„Der Tod hat nicht das letzte Wort“
Kunst und Künstler*innen in und nach Auschwitz
„Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.“ (Theodor W. Adorno, Meditationen zur Metaphysik, in: Negative Dialektik)
Am 8. Dezember 2015 wurde das Zentrum für verfolgte Künste in Solingen eröffnet. Die Eröffnung durch den damaligen Präsidenten des Deutschen Bundestags, Dr. Norbert Lammert, hatte eine lange Vorgeschichte, die auf der Internetseite des Zentrums nachlesbar ist. Direktor und Geschäftsführer ist seit 2019 Jürgen Joseph Kaumkötter, der sich unter anderem intensiv mit der Geschichte der Künste in der Zeit von 1933 bis 1945 beschäftigt hat. 2015 veröffentlichte er das Buch „Der Tod hat nicht das letzte Wort. Kunst in der Katastrophe 1933 – 1945“ (Galiani Berlin, ein Imprint von Kiepenheuer & Witsch).
Das Angebot des Zentrums geht weit über die Zeit von 1933 bis 1945 hinaus. Neben der Sammlung Gerhard Schneider zur Malerei ist die Sammlung Jürgen Serke zu verfolgter Literatur hervorzuheben, beides Sammlungen mit Werken, die mit der Opposition und dem Widerstand gegen den Kommunismus auch die zweite Diktatur des 20. Jahrhunderts in Deutschland berücksichtigen. Ein roter Faden des Zentrums ist die Frage, wie Künstler*innen und Künste in Zeiten der Verfolgung, der Repression und der Vernichtung überleben konnten und was dies für die Zeit nach der Befreiung bedeutet.
Stationen: Auschwitz, Osnabrück, Solingen
Norbert Reichel: Als Widmung haben Sie mir in das Buch „Der Tod hat nicht das letzte Wort“ hineingeschrieben: „Kunst kann Leben retten!“ Nun haben die Künste in der Zeit, in der wir hier miteinander sprechen, wenig Möglichkeiten, in der Öffentlichkeit beachtet zu werden. Die Corona-Pandemie verhindert Ausstellungen, beschränkt sie zumindest, sodass der erforderliche vielfältige Dialog über Genese und Wirksamkeit, Qualitäten und Perspektiven der Künste sich in Teilen virtualisieren musste. Gruppen von Besucher*innen verzichten auf den gemeinsamen Museumsversuch. Das ändert nichts an dem Gehalt der gut dokumentierten Auseinandersetzung mit Kunst in und nach Auschwitz. Darüber möchte ich gerne mit Ihnen sprechen.
Seit etwa einem Jahr sind Sie Direktor des Zentrums für verfolgte Künste in Solingen, eine weltweit einmalige Einrichtung. Sie waren und sind Kurator, Kunstvermittler und alles, was Sie tun, hat viel mit Politik und Erinnerungskultur zu tun, mit aktueller wie mit vergangener Politik. Ist das eine neue Entwicklung in Ihrem Leben?
Jürgen Kaumkötter: Nein, das prägte meine Arbeit auch bei meinen bisherigen Tätigkeiten. Schon als Schüler habe ich mich, als in Osnabrück geborener, für das Werk von Felix Nussbaum und die Bücher von Erich Maria Remarque interessiert. Meine Urlaube als Jugendlicher führten mich immer auch an die Wirkstätten dieser beiden bedeutenden Künstler. So bin ich auf den Spuren von Felix Nussbaum nach St. Cyprien gefahren oder mit den Büchern von Remarque nach Lissabon.
Norbert Reichel: Wie sind Sie denn dann mit Gerhard Schneider und Jürgen Serke zusammengekommen? Sie haben mir berichtet, dass der Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Museums und ehemaliger Berliner Kultursenator Christoph Stölzl ein Auslöser gewesen ist.
Jürgen Kaumkötter: Christoph Stölzl hatte 2003 in Osnabrück, wie immer mit einer fulminanten Rede, eine Ausstellung eröffnet. Ich war mit dem dortigen Museum, den Kulturgeschichtlichen Museum Felix-Nussbaum-Haus eng verbunden, arbeitete aber in Berlin. Ganz spontan hatte sich eine kleine Gruppe Berliner gebildet, die einen Ausflug nach Osnabrück zu der Ausstellungseröffnung gemacht hat. Es war eine sehr schöne Ausstellung mit Kunstwerken von Albrecht Dürer. Der Titel war „Das große Glück“. Das kann ich wörtlich nehmen. Nach der Eröffnung fehlte etwas zur weiteren Betreuung der anwesenden VIP’s. Ich habe spontan ein Restaurant organisiert, und dort saß mir Jürgen Serke gegenüber und der klagte sein Leid. Er hätte eine schöne temporäre Ausstellung zur Exil-Literatur in Solingen, aber ihm fehle das Personal zur Organisation der weiteren Ausstellungsorte. Jetzt wolle er in Breslau ausstellen, wisse aber nicht, wer ihn unterstützen könnte. Darauf sagte mein damaliger Direktor, ich war Assistent am Museumsdienst in Berlin, Jochen Boberg, das macht der Kaumkötter, der kann das.
Norbert Reichel: Wie lässt sich Ihr Verhältnis zu Jürgen Serke beschreiben?
Jürgen Kaumkötter: Es ist eine intensive, manchmal väterliche Freundschaft. Er sagt hin und wieder, er sähe mich in irgendeiner Art so wie er sich an die Zeit erinnere als er jung war.
Norbert Reichel: Wie entwickelte sich die Zusammenarbeit mit Jürgen Serke?
