aufzurufen, ohne über genug Kraft und Konsens zu verfügen, um Maßnahmen in Angriff zu nehmen, die wenigstens in die Nähe einer Lösung zielen könnten – das ist das Prinzip Ampel.“ Die Parteien der Ampel verhielten sich, als gäbe es morgen Neuwahlen, obwohl die gar nicht in Sicht sind, es sei denn, die Ampel bereitete ihr eigenes baldiges Ende vor, das sprichwörtliche Ende mit Schrecken anstelle des drohenden Schreckens ohne Ende.

So wie die Dinge liegen, zerbricht der Glaube an die deutsche Wirtschaftskraft, die sich nicht zuletzt in der Qualität der deutschen Autos verwirkliche, nur sind die chinesischen Autos billiger, elektrischer, digitaler. Und das werden sie wohl auch in Zukunft sein. Das deutsche Auto verliert – so Bernd Ulrich – „seine mythische Aufladung“: Ökologie hat eben immer auch etwas mit „Mythologie“ – ich ziehe den Begriff „Ideologie“ vor – zu tun. „Man weiß nicht, ob die Regierung es weiß, aber diese Wirtschaftskrise ist für die Deutschen zugleich eine Identitätskrise. Die Regierung schafft es dabei weder, die alten Mythen zu retten, noch, neue zu schaffen oder deren Entstehen erfolgreich zu befördern.“

Nicht dass die christdemokratische Oppositionsfraktion ein besseres Konzept hätte. Der unverbrüchliche Glaube an irgendwelche irgendwann entwickelte und dann auch noch unverzüglich marktreife Technologien, – von der flächendeckenden Energieversorgung mit Wasserstoff über E-Fuels bis hin zur Kernfusion – bestimmt nicht nur christ-, sondern auch freidemokratisches Denken. Johannes Hillje kommentiert: „Merz’ klimapolitische Erzählung wird also die Kreativität und Innovationskraft der Ingenieure in den Mittelpunkt stellen. Auch er hält die Klimapolitik aus der Lebenswelt der Menschen heraus und überträgt die Aufgabe der Transformation allein der Kreativität und Schöpfungskraft der Industrie. Aber nicht nur das. Wir werden oft den Begriff der Technologieoffenheit hören. Da muss die CDU allerdings aufpassen, Technologieoffenheit nicht mit Zieloffenheit zu verwechseln.“

Eben diese „Zieloffenheit“ vertritt die FDP in der Regierung. CDU / CSU haben es geschafft, dass die meisten Bürger:innen dies inzwischen auch glauben. Wer kauft sich jetzt ein E-Auto, wer baut eine Wärmepumpe ein? Wenn die zurzeit in den Umfragen stärkste Partei damit wirbt, dass sie die Gesetze der aktuellen Regierung wieder kassieren werde? Leider wird viel zu wenig diskutiert, dass das Wechselspiel zwischen Regierungsparteien und CDU/CSU gleichermaßen dazu beiträgt, dass weder Wirtschaft noch Bürger:innen wissen, wohin die Reise gehen wird. Ein Jahr lähmender Wahlkampf? Genau dieses scheint uns in Deutschland bevorzustehen, gepaart mit dem Ego-Trip von zwei Politiker:innen, denen es immer wieder gelingt, die Aufmerksamkeit der Medien und der mit ihnen konkurrierenden Parteien auf sich zu lenken. Dabei kommen die Parteien dieser beiden in den Umfragen gerade einmal auf knapp über zehn Prozent, beide erfreuen sich jedoch daran, dass sie mehr oder weniger ihre Partei zu einer Ein-Themen-Partei machen, deren Rattenfänger-Melodien im Unterschied zu den Kakophonien der anderen Parteien wenigstens eingängig und verständlich erscheinen. Was dem einen die sogenannte „Schuldenbremse“ ist der anderen ihre unverbrüchliche Freundschaft mit dem russischen Diktator.

