Der Weg zur Vielfalt
Ein Gespräch mit der Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor
„Eine Folge dieser erkenntnistheoretischen Skepsis ist die notwendig unabgeschlossene Diskussion. Da keine Interpretation Gewissheit beanspruchen kann, können auch die konkurrierenden Interpretationen nicht endgültig abgetan werden und eventuell neue Interpretationen nicht von vornherein ausgeschlossen bleiben.“ (Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität – Eine andere Geschichte des Islams, Berlin, Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, 2011)
Der Duden, das gängige Werk für alle, die sich über die richtige Schreibweise eines Wortes informieren wollen, hat vor einiger Zeit das Wort „israelkritisch“ in seine Wortlisten aufgenommen. Es gibt kein anderes Land, das in dieser merkwürdigen Kombination auftaucht, die den Eindruck erweckt, vielleicht erwecken soll, als handele es sich bei „Israelkritik“ um so etwas wie eine eigene wissenschaftliche Disziplin oder eine eigene Textsorte. Dem Islam blüht ein ähnliches Schicksal. Wer sich aus welchen Gründen auch immer kritisch über Muslim*innen oder über den Islam an sich äußert, wird in den Medien zum „Islamkritiker“ ernannt – meistens in der männlichen Form, obwohl es auch einige Frauen gibt, die den Islam „kritisieren“. Die mit den beiden I-Wörtern verbundene „Kritik“ ist alles andere als ergebnisoffen, sie nimmt das verdammende Ergebnis vorweg. Mit der von Karl Marx geforderten „kritischen Kritik“, die sich selbst in Frage stellt und den Dingen auf den Grund geht, hat diese populistische Form der Kritik nichts zu tun. Statt Dialektik herrscht Essentialismus.
Es gibt jedoch auch andere Formen einer Kritik, die den Islam nicht grundsätzlich verdammt, sondern sich an wissenschaftlich belegbaren Inhalten orientiert und gleichzeitig für einen liberalen und zeitgerechten Islam wirbt. Eine solche Form des offenen Diskurses über die Perspektiven des Islam vertritt die 1978 in Ahlen (Westfalen) geborene Publizistin Lamya Kaddor. Sie ist Muslima, Islamwissenschaftlerin, Religionslehrerin und freie Autorin, politisch und gesellschaftlich engagiert, und sie ist vor allem eine der wichtigen liberalen Stimmen des Islam in Deutschland. Sie gehört zu den Gründer*innen einer (noch) kleinen, aber höchst aktiven Organisation liberaler Muslim*innen, des Liberal-Islamischen Bundes (LIB). In Büchern und Aufsätzen, Vorträgen und in einer eigenen Kolumne auf der Seite von t-online positioniert sie sich zu grundsätzlichen wie zu aktuellen Themen. Sie lebt in Duisburg.
Die Liebe zur arabischen Literatur
Norbert Reichel: Fangen wir mit ein paar persönlichen Informationen an.
Lamya Kaddor: Ich bin Islam- und Erziehungswissenschaftlerin, arbeite an der Universität Duisburg-Essen gemeinsam mit Nicolle Pfaff im Bereich Ungleichheitsforschung an einem Projekt zu Antisemitismus und Jugendalter. Zwei Tage in der Woche unterrichte ich an einem Duisburger Gymnasium islamische Religion. Ich schreibe Kolumnen in verschiedenen Zeitschriften und Internetauftritten. Und da das alles nicht genug ist, habe ich mich entschlossen, in die Partei der Grünen einzutreten und für den Deutschen Bundestag zu kandidieren. Ich habe mit Platz 12 einen ausgezeichneten Listenplatz und bin dankbar, dass ich gewählt wurde.
Norbert Reichel: Wie fing es an?
Lamya Kaddor: Wann fing es an? Sicherlich hat der 11. September 2001 auch in meiner Biografie – wie in vielen anderen Biografien wohl auch – viel verändert. Ich habe damals Arabistik und Islamwissenschaften studiert, das Studium 2003 abgeschlossen. Ich verstand das Studium damals als ein kulturwissenschaftliches Studium, habe mich zwar auch mit Aspekten der Theologie und der Mystik befasst, aber das war nicht der Schwerpunkt. Der 11. September hat dann aber vieles verändert. Der Islam wurde für mich plötzlich auch zu einem Thema der Gegenwart in Deutschland. Muslim*innen und auch Nicht-Muslim*innen begannen auf einmal, sich verstärkt dafür zu interessieren. 2003 habe ich dann den Magisterabschluss gemacht, der 11. September 2001 lag somit in der Endphase meines Studiums. Meine Magisterarbeit hatte etwa eineinhalb Jahre gebraucht, was sicherlich auch an der arabischen Sprache liegt. Wir analysieren arabische Texte sehr genau. Das ist ein hoher Aufwand für Transkription und Übersetzung. So wurden aus geplanten sechs Monaten 18 Monate.
Norbert Reichel: Was war das Thema?
Lamya Kaddor: Es ging um eine Liebesanthologie aus der Mamlukkenzeit, eine 600 Jahre alte Liebesanthologie, die ein Syrer erstellt hatte. Sie lag im Berliner Staatsmuseum als Manuskript, als Rolle verpackt, die sich noch nie jemand angeschaut hatte. Ich war die erste, die dies tun durfte, für eine Magisterarbeit war das schon ein besonderer Anspruch.
Norbert Reichel: Ist es ungewöhnlich, solche Texte in Berlin zu finden?