Jürgen Kaumkötter: 2004 gab es dann die besagte Ausstellung in Breslau, die – offen gesagt – ziemlich überladen war. 2005 fand die nächste Ausstellung in Berlin, dann eine in Prag und in Jerusalem statt. Auf dieser Tournee sind wir ein eingespieltes Team geworden und ich habe sehr viel von ihm gelernt. Es war eine tolle Zeit! Eine wichtige Rolle spielten in den Ausstellungen die Werke von Else Lasker-Schüler. Und die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft vergab für Solingen den Auftrag der Konzeption und Umsetzung der Dauerausstellung der Sammlung von Jürgen Serke. Es war ein großer Vertrauensbeweis des Vorsitzenden der Lasker-Schüler-Gesellschaft Hajo Jahn, mir Jungspund den Auftrag für die Dauerausstellung zu übertragen.
Norbert Reichel: Sie hatten damals bereits Kontakte nach Polen, unter anderem nach Auschwitz.
Jürgen Kaumkötter: Ja, seit 1999. Ich habe in Osnabrück Kunstgeschichte und Geschichte studiert und seit meinem ersten Semester am Kulturgeschichtlichen Museum bei Dr. Karl Georg Kaster Seminare besucht, dann sehr schnell auch als Student gejobbt. Kaster ist 1996 an einem Herzinfarkt gestorben. Das war für mich ein großer Schock und Verlust. 1998 habe ich an der Europaratsausstellung zum 350. Jubiläum des Westfälischen Friedens den Besucherservice geleitet. Als 1999 das Nussbaum Haus seinen, sagen wir mal normalen Betrieb aufgenommen hat, habe ich eine Vermittlungsaktion initiiert. Das Nussbaum-Haus ist wie das Berliner Jüdische Museum ein Bau von Daniel Libeskind. Die Architektur von Daniel Libeskind bedarf einer Erklärung. Sie erschließt sich nicht von selbst. Die einzelnen Gebäudeteile verweisen auf historisch bedeutende Orte, Libeskind nennt dies die „lines of thought“. Wir wollten sie mit unserer Aktion sichtbar und emotional erlebbar machen.
Norbert Reichel: Für mich waren diese „lines of thought“ ein körperliches Erlebnis, beispielsweise der „Irrgarten des Exils“, in dem es keinen rechten Winkel gibt, sodass Menschen, die ihn betreten, nach wenigen Minuten jede Orientierung im Raum verlieren, schwanken, sich unsicher auf den Beinen fühlen und so körperlich empfinden, was es bedeuten könnte, sich in einer fremden Umgebung zurechtfinden zu müssen.
Jürgen Kaumkötter: Es gibt Parallelen der Idee von Daniel Libeskind zum Werk von Richard Serra. Die Parallelen liegen in den Gedanken zur Form der Darstellung der Shoah in der Kunst. Auf der einen Seite eine nicht-gegenständliche Architektur, der E.T.A.-Hoffmann-Garten im Jüdischen Museum in Berlin, andererseits im Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück die Wand der nicht gemalten Bilder.
In Osnabrück bezieht sich jeder Flügel des Gebäudes auf einen Lebensort von Felix Nussbaum, dort gibt es dann jeweils Bilder, die an diesen Lebensorten entstanden sind. Es gab 1999 eine Live-Übertragung aus dem Felix-Nussbaum-Museum, die in Berlin, in Italien, in Belgien, in Auschwitz zu sehen war. Darüber kam ich dann nach Auschwitz. Wir haben damals aus dem Museum in Osnabrück Übertragungen an die Orte gemacht, an denen Felix Nussbaum sich aufgehalten hatte. Es gab dann virtuelle Führungen an diesen Orten durch die Galerie der Bilder, die Felix Nussbaum dort gemalt hatte.
Das war zu einer Zeit, als es noch bei Weitem nicht die Möglichkeiten des Internets gab, die wir heute haben. Im Ergebnis ist es vergleichbar der virtuellen Ausstellung 7 places, die wir am 9. November 2020 eröffnet haben. Aber bereits vor zwanzig Jahren haben wir den Begriff des „offenen virtuellen Museums“ benutzt.
Norbert Reichel: Wie lernten Sie Bilder von Künstler*innen in Auschwitz kennen?
Jürgen Kaumkötter: Ich saß im Büro von Krystyna Oleksy, der damaligen stellvertretenden Leiterin des Museums Auschwitz-Birkenau. Ich hätte gerne vor der Gaskammer ein solches Live-Übertragungs-Terminal aufgestellt, um an Felix Nussbaum zu erinnern. Krystyna Oleksy sagte kategorisch nein, dies ginge nicht, es wäre pietätlos, es handele sich um einen Friedhof. Mein Vorschlag war mir umgehen peinlich und sie hat mir innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde die Augen geöffnet. Der Umgang mit der Shoa, mit diesen größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, darf niemals voyeuristisch sein.
Es war die gleiche Auseinandersetzung, die Steven Spielberg bei den Filmaufnahmen für „Schindler’s List“ führte. Wie gehen wir mir den Orten des Verbrechens um. Ihm wurde selbst nach Intervention des amerikanischen und des polnischen Präsidenten untersagt, in Birkenau zu filmen. Die Lösung war dann ein Platz außerhalb des Geländes. Vor dem Lagertor. Daher sieht man im Film auch alles seitenverkehrt. Wir haben das in Auschwitz-Birkenau dann genauso gemacht.
Krystyna Oleksy zeigte mir Kunst von Häftlingen in Auschwitz. Das veränderte mein Leben. Die Direktion gab mir die Möglichkeit, dort zu recherchieren und eine Kunstausstellung vorzubereiten. Ich fragte mich schon warum ich. Ich war alleine, naiv, hatte keinen Hintergrund oder eine besondere Expertise. Es gibt 1.500 Bilder aus der Lagerzeit – da kann man sehr viel falsch machen.
