Der lange Weg der Aufarbeitung

Gespräche mit Anna Kaminsky – Teil II

„Einer, der eben nicht glaubt, dass die angeblich große Idee des Kommunismus durch Verbrecher wie Stalin oder Ulbricht entehrt wurde, sondern aus der Erfahrung seines Lebens zu dem Schluss gekommen ist, dass jedes Denken, das vom Einzeln (sic!) abstrahiert, um in irgendeine lichte Zukunft zu marschieren, schon den Keim des Terrors in sich trägt.“ (Hans Sahl in einem Gespräch mit Marko Martin im Frühjahr 1992, zitiert nach Marko Martin: Dissidentisches Denken – Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters, Berlin, Die Andere Bibliothek, 2019)

Aufarbeitung ist Auseinandersetzung

Norbert Reichel: Der Name „Stiftung Aufarbeitung“ verweist in die Vergangenheit, als gälte es zunächst ein möglichst objektives Bild der Geschichte der DDR zu erstellen. Der Auftrag der Stiftung bezieht sich jedoch nicht nur auf die Vergangenheit.

Anna Kaminsky: Genau, unser Auftrag ist umfassend und bezieht sich auch auf die Gegenwart. Ich darf aus dem Errichtungsgesetz des Deutschen Bundestags zitieren: „Zweck der Stiftung ist es, in Zusammenarbeit mit anderen Einrichtungen auf dem Gebiet der Aufarbeitung der SED-Diktatur, Beiträge zur umfassenden Aufarbeitung von Ursachen, Geschichte und folgen der Diktatur in der sowjetischen Besatzungszone, in Deutschland und in der DDR zu leisten und zu unterstützen, die Erinnerung an das geschehene Unrecht und die Opfer wachzuhalten sowie den antitotalitären Konsens in der Gesellschaft, die Demokratie und die innere Einheit Deutschlands zu fördern und zu festigen.“ 

Natürlich spielt die Beschäftigung mit der Vergangenheit eine wichtige Rolle, zu wissen, was war, ist auch heute noch enorm wichtig. Wir sehen das an den wiederkehrenden Versuchen, die DDR als ganz normalen Staat darzustellen, in dem man angeblich nichts von Unfreiheit gemerkt hätte. Oder den Versuchen, die Vergangenheit umzudeuten. Das treibt eigenartige Blüten, wenn beispielsweise bei den Debatten um die Klimapolitik die DDR als Vorbild genannt wird. Oder wenn der wirtschaftliche Niedergang nach 1990 im Osten nur dem Westen und der Treuhand angelastet wird.

Für uns gehört zu unserem umfassenden Auftrag vor allem Aufklärung und das schließt nicht nur die Erforschung von Sachverhalten ein, sondern auch, dass Zeugnisse bewahrt werden, deren Archivierung, und auch Debatten anzuregen und auszuhalten und immer wieder die Aufmerksamkeit auf die Opfer der Repression lenken. Der Kern der Arbeit unserer Stiftung ist jedoch die Förderung der dezentralen und regionalen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, Aufklärung über die Zusammenhänge und Positionen, all dies bezogen auf die grundlegende Frage, was es mit einer Diktatur auf sich hat und warum wir keine Diktatur mehr zulassen dürfen. Aber auch, wie diese Diktaturerfahrung bis heute weiterwirkt.

Norbert Reichel: Für manche ist es damit getan, die DDR als „Unrechtsstaat“ zu bezeichnen, und dann ist das Thema erledigt. Meines Erachtens ist das ein unreflektierter Kampfbegriff, der nicht zu Dialog und Verständnis führt. Aus meiner Sicht wäre es besser, darüber zu diskutieren, was ein „Rechtsstaat“ leisten sollte. Dann würde sehr schnell deutlich, warum die DDR kein „Rechtsstaat“ war, schon gar kein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat.

Anna Kaminsky: Ich bevorzuge den Begriff „Diktatur“. Der Begriff umfasst alles, denn mal ganz offen gefragt: Was ist eine Diktatur denn anderes als ein „Unrechtsstaat“? Keine Diktatur ist ein „Rechtsstaat“. Aber man muss klarmachen, dass das Diktatorische der Kern ist. Es geht um das politische Unrecht, um Willkür, die Menschen traf, die sich politisch anders verhielten oder äußerten und dafür erhebliche Nachteile erleiden mussten bis hin zur Inhaftierung. Karrieren wurden zerstört, beispielsweise auch mit dem Euphemismus einer „Bewährung in der Produktion“. Und wer sich Gefängnisse wie Bautzen und Hoheneck anschaut, sollte nicht nur darüber nachdenken, wie die Haftbedingungen waren, sondern vor allem darüber, dass die meisten Menschen, die dort inhaftiert waren, da nicht hingehörten.

Norbert Reichel: „Aufarbeitung“ gab und gibt es nicht nur in Deutschland. Es gibt vergleichbare Entwicklungen in den meisten Ländern nach dem Zusammenbruch einer Diktatur, beispielsweise in den sogenannten „Wahrheitskommissionen“. Der Wikipedia-Eintrag enthält eine ausführliche Liste solcher Kommissionen. Es gab und gibt sie vor allem in afrikanischen und in lateinamerikanischen Ländern. Die psychischen Folgen für die Opfer dürften jedoch auch unabhängig vom Erfolg solcher „Aufarbeitung“ viel länger nachwirken.

Anna Kaminsky: Zu unseren Aufgaben gehört auch der Blick über den Tellerrand, dass wir uns international vernetzen und uns mit anderen über unsere Erfahrungen bei der Vergangenheitsaufarbeitung austauschen. Der zentrale Fachbegriff lautet „Transitional Justice“. Wir schauen, wie in anderen Ländern mit den Folgen von Diktatur oder Krieg umgegangen wird und wo wir gegenseitig von unseren jeweiligen Erfahrungen profitieren können.