Lamya Kaddor: In Berlin liegen viele solche Manuskripte, ebenso in Paris oder in vielen anderen Museen weltweit. Viele davon wurde noch nie bearbeitet, weil es auch nicht so viele Arabist*innen gibt, die das tun könnten.
Norbert Reichel: Ist die Kombination Arabistik und Islamwissenschaften eine häufige Kombination?
Lamya Kaddor: Das ist eigentlich die Ausnahme. Entweder geht es um das Fach Orientalistik, das viel umfassender ist, oder um klassische Islamwissenschaften. Das hat natürlich auch viel mit der Spezialisierung der jeweiligen Professor*innen zu tun. Ich habe in Münster studiert. Dort gibt es eine lange Tradition der Arabistik. Ich habe noch bei Heinz Grotzfeld angefangen, der leider verstorben ist. Er war Arabist, hat Märchen aus 1001 Nacht übersetzt, die in den 1990er Jahren in zwei Bänden veröffentlicht wurden. Bei ihm habe ich mein Grundstudium absolviert. Dann kam Thomas Bauer, auch er Arabist, aber auch Islamwissenschaftler. Da Islamwissenschaften nicht ohne gute Arabischkenntnisse studiert werden können, hat man sich in Münster dafür entschieden, einen Schwerpunkt in der Arabistik zu setzen und den zweiten Schwerpunkt auf die Islamwissenschaften. Da Thomas Bauer auch Spezialist für die Mamlukkenzeit ist, ergab sich das Thema meiner Magisterarbeit. Es war sein Wunsch und seine Anregung, dass ich dieses Thema bearbeitete. Aber Thomas Bauer macht natürlich auch sehr viel in den Islamwissenschaften. Du kennst sein Buch zur Ambiguitätstoleranz.
Der Einfluss Thomas Bauers
Norbert Reichel: Thomas Bauer hatte 1989 über Altarabische Dichtkunst promoviert und sich 1997 mit der Arbeit „Liebe und Liebesdichtung in der arabischen Welt des 9. und 10. Jahrhunderts“ habilitiert, beides an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Ich erlaube mir, in einem kleinen Exkurs die Lektüre von drei Büchern von Thomas Bauer explizit zu empfehlen. Das erste hast du eben bereits genannt.
- Im Verlag der Weltreligionen im Berliner Insel-Verlag erschien 2011 sein Buch „Die Kultur der Ambiguität – eine andere Geschichte des Islams“. In diesem Buch belegte Thomas Bauer ausführlich, dass es im Islam eine ambiguitätstolerante Tradition gibt, die es in Europa lange Zeit nicht gab.
- Ein weiteres Buch, das 2018 bei C.H.Beck in München erschien, trägt den provokanten Titel „Warum es kein islamisches Mittelalter gab – Das Erbe der Antike und der Orient“. In diesem Buch räumt er mit unsinnigen Epochenvergleichen auf. Niemand käme auf die Idee, die Zeit Karls des Großen mit der chinesischen Tang-Zeit zu vergleichen, aber viele meinen, sie müssten dem Islam mittelalterliches Denken vorwerfen.
- Das dritte Buch ist ein kleines Heft, das 2018 bei Reclam erschien: „Die Vereindeutigung der Welt – Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“.
Thomas Bauers Verdienst ist aus meiner Sicht, den üblichen Stereotypen, mit denen über den Islam geurteilt wird, eine andere Sicht entgegenzusetzen, sodass wir viel zurückhaltender und vorsichtiger werden, wenn wir über den Islam sprechen.
Lamya Kaddor: Er ist mein geistiger Ziehvater. Ich war auch die erste Studentin, die bei ihm im Hauptfach Islamwissenschaften abgeschlossen hat.
Mein Zugang zum Islam lässt sich aber auch daraus ableiten, dass ich das Kind muslimischer, syrischer Eltern bin, und mich selbst als Muslima verstehe. Ich bin keine Außenstehende, ich lebe den Islam, formuliere auch meinen ethischen und philosophischen Zugang zur Welt über den Islam. Mein Studium hat das gestärkt. Bei Professor Grotzfeld im Grundstudium hat mich die Beschäftigung mit 1001 Nacht geprägt. In den Texten gibt es beispielsweise eine Menge erotischer Szenen, die in den üblichen Übersetzungen nicht mehr vorhanden sind. Das stimmt mit den heute gängigen Vorstellungen der Sexualmoral im Islam nicht überein, ist auch ganz anders als in Europa zur selben Zeit. Viele Jahrhunderte lang wurde Sexualität in islamischen Ländern freier gelebt als in christlichen Ländern.
Dann kam Thomas Bauer. Er trug viel dazu bei, diese Sicht zu stärken. Einer seiner Schwerpunkte lag zum Beispiel auf arabischer Weindichtung, die geradezu so etwas wie eine eigene Textgattung ist. Wir haben bei ihm auch mystische Literatur gelesen, das ist ein weiterer seiner Schwerpunkte und bestätigt den Eindruck, den ich eben am Beispiel der Sexualmoral genannt habe. Viele Gedichte hatten homoerotische Knabenliebe zum Thema etc. Am Ende meines Studiums hatte ich dann zudem das Glück, dass ich mit Thomas Bauer das spätere Zentrum für Islamische Theologie (ZIT) an der Universität Münster aufbauen durfte.
Norbert Reichel: Einer der bekanntesten Vertreter der islamischen Theologie in Münster ist heute Mouhanad Khorchide. Bei Herder erschien 2012 sein Buch „Islam ist Barmherzigkeit“, das viel beachtet wurde, aber von konservativen Muslim*innen auch sehr kritisch kommentiert wurde.