Es gab dann 2005 eine Ausstellung im Centrum Judaicum in Berlin, die Gerhard Schröder, der damalige Bundeskanzler, nach der verlorenen Wahl in Nordrhein-Westfalen, die ihn zum Ausruf von Neuwahlen veranlasste, eröffnete. Die Eröffnung der 2005er-Ausstellung führte zu meinem ersten Fernsehinterview. Beteiligt waren insgesamt etwa 200 Journalist*innen aus aller Welt bis hin zu südamerikanischen Sendern. Die Interviews liefen über sechs Stunden am Tag.
Norbert Reichel: Die Kunst der Häftlinge in Auschwitz war auch Gegenstand Ihres erwähnten Gesprächs mit Jürgen Serke.
Jürgen Kaumkötter: Ich habe damals mit ihm quasi gewettet, ob es Kunst von Häftlingen gebe oder nicht. Er war als Journalist bei den Frankfurter Auschwitz Prozessen beteiligt und sogar damals beim Ortstermin in Auschwitz mit dabei. Er hat mir nicht geglaubt, dass es in Auschwitz Kunst gibt. Er hat mir einfach nicht geglaubt und ich habe ihn eingeladen mich bei einer meiner Recherche zu begleiten. Wir sind zusammen nach Krakau gefahren und dann weiter nach Auschwitz. Ich habe die Wette gewonnen. Der Preis war, dass er Bundeskanzler Gerhard Schröder für die Eröffnung der Ausstellung in Berlin gewinnen sollte. Er vermittelte auch eine Titelstory im Cicero, schrieb einen großartigen Artikel. Es gab schließlich drei Titel.
„Arbeitsbedingungen“ von Künstler*innen in Auschwitz
Norbert Reichel: Ein Cicero-Artikel beschreibt recht ausführlich Ihren Ansatz zur Präsentation der Kunst in Auschwitz. Wie konnten die in Auschwitz inhaftierten Künstler*innen arbeiten?
Jürgen Kaumkötter: Eine knappe Übersicht über einige der Künstler*innen ist auf der Seite der ARD zu finden. Nur wenige hatten diese Möglichkeit. Aber es gab Wege, um an Material heranzukommen, beispielsweise über Rote-Kreuz-Pakete oder über die administrativen Arbeitskommandos, die mit Stift, Papier und Farbe zu tun hatten. Künstler*innen in diesen Kommandos organisierten sich ihr Material selbst. Es gab Tauschgeschäfte. Farbe wurde aus mühsam von der Wand gekratzten, fein gemahlenen Pigmentbrocken hergestellt. Eiweiß diente als Bindematerial, der Malgrund war grobes Sackleinen der Strohmatratzen. In der Phase des vom Kommandanten Höß eingerichteten Lagermuseums – das war 1941 – erhielten Künstler*innen ihre Malutensilien auf Initiative des Häftlings Franciszek Targosz (1899-1979), dessen Rolle nicht unumstritten war. Um den Bestand des Lagermuseums zu sichern, kollaborierte er mit der SS. Das nahmen nicht alle kritiklos hin.
Norbert Reichel: Das ist im Grunde dasselbe Problem, das wir bei der Bewertung der Kapos haben. Wie weit waren sie Opfer? Wie weit waren sie Täter*innen? Was machte eine solche Doppelrolle aus Menschen, deren vorrangiges Ziel verständlicherweise war zu überleben? Was wäre von der Kunst in Auschwitz geblieben, wenn Franciszek Targosz nicht kollaboriert hätte, sofern dieser Begriff überhaupt seine Handlungsweise erfasst? Viele hypothetische Fragen, auf die wir wahrscheinlich keine Antwort finden. Meines Erachtens wird diese Doppelidentität von Franciszek Targosz gut in dem Bild sichtbar, das Mieczyslaw Kośniak 1942 von ihm als Zentaur gemalt hatte, der massiv-gedrungene Körper eines Kaltblutpferdes, vorstehendes Kinn, stechender Blick, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, abwartend und herausfordernd zugleich.
Jürgen Kaumkötter: Kunst gehörte zum Belohnungs- und Bestrafungssystem des Lagers, ähnlich wie Lagerbordell und Fußball. Wer beispielsweise andere wegen eines Verstoßes denunzierte, wurde belohnt. Das heißt natürlich nicht, dass alle Künstler in Auschwitz kollaborierten, um ihre Kunst auszuüben.
SS-Männer kauften auf ihren wörtlichen Fahrten nach Katowice Materialien, um die sie Targosz und der in einer Schreibstube arbeitende Leon Mateja baten. Targoszs Ehefrau Luiza konnte von außen und von der SS geduldet Materialien ins Lager schicken. Kunst war neben dem Zahngold eine der begehrten Waren. Es gab sogar Auftragsarbeiten der SS. Vincenty Gawron erhielt 1942 den Auftrag, den SS-Oberscharführer Ludwig Plagge und seinen Schäferhund zu zeichnen. Erst im Sommer 1943 beendete Höß mit einem Ukas die künstlerischen Arbeiten. Er konnte dennoch nicht verhindern, dass auch weiterhin Kunst geschaffen wurde.
Norbert Reichel: Wie wurden die Kunstwerke gerettet?
Jürgen Kaumkötter: Es wurde alles versucht. Mit der Post aus dem Lager. Es gab versteckte Kunstdepots, die nach dem Krieg geöffnet wurden. Häftlinge, die das Lager mit Arbeitskommandos verlassen konnten, hatten mehr Möglichkeiten, Werke zu verstecken, als Häftlinge, die sich nur im Lager aufhielten. Dem Künstler Wincenty Gawron gelang die Flucht. Er nahm alle seine Kunstwerke mit. Auch der organisierte polnische Lagerwiderstand, zu dem im Grunde alle Künstler des Lagermuseums zählten, hatte mithilfe einer Wäscherei einen sicheren Weg gefunden, Werke aus dem Lager zu schmuggeln.