Norbert Reichel: Am 12. Februar 2020 haben Sie sich in einer Debatte mit Martin Sabrow über die Abgrenzung von „Aufarbeitung“ und „Wissenschaft“ gestritten. Martin Sabrow räumte ein, dass er etwas zugespitzt habe, aber er vertrat vor allem die Auffassung, dass „Aufarbeitung“ eine emotionale Komponente enthalte, die niemals Wissenschaft leiten dürfe. Er sprach von einem „Unbehagen an der Aufarbeitung“, da diese einen objektivierbaren Zugang zur Geschichte verhindere. Wie könnten „Aufarbeitung“ und „Wissenschaft“ sich aus Ihrer Sicht – mal ganz vorsichtig ausgedrückt – besser gegenseitig bereichern?

Anna Kaminsky: Naja, ich sehe, dass das in der Realität seit langem der Fall ist. Das fand ich so schade an der Debatte, dass eine Abgrenzung und eine Frontstellung vorgenommen wurden, die es in der Realität nicht gibt. Wir arbeiten auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse – wobei auch unsere eigenen Erfahrungen einfließen, und man sieht ja auch, dass auch in der Wissenschaft nicht nur eine Meinung herrscht. Und dieser Meinungsstreit prägt eben auch Aufarbeitung. Dazu gehört auch, dass Bildungs- und Vermittlungsfragen thematisiert werden. Und die Inhalte und Methoden von Bildung und Aufklärung sollten auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen.

Viele Kolleg*innen, die in Einrichtungen der Aufarbeitung, Gedenkstätten arbeiten, sind wissenschaftlich ausgebildet, viele als Historiker*innen, aber auch in anderen verwandten Disziplinen. Aufarbeitung geht jedoch über die wissenschaftlichen Aspekte hinaus. Es geht auch um die Vertretung von Opferinteressen, die für die Wissenschaft im Grunde keine Bedeutung haben. Aber ich finde, dass jeder Historiker und jede Historikerin ihre eigene subjektive Sicht einbringt und vor diesem Hintergrund auch Dokumente interpretiert oder Dinge für wichtig oder weniger wichtig hält. Also man kann sich dem „Objektivierbaren Zugang“ auch nur annähern, auch das ist eine Konstruktion…

Gerechtigkeit im Rechtsstaat

Norbert Reichel: Für Vergehen und Verbrechen, die Menschen in ihrer Eigenschaft als Ausführende der DDR-SED-Diktatur begangen haben, gilt die Radbruch’sche Formel, die dann bei den Mauerschützenprozessen auch angewandt worden ist. Mein Eindruck ist der, dass man die DDR-Nomenklatura einschließlich der Aktiven der sogenannten „bewaffneten Organe“ strafrechtlich nachhaltig verfolgt hat. Würden Sie diesen Eindruck teilen?

Anna Kaminsky: Dass DDR-Verbrechen so umfassend wie oft behauptet geahndet wurden, geben die Zahlen nicht her. Zwar hat man bereits in den letzten Monaten der DDR mit der Rehabilitierung unschuldig Verurteilter begonnen, aber letztlich ist vieles offen geblieben. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache: Etwa 100.000 Ermittlungsverfahren, 700 Anklagen, 70 Verurteilungen, davon nur etwa 30 mit Haftstrafen (incl. Krenz, Schabowski, Mauerschützen).

Dem gegenüber stehen etwa 250.000 politische Häftlinge und Hunderttausende sogenannt administrativ Repressierte: Zwangsausgewiesene aus dem Grenzgebiet, verfolgte Schüler*innen, Zersetzungsopfer, … Problematisch war, dass Verbrechen im Dienst der Diktatur des SED-Staates, nach dem jeweils milderen Strafrecht zu bewerten waren. Wenn es eine politische Tat war, auf die im Westen Bewährung stand, musste nach westlichem Recht geurteilt worden. Die Mittel des Rechtsstaates sind den Verbrechen einer Diktatur oft nicht gewachsen. Denn man kann ja gewesenes Unrecht nicht durch neues Unrecht aufwiegen. Da ist der Rechtsstaat an seine eigenen Prinzipien gebunden, was eine großartige Errungenschaft ist.

Aber für jene, die Opfer wurden, ist das oft schwer auszuhalten, dass diejenigen, die sich an nichts gehalten haben, nun auch noch vom Rechtsstaat profitieren. Anfang der 1990er Jahre hörte man aus der PDS oder konnte es auch im Haft-Tagebuch von Erich Honecker von der „Siegerjustiz“ lesen. Als dann die Bilanz der strafrechtlichen Verurteilungen veröffentlicht wurde, hieß es wiederum: Seht ihr, es gab doch gar nicht so viel Unrecht in der DDR, sind ja kaum Leute verurteilt worden.

Norbert Reichel: Das klingt nicht nur, das ist zynisch. Für die Opfer ist das wenig befriedigend, auch wenn rechtsstaatlich gesehen die Verfahren fair und nicht zu beanstanden waren.

Anna Kaminsky: Ja, da liegt das Problem. Genau dafür muss der Rechtsstaat andere Formen des Ausgleichs finden. Beispielsweise, indem gesundheitliche Folgeschäden großzügig anerkannt werden oder durch Haft und Ausbürgerung erlittene Verdienstausfälle bei der Rente ausgeglichen werden. Für viele Menschen traf Bärbel Bohleys Satz „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat.“ ihre Erfahrungen. Und sie fühlten sich von der Demokratie im Stich gelassen – der Satz fasste die enttäuschten Hoffnungen vieler Verfolgter zusammen.

Norbert Reichel: Den Satz soll – so Kowalczuk – ein FAZ-Journalist so zugespitzt haben. Aber unabhängig davon, wer das Urheber*innenrecht des Satzes hat, ist er auch durchaus gefährlich. Urteile von Gerichten können nicht auf Gefühlslagen und Hoffnungen beruhen.