SPD, CDU/CSU und FDP propagieren geradezu Ruhe als erstes Bürgerrecht. Nicht so die Grünen, die allerdings – so Johannes Hillje – durch Heizungsgesetz und Beharren auf der Abschaltung der letzten drei (ich wiederhole: drei!) Atomkraftwerke – es ihren politischen Konkurrenten und Gegnern leicht machten. Sie wurden zum „Klischee ihrer Gegner“ und müssen nun ihre Grunderzählung einer klimagerechten Gesellschaft, die Wohlstand und soziale Sicherheit auch für die kommenden Generationen sichert, völlig neu aufbauen. Inken Behrmann und Valentin Ihßen schrieben in der Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik vom November 2024: „Die grassierende antigrüne Meinungsmache hat zur Folge, dass die Grünen, obwohl sie in der Regierung höchst angepasst agieren, als radikale Ideologen wahrgenommen werden. Die fatale Konsequenz: Die Wähler:innenkoalition, auf der der Erfolg der Grünen einst beruhte, ist inzwischen zerbrochen.“

Den Parteivorsitzenden der Grünen ist da wahrscheinlich nicht viel vorzuwerfen, aber es ist wie in der Fußballbundesliga. Neue Trainer:innen schaffen mitunter Wunder, weil sie ihr Team – hier die Gesellschaft mit all ihren verschiedenen Gruppen und Einstellungen – anders ansprechen und neu motivieren können. Robert Habeck dürfte diese Kompetenz eigentlich auch nicht verlernt haben. Immerhin haben die Grünen als einzige Partei die Probleme, den wir uns stellen müssen, offen angesprochen, aber sie haben dann doch irgendwie ihre Linie verloren. Ricarda Lang im Gespräch mit Robert Pausch in der ZEIT: „Eine Krankheit dieses Betriebs ist, dass Spitzenpolitiker glauben, sie müssten immer die perfekte Antwort haben. (…) Wer in einer derart komplizierten Lage so tut, als wüsste er auf Anhieb eine Lösung, der behauptet irgendwann Dinge, an die er selbst nicht glaubt. Diese Unsicherheit wird dann mit noch mehr Entschiedenheit, noch mehr Erstens-zweitens-drittens, überspielt. Bis man irgendwann wie ein Sprechroboter klingt.“

Inken Behrmann und Valentin Ihßen fordern die Grünen auf, „aus ihrem staatstragenden Kompromissdogma auszubrechen und in den Wahlkampfmodus umzuschalten.“ Georg Löwisch forderte in der ZEIT: „Jetzt müssen die Grünen ins Risiko gehen.“ Es hilft eben nicht, Markus Söder oder Hubert Aiwanger davon zu überzeugen, dass man doch nun wirklich nichts verbieten wolle. „Die Entwicklung der Grünen ist ein Symptom dieser Zeit, in der sich die Akteure gegenseitig zum Durchdrehen reizen. In der Reizüberflutung dieser Nachrichtenwelt ist eine Partei, die mit Veränderungsmut ehedem eine Party gefeiert hatte, schnell schuld am Stress. Sie ist auch der Sündenbock des Moments. Und alle Parteien, die selbst nicht so genau wissen, wer sie sind, definieren sich in ihrer Not darüber, dass sie gegen die Grünen sind. So kleben sie andauernd ihre Etiketten auf eine Partei, die nicht mehr zu zeigen vermag, wofür sie steht. Entschlossene Auftritte sind rar, wie der von Habeck, als er angesichts des Hochwassers seine Politik begründete. Stattdessen sitzen die Grünen verschrocken in ihren Ämtern. Sie starren auf Social Media. Sie haben Angst. Wir haben doch noch 11 Prozent in den Umfragen? Oder waren es 10? Punk is dead.“  

Pop statt Punk?

Es sieht so aus, dass vor allem die neue Rechte von den Dilemmata der demokratischen Parteien profitieren. Sie schaffen es sogar, sich selbst als Pop-Phänomen zu etablieren. Rechte präsentieren sich heute nicht mehr unappetitlich mit Glatzen, Springerstiefeln und gegröltem Death Metal, sie haben gelernt, sich als Pop-Phänomen zu etablieren, smart, mit modischem Kurzhaarschnitt und schnieker Kleidung. Jannis Holl fasste in der FAZ das angepasste Outfit der extremen Rechten in folgende Formel: „Extrem rechts, extrem angepasst“. Robert Hugo Ziegler analysierte im Merkur, wie rechtsextreme Einstellungen zum Pop-Phänomen wurden: „Die Sylter Pfingstgemeinde und der grenzenlose Spaß – Rassismus wird Pop“. Deutschland hat weder eine Beyoncé noch eine Taylor Swift noch einen Bruce Springsteen, die sich offen und öffentlich pro-demokratisch (das ist nicht nur auf die gleichnamige US-Partei beschränkt) äußern, der deutsche Polit-Pop ist nicht mehr und nicht weniger als eine selbstgemachte Cover-Version von Originalen, deren Urheber:innen sich gegen die Vereinnahmung durch unappetitliche Gesell:innen nicht einmal wirkungsvoll wehren können.