Von der ersten Ausstellung zu Museum und Gedenkstätte
Norbert Reichel: Wie kam es nach dem Krieg zur ersten Ausstellung in Auschwitz?
Jürgen Kaumkötter: Die Schlüsselfiguren waren die Künstler des Lagermuseums, Targosz oder Mieczyslaw Kośniak (1912-1993). Er wurde wenige Tage vor der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee nach Mauthausen verlegt, dann nach Melk und Ebensee. Am 6. Mai 1945 wurde er von den amerikanischen Streitkräften befreit. Er arbeitete dann sechs Monate für die US-Armee und fertigte Portraits u.a. von den Generälen Patton und Eisenhower an. Ende 1945 kehrte er nach Warschau zurück und wurde im April 1946 vom polnischen Museum der Kunst und Kultur beauftragt, beim Aufbau des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau mitzuarbeiten. Er arbeitete vier Jahre lang in der „Kommission zur Untersuchung der Verbrechen Hitlerdeutschlands“ mit, trat als Zeuge im Prozess gegen Rudolf Höß auf. 1950 entstanden seine Zyklen „Der Tag des Häftlings“ und „Der Tag des Gefangenen“. Er starb am 5. März 1993 in Slupsk. Seine Werke wurden in zahlreichen Ausstellungen in Europa, den USA und Japan gezeigt. Manche seiner Werke befinden sich in polnischen Museen, manche in Privatsammlungen. Der erste Kustos des Museums war Jerzey Adam Brandhuber, selbst ein Künstler.
Norbert Reichel: Ist Kośniaks Leben eine typische Biographie oder eher eine Ausnahme?
Jürgen Kaumkötter: Das ist schwer zu beantworten. Nur ein sehr sehr kleiner Teil der in den Konzentrationslagern inhaftierten Menschen konnte Kunst machen. Es waren vielleicht 50. In Auschwitz waren es vor allem polnische Häftlinge, die im Stammlager inhaftiert waren. Sie konnten von ihren Strukturen profitieren. Jehuda Bacon, der 1929 geboren wurde und heute in Jerusalem lebt, sagte beispielsweise, dass er nur wegen der Lagergemeinschaft und seiner Bilder überlebt habe.
Die offizielle Eröffnung des Museums in Auschwitz erfolgte am 2. Juli 1947 mit Beschluss des Sejm. Eine solche Ausstellung bräuchte im Grunde mehrere Jahre der Vorbereitung. Die ehemaligen Häftlinge realisierten sie in knapp zweieinhalb Jahren. Sie begannen direkt nach dem 27. Januar 1945. In anderen Lagern dauerte es oft Jahrzehnte, bis die ersten Ausstellungen entstanden. Auch Mahnmale entstanden oft erst nach 20 Jahren, beispielsweise 1965 in Dachau.
Norbert Reichel: Wie wirkte der Aufbau der Gedenkstätte und des Museums in Polen?
Jürgen Kaumkötter: Das ist eine schwierige Frage. Ein polnischer Historiker berichtete mir, dass er als Schüler beim Besuch des Museums auf einer Klassenfahrt in den 1970er Jahren noch gedacht habe, dass all die Koffer, Haare, Körbe und so weiter ausschließlich von polnischen Häftlingen stammten. Heute ist klar, dass es sich dabei um Gegenstände der ermordeten Jüdinnen*Juden handelt.
Norbert Reichel: Die Debatte der vergangenen Jahre in Polen über die Erinnerungskultur ist ein reichlich empfindliches Thema. Ich verweise nur kurz darauf, dass offenbar auch in Polen manche wünschen, es wäre anders gewesen, auch eine Variante der für Antisemitismus heute gängigen Schuldabwehr. Ich weiß, wie kritisch ist, dies als Deutscher zu sagen, ohne sich selbst diesem Verdacht auszusetzen. Wir sollten uns meines Erachtens hüten, darüber zu urteilen. Darüber habe ich beispielsweise in meinem Essay „Das Trauma der anderen“ geschrieben (https://demokratischer-salon.de/beitrag/das-trauma-der-anderen/).
Ich möchte jedoch eine andere Frage ansprechen. Warum sprechen wir vor allem über Werke männlicher Künstler? Welche Künstlerinnen gäbe es wiederzuentdecken? Und wie sieht es mit Kindern aus? Ich kenne die Dauerausstellung am Jüdischen Friedhof in Prag mit den Bildern, die Kinder in Theresienstadt gemalt haben. Eine Schieflage haben wir auch bei den Orchestern in Auschwitz. Das Frauenorchester, das maßgeblich von Alma Rosé (1906-1944) geleitet wurde, wird meines Erachtens viel zu oft als „Mädchenorchester“ verniedlicht. Wie es sich tatsächlich verhielt, wird in den letzten Jahren dank der beiden Lasker-Schwestern, Renate und Anita, sowie durch Esther Bejarano einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Wie verhält es sich mit den Künstlerinnen?
Jürgen Kaumkötter: Es gab auch nur sehr wenige. Ich erinnere an Halina Olumucki, über die ich auch in meinem Buch geschrieben habe. Es gab noch Zofia Stępień-Bator, mit der ich versucht habe, Kontakt aufzunehmen. Die Ausgrenzung von Frauen im allgemeinen Kunstbetrieb potenzierte sich in Auschwitz. Das von Ihnen erwähnte Frauenorchester ist die Ausnahme, nicht die Regel.
Was ging verloren?