Anna Kaminsky: Ja, das stimmt. Deshalb ist es ja so wichtig, dass nach einer Diktatur, Gewaltherrschaft die Erwartungen daran, dass die Gerichte nun alles richten und „wieder gut“ machen werden, nicht zu hoch gehängt sind, sondern es parallel dazu vielfältige Formen der gesellschaftlichen Anerkennung für die Betroffenen gibt: Moralische Anerkennung und Würdigung aber auch die Linderung der erlittenen Schäden in jeglicher Hinsicht. Diese Erfahrung haben ja die Verfolgten nach 1945 machen müssen: dass die junge Bundesrepublik sich nicht wirklich dafür interessierte, was mit den Opfer des Nationalsozialismus passiert, sie weiter gedemütigt und schikaniert oder vergessen wurden, sie um jedes bisschen Entschädigung kämpfen mussten und gleichzeitig die Witwe von Freisler seine Bezüge bekommen konnte.

Norbert Reichel: Es galt der Satz von Konrad Adenauer, dass man schmutziges Wasser nicht wegschütte, wenn man kein sauberes habe.

Anna Kaminsky: Und in den 1950er Jahren gab es kaum mehr eine Verfolgung von Nazi-Verbrechen – die Widerstände gegen Fritz Bauer sprechen eine deutliche Sprache. Der erforderliche Elitenaustausch fand nicht statt.

Norbert Reichel: Was tat die DDR gegen NS-Verbrecher*innen? Im Ministerium für Staatssicherheit gab es immerhin eine eigene Hauptabteilung. Ich habe einmal von zwei Akteur*innen des MfS, einem Referatsleiter und einem Vernehmer, gehört, dass die DDR NS-Täter*innen systematisch verfolgt hätte. Auf die Frage, was daran wäre, dass man NS-Beamt*innen im Dienst übernommen habe, kam die Antwort, dass man dann, wenn sich Verbrechen herausgestellt hätten, die Täter*innen umgehend zur Rechenschaft gezogen habe.

Anna Kaminsky: In der SBZ und DDR hat man zu Anfang weit stringenter entnazifiziert. So sind fast alle Lehrer oder auch Juristen entlassen worden. Aber auch in der DDR mussten die Mitglieder der NSDAP integriert werden und so konnten schließlich auch ehemalige NS-Beamte in ihren Positionen bleiben. Das ist in der DDR nie thematisiert worden, vielmehr betonte man den personellen Austausch, der an den Schulen aber auch Gerichten vorgenommen worden wäre.

Neulich erschien ein Bericht darüber, dass als in der Bundesrepublik der Auschwitzprozess stattfand auch in der DDR ein ähnlicher Prozess in Erfurt gegen einen SS-Wachmann eines KZ durchgeführt wurde – allerdings erfuhr niemand davon. Denn die Befürchtung war, dass damit die Entnazifizierungspolitik der DDR in Frage gestellt werden könnte. Dem Westen wurde vorgeworfen, dass dieser die NS-Verbrechen nicht ausreichend verfolge. Da konnte man sich selbst natürlich keine Blöße erlauben. Die SED-Führung verbreitete die Erzählung, die DDR habe das Übel als einzige bei der Wurzel gepackt, die NS-Verantwortlichen hätten sich in den Westen abgesetzt.

Norbert Reichel: Und Kapitalismus setzte man gerne mit Faschismus gleich. Bei dem von mir eben angesprochenen Vortrag der beiden MfS-Beamt*innen handelte es sich um einen Beitrag im Seniorenclub im Karl-Liebknecht-Haus, der sich dort regelmäßig trifft. Eine bedeutende Rolle spielt bei diesem Club nach meinem Eindruck die Gesellschaft für rechtliche und humanitäre Unterstützung (GRH). Der Versammlungsleiter, der sich ausdrücklich als „Kommunist“ bezeichnete, sprach von einer „Erinnerungsschlacht“ um die Vergangenheit vor 1989. Klang ziemlich martialisch und irgendwo auch unbelehrbar.

Auffällig ist nach meinem Eindruck, dass die Urteile in den 1950er Jahren deutlich härter waren als in den Jahrzehnten danach. Ich denke beispielsweise an die Urteile gegen Max Fechner, den ehemaligen Justizminister, Wolfgang Harich, die zu jeweils acht Jahren verurteilt wurden, oder Walter Janka, der fünf Jahre erhielt, aber auch an die 25 Jahre Haft, zu denen Edeltraud Eckert verurteilt wurde, die dann durch einen tragischen Unfall im Alter von 25 Jahren starb. Ein weiteres drakonisches Urteil war das gegen den 22jährigen Heini Fritsche, der 1952 zu 25 Jahren „Besserungsarbeitslager“ verurteilt wurde und ins nordrussische Workuta gebracht wurde. Ein Urteil dieser Härte, mit acht Jahren Haft, gab es erst wieder 1978 gegen Rudolf Bahro, der dann nach einem Jahr ausgebürgert wurde. Das war aber wohl die Ausnahme. Manche schließen daraus eine Liberalisierung der Strafjustiz.

Anna Kaminsky: Ja, die Haftstrafen der 1950er Jahre wurden in den folgenden Jahrzehnten nicht mehr in dieser Form verhängt, aber das heißt nicht, dass die Repression geringer worden wäre. Zum einen wurde das Überwachungssystem nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 massiv ausgebaut, zum anderen hatten die Menschen nach dem Mauerbau 1961 kaum eine Chance mehr, lebendig aus dem Land fliehen zu können. Und hinzukam, dass die soziale Kontrolle und Disziplinierung perfektioniert wurde.

Norbert Reichel: Zur Wiedergutmachung – soweit das überhaupt möglich ist – gehören nicht nur die strafrechtliche Aufarbeitung, sondern auch Rehabilitation und Entschädigung. Es gab mehrere sogenannte „Unrechtsbereinigungsgesetze“. Wie beurteilen Sie deren Wirksamkeit? (Ich erlaube mir die Anmerkung aus der Sicht eines im „Westen“ sozialisierten Menschen, dass ich es schon etwas merkwürdig fand, dass das „Berufliche Rehabilitierungsgesetz“ nur für Opfer aus der DDR gilt, nicht jedoch für Opfer der im „Westen“ in den 1970er Jahren praktizierten „Berufsverbote“).