Das ist nicht nur in Deutschland so. Für die Süddeutsche Zeitung sprach Felix Stephan mit dem Kunsthistoriker Luciano Cheles, der am Beispiel Italiens die Bilder analysiert, mit denen faschistische oder neo-faschistische Parteien agi(ti)eren: „Die Propagandisten sind sehr geschickt“. Er verweist auf Plakate der Hitlerjugend neben Plakaten der italienischen Neofaschisten von 2007 und auf Melonis treuherzige Verwendung der Parole „Dio, Patria e Famiglia“, die sich auf dem Grabmal Mussolinis in Predappio findet. Eine Skulptur, die an Michelangelos David erinnern soll, ist in Wirklichkeit eine Replik der Skulptur „Bereitschaft“ von Arno Breker. Schließlich verweist er auf Melonis Vorliebe für Tolkiens „Lord of the Rings“ – „Le radici profonde non gelano“, aber welche Wurzeln sind da eigentlich gemeint? Er stellt schließlich fest: „Da kann es eigentlich kein Missverständnis geben.“ Faschistische Bilder normalisieren sich als Pop-Phänomen. Die entsprechenden Inhalte transportieren sie gleich mit.

Dies spiegelt sich auch in der Affinität junger Menschen zu den sozialen Medien. Daniel Kubiak und Özgür Özvatan analysieren dies in der Novemberausgabe 2024 der Blätter. Die AfD profitiert vom Nichtstun der demokratischen Parteien: „Auf ihren Smartphones und über andere junge Peers konsumieren sie die Statements und Forderungen der Partei – insbesondere die zielgruppenspezifisch gestreuten Inhalte des AfD-Programms. Zwar lehnt eine große Mehrheit die Positionen der AfD ab, aber nicht wenige verzückt das auf sie zugeschnittene Angebot. Das wäre demokratietheoretisch kein Problem, wenn es denn auch ein digitales Angebot der demokratischen Parteien gäbe.“ In der ZEIT sagte Daniel Kubiak im Gespräch mit Simone Gaul: „Ein großer Teil lehnt die Inhalte der AfD entschieden ab, hat Demonstrationen und Paraden zum Christopher Street Day organisiert. Aber für einige macht die AfD offenbar ein Angebot. Die Partei gibt sich als Kümmererpartei und schließt dort, wo staatliche Infrastruktur und demokratische Zivilgesellschaft zurückweichen, gekonnt die Lücken. Wenn beispielsweise ein staatlich geförderter Jugendclub schließt, weil er keine Förderung mehr bekommt, können wir an vielen Orten davon ausgehen, dass ein Angebot aus der rechten Szene die Lücke schließt. So überpinseln diese Leute ihren völkischen und autoritären Unterbau.“

Damit kommen wir zum Kern des Problems. Die digitale Abstinenz der demokratischen Parteien ist die eine Seite des Problems, das Verschwinden von Begegnungsorten die andere. Wo sollen sich Jugendliche treffen, wenn es keinen Ort mehr gibt? Was ist eigentlich mit all den leerstehenden Bahnhofsgebäuden? Die Haushaltspolitik der Bundesregierungen und vieler Landesregierungen sorgt bereits jetzt dafür, dass Jugend- und Kulturpolitik nur noch sehr klein geschrieben werden. Hinzu kommt die Kapitulation der Ministerpräsidentenkonferenz und der Bundesregierung vor TikTok & Co, indem sie den öffentlich-rechtlichen Sendern eine Radikalkur verordnen, die zur Einstellung zahlreicher Kultur- und Informationsprogramme führen wird.