Norbert Reichel: Ein wichtiger Teil der Dauerausstellungen im Zentrum für verfolgte Künste ist die Sammlung Jürgen Serke, über die wir uns in einem weiteren Gespräch austauschen werden. Ein anderer wichtiger Teil ist die Sammlung Gerhard Schneider.
Jürgen Kaumkötter: Die Sammlung Gerhard Schneider wurde zum ersten Mal 1999 in Solingen und dann 2001 im Felix-Nussbaum-Haus in Osnabrück gezeigt. Ich war damals in Osnabrück tätig, kein fester Job, es war aber ohnehin eine Zeit, die Zelte in Osnabrück abzubrechen.
Die Sammlung Schneider lässt sich mit der Sammlung Serke nicht vergleichen. Serke hat immer im Kontext der Bücher gesammelt, die er schrieb. Das waren gezielte Recherchen. Seine Bücher sind Meilensteine der Erinnerungskultur.
Gerhard Schneider sammelte gegen das Vergessen. Es gibt in seiner Sammlung daher auch große Qualitätsunterschiede. Manchmal stellt sich die Frage, warum der*die jeweilige Künstler*in bei der hohen Qualität ihrer Werke vergessen worden ist. Ich denke dabei beispielsweise an Eric Isenburger (1902-1994). Er hatte im Januar 1933 in einer angesehenen Galerie in Berlin ausgestellt. Gurlitt warnte damals vor dem, was dann kam. Die gesamte Infrastruktur Eric Isenburgers platzte. Der nächste Schritt für Eric Isenburger wäre eine Ausstellung in der Nationalgalerie gewesen. An der Côte d’Azur traf Eric Isenburger dann Peggy Guggenheim und Max Ernst. Über Varian Fry kam er 1942 nach New York und erhielt dort später eine Professorenstelle an der National Academy. Er etablierte sich, war mit Mel Brooks befreundet, mit dem er die gemeinsame Leidenschaft für kleine Tiere teilte.
Er überlebte, aber die Malerei? Seine Bilder bis 1933 waren hoch innovativ, grundlegend schwarz, geritzte Darstellungen in der Oberfläche, doch in New York malte er nur noch Landschaften, nichts Innovatives, und das war die Zeit von Rothko und Pollock. Eric Isenburger wurde amerikanischer als manche Amerikaner. In der Präsentation seiner Werke auf „artnet“ kann man dies gut sehen. Er wird dort auch als amerikanischer Künstler bezeichnet.
Schon auf dem Schiff wechselte er die Sprache. All das ist in Tagebüchern, in Rechnungen vom Schiff, vom Hotel dokumentiert, in der Einbürgerungsurkunde. Dieser avantgardistische Maler wurde zu einem Normalo wie es viele gab und gibt. Aber ohne Gerhard Schneider wüsste heute niemand mehr, wer Eric Isenburger gewesen ist. In Frankfurt am Main gab es eine Isenburger-Ausstellung, die Rolf Jessewitsch, mein Vorgänger in Solingen, kuratiert hatte. Man kann nicht sagen, er sei wiederentdeckt worden, aber er ist nicht mehr vergessen.
Bei Eric Isenburger oder bei Oskar Zügel (1882-1968) kann man klar sagen, dass ihre Karriere von den Nazis zerstört wurde. Manch andere werden ebenfalls inzwischen gezeigt, so Robert Liebknecht (1903-1994), ein Sohn von Karl Liebknecht. Jetzt hat sich ein FAZ-Journalist für ihn interessiert. Inzwischen gibt es in Museen eine Entwicklung, sich zu fragen, warum was gesammelt worden ist. Sie haben teilweise gesammelt, was die Nazis verkaufen wollten. Aber war das von Bedeutung in der damaligen Zeit? Die Nazi-Brille bestimmt nach wie vor manche Sammlungen.
Zeugnisse, Metaphern, Allegorien?
Norbert Reichel: Felix Nussbaum spielte eine Schlüsselrolle in Ihrem Leben.
Jürgen Kaumkötter: Ich sollte nach der Schule aufgrund der beruflichen Tätigkeiten meines Vaters eigentlich Maschinenbau studieren. Öde und langweilig für mich. Ich habe mich durchgesetzt und Kunstgeschichte studiert. Für einen freien Künstler hat mein Talent nicht gereicht. In der Zeit meines Studiums wurde die Kunst von Felix Nussbaum wiederentdeckt. Ich war damals mit schwarzer Lederjacke oft auf Punkkonzerten in Bielefeld. Gegenüber dem AJZ befand sich die damalige FAP-Zentrale des Neo-Nazis Michael Kühnen. Ich kam aus einem liberalen Elternhaus, das sich eindeutig gegen die Nazis aussprach, doch dieser direkte Konflikt mit den Neonazis hat mich zusätzlich politisiert.
2013 kam dann allerdings heraus, dass mein Großvater in Osnabrück in den 1920ern Geld vom Vater Felix Nussbaums für sein kleines Unternehmen, eine Schmiede, geliehen hatte. Der Vater von Felix Nussbaum hatte einen Eisenwarenhandel. Das Geld musste nach 1945 nicht mehr zurückgezahlt werden. Alle Nussbaums waren ermordet. Ich erfuhr so, dass meine Familie von der Vernichtungspolitik der Nazis profitiert hatte.
Norbert Reichel: Das ist eine der Grunderfahrungen von uns Nachgeborenen. Je tiefer wir in die Vergangenheit unserer Vorfahren einsteigen, umso mehr erfahren wir über Verquickungen ihrer Geschichte, ihres Lebens mit der NS-Ideologie und ihren Auswirkungen. Aus meiner Sicht sollte das – natürlich mit der gebotenen Sensibilität – Gegenstand jedes Schulunterrichts sein. Wir sollten alle wissen, welchen Anteil unsere Vorfahren am Holocaust hatten und wer davon profitierte, dass Jüdinnen*Juden und andere vertrieben und ermordet wurden.