Anna Kaminsky: 2019 wurden die Rehabilitierungsgesetze für SED-Opfer zum siebten Mal novelliert, also verbessert. Damit sind endlich Regelungen eingerichtet worden, für die wir uns seit langem einsetzen. Beispielsweise, dass es bei Diktaturunrecht kein Verfallsdatum geben kann, Fristen, bis zu denen die Betroffenen ihre Ansprüche stellen müssen. Und wenn sie das nicht bis zum Stichtag x gemacht haben, gehen sie leer aus. Das ist zum Glück jetzt abgeschafft worden.

Ein wichtiger Aspekt in diesem Rahmen ist die Anpassung der Rehabilitierungsgesetze und Entschädigungssysteme. Beispielsweise kann man nun bereits nach 90 Tagen Haft eine Entschädigung erhalten und nicht erst nach 180 Tagen, oder es wurden auch Verbesserungen bei der Anerkennung von komplexen traumatischen Störungen in Folge der politischen Verfolgung vorgenommen.

Was nun den Vergleich mit jenen angeht, die in der Bundesrepublik in den 1970er Jahren von Berufsverboten betroffen waren, so kenne ich mich damit nicht genug aus, aber mir widerstrebt jede Gleichsetzung von einer Demokratie mit einer Diktatur. In der DDR bedeutete politische Verfolgung oft das soziale und gesellschaftliche Aus, die die Zerstörung der persönlichen Lebensgrundlagen zum Ziel hatte. Es gab keine Möglichkeit, sich dagegen gerichtlich zur Wehr zu setzen. In der Bundesrepublik war all dies ganz anders. Damals ging es darum, dass Personen, bei denen der Verdacht bestand, dass sie nicht auf dem Boden des Grundgesetzes standen und die freiheitlich-demokratische Grundordnung ablehnten und diese sogar bekämpften, nicht im öffentlichen Dienst beschäftigt werden sollten. Es bestand die Möglichkeit sich gerichtlich zu wehren, und das geschah ja dann auch.

Norbert Reichel: Ich habe das so verstanden: In der Bundesrepublik gelang es einer engagierten Zivilgesellschaft, innerhalb relativ kurzer Zeit Unrecht zu beseitigen. Ein Gruppenverdacht aufgrund einer Mitgliedschaft konnte nicht genügen, jemanden nicht in den öffentlichen Dienst zuzulassen. So entschied dann auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. In der DDR hingegen musste man das gesamte System abschaffen, um Gerechtigkeit erfahren zu können.

Erinnerungskultur in Ost und West

Norbert Reichel: In dem Abschlussbericht der ersten Enquête-Kommission nimmt das Sondervotum von Dr. Dietmar Keller, MdB für PDS/LL, einen großen Raum ein. Er beginnt mit einem Systemvergleich zwischen NS-Zeit und DDR und kommt zu dem Schluss, dass ein solcher Systemvergleich nicht gerechtfertigt sei. Dieser Einschätzung stimme ich zu. Mich wundert allerdings, wie ausführlich er dies begründet. Daraus schließe ich, dass es in der Tat wohl prominente Versuche gibt, DDR und NS-Zeit miteinander gleichzusetzen und sich aus einer weiteren Aufarbeitung der NS-Zeit zurückzuziehen, weil man erst einmal die DDR-Zeit aufarbeiten sollte.

Anna Kaminsky: Wenn man sich die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und DDR-Diktatur anschaut, so sind, denke ich, alle in den 1990er Jahren geäußerten Bedenken, widerlegt worden. Es ging den meisten derjenigen, die einen Vergleich zwischen dem Nationalsozialismus und der kommunistischen Diktatur in der DDR wissenschaftlich betreiben wollten, nicht um eine Gleichsetzung. Es ging darum, strukturelle Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten aber auch die Unterschiede deutlich zu machen.

Der Punkt war jedoch, dass damals bei jedem Versuch die beiden Diktaturen zu vergleichen, vermutet wurde, dass man hier unter dem Deckmantel des Vergleichs eine Gleichsetzung vornehmen wolle. Mittlerweile sind diese Befürchtungen weitgehend obsolet, denn die meisten derjenigen, die sich um eine Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur kümmern, haben eine hohe Sensibilität für diese Fragen.

Auch in der Enquete-Kommission findet sich kein Anhaltspunkt ebenso wenig wie bei Forscher*innern, die sich damit befasst haben. Hinzu kommt, dass es diese Enquete-Kommission war, die mit ihrem „Gedenkstättenkonzept“ dafür sorgte, dass nicht nur die Gedenkstätten zur Erinnerung an die SED-Diktatur institutionalisiert wurden, sondern auch erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik die Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus angemessen finanziert wurden und sich die Bundesrepublik zu dieser Verantwortung bekannte. Aber die damaligen Debatten waren insgesamt sehr aufgeheizt. Da wurde sogar teilweise abgelehnt, die DDR als Diktatur zu bezeichnen. Glücklicherweise haben sich diese Debatten auch Dank der Forschung versachlicht.

Norbert Reichel: Im Westen stelle ich leider immer wieder fest, dass die DDR in der Erinnerungskultur nur eine sehr randständige Rolle spielt. Auf einer Berlinreise fährt die ein oder andere Schulklasse mal nach Hohenschönhausen, aber das war es dann.

Auf dem Gelände des ehemaligen Palastes der Republik in Berlin steht am 04.12.2008 an einer Mauer der Brücke Rathausstraße in Großbuchstaben geschrieben „Die DDR hat’s nie gegeben“, im Hintergrund der Berliner Dom. Das Bild des Zentralbild-Fotografen Arno Burgi ist am Donnerstag (26.03.2008) mit dem 1. Platz im Wettbewerb „dpa-Bild des Jahres“ in der Kategorie Feature ausgezeichnet worden. Zum achten Mal hat die dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH das „dpa-Bild des Jahres“ prämiert. Foto: Arno Burgi dpa (c) dpa – Report, mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Aufarbeitung.