Lamya Kaddor: Genau. Er ist der heutige Leiter des ZIT. Aber um nochmals auf Thomas Bauer zurückzukommen. Die Zusammenarbeit mit ihm war für mich auch deshalb etwas Besonderes, weil er jemand ist, der nicht aus dem islamischen beziehungsweise arabischen Kulturkreis kommt und dennoch herausragende Kenntnisse auf diesem Gebiet hat. Das ist mehr als bemerkenswert. Er selbst sagte von sich immer, er wäre muslimischer Katholik oder katholischer Muslim. Er hat auch einen besonderen Humor. Es war immer ein tolles Erlebnis in seinen Seminaren.
Norbert Reichel: Die Verbindungen zwischen den Religionen sind offensichtlich. Interessant fand ich auch die Arbeiten von Angelika Neuwirth, beispielsweise ihr Buch „Der Koran als Text der Spätantike – Ein europäischer Zugang“ (Berlin, Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, 2010). Sie hat den Hellenismus als Quelle benannt. Andere haben über die Verbindungen von Hellenismus und Christentum gearbeitet. Islam und Christentum haben beide – so möchte ich das einmal sagen – von Hellenismus und Judentum profitiert.
Lamya Kaddor: So sieht das Thomas Bauer auch. Er hat eng mit Angelika Neuwirth zusammengearbeitet. Man darf allerdings ebenso nicht vergessen, dass Thomas Bauer eine Zeit in Ägypten gelebt hat und daher die örtlichen Traditionen und Verhältnisse auch aus eigener Anschauung kennt. Es geht dabei auch um das Erlebnis des gelebten Islam. Diese unterschiedlichen Zugänge erklären seine Weitsicht zu diesem Thema, hinzu kommen seine musischen, künstlerischen Interessen. Er stellt wie kaum ein anderer die synkretistischen Verbindungen zwischen den Kulturen und den Religionen dar.
Liberale Muslima
Norbert Reichel: Dieses Bild entspricht nicht dem Bild, das in den Medien, in der Politik und auf der Straße vom Islam vermittelt wird. Wie ließe sich diese Wahrnehmung des Islam verändern?
Lamya Kaddor: Ich glaube, dass sich das Bild vom Islam in der letzten Zeit schon verändert hat. Ich beobachte das nicht nur, sondern bin ja auch Teil, Protagonistin des Diskurses und bringe Veränderungen voran. Das habe ich beispielsweise mit dem ersten islamischen Schulbuch „Saphir“ getan, mit dem ersten Kinderkoran auf Deutsch: „Der Koran für Kinder und Erwachsene“, das ich gemeinsam mit Rabeya Müller und der Illustratorin Alexandra Klobouk gestaltet habe, oder mit der Gründung des Liberal-Islamischen Bundes. Darüber hinaus arbeite ich zu den Themen Islamfeindlichkeit, Antisemitismus.
Norbert Reichel: Wenn ich das so sagen darf, das Buch „Der Islam für Kinder und Erwachsene“ (München, C.H.Beck, 2012) ist schon ästhetisch ein Genuss, vom Text ganz zu schweigen, der den Islam sehr anschaulich erklärt. Du gibst auch Sammelbände mit heraus, die belegen, wie vielfältig und wie liberal Islam sein kann. Ich nenne beispielhaft das Buch „Muslimisch und liberal! Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht (München, Piper, 2020). Und nicht zuletzt dein gemeinsam mit Michael Rubinstein verfasstes Buch „So Fremd und doch so Nah – Juden und Muslime in Deutschland“ (Ostfildern, Patmos, 2013).
Lamya Kaddor: Ich möchte mich als eine der Akteur*innen des Diskurses, auch als eine der wenigen weiblichen Akteurinnen bezeichnen. Ich sehe mich also nicht als Beobachterin, sondern gestalte den Diskurs mit. Es ist nicht mehr so, dass der Diskurs heute den Islam nur sehr monodimensional darstellt, so wie ihn auch viele Muslim*innen verstehen würden, indem sie sagen, da ist der Koran als die eine Schrift, die in Kombination mit dem Leben Mohammeds möglichst wortgetreu verstanden werden muss und das wäre dann der Islam.
Norbert Reichel: Viele verweisen auf Widersprüche im Text des Koran, wie es sie ja auch – dies einer fairen Darstellung der Religionen geschuldet – in den heiligen Texten des Judentums und des Christentums immer wieder gibt.
Lamya Kaddor: Diese Widersprüche sehe ich so nicht – beziehungsweise ich bewerte sie im Detail anders. So allgemein kann ich diese Sichtweise überhaupt nicht teilen. Das ist eine Annahme, wie sie jemand ohne theologische Reflexion und ohne religionspädagogische Kenntnisse hat. Theologie lebt von den unterschiedlichen Zugängen zu ein und derselben Schrift. Dass viele das anders sehen, hat auch damit zu tun, dass sie nicht wissen, was Theologie überhaupt ist und was die Aufgabe von Religionspädagogik ist. Für meinen Teil würde ich nicht sagen, dass es schwer ist. Ich denke, es liegt auch daran, dass Menschen in Westeuropa sich säkularisieren, sich von Religion distanzieren, sich entfremden und mit dem Thema ohnehin nicht so viel anfangen können. Das Verständnis von Religion und Theologie bleibt dann an der Oberfläche, geht nicht in die Tiefe.