Lob der Dorfkneipe

Für den Tagesspiegel sprachen drei Redakteur:innen des Tagesspiegels mit Gregor Gysi, der unter anderem zwei Aspekte nannte, die seines Erachtens zeigten, woran es heute fehlt. Der eine Aspekt war in der Tat eine Perle des DDR-Bildungssystems, das Fach Astronomie. Der frühere Chef der Sternwarte Berlin-Treptow habe ihm erzählt, „dass er 1990 beim Bildungssenat war und erklärt hat, wie wichtig es ist, dass die Kinder den Unterschied zwischen Sternen und Planeten kennen. In der DDR gab es Astronomie-Unterricht, er wollte, dass es ihn in Gesamtberlin gibt. Da fragte der Zuständige: Sind Sie unserem Grundgesetz beigetreten oder wir Ihrer Verfassung? Abgeschafft!“ Als zweiten Punkt nennt Gregor Gysi einen Hinweis eines Rentnerpaars, die ihm sagten, dass sie die „Dorfkneipe“, den „Dorfkonsum“ und die „LPG-Jahreshauptversammlung“ vermissten. „Und dann sagt sie zu mir: Beim Konsum haben sich alle Frauen unterhalten, in der Kneipe haben sich die Männer unterhalten. Und bei der Jahreshauptversammlung wurde zusammen gegessen, getrunken und getanzt.“ Ähnliches ließe sich sicherlich auch über bayerische oder pfälzische Regionen sagen, aber der Kern ist klar, in den Worten Gregor Gysis: „Wir müssen uns Gedanken machen, wie wir Kommunikation und Kultur aufs Land bringen. Davon sind wir meilenweit entfernt.“

Gregor Gysi erwähnte schließlich die „Daffke-Haltung“, etwas nur zu tun, „um jemanden zu ärgern“. Anders gesagt: Wenn Demokratie nur ein Wort ist, aber nicht erlebt wird, weil es keine Orte gibt, an denen sie erlebt werden könnte, muss man sich nicht wundern, wenn ein destruktiv wirkendes Wahlverhalten erlebte Destruktion spiegelt. Wenn es in einer Region keine Jugendclubs, keine Cafés, Eisdielen oder geöffnete Clubhäuser am Sportplatz gibt und eine Bushaltestelle, an der nur zwei Mal am Tag ein Bus hält, am Wochenende gar nicht, der einzige Ort ist, wo sich Jugendliche treffen können, muss man sich nicht wundern, wenn Parteien oder Organisationen diese Lücke zu schließen versuchen, die kein Interesse an Demokratie haben. Diese erleben keine gestaltende Selbstwirksamkeit, wohl aber eine destruktive, weil die Parteien, die sie mit – wie Georg Gysi sagt – „Daffke-Haltung“ beeindrucken wollen, auch panisch reagieren und – wie in der Asylpolitik – selbst zu Verfechtern von rechtswidrigen Parolen werden.

Wenn der Bundeskanzler von „Abschiebungen im großen Stil“ spricht, aber weder die rechtlichen Grundlagen noch die Umsetzungsperspektiven reflektiert, tut er nichts anderes als – so ließe sich sagen – dem Affen Zucker zu geben. Für populistische und extremistische Parteien bedeutet dies im Grunde nicht mehr und nicht weniger als eine Bestätigung, wir wirksam es doch ist, mit einer gehörigen Portion Krawall die demokratischen Parteien mit unerfüllbaren und rechtswidrigen Ansinnen in Verlegenheit zu bringen. Die Grünen beschwichtigen gerne mit leiser Stimme, aber ein Konzept haben sie auch nicht, wenn man einmal von einigen Kommunalpolitiker:innen absieht, beispielsweise Ryyan Alshebl, Bürgermeister der schwäbischen Gemeinde Ostelsheim, der gemeinsam mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (parteilos) und Richard Arnold, Oberbürgermeister von Schwäbisch Gemünd (CDU) ein beachtenswertes Papier in der ZEIT veröffentlichte.

Heinz Bude hat in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung eine ähnliche These vertreten wie Gregor Gysi, denn mit den DDR-Betrieben seien in den 1990er Jahren auch Orte der Begegnung verschwunden: „Man war nicht mehr Teil einer volkseigenen Wirtschaftskraft, sondern nur noch privater Anbieter einer Arbeitskraft auf Arbeitsmärkten, die sich angeblich ganz anonym nach Angebot und Nachfrage regeln. In gewisser Weise ist so ein einsames Volk entstanden, dem jede Form seiner Gesellschaft und jede Idee seines Zusammenlebens genommen worden waren. Aus dieser Erfahrung nährte sich eine grundsätzliche Systemaversion bei gleichzeitiger oberflächlicher Systemadaption.“