In Ihrem Buch „Der Tod hat nicht das letzte Wort“ schreiben Sie, dass die Wiederentdeckung Felix Nussbaums exemplarisch für die Veränderung der Holocaust-Rezeption sei.
Jürgen Kaumkötter: Ich beziehe mich auf das sogenannte Selbstbildnis mit Judenpass. Das Bild ist natürlich ein Portrait, aber auch ein Ausdruck der Zeit, ein Historienbild, eine Allegorie der Verfolgung, ein Sinnbild der Shoah. Der Titel stammt übrigens nicht von Felix Nussbaum. Das Original hat keinen Titel. Nach 1933 hat Felix Nussbaum seinen Bildern – wenn überhaupt – nur französischsprachige Titel gegeben. Die deutschen Titel sind Interpretationen und beschreiben allenfalls das, was jemand in dem Bild sehen möchte.
Norbert Reichel: Was meinen Sie mit „Allegorie“? Ich habe mit diesem Begriff ebenso wie mit dem Begriff der „Metapher“ Probleme, denn das Bild ist mehr als das. Es zeigt das, was war, das was heute noch gilt, ungeschützt, offen, für alle sichtbar, die hinschauen wollen. Kann es sein, dass Begriffe wie „Allegorie“ und „Metapher“ mitunter verwendet werden, um sich vor dem Grauen der Wirklichkeit in Auschwitz zu schützen, die in vielen Bildern nur allzu deutlich ist? Die Rezeption des Gedichts „Todesfuge“ von Paul Celan legt dies beispielsweise nahe. Nun wirken Bilder unmittelbarer als Worte, aber führt eine Rezeption, die Begriffe wie „Allegorie“ und „Metapher“ verwendet, nicht möglicherweise zu einer Distanzierung vom realen Schicksal der dargestellten Menschen, in diesem Fall von Felix Nussbaum selbst? Ich beziehe mich dabei auf die kritischen Bemerkungen von Susan Sontag in „Against Interpretation“.
Jürgen Kaumkötter: Ein Gegenbegriff wäre „Zeugnis“. In gewisser Weise ist es das, aber ich vermeide diesen Begriff, weil er dem Anspruch eines Kunstwerks zumeist diametral entgegensteht. Ich glaube, dass wir hier sehr genau unterscheiden müssen, wovon wir sprechen, dem Kunstwerk als historische Quelle oder dem Kunstwerk als künstlerischem Wert. Ich habe in meinem Buch den Begriff „Kunst der Katastrophe“ verwendet. Damit ist kein künstlerischer Wert verbunden, der auch von Bild zu Bild verschieden ist. Es geht mir darum, über den Kunsthandel und die Praxis der Museen zu sprechen, die bestimmte Bilder übersahen, ignorierten, aus dem Kunstbetrieb ausschlossen.
Die Zeit von 1933 bis 1945 ist immer noch eine vergessene Kunstepoche. Sie liegt in den Archiven von Auschwitz, Theresienstadt, in den Depots vieler regionaler und zeitspezifischer Museen von Zielona Gora, dem Sammelpunkt für die Relikte aus den deutsch-schlesischen Museen bis zum Zentrum für verfolgte Künste in Solingen. Diese besondere Kunst wird manchmal sogar abfällig als Depotware bezeichnet. Diese Schmähung entlarvt den Kritiker, der nicht bereit ist, die üblichen Kunststandards zu verlassen und mit der notwendigen Sensibilität an die künstlerischen Objekte heranzugehen.
Auf der anderen Seite kommt es sicherlich darauf an, ob eine reale Situation gezeigt wird oder nicht. Ich möchte an Francisco de Goyas „Desastres de la guerra“ erinnern. Nur eines dieser Bilder bezieht sich auf ein tatsächliches Ereignis, alle anderen sind in der Tat Sinnbilder, Metaphern gegen die Unmenschlichkeit. Und dennoch nimmt Goya den Betrachtenden nicht die Hoffnung auf eine Tendenz jenseits von Terror und Angst. Goya macht sich zum Zeitzeugen und überschreitet gleichzeitig die Schwelle, die seine Bilder zu zeitlosen Kunstwerken machen.
Norbert Reichel: Möglicherweise stellt sich diese Frage heute anders als 1945 und in 100 Jahren wieder anders als heute. Meines Erachtens ist es der Kern jeder Debatte um eine angemessene Erinnerungskultur, wie weit Bilder des Grauens zeitlos und authentisch wirken. Gefährlich wäre es, die Bilder zu historisieren, mit dem Tenor, das ist vorbei, das kann es nie wiedergeben, wir sind für immer gefeit.
Jürgen Kaumkötter: War der Künstler in Auschwitz oder hat er nur davon gelesen, gehört? Über die Rezeption Felix Nussbaums habe ich geschrieben, dass die Ermordung eines Künstlers allen Interpretationen seines Werks einen schicksalhaften Charakter verleiht. Das Präjudiz Felix Nussbaums als Opfer des Holocaust verhindert oft eine objektive Bildbeschreibung und indiziert die Prophetie seiner Ermordung in die Analyse. Ich zitiere als Beispiel einen Bericht von Anja Helmbrecht in der Zeitung „Freitag“ vom 26. März 1999: „Die Eröffnung – an sich ein freudiges Ereignis – hatte mehr den Charakter eines Trauergottesdienstes. Das Opfer Felix Nussbaum stand im Mittelpunkt der Reden, sodass die Überleitung zu seinem Werk und dessen Präsentation im neuen Haus schwierig war.“
Norbert Reichel: Ich nenne das mal ungeschützt ein Rezeptionsparadox. Es gibt ja die Anekdote, dass ein SS- oder Wehrmachts-Mann in Paris ins Atelier Pablo Picassos kam, dort das Bild „Guernica“ sah und fragte, ob er, Picasso, dies gemacht habe. Picasso antwortete: „Nein, Sie“.