Kontroversen
Norbert Reichel: Wie spreche ich dann in politischen Zusammenhängen über Religion? Harry Harun Behr sagte mir in einem Gespräch, dass der religiöse Aspekt bei der Bewertung gesellschaftlicher und politischer Ereignisse und Entwicklungen zu wenig beachtet werde. Religion gilt sozusagen als vernachlässigenswert. Und dies scheint bei denjenigen, die sich für religiös halten, nicht anders zu sein als bei denen, die sich von Religion fernhalten. Du sprachst eben von Säkularisierung.
Lamya Kaddor: Man muss auch sagen können, dass man nichts mit Religion anfangen kann, Religion vielleicht sogar für hirnrissig hält. Jede*r darf diese Position einnehmen. Ich halte es auch für gefährlich, alle, die sich zu einer Religion bekennen, pauschal abzuwerten, sie durchweg als unaufgeklärt zu bezeichnen. Mir fällt zunehmend auf, dass sich die Fronten verhärten. Das ist natürlich auch ein Konstrukt. Wir haben das Bild der braven Schäfchen, die der Religion blind folgen, und auf der anderen Seite das Bild der kritischen, aufgeklärten, selbstbestimmten Menschen, die Religion durchschaut zu haben vorgeben und sie daher ablehnen.
Norbert Reichel: Manche befürchten, dass Religionen ein illiberales Feld bedienen.
Lamya Kaddor: Das sagt aber nichts über die Religion aus, sondern mehr über diejenigen, die Religion auf diese Art und Weise abwerten. Was mich interessiert, hat natürlich auch viel mit der Forschung zu tun, an der ich mich beteilige. Rassismus sagt mehr über die Rassist*innen aus als über die von Rassismus Betroffenen. Das gilt auch für das Sprechen über den Islam. Warum wird das Konstrukt der illiberalen Religion, des illiberalen Islam aufgestellt? Warum wird der Islam aber immer wieder als Gegenbild zur Moderne verstanden?
Norbert Reichel: Warum?
Lamya Kaddor: Ich glaube, dass bei vielen, auch bei denen, die Religion ablehnen, so etwas wie eine heimliche Bewunderung für religiös lebende Menschen mitschwingt. Andererseits vielleicht auch, weil manche das für den Zeitgeist halten, dass Religion etwas Altertümliches wäre, keine Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit hätte. Ich sage das jetzt als Religionspädagogin: dem müssen wir uns stellen. Wir dürfen das, was wir unter Religion verstehen, nicht als in Stein gemeißelt verstehen und präsentieren. Das geht auch gar nicht, weil die Quellen des Islams das gar nicht hergeben. Entweder fehlen historische Quellen, oder die Quellen sind so offen formuliert, dass man zu vieles hineininterpretieren kann. Wir müssen ein dynamisches Verständnis von Religion entwickeln, um Herausforderungen unserer Zeit deuten und leben zu können. Wir wollen nichts religiös überhöhen, das tun nur Fundamentalist*innen. Sie sind überzeugt davon, die alleinige Wahrheit zu kennen. Für mich geht das in Richtung Blasphemie.
Norbert Reichel: Die Gruppe, die du gegründet hast, heißt „Liberal-Islamischer Bund“. Der Name ist Programm.
Lamya Kaddor: Das ist eher progressives Denken. Ich erwarte schon eine Relevanz meines Glaubens, dass ich ihn lebbar machen kann, indem ich ihn lebbar interpretiere, natürlich immer auch unter den wissenschaftlichen Kriterien, die ich nicht verlassen möchte. Der koranische Geist schwingt immer mit, aber mein Ziel ist es, immer den Verstand einzusetzen, als höchstes Kriterium, wenn man so will. Tradition sehe ich dann eher nachrangig, was nicht heißt, dass ich Tradition ablehne. Vernunft spielt für mich die wichtigste Rolle für meinen Zugang zur Religion. Religion, Religionsverständnis möchte ich unter der Prämisse eines liberalen Islam denken und leben.
Veränderungen
Norbert Reichel: Welche Erfahrungen hast du im islamischen Religionsunterricht mit deinem Ansatz gemacht? Du warst schon Religionslehrerin, als das Fach in Nordrhein-Westfalen noch Islamkunde hieß.
Lamya Kaddor: Das mache ich seit über 15 Jahren. Ich habe erst an einer Hauptschule unterrichtet, dann an einer Grundschule, erneut an einer Hauptschule, die dann aufgelöst wurde. Ich ging zu einer Sekundarschule und unterrichte heute an einem Gymnasium. Ich darf vielleicht schon für die Hauptschulen – darunter zähle ich jetzt auch die Sekundarschule – sagen, dass ich dort positive Entwicklungen feststellen konnte. Vor 15 Jahren waren Themen wie sexuelle Selbstbestimmung fast undenkbar, es war unüblich, Partnerschaften außerhalb der Ehe zu thematisieren, trans oder queere Themen wurden selbst in der Gesamtgesellschaft noch vielfach als problematisch empfunden. Aber schon wenige Jahre später konnte ich feststellen, dass man auch in der muslimischen Gesellschaft offener mit solchen Themen umging. Vielleicht nicht ganz so offen wie in der Gesamtgesellschaft, aber es gab inzwischen die ein oder andere junge Frau, die von ihrem Freund sprach und dass ihre Eltern davon wüssten. Das hat es zu Beginn meiner Lehrtätigkeit so nicht gegeben.