Anna Kaminsky: Hierzu als Einstieg folgender Witz: Ein Ostdeutscher und ein Westdeutscher unterhalten sich. Sagt der Ossi zum Wessi: „Wir haben immer nach Westen geschaut.“ Darauf der Wessi: „Wir auch“. Da liegt meines Erachtens das Problem. Das, was in der DDR geschah, ist nach wie vor im Westen wenig relevant. Wozu darüber nachdenken? Man war nicht betroffen. Das sollen die doch unter sich ausmachen. Ostdeutsche und DDR-Geschichte wird dabei als Regionalgeschichte betrachtet, die die Menschen im anderen Teil eben nichts angeht.

Ich halte eine solche Sicht für gefährlich, denn das würde die erinnerungskulturelle Teilung unseres Landes verfestigen. Wir leben aber alle in diesem Land, das über 40 Jahre geteilt war und mittlerweile seit 30 Jahren eins ist und wir sollten wissen, wie das Leben für die Menschen im jeweils anderen Teil während der Teilung war. Daraus mag im besten Sinne auch Verständnis für Unterschiede, aber auch für Fremdheiten, die es ja immer noch gibt, entstehen.

Norbert Reichel: Wer sich Erinnerungsorte im ehemaligen kommunistischen Machtbereich anschauen möchte, kann dazu in dem von Ihnen herausgegebenen Buch „Museen und Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer der kommunistischen Diktaturen“ (Dresden, Sandstein 2018) viele Anregungen finden.

Anna Kaminsky: Wir haben darin die großen Gedenkstätten und nationalen Denkmäler vorgestellt und zu jedem Land einen einführenden Beitrag verfasst, in dem wir die Repressionsgeschichte im 20. Jahrhundert kurz vorstellen, um die Gedenkstätten besser einordnen zu können.

Wir erinnern aber nicht nur an die Orte, sondern auch an die Menschen. Zu empfehlen ist unser Zeitzeugenportal auf unserer Internetseite. Diese Online-Plattform vermittelt Schulen, außerschulischen Einrichtungen sowie Journalist*innen und anderen Interessierten den Kontakt zu Zeitzeug*innen, die zu Veranstaltungen, Unterrichtsstunden und Projekttagen eingeladen werden können. Das Zeitzeugenportal wurde im Juni 2009 mit Unterstützung des Bundesinnenministeriums und der Länder eingerichtet und wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) gefördert. Die Datenbank verzeichnet etwa 350 Zeitzeug*innen, die über ein Kontaktformular angefragt werden können. Außerdem sind Unterrichtsmaterialien und didaktische Konzepte zu finden. Einige Schwerpunkte: Deutsche im GULag, Volksaufstand am 17. Juni 1953, Mauerbau, Kirche in der SED-Diktatur, Frauengefängnis Hoheneck, Jugend in der SED-Diktatur, Flucht, Fluchthilfe und Freikauf, früher Widerstand von Jugendlichen, natürlich auch zur Friedlichen Revolution und zur Deutschen Einheit. Das Koordinierende Zeitzeugenbüro des Bundes ermöglicht auch die Finanzierung der Veranstaltungen, Kontakt über info@ddr-zeitzeuge.de.

Norbert Reichel: Sind Sie mit der Nutzung zufrieden? Was wünschen Sie sich von Ländern, Einrichtungen der außerschulischen Bildungsarbeit oder von den Medien, um die Reichweite und vor allem ein differenziertes Bild der SED-Diktatur zu ermöglichen? Was fehlt? In Lehrplänen, Fortbildung oder örtlichen Programmen? Gibt es so etwas wie ein Ost-West-Gefälle?

Anna Kaminsky: Mittlerweile findet sich kein Lehrplan oder kein Lehrbuch, in dem diese Themen nicht enthalten sind. Aber wie wir immer wieder hören, fehlt oft die Zeit, um diese Themen im Unterricht zu behandeln. Denn wir haben in den letzten Jahren immer wieder gesehen, dass gerade der Geschichtsunterricht stundenmäßig reduziert wurde oder wie in Berlin mit Geographie zusammengelegt wurde. Was ich mir wünsche, ist, dass die Themen DDR, kommunistische Diktatur, deutsche Teilung, also deutsch-deutsche Nachkriegsgeschichte ein ganz selbstverständlicher Teil des Geschichtsunterrichts sind. Nach unserer Erfahrung ist es hilfreich, wenn diese Themen als mögliche Prüfungsthemen in den einzelnen Bundesländern vorkommen.

Norbert Reichel: Welche Angebote haben Sie für Lehrkräfte oder für Mitarbeiter*innen von Gedenkstätten, die sich mit internationalen Aspekten der Aufarbeitung beschäftigen wollen?

Anna Kaminsky: Wir bieten selbst vielfältige Materialien für den Unterricht an, organisieren aber auch Lehrerfortbildungen zu bestimmten Themen. Und wir stellen auch die didaktischen Materialien anderer Institutionen zu diesen Themen vor. Zu finden ist das unter unserem Bildungskatalog auf unserer Homepage.

Und für Gedenkstätten haben wir ein eigenes Austauschprogramm, das sich „Memory work“ nennt. Über dieses Programm können im Rahmen eines Austauschprogramms bis zu drei Monate lange Aufenthalte bei einer Aufarbeitungseinrichtung im Ausland finanziert werden bzw. auch Kolleg*innen aus dem Ausland nach Deutschland kommen, um kennenzulernen, wie hier historische Themen vermittelt werden.