Ich bin kein Kunsthistoriker und kann daher die Qualität von Bildern nur sehr laienhaft beschreiben und bewerten. Besser kenne ich mich in der Literatur aus. Aber nicht nur dort gibt es eine Debatte über das Diktum von Theodor W. Adorno, das nach Auschwitz das Schreiben eines Gedichtes „barbarisch“ wäre (geschrieben 1949, erstmals 1951 veröffentlicht in dem Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“). Später hat er diesen Satz in „Negative Dialektik“ relativiert. Deshalb zitiere ich ihn hier auch als Motto.
Sie zitieren Adornos ursprüngliches Verdikt in Ihrem Buch, relativieren es aber ebenfalls. Wolfgang Hildesheimer (1916-1991) hat in seinen „Frankfurter Vorlesungen“ darauf hingewiesen, dass lyrische Texte besser geeignet wären als andere, die Welt nach der barbarischen Zerstörung wieder neu zusammenzusetzen. Das bezog er auf die „Maulwürfe“ von Günter Eich (1907-1972). Vielleicht ist das auch in der Malerei so?
Jürgen Kaumkötter: In meinem Buch habe ich geschrieben, dass die meisten Künstler*innen der Täter- und Opfergeneration der Zeit zwischen 1933 und 1945, die versuchen, ihr Hier und Jetzt ins Bild zu bannen, eines gemeinsam haben: Sie trauen ihrer eigenen Sprache nicht mehr. Ihre Werke sind ein stummer Schrei. Das erlebte Grauen war so groß, dass es nicht mehr in ein normales Sujet passte. Sie entwickelten markige, aufdringliche Metaphern, rhetorische Figuren wie der sterbende Soldat, der noch eine Handgranate hält, für den aussichtslosen Kampf bis zum Tod, der Stacheldraht als Sinnbild für das Konzentrationslager, die übergroßen ausgemergelten liegenden nackten Füße für das alltägliche Sterben im Lager, die Ruinenlandschaften als Symbol der allgegenwärtigen Zerstörung schlechthin. Ich habe das einen „Manierismus des Grauens“ genannt. Das macht die Rezeption dieser Werke sehr schwierig.
„Bildkünstlerische Hilflosigkeit“
Norbert Reichel: Den Begriff der „Metapher“ würde ich vielleicht durch den der „Metonymie“ ergänzen oder sogar ersetzen. Jedes Bild, jedes Gedicht präsentiert Bruchstücke eines Grauens, verweist auf Elemente dieses Grauens außerhalb des Bildes, des Gedichtes, verweist darüber hinaus. Letztlich werden der künstlerische Wert und der Gegenstand des Kunstwerks eins, vorausgesetzt, die Authentizität bleibt gewahrt. Insofern trifft es zu, dass Bilder, Gedichte zu Zeugen ihrer Zeit werden, auch zu Zeugen der Auseinandersetzung und Aufarbeitung der Zeit, die sie darstellen.
Jürgen Kaumkötter: Die Sätze Adornos sind ja auch kein Bilderverbot, kein Verbot, Gedichte zu schreiben. Aber diejenigen, die Bilder malen, Gedichte schreiben, müssen sich der Grenzen ihres Vorhabens bewusst sein. Kann es mit und nach Auschwitz noch eine Art Heilserwartung geben. Ich zeige in meinem Buch ein Triptychon von Otto Schubert, das um 1960 entstanden ist. Es zeigt mit den Mitteln eines Flügelaltars statt Geburt, Kreuzigung und Auferstehung Vergewaltigung, Vernichtungslager und Selektion, Tod in der Gaskammer. Das ist eine Welt, in der es keine Heilserwartung mehr gibt.
Norbert Reichel: Damit sind wir beim Thema der Theodizee.
Jürgen Kaumkötter: Ich frage mich, ob diejenigen, die ein solches Bild betrachten, überhaupt noch Spielräume haben, ob sie noch Platz für ihre eigenen Empfindungen haben.
Norbert Reichel: Ich versuche mich einer Antwort auf diese Frage mit einer Beschreibung des Bildes zu nähern.
Auf dem linken Flügel des Triptychons sehen wir den Vergewaltiger – einen Mann mit nacktem Oberkörper – versonnen und hingebungsvoll Flöte spielen, der Blick von der vergewaltigten Frau abgewandt. Die vergewaltigte Frau liegt mit dem Kopf nach unten, über das verwühlte Bett herabhängend, die Augen bedeckend, ein Tuch zwischen den Beinen. Rechts unten im Bild sehen wir einen Tisch, der so gedeckt ist, als habe es vor der Vergewaltigung ein gemeinsames Dinner gegeben.
Wenn ich dieses Bild von den beiden anderen Teilen des Triptychons isoliere, könnte es ein Bild männlicher Dominanz und Herrschaft sein, das nichts mit Auschwitz zu tun haben müsste. Dadurch wird es nicht erträglicher, aber in der Kombination mit den beiden anderen Teilen wird es zu einem Bild, das zeigt, dass männliche Herrschaft und Auschwitz eng miteinander verbunden sind. Es entsteht eine direkte Verbindung zu dem Bild des rechten Flügels, in dem ein Mann – wir wissen nicht, ob es ein SS-Mann ist oder ein Mann der Sonderkommandos – mit nacktem Oberkörper – ebenso wie der Flötenspieler im linken Flügel – zwei tote Kinder aus dem Bild herausschleppt.