Auf dem Gymnasium erlebte ich jüngst etwas, das mich ein wenig irritiert hat. Es ging um das Konzept von „Ehre“, das in muslimischen Familien ein Thema ist, auch wenn es eigentlich gar kein muslimisches, sondern ein traditionelles Konzept unabhängig von der Religion ist. Ich berichtete von meinen Erfahrungen aus Dinslaken, wo ich erlebt habe, dass „Ehre“ vor allem an dem Verhalten der Frauen oder der Mädchen festgemacht wurde. Das fanden große Teile des Gymnasialkurses befremdlich, und das fand ich wiederum befremdlich oder sollte ich sagen bemerkenswert, dass dieses Thema offenbar keine Rolle mehr spielte. Es war nicht Gegenstand des Alltags dieser jungen Leute. Ich muss es jetzt doch einmal sagen, ich stellte fest, dass zunehmender Bildungshintergrund – es ist nicht repräsentativ, aber es fiel schon auf – dazu führt, dass bestimmte traditionelle kulturelle Schemata verschwanden und wie hoch die Bereitschaft war, sich selbstkritisch zu hinterfragen, auch in der praktizierten Religion.
Norbert Reichel: Die Schüler*innen waren liberaler als du erwartet hattest. Es hatte sich wohl auch etwas in den Familien verändert.
Lamya Kaddor: Ja, denn wenn etwas bei jungen Menschen sichtbar wird, dann hat das auch etwas mit den Entwicklungen in der Familie zu tun. Ich spreche auch mit Eltern, und ich stelle das auch dort fest. Nicht bei allen, aber doch bei vielen viel mehr Reflexion als noch vor 15 Jahren. So ist auch ein anderer Anspruch an den Glauben entstanden. Ich sehe das ja auch an mir. Ich habe den Anspruch, einen Glauben zu leben, der Religion und gesellschaftlich wichtige Themen in Einklang bringt, Nachhaltigkeit, Opferfest, wie gehe ich mit Gentechnologie um, sind Vegetarismus und Veganismus halal? Das sind Fragen, die sich viele Familien stellen so wie ich das tue. Ich habe das Gefühl, bei jungen Leuten ist das längst angekommen.
Sprechen über den Islam
Norbert Reichel: Die andere Seite ist die, dass viele junge Leute den Eindruck haben, dass sie als Muslim*innen immer nur als Probleme gesehen werden.
Lamya Kaddor: Das ist dem allgemeinen Framing des Islam-Diskurses geschuldet. Ein großer Teil des Diskurses über den Islam wird von Protagonist*innen mit einer mehr als kritischen Haltung gegenüber dem Islam geführt. Eine kritische Haltung ist für mich nicht das Problem, ich habe auch eine kritische Haltung, aber die kritische Haltung mancher Protagonist*innen überschreitet mitunter die Grenze zur Feindlichkeit, zur Verbreitung von Stereotypen. Das, was man im Grunde unter Rassismus versteht. Es werden Mechanismen der Stereotypisierung, der Polarisierung bedient.
Kritik ist Kritik, wenn ich sie punktgenau auf einen Missstand hin beziehen und den Missstand benennen kann. Ich nenne ein mehr als deutliches Beispiel: die weibliche Genitalbeschneidung in Teilen Somalias ist frauenverachtend, brutal, ein Verbrechen, sie verletzt Menschenrechte und so weiter. Ich kann aber nicht sagen, unter Musliminnen gibt es weibliche Genitalverstümmelung und deshalb ist der Islam eine schlechte Religion. Die weibliche Genitalverstümmelung hat viel, viel komplexere Ursachen und findet sich auch unter Christinnen und Angehörigen anderen Religionen. Es ist somit unlauter, die Kritik bei diesem Thema – oder auch bei anderen Themen – allein als Kritik am „System Islam“ zu formulieren, wie es manche machen.
Jemand hat mal gesagt, dass der Islam sich noch nie in irgendeine Kultur eingefügt hätte und dies auch nicht machen würde. Diese Aussage ist so falsch, falscher geht es kaum. Schon die rasante Ausbreitung des Islams ab dem 7. Jahrhundert wäre zum Scheitern verurteilt gewesen, wenn sich die frühen Muslim*innen nicht den Kulturen, auf die sie bei ihren Eroberungszügen zwischen Andalusien über Afrika bis nach China gestoßen sind, angepasst hätten. Dazu sollte man auch einmal die Bücher von Thomas Bauer lesen, der differenziert darstellt, welche verschiedenen Ausprägungen von Islam es gibt. Wir sprechen heute von einem indonesischen, indischen, einem türkischem oder auch von einem deutschen Islam. Wenn der Islam sich nicht in Kulturen einfügen könnte, gäbe es solche Bezeichnungen doch gar nicht.
Norbert Reichel: Abgesehen davon, dass die Vielfalt auch innerhalb der muslimischen Länder gilt. Diese Länder sind für eine einheitliche Form des Islams viel zu groß. Vielleicht könnte das gelten, wenn es den Islam nur in einer einzigen Stadt gäbe.
Lamya Kaddor: Das gilt für jede große Religion. Keine könnte weltweit überleben, wenn es nur eine einzige Art und Weise gäbe, sie zu leben. Sie überlebt nur, weil sie an unterschiedlichen Orten, zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich verstanden wird. Solche Aussagen wie die, auf die ich hingewiesen habe, füttern diejenigen, die den Islam ablehnen, sogar hassen, und dienen vielleicht nur dazu, die eigene Identität zu bestätigen. Wie gesagt: rassistische Äußerungen sagen etwas über denjenigen aus, der sie tätigt, nicht über die Betroffenen. Und so ist das auch mit islamfeindlichen Äußerungen. Solche Äußerungen haben offenbar auch etwas mit Selbstwertgefühl, dem Erlebnis einer Zurückweisung, Bedrohungsgefühlen, Ängsten zu tun. Das müsste man sozialpsychologisch noch besser aufarbeiten, um zu verstehen, was Menschen dazu bringt, sich so pauschal zu äußern. Wir kennen das aus der Rassismusforschung.