Rechts, links und in der Mitte

Norbert Reichel: Manche instrumentalisieren heute die DDR-Geschichte und die Erinnerung für rechtspopulistische bis rechtsextremistische Propaganda. Ich zitiere aus dem Bericht der Enquête-Kommission: „Die Rechtsextremisten bedienten sich dabei ‚moralischer Werte der sozialistischen Gesellschaft‘ wie positive Einstellung zur Arbeit, Ordnung, Sauberkeit und vorbildliches Verhalten in der paramilitärischen Gesellschaft für Sport und Technik.“ Ein ehemaliger Jungdemokrat aus Westdeutschland erzählte mir, dass ihm bei einem Jugendaustausch ein FDJ-Funktionär nach dem werweißwievielten „Braunen“ gesagt habe, dass es in Chemnitz etwa 20 % Rechtsextreme unter den Jugendlichen gebe und wissen wollte, wie man im „Westen“ damit umgehe.

Anna Kaminsky: Offenbar bietet die DDR für alle möglichen Verharmloser, Relativierer und Verklärer genügend Projektionsfläche. Während die einen die DDR reinwaschen wollen und erklären, dass der Kommunismus bzw. Sozialismus eigentlich eine gute Sache ist, die halt nur falsch gemacht wurde, und sich in der Werkzeugkiste des real existierenden Sozialismus mit Enteignungen und Repressionen gegen Andersdenkende bedienen, versuchen andere, die Losungen der Oppositionsbewegung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Genau deshalb plädieren wir ja immer wieder für aufklären, aufklären, aufklären – wenn über die DDR unterrichtet wird, Forschungsergebnisse verbreitet und genutzt werden, wird es Propaganda schwerer haben sich durchzusetzen. Und natürlich hat es auch in der DDR eine handfeste rechte Szene gegeben, die jedoch von der SED weitgehend verschwiegen und tabuisiert wurde, denn das passte ja nicht in das Bild des antifaschistischen Staates, in dem all diesen Tendenzen der Boden entzogen worden war.

Norbert Reichel: Oppositionsgruppen hatten vor und nach 1989 West-Kontakte, allerdings nicht immer mit Erfolg. Die Reaktionen aus dem Umfeld der Grünen sind vielleicht sogar symptomatisch. Die Enquête-Kommission zur Aufarbeitung nennt Petra Kelly als jemanden, der sehr offen gewesen sei und erinnert an die Aktion 1983 auf dem Alexanderplatz, die Friedensgruppen und Grüne gemeinsam geplant hatten und die das MfS verhinderte. Die Kommission: „Eine Minderheit in der Partei, zu der Petra Kelly gehörte, hatte die Bedeutung der Menschenrechtsfrage für die DDR-Opposition erkannt und enge Beziehungen zu den Gruppen (NR: gemeint sind die Oppositionsgruppen) geknüpft.“ Andererseits schreibt Kowalczuk, die Grünen hätten sich nach 1989 überhaupt nicht für das, was in und mit der DDR geschah, interessiert, Joschka Fischer habe nur gelangweilt in der Kaffeetasse gerührt.

Anna Kaminsky: Ich kann jetzt nicht einschätzen, wie das 1983 war, aber es ist eine allgemeine Erfahrung, dass „der“ Westen sich insgesamt wenig für die DDR interessierte und es in den einzelnen Parteien sehr unterschiedliche Positionen gab und auch da wiederum nicht alle Vertreter*innen der Parteien die offizielle Parteipolitik auch vertreten haben. Aber man kann immer wieder lesen, dass die Opposition in der DDR sich von westdeutschen Parteien nicht ausreichend unterstützt und auch ernst genommen gefühlt hat.

Norbert Reichel: im Jahresbericht 2018 der Stiftung Aufarbeitung finde ich die Kapitelüberschrift „Das doppelte 1968: Aufbruch und Umbruch in Ost und West vor 50 Jahren“: Gibt es so etwas wie eine kontinuierliche Linie von 1953 über 1968 bis 1989 und welche Unterschiede sehen Sie in der Rezeption dieser drei Jahreszahlen in Ost und West? Mein Eindruck: in Ost und West gab es sehr verschiedene Sichtweisen auf das Jahr 1968. Paris, Berlin und Prag waren kaum vergleichbar und hatten dennoch etwas miteinander zu tun.

Anna Kaminsky: Für die DDR bzw. auch den Ostblock sehe ich diese Linie, auch wenn sie uns in der DDR nicht bewusst war: 1953 war am 17. Juni der erste landesweite Aufstand gegen die kommunistische Herrschaft im Ostblock. Ihm folgten etliche weitere: 1956 Polen und Ungarn, dann 1968 die Niederschlagung des Prager Frühlings und damit der Hoffnungen „auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, dann 1968 auch wieder Polen ,1970 Polen und 1980 die Solidarność erneut in Polen – 1989 haben wir dann die Erosion der kommunistischen Macht im gesamten Ostblock – und das weltweite Symbolbild dazu liefert der Mauerfall vom 9. November.

Aber wie gesagt, es hat das gesamte Jahr 1989 hindurch Erfolge der Opposition in Polen, in Ungarn, der CSSR gegeben, die oft hinter den wirkmächtigen Bildern des 9. November zurückstehen. Für mich heißt das, die gesamte Geschichte der kommunistischen Diktaturen ist geprägt von wiederholten Aufständen und Aufbegehren gegen diese Herrschaft, die nur mit Repression und auch Waffengewalt niedergehalten werden konnte. Alle Versuche wurden blutig und brutal niedergeschlagen, aber die Hoffnung, diese Diktaturen irgendwann niederzuringen, wurde eben nicht aufgegeben, sondern die Menschen versuchten, die ihnen gesetzten Grenzen zu erweitern und man kann den Mut derjenigen, die sich gegen die Herrschaft trotz auswegloser Situationen immer wieder zur Wehr setzten, sich nicht einschüchtern ließen, Zivilcourage zeigten, gar nicht hoch genug schätzen.