Demokratie braucht Begegnung

„Demokratie fehlt Begegnung“ – das ist der Titel des neuen Buches von Rainald Manthe, Untertitel: „Über Alltagsorte des sozialen Zusammenhalts“ (Bielefeld, transcript, 2024). Das erste Kapitel nennt den Kern: „Die Dorfkneipe wird unterschätzt“. Seine Hauptthese: „Das zunehmende Fehlen von Begegnung schadet unserer Demokratie.“ Ähnlich argumentiert der Historiker Till van Rahden, der Demokratie nicht nur als „Herrschaftsform“, sondern als „Lebensform“ sieht. Sein Buch „Demokratie – eine gefährdete Lebensform“ (Frankfurt / New York, Campus, 2019) enthält die Fallstudie „Der Verlust der Mitte: Vom Siechtum öffentlicher Räume“. Thema war die Schließung des Parkbads in Offenbach im Jahr 1992, das seit seiner Eröffnung am 15. April 1961 „ein Symbol des demokratischen Aufbruchs nach dem Krieg“ war: „Im Schwimmbad mischen sich Klassen und Berufsschichten, kreuzen sich kulturelle Milieus und soziale Kreise, notierte Siegfried Kracauer im Oktober 1932.“ Schwimmbäder garantieren noch keine Demokratie, aber sie „verkörpern (…) die Idee des bürgerlichen Gemeinwohls.“ Die Schließung solcher Orte wird „zur Gefahr für die liberale Demokratie, zunächst für die Lebensform, dann auch für die Herrschaftsform.“

Rainald Manthes Kernthema ist die „Veränderung unserer Begegnungen. Denn: Damit eine Demokratie funktioniert, müssen die meisten (nicht alle) Mitglieder einander als legitime Mitglieder derselben Polis verstehen. Das geht bei über 80 Millionen Einwohner:innen natürlich nicht über bloße persönliche Bekanntschaft.“ Es fehlen „Alltagsorte wie Kneipen, Parks, Schwimmbäder“. Begegnungen im Supermarkt an der Kasse? Inzwischen gibt es immer mehr Kassen, an denen die Kund:innen selbst einscannen und dann bargeldlos zahlen. Apotheken? Das waren eigentlich immer schon Orte, die viel mehr leisteten als Medikamente zu verkaufen. Vor allem ältere Menschen schätzten ein sie beruhigendes Gespräch mit den in der Apotheke arbeitenden Menschen, die für sie schon fast so etwas waren wie Arzt, Ärztin oder Sozialarbeiter:in in einer Person.

Es war nicht nur die Corona-Pandemie, die dazu führte, dass „ein Drittel der Kneipen in Deutschland geschlossen“ wurde, es ist auch kein rein deutsches Phänomen. In Großbritannien schließt ein Pub nach dem anderen. Dies war sogar Thema der Tagesschau. Aber es muss nicht unbedingt eine Kneipe sein, in der sich Menschen treffen. Tomasz Szlendak nennt in seinem Beitrag zum Jahrbuch Polen 2024 des Deutschen Polen-Instituts den Begegnungsort „Teppichstange“, den es in den 1980er und 1990er Jahren in jeder Plattenbausiedlung gab, nicht nur in Polen. Diese war nicht nur ein Ort, sie war „eine gesellschaftliche Institution, wo sich Kinder aus verschiedenen Umfeldern, Klassen, aus verschiedenen sozialen Welten trafen und voneinander lernten. Sie lernten den Dialog mit dem Anderen.“

Rainald Manthe thematisiert Orte des Austauschs wie Cafés, Kneipen und Buchläden, Begegnungsorte in Parks oder an anderen öffentlichen Plätzen, an denen Menschen miteinander Boule oder Schach spielen, Bibliotheken und Bibliotheksbusse, die Verkehrsinfrastruktur, die die Erreichbarkeit von Begegnungsorten sichern sollte, Sport- und Spielplätze, Erlebnisse in Warteschlangen, in Kleingartenanlagen, im Ehrenamt und an der Arbeitsstelle. Alles „Orte, an denen Menschen tagtäglich erleben, wie unser Zusammenleben mit mehr oder weniger bekannten Mitmenschen funktioniert – oder eben auch nicht.“

Rainald Manthe plädiert für „eine Politik der Begegnung“, für die er „zehn Handlungsempfehlungen“ anbietet. Ohne eine solche Politik drohe „Einsamkeit“ oder wie Elisabeth von Thadden es formulierte: „Die berührungslose Gesellschaft“ (München, C.H. Beck, 2018). Mit Digitalisierung lässt sich die unmittelbare Begegnung nicht kompensieren. Auch nicht alleine mit Bildung, denn Bildungsarmut hat nicht nur etwas mit Schulabschlüssen zu tun, sondern vor allem mit Zugang zu Bibliotheken, Zeitungen, Veranstaltungen, Kultur wie Sport. Rainald Manthe beruft sich auf von Peter Siller entwickelte Kriterien: „Seine Idee: Orte (und Netze) danach beurteilen, ob sie die spezifischen Hürden unterschiedlicher Menschen abbauen – also ob sie ‚inklusive Qualität‘ besitzen.“ Sprich: einen „niedrigschwelligen“ Zugang und „informelle“ Begegnungen ermöglichen.