Gegen Rassismus: Ambiguität lernen
Norbert Reichel: In der vor Kurzem vorgestellten neuen Mitte-Studie gibt es ein interessantes Ergebnis. Die – vorsichtig formuliert – skeptische Sicht auf den Islam ist deutlich angestiegen, inzwischen etwa auf dem Niveau der Ablehnung von Sinti und Roma, die immer schon sehr hoch war, auf jeden Fall mehrheitsfähig. Die Zustimmung zu antisemitisch konnotierten Items ist etwas gesunken, zumindest nicht gestiegen. Gesunken ist aber auch die grundsätzliche Ablehnung antisemitischer Äußerungen. Shulamit Volkov führte den Begriff des „kulturellen Codes“ ein, als der Antisemitismus fungiere. Ähnlich scheint es mir bei antimuslimischen beziehungsweise antiislamischen Äußerungen zu sein.
Lamya Kaddor: Das ist durchaus ähnlich. Ich würde das schon Rassismus nennen. In unseren Studien gehen wir von zwei Ausformungen des Begriffs der „Islamfeindlichkeit“ aus: „Islamfeindlichkeit“ auf der Ebene des Subjekts, des Individuums, des persönlichen Verhaltens, ein sozialpsychologischer Ansatz, und „Islamfeindlichkeit“ auf der strukturellen Ebene, institutionell, am Arbeitsplatz, auf dem Wohnungsmarkt. All das, das auf dieser strukturellen Ebene stattfindet, nennen wir „antimuslimischen Rassismus“. Es gibt natürlich auch Wechselwirkungen mit dem Islamismus beziehungsweise – das ist der korrekte Begriff – dem Djihadismus. Beide Extreme brauchen einander: der Islamhasser braucht den Djihadisten, um zu sagen, alle Muslime sind so, der Djihadist den Islamhasser, um zu sagen, alle Nicht-Muslime sind so. Das übliche Spiel.
Das, was in der Mitte ist, alle anderen Muslim*innen werden zwischen den Polen zerrieben und haben im Grunde keine Stimme. Ich will mich eindeutig gegen die beiden Extreme positionieren, um darauf aufmerksam zu machen, was sich zwischen den Extremen befindet. Denn das ist die Mehrheit der Muslim*innen und eben nicht diejenigen, die laut und schrill die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Polarisierung, auf die du hinweist, hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass unsere Gesellschaft immer diverser, immer vielfältiger wird. Das bedeutet, dass wir nicht nur alle anders aussehen, sondern wir haben auch noch mehr Meinungsdiversität. Alle haben den Anspruch, gleichberechtigt auf Augenhöhe ihre Meinung zu äußern. Das ist gesetzlich ja auch so vorgesehen.
Das fordert natürlich alle heraus, die von sich glauben, dass sie eine gesetzte Identität hätten. Ich drücke es mal in Farben aus: dort wo wir bisher Schwarz und Weiß und vielleicht noch ein paar Grautöne hatten, haben wir jetzt auch Rot, Grün, Gelb, Orange, Blau, das gesamte Spektrum aller möglichen Farben und Farbmischungen. Und das in sämtlichen Schattierungen. Das überfordert viele, einmal, all diese Farben sehen zu müssen, und dann zu sagen, all diese Farben haben genauso viel Wert wie meine Farbe, alle sind genauso schön oder manche sind sogar noch viel schöner als meine.
Man darf allen zugestehen, dass sie sich überfordert fühlen, dass das so ist mit all der Globalisierung, Schnelllebigkeit, Unübersichtlichkeit, es ist manchen einfach alles zu viel. Sie sehen vielleicht noch verschiedene Schattierungen einer Farbe, aber wenn es dann mehr werden, stellen sich viele die Frage, wo sie denn dann noch bleiben. Ich finde, man darf auch Ängste haben oder sagen, dass man das nicht mag, wenn die Orientierung wegfällt. Da sagt jemand, dass es vorher drei oder vier Orientierungsanker gab, die aber alle nicht mehr sichtbar sind, weil es jetzt über fünfzig gibt. Das ist eine Aufgabe von Politik und Bildung, Orientierung in dieser Vielfalt zu geben.
Norbert Reichel: Das Bildungsprogramm hieße dann im Sinne von Thomas Bauer Ambiguität lernen, Ambiguität zulassen und sie zu trainieren.
Lamya Kaddor: Ja, aber Ambiguität muss von uns auch als ein gemeinsamer Wert verstanden werden. So weit sind wir noch nicht. Wenn wir von einem neuen deutschen „Wir“ sprechen, ist Vielfalt ein Grundpfeiler. Vielfalt ist ein Wert unserer Gesellschaft, und das wird von großen Teilen der Gesellschaft noch nicht als wertvoll verstanden, auch nicht als etwas, das Wirklichkeit schafft. Es ist wirksam, aber es wird von vielen noch als bedrohlich verstanden. Wenn wir Vielfalt als Wert unserer Demokratie verstehen, ist es auch etwas, das Identität schafft. Daran müssen wir in unserer Gesellschaft und in unserer Politik arbeiten, dass Vielfalt ein gemeinsamer Wert ist und nicht nur für die, die Vielfalt mitbringen, so nach dem Motto: Vielfalt ist für euch ja vielleicht gut, aber für uns? Wir brauchen das nicht. Vielfalt ist für alle gut.