Für Ost und West war 1968 jeweils anders verbunden: Während die Menschen 1968 auf eine Demokratisierung der Regime hofften, gingen die Jugendlichen im Westen für eine Liberalisierung ihrer Staaten und Gesellschaften auf die Straße, und während ihre Altersgenoss*innen im Osten für ihren Ruf nach Freiheit und demokratischen Rechten verhaftet und ins Gefängnis gesteckt wurden, gab es im Westen Gruppen, die Massenmörder wie Mao oder Pol Pot zu ihren Vorbildern erklärten oder Lenin verherrlichten.

Norbert Reichel: Ein Thema der Stiftung ist die Kommunismusgeschichte. In diesem Kontext empfehle ich die Lektüre von Gerd Koenens Buch „Die Farbe Rot“ (München, C.H. Beck, 2017), aus dem sich vor allem ein Schluss ziehen lässt: das 20. Jahrhundert war vielleicht das blutigste Jahrhundert und im Zeichen einer ursprünglich humanistisch konnotierten Idee wurden Menschen schikaniert, verfolgt, ermordet, und das in einer Dimension, die im 19. Jahrhundert, in der Zeit, in der die Idee des Kommunismus entstand, nicht vorstellbar gewesen wäre.

Anna Kaminsky: Die strittige Frage ist ja, ob die kommunistische Idee wirklich eine ursprünglich humanistische Idee oder anders gesagt, ob die kommunistische Ideologie überhaupt mit Menschenrechten und humanistischen Idealen vereinbar ist. Ich habe da meine Zweifel. Denn man muss sich doch fragen, wieso alle Versuche, diese Idee und Ideologie zur Grundlage von Gesellschaften zu machen, mit Massenrepressalien, Verletzung grundlegender Menschenrechte oder wie in der Sowjetunion, China oder Kambodscha aber auch Albanien mit Massenmorden, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen, einhergingen und verbunden sind. Zur Vertiefung kann ich die beiden Portale zur Kommunismusgeschichte und zu den Biographien von Dissidenten empfehlen. Das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung ist online zugänglich. Hier können unter anderem über 5.500 Biografien vor allem deutscher Kommunist*innen, die dem stalinistischen Terror zum Opfer fielen, und osteuropäischer Dissident*innen recherchiert werden.

Norbert Reichel: Ein beeindruckendes Erlebnis hatte ich an einer Ecke des Friedhofs Père Lachaise in Paris. Dort, wo die Kommunarden vor etwa 150 Jahren erschossen wurden, gibt es eine lange Reihe von Mahnmalen für die in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordeten Menschen. Gegenüber liegen die Gräber der Generalsekretäre der ehemaligen kommunistischen Partei Frankreichs, auch die kommunistischer Dichter wie Louis Aragon. Für mich wurde dabei deutlich, dass diejenigen, die für sich in Anspruch nahmen, in vorderster Reihe, in vorderster „Front“ gegen die Nazis kämpften, selbst ein Terrorregime aufbauten und vertraten, somit eine ursprünglich humanistisch gemeinte Idee in ihr Gegenteil verkehrten. Diese Einsicht schafften nicht alle, die jemals sich der kommunistischen Idee verschrieben hatten. Aus meiner Sicht sollte Manès Sperbers „Wie eine Träne im Ozean“ zur Pflichtlektüre gehören, auch wenn es sicher nicht einfach ist, diese über 1.000 Seiten zu lesen.

Anna Kaminsky: Oder auch das Buch „Sonnenfinsternis“ von Arthur Koestler….

Norbert Reichel: Gibt es vergleichbare Strategien der Aufarbeitung in anderen Ländern des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs? Und wie gehen wir mit den Erfahrungen aus diesen Ländern in Deutschland eingewanderten Menschen um, die die Diktatur ihrer Herkunftsländer durchleben mussten? Ich denke dabei beispielsweise an Aussiedler*innen oder auch an die in den 1990er Jahren in Deutschland aus Russland beziehungsweise der Sowjetunion aufgenommenen Jüdinnen und Juden.

Anna Kaminsky: Was die Auseinandersetzung mit den kommunistischen Regimen betrifft, so ist das Bild sehr unterschiedlich. In vielen Ländern hängt der Wille zur Aufarbeitung davon ab, ob es nach 1990 gelungen ist, einen Elitenwechsel in den politischen Positionen zu erreichen. Und es gibt einige Länder, wie beispielsweise Albanien, in denen erst ab 2013 ein auch von staatlicher Seite unterstütztes Bemühen erkennbar ist, sich mit den begangenen Verbrechen, den Opfern und den Auswirkungen auf die Gesellschaft auseinanderzusetzen.

In Russland stehen jene, die sich kritisch mit den in der Sowjetunion begangenen Verbrechen befassen, die die Massengräber suchen und die Millionen Opfer versuchen zu identifizieren, unter starkem Druck. Wir versuchen Austausch und Vernetzung anzubieten. Denn diejenigen, die sich damit befassen, staatliche Verbrechen der Vergangenheit aufzuarbeiten und aufzuklären, sind oft nur eine kleine Minderheit.

Wir haben aus der Geschichte der Bundesrepublik auch die Erfahrung, dass jene, die in den 1960er oder 1970er Jahren versuchten, an ihren Orten oder Regionen die Geschichte der Nazi-Herrschaft, die begangenen Verbrechen aber auch die Verstrickung der Menschen und persönliche Verantwortung aufzuarbeiten, als Nestbeschmutzer beschimpft wurden und oft ausgegrenzt wurden und gegen vielfältige Widerstände arbeiten mussten.

Manchmal ist es hilfreich, dass jene, die sich im Ausland mit der Aufarbeitung ihrer Diktaturen befassen – seien es kommunistische oder wie in Spanien, Portugal oder Griechenland oder den lateinamerikanischen Ländern Militärdiktaturen – sehen, dass es auch in Deutschland eines jahrzehntelangen Kampfes bedurfte, bis wir zu den „Weltmeistern“ der Vergangenheitsbewältigung wurden… oder zumindest vom Ausland aus oft so gesehen werden.