Auch im mittleren Bild sehen wir einen SS-Mann mit nacktem Oberkörper. Die einzige Gestalt, die aus den Bildern herausragt, ist im mittleren Teil ein weiß gekleideter Mann mit weißem Bart, der die Hände zum Himmel erhebt und vielleicht an Moses erinnern könnte, der das Volk Israel aus Ägypten führte. Oder ist es Abraham auf dem Berg Morija? Oder der Prophet Elias, für den in jedem Pessach-Mahl gedeckt wird? Er ist der einzige bekleidete Mensch unter den Opfern, der Gegenspieler der Täter. Wir wissen, dass es für niemanden nach der Selektion einen Ausweg gab, und dennoch betet dieser Mann.
Jürgen Kaumkötter: Meine These: Gott befiehlt Abraham, auf dem Berg Morija seinen Sohn zu opfern. Die Heilsgeschichte des Judentums ist so mit dem verhinderten Opfer verbunden und nicht wie im Christentum mit dem Opfertod.
Norbert Reichel: Ich spekuliere jetzt nicht darüber, ob Jesus am Kreuz vielleicht das vollzogene Opfer eines Vaters an seinem Sohn ist, nur diesmal mit einer ihm im Nachhinein zugeschriebenen heilsgeschichtlichen Bedeutung, die auf dem Berg Morija nicht sichtbar sein konnte. Die Metaphorik ließe dies zu, auch wenn aus dem Widder ein Lamm geworden ist. Die Ikonographie des „Lamm Gottes“, des „Agnus Dei“ wäre jedoch eine andere Geschichte. Dies nur als irritierender Nebengedanke.
Jürgen Kaumkötter: Die Frage war die, ob es eine Bild-Sprache für die Darstellung des Völkermordes geben konnte. Dazu mussten traditionelle Muster erweitert werden, durch Installationen und Performances. Diese Kunst hatte dann keinen religiös-ikonografischen Ursprung mehr. Die Künstler mussten sich von dem Morija-Ereignis, von Gott abwenden, um ihre Sprache für die Katastrophe zu finden. Durch die Aneignung einer emotionalen Qualität konnten sie den Berg Morija wieder betreten, wurde ihre Kunst wieder zu etwas überzeitlich Sakralem.
Norbert Reichel: Zumindest entstand eine Debatte über das Darstellbare, über Möglichkeiten und Grenzen der Kunst. Vielleicht lässt sich unsere Debatte auf folgenden Punkt bringen: Kunst nach der Shoah ist nur möglich in Auseinandersetzung mit der Shoah, mit dem Leid der Opfer, mit der Brutalität der Täter. Immer in dem Bewusstsein, dass letztlich etwas fehlen wird, das sich dann in den Betrachtenden ergänzen lässt. Vielleicht. Mir erscheint ein solcher Zugang nach meinen Gesprächen mit Sandra del Pilar möglich. Eine gewisse Kontinuität der Bildsprache, nicht im Gegenstand, sehe ich vielleicht in Bezug auf Egon Schiele oder Francis Bacon. Doch wo liegt der Unterschied? Was ist das Spezifische, das nur durch die Chiffre „Auschwitz“ verständlich wird?
Jürgen Kaumkötter: Das, was geschah, lässt sich nicht durch ein Bild dokumentieren. Das gilt für die Malerei wie für die Fotografie. Schon kurz nach der Befreiung von Auschwitz machte Hannah Arendt darauf aufmerksam, dass die Fotos aus den Konzentrationslagern nicht die Wirklichkeit in diesen abbildeten. Und auch die Bilder tun dies nicht.
Ich habe in diesen Zusammenhängen mal von bildkünstlerischer Hilflosigkeit gesprochen. Dazu gehört auch, dass in der sowjetischen Besatzungszone sehr schnell aufbauende Bilder verlangt wurden. Am Berliner Bahnhof Friedrichstraße entstand das Wandbild von Horst Strempel mit dem Titel „Trümmer weg – baut auf“. Der Titel sagt alles, 1951 wurde das Bild allerdings übermalt. Horst Strempel suchte im Westen Zuflucht. Sein Scheitern lag nicht nur am Thema, sondern auch an der Art und Weise, wie es künstlerisch umgesetzt wurde. Das gilt auch für Otto Schuberts „Auschwitz Triptychon“, über das wir bereits sprachen.
Norbert Reichel: In der DDR gehörte es zur Gründungsmythologie, dass alles, was während der Zeit des Faschismus geschah, überwunden und vorbei war. Im Sozialismus war Erinnern nicht mehr erforderlich. Im „Westen“ war es nicht anders. Die Bewohner*innen von Trizonesien wollten eigentlich auch nicht mehr wissen, was zwischen 1933 und 1945 geschah und woran viele von ihnen in welcher Art auch immer mitgewirkt hatten.
Jürgen Kaumkötter: Ein Wandel wurde meines Erachtens erst mit dem Auschwitzprozess möglich. Ich habe mich näher mit Peter Weiss befasst und natürlich auch mit der Rezeption seines Stücks „Die Ermittlung“ im Jahr 1965. Mit dem Auschwitzprozess und mit diesem Stück wurde von der Kindergeneration die 20 Jahre lang verdrängte Frage nach der persönlichen Verantwortung gestellt. Und es ist sicherlich berechtigt zu fragen, ob diese Frage inzwischen von allen gleichermaßen beantwortet wird.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im November 2022, Internetlinks wurden am 15. September 2022 auf Richtigkeit überprüft. Das Titelbild zeigt einen Ausschnitt von Yvan Goll, Fruit from Saturn © Bürgerstiftung für verfolgte Künste – Else-Lasker-Schüler-Zentrum – Kunstsammlung Gerhard Schneider)