Heimaten und Identitäten – immer im Plural
Norbert Reichel: Wie kommen wir dahin? Durch Begegnung?
Lamya Kaddor: Durch Begegnung, aber auch durch Positionierung, durch politische Positionierung. Deshalb bin ich bei den Grünen eingetreten, weil ich formuliere, dass ich Heimat im Plural denke. Für mich ist Heimat mehr mit Emotion verbunden, nicht unbedingt mit konkreten Orten. Auch wenn ich gerne in Westfalen bin, gerne in Duisburg, oder – früher – gerne in Syrien war. Man kann unterschiedliche Heimaten besitzen, die deutsche Nationalhymne singen und trotzdem ein Trikot einer anderen Nationalmannschaft tragen.
Norbert Reichel: Aber man muss sie ja nicht unbedingt singen, obwohl das schon merkwürdige Debatten gibt, wenn ich an die Debatte um Mesut Özil denke. Diese Debatte war unterirdisch, und ich wage zu behaupten, dass er aufgrund solcher Debatten Deutschland den Rücken gekehrt hat. Hätten wir Heimaten im Plural gedacht, wäre er heute vielleicht noch in Deutschland aktiv, auch als echter Schalker Junge und Vorbild für andere.
Lamya Kaddor: Die Debatte über das Hymnensingen war in der Tat unterirdisch. Das zeigt, wie stark der Einfluss völkischen Denkens noch ist. Parteien wie die AfD leben davon, aber der Gedanke ist ja nicht nur dort verbreitet. Allein die Idee, dass nur deutsch ist, wer deutsche Eltern oder Großeltern oder Urgroßeltern oder Ururgroßeltern und so weiter hat, ist noch sehr weit, viel zu weit verbreitet. Das ist mir einfach zu beliebig. Historiker*innen werden bestätigen, dass „deutsch“ ein Konstrukt aus der Geschichte ist. Deshalb kann auch heute jemand „deutsch“ sein, der eingewandert ist, der*die von sich sagt, ich fühle mich als Deutsche*r, unserem Gemeinwesen zugehörig, der*die die Sprache lernt, hier seine Arbeit findet, Steuern zahlt, die Kinder hier in die Schule schickt – warum sollen diese Menschen nicht „deutsch“ sein?
Norbert Reichel: Für mich war „deutsch“ noch nie ein Wert. Dafür konnte ich nichts, dass ich als Deutscher geboren worden bin. Ich freue mich natürlich auch darüber, wenn bei der Olympiade deutsche Athlet*innen eine Medaille gewinnen, ich freue mich aber auch über die Vielfalt der Namen, die Vielfalt ihres Aussehens und ihrer Biographien, beispielsweise über die tolle deutsche Weitspringerin.
Lamya Kaddor: Aber das sehen viele anders. Ich denke, etwa jede*r vierte, jede*r fünfte sieht das anders. Ich trage bei einem Fußballspiel auch mal ein Deutschlandtrikot, aber das hat nichts mit Nationalismus zu tun. Ich zeige damit, ich stehe hinter dieser Mannschaft, die eine Realität symbolisiert, in der ich lebe, in der ich mich wohlfühle. Unsere Nationalmannschaft ist multikulturell, multireligiös, multiethnisch – das ist etwas, womit ich mich sehr gut identifizieren kann, und wenn diese Mannschaft unter einer deutschen Fahne spielt, dann macht es auch Spaß, die deutsche Nationalhymne zu singen. Damit habe ich kein Problem, wohl aber damit, wenn jemand das Deutsch-Sein exklusiv und eng fasst. So verstehe ich auch mein Engagement als Heimatbotschafterin in dem Programm des nordrhein-westfälischen Kommunalministeriums.
Norbert Reichel: Zur Nationalhymne: ich wage die These, dass viele, die verlangen, dass die Fußballspieler die Nationalhymne singen, den Text selbst nicht beherrschen. Deshalb wird er in den Stadien ja auch immer auf den Infotafeln eingeblendet, zum Mitlesen. Nationalhymnen haben ihre Geschichte. Als die deutsche Fußballnationalmannschaft 1954 in Bern gegen die ungarische Mannschaft die Weltmeisterschaft gewann, sangen die Spieler die Nationalhymne, allerdings die erste Strophe. Ignatz Bubis, der im Publikum war, erzählte, dass die deutschen Zuschauer alle mitgesungen hätten, auch Helmut Schön, der spätere deutsche Bundestrainer, damals noch Trainer der Mannschaft des Saarlandes, gegen die sich die deutsche Mannschaft in der WM-Qualifikation durchsetzen musste, der neben ihm gesessen hatte. Ignatz Bubis und Helmut Schön verband eine das ganze Leben währende Freundschaft. Im Juni 2018 veröffentlichte Martin Krauss in der Jüdischen Allgemeinen einen sehr schönen Artikel über diese Freundschaft und die verbindende Macht des Fußballs, auch jenseits antisemitischer Vorfälle im Umfeld des Lieblingsvereins von Ignatz Bubis.