Ich bemühe oft folgendes Bild: Aufarbeitung ist ein Marathon und kein Sprint und auch wir in Deutschland sind nicht im Ziel, denn wir sehen ja immer wieder, dass das Wissen über die Verbrechen, die Deutschland im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg begangen hat, für den Holocaust und den rassistischen Angriffs- und Eroberungskriege, dass diese Verantwortung uns bis heute begleitet und auch in den kommenden Jahrzehnten nicht vergehen wird. Das ist eben kein „Vogelschiss“ in unserer Geschichte.

Und hinzu kommt natürlich, dass viele derjenigen, die hier leben oder zuwandern, ebenfalls Erfahrungen mit Diktatur, Krieg oder Gewalt mitbringen – nicht nur jene aus Ländern des einstigen kommunistischen Ostblocks – wir dürfen nicht vergessen, dass in den 1980er Jahren ein Drittel der Menschheit unter kommunistischen Regimen lebte wie beispielsweise in Afghanistan, Syrien oder Äthiopien und anderen Ländern. Und nicht zu vergessen die Erfahrungen mit Bürgerkriegen, Apartheid-Regime, Militärdiktaturen und und und …

Aber auch Westeuropäer haben doch die Erfahrung nicht nur der deutschen Besatzung während des Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg, sondern wie in Italien die Zeit des Faschismus, oder in Portugal, Griechenland oder Spanien die Erfahrungen der dortigen Diktaturen. Diese Erfahrungen prägen doch alle unsere Gesellschaften und die Erfahrungen in den Familien – und diese Erfahrungen können jeweils Anknüpfungspunkte für eine Auseinandersetzung im Unterricht sein: Was bedeuten die Verweigerung von Menschenrechten? Was macht es mit den Gesellschaften, wenn es nach dem Ende der Gewaltherrschaft keine Aufarbeitung gibt? Die Täter ungestraft davonkommen und die Opfer negiert werden und neuen Repressalien ausgesetzt sind?

Norbert Reichel: Etwas Positives über die DDR?

Anna Kaminsky: Falsche Frage. Wieso bitten Sie mich nicht, etwas Positives über die Diktatur zu sagen, denn darum geht es: Was ist positiv an einer Diktatur? Manchmal sagen Leute: Ich habe in der DDR nichts vermisst, ich habe nicht gemerkt, dass das eine Diktatur gewesen sein soll. Ich frage dann oft zurück, ob diejenigen Verwandte im Westen hatten und sie besuchen konnten, ob sie reisen konnten, wohin sie wollten, ob sie die Bücher lesen konnten, die sie wollten, die Filme sehen, die sie sehen wollten oder ob sie selbst oder ihre Kinder das lernen oder studieren konnten, wenn sie das wollten… und ob sie ihre frei Meinung äußern konnten, eine Partei gründen…, ohne Angst zu haben, im Zuchthaus zu landen.

Norbert Reichel: Wann hätte die Stiftung ihren Auftrag erfüllt? Anders gefragt: Kann „Aufarbeitung“ jemals aufhören? Oder müsste der Auftrag erweitert werden, im Hinblick auf den Umgang mit den Folgen von Diktaturen? Angesichts der Schicksale der in Deutschland ein- und zuwandernden Menschen könnte ich mir das gut vorstellen.

Anna Kaminsky: Glücklicherweise waren die Mütter und Väter unseres Stiftungsgesetzes so vorausschauend, dass sie auch die Auseinandersetzung mit den Folgen der Diktatur bedacht haben. Aber auch jenseits der Befassung mit den Folgen und Nachwirkungen der Diktatur, müssen wir immer wieder in Erinnerung rufen, was es heißt, in einer Diktatur, in Unfreiheit oder in Gewaltherrschaft und staatlicher Gewalt zu leben. Diejenigen, die bei uns Asyl suchen, haben die Aktualität dieser Erfahrungen am eigenen Leib erlebt, für sie ist das keine theoretische Frage oder eine Frage historischer Erfahrungen wie glücklicherweise für diejenigen, die nach 1990 im westlichen Europa geboren sind.

Fragen der Aufarbeitung bleiben nach wie vor aktuell und müssen sich von jeder Generation, jeder neuen Schulklasse wieder neu angeeignet werden. Dabei stellen sich diese Fragen für alle Formen von Gewalterfahrungen, Krieg oder Diktaturen: Die Folgen prägen das Leben der Einzelnen aber auch der Gesellschaften als Ganzes lange über das Ende der jeweiligen Diktaturen hinaus und für mich stellt sich immer wieder die Frage: Wie schützen wir demokratische Rechte und Freiheiten und wie kann man dem Vergessen entgegen wirken.

Anna Kaminsky wurde 1962 in Gera geboren. Sie studierte an der Sektion Theoretische und angewandte Sprachwissenschaft (Schwerpunkt romanische Sprachen, Abschluss Sprachmittler) an der Karl-Marx-Universität in Leipzig. 1993 wurde sie zum Dr. phil. promoviert, Thema „Sprache in der Politik. Die Analyse politischer Texte des katalanischen Nationalismus 1898-1917“. Seit 1993 arbeitete sie in verschiedenen Forschungs- und Ausstellungsprojekten u.a. am Berliner Institut für vergleichende Sozialforschung, an der Universität Münster, der Gedenkstätte Sachsenhausen und am Deutschen Historischen Museum. 1998 nahm sie ihre Tätigkeit bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur auf. 2001 wurde sie Director / Geschäftsführerin der Stiftung. Sie ist Mitglied in verschiedenen Beiräten, darunter im Beirat der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, der Stiftung Berliner Mauer, der Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt sowie im Beirat Aufarbeitung der Stiftung Ettersberg sowie der Stiftung Point Alpha. Sie ist Mitglied im Petersburger Dialog sowie im Expertengremium Gedenkstättenförderung des Bundes bei der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, seit 2018 Mitglied im internationalen Beirat zur Einrichtung eines Museums und Forschungszentrums für die Verbrechen des Kommunismus.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2020, alle Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)