Zugang ist nicht nur ein Problem der Verkehrsinfrastruktur in ländlichen Raumen. Die von Rainald Manthe beschriebenen traditionellen Begegnungsorte „kontrastieren mit Orten, die nicht für alle leicht zugänglich sind: Teure Freizeitparks, Erlebnisbäder, Luxus-Spas, der Rotary-Club, die Bezahlautobahn, das Soho-House, der Unternehmer:innenclub und das teure Hotel mit den vielen Sternen.“ Er verweist auch darauf, dass Autokratien vor allem Begegnungsräume einschränken, „weil Vertrauen kaum zentral in politischen Prozessen ist. (…) Misstrauen, Spitzelei, Willkür – das sind die Herrschaftstechniken der Diktator:innen.“ Begegnungsräume im ländlichen Bereich, in kleinen Gemeinden, sind machbar. Die Bundeskulturstiftung fördert das Programm „TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel“, das hierfür so manches Modell entwickeln dürfte. Es wäre jedoch die Aufgabe der Politik, die Infrastruktur für solche Begegnungsräume dauerhaft zu sichern. Damit wären wir wieder bei der Frage der Prioritätensetzung im Haushalt.

Ein Thema wird von Rainald Manthe leider nicht erörtert, aber dies ließe sich leicht ergänzen. Es ist das Thema migrantischer Räume. Unter Familien mit dem sogenannten „Migrationshintergrund“ gibt es noch eine Menge an solidarischen Familienstrukturen – damit sind nicht die berüchtigten „Clans“ gemeint, sondern die alltäglichen Begegnungen der Familienmitglieder. Oft wohnen sie in einem Stadtteil, werden aber oft als „Parallelgesellschaft“ diffamiert, obwohl dieses Unter-Sich-Bleiben auch damit zu tun hat, dass man mit einem deutschen Vermieter:innen nicht gefälligem Namen oft nur schwer anderswo eine Wohnung findet. Es geht eher um die Frage paralleler Gesellschaften, die es eben in der Gesellschaft an allen Orten gibt, mit unterschiedlicher Zusammensetzung. Richard Sennet hat in seinem Buch „The Corrosion of Character“ (deutscher Titel: „Der flexible Mensch“) schon um die Jahrtausendwende beschrieben, was geschieht, wenn der Zusammenhalt in migrantischen Communities zerstört wird. Wo Begegnung schwindet, schwindet auch Akzeptanz, Integration und nicht zuletzt – dies beschreib Sennett am Beispiel von Bäckereien in New York – Professionalität.

Till van Rahden beendet seine Schwimmbadstudie mit klaren Sätzen: „Wer ein Gemeinwesen der Freien und Gleichen will, in dem alle ohne Angst verschieden sein können, wird den Streit nicht fürchten. Umso mehr gilt es, jene Räume und Umgangsformen zu pflegen, die es ermöglichen, Spannungen und Unterschiede auszuhalten. Wir leben in einer Demokratie, die Herrschafts- wie Lebensform ist. Es ist an uns, sie zu erhalten.“ Kann dies gelingen? Durchaus. Daniel Kubiak und Özgür Özvatan belegen dies mit dem „Erfolg des jungen Direktkandidaten im Wahlbezirk Leipzig 1, Nam Duy Nguyen“. Dieser „zeigt, dass es um die Verflechtung der analogen und digitalen politischen Strategien geht. Nguyen hat einen aufwendigen Haustürwahlkampf mit digitalen Strategien verbunden und so das Direktmandat für die Linkspartei gewonnen.“

Wird Demokratie zu Pop? Wird Punk wieder lebendig? Und wann macht Politik wieder Spaß, ganz im Sinne von Michel Friedman und seiner Denk- und Kampfschrift: „Streiten? Unbedingt!“ „Wir schaffen das!“ Warum eigentlich nicht?

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2024, Internetzugriffe zuletzt am 29. Oktober 2024. Titelbild: Hans Peter Schaefer, aus der Serie „Deciphering Fotographs“.)