Vielleicht sprechen wir noch etwas über den Heimatbegriff. Ich fand das von Fatma Aydemir und Hengameh Yaghoobifarah herausgegebene Buch „Eure Heimat ist unser Albtraum“ (Berlin, Ullstein, 2019) ausgesprochen spannend. Schön war natürlich auch die Aufmachung. Die beiden Possessivpronomina waren auf dem lilafarbenen Titelblatt zwar reliefartig hervorgehoben, aber nicht wie die drei anderen Wörter des Titels schwarz gedruckt. Wie bewertest du die Stimmung in den verschiedenen Communities, die sich in diesem Buch äußern?
Lamya Kaddor: Ich kann das durchaus nachvollziehen. Hengameh Yaghoobifarah vertritt in dem Buch ein berechtigtes Anliegen. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, zu protestieren und auch lautstark zu protestieren, so wie wir hier alle angegangen werden, ausgegrenzt werden, obwohl wir gebürtige Deutsche sind, ganz normal leben, Steuern zahlen, dennoch dauernd anhören müssen, ach, du sprichst aber gut deutsch, wo kommst du denn her. Das hängt einem schon zum Halse raus, mir auch. Nun bin ich in einer besonderen Rolle, ich sehe mich als Vermittlerin, als Pädagogin, die viel Geduld aufbringen muss, um Menschen diese Position zu vermitteln. Diese Rolle habe ich für mich angenommen. Ich kann aber verstehen, dass man sehr erzürnt darüber ist, wenn man dauernd Diskussionen führen muss, in denen einem gesagt wird, man sei keine Deutsche, oder man sei vielleicht Deutsche, aber keine Volksdeutsche, was auch immer das sein soll.
Norbert Reichel: Der Begriff ist verdächtig. Ich möchte mal annehmen, dass viele gar nicht wissen, woher der Begriff kommt, andererseits: vielleicht wissen sie es sogar sehr genau.
Lamya Kaddor: Ich denke schon, dass sie es wissen, aber das ist das Absurde. Wie kann jemand denken, es wäre möglich, dass jemand ethnisch rein deutsch wäre. Es gab schon immer Zuwanderung nach Deutschland, aber wie auch immer. Ich bin jetzt die zweite hier geborene Generation meiner Familie. Meine eigenen Kinder sind dritte Generation, ich unterrichte Kinder, die in der vierten Generation hier geboren und aufgewachsen. Ich fände es eine Frechheit, wenn jemand zu meinen Kindern oder meinen Schulkindern sagt, sie wären nicht deutsch. Da werde ich auch sauer. In meiner Rolle vermittele ich, aber wir brauchen auch solche Stimmen wie in „Eure Heimat ist unser Albtraum“ dokumentiert. Wir müssen zeigen, dass es diese Vielfalt gibt, dass hier viele unterschiedliche Menschen leben, die alle die gleichen Rechte haben.
Aladin Al-Mafaalani hat in seinem Buch „Das Integrationsparadox“ die Metapher der Tischgesellschaft verwendet. In meinem Buch „Muslimisch, weiblich, deutsch“ (München, C.H.Beck, 2010) habe ich die Metapher eines Sandkastens verwendet. Alle Kinder haben das Recht mitzuspielen, egal wie sie heißen, welche Hautfarbe sie haben. Es geht nicht darum, den Platz von anderen einzunehmen. Man muss die Angst nehmen, hier werde jemand verdrängt. Wir schaffen Platz und besetzen die Plätze vielfältig. Wir ersetzen nicht jemanden, sondern wir setzen uns dazu.
Norbert Reichel: Vielleicht geht es nur darum, einen größeren Tisch zu kaufen, ein paar Stühle hinzuzustellen.
Lamya Kaddor: Ganz genau. Man muss nur etwas größer denken.
Vielfalt auf der einen Seite – Flashback auf der anderen
Norbert Reichel: Auch den Sandkasten kann man vergrößern. Abgesehen davon ist genug Platz, wenn ich daran denke, wie leer oft die Spielplätze sind. Eine wunderschöne Atmosphäre bietet übrigens in diesem Kontext der Berliner Mauerpark, der an vier Stadtteile grenzt und diese verbindet, alle mit sehr unterschiedlichen Bewohner*innen, den Wedding, Pankow, den Prenzlauer Berg und Mitte. Dort gibt es gelebte Vielfalt.
Zu dem Buch „Muslimisch, weiblich, deutsch“: diejenigen, die sich antisemitisch, antimuslimisch oder rassistisch äußern, äußern sich auch oft frauenfeindlich, sexistisch. Rechtsextreme trauen sich in der Regel nicht, die Rechte von Frauen in Frage zu stellen, sie machen sich mitunter sogar zu Anwält*innen der Frauen, indem sie Muslim*innen beschimpfen. Sie sprechen daher vom „Genderwahn“, vom „Genderthema“ und tun so, als gäbe es nichts Schlimmeres als das Gendersternchen.
Lamya Kaddor: Wer jemanden abwerten will, sucht sich gerne das schwächste Glied einer Gesellschaft aus. In vielen, auch in unserer Gesellschaft, sind Kinder die Allerschwächsten, dann bestimmte Minderheiten, Sinti und Roma, Obdachlose, Muslim*innen. Frauen sind für eine solche männlich dominierte Welt immer geeignet, um als Schwächere konstruiert zu werden. Natürlich gibt es auch leider theologische Quellen, die herangezogen werden können, um dies angeblich zu legitimieren.
Norbert Reichel: Du denkst an den berüchtigten Schlagvers im Koran, den man wohl auch als Aufforderung, sich zu trennen, übersetzen kann?
Lamya Kaddor: Den gibt es, aber Fundamentalisten picken sich eben gerne das heraus, was ihnen passt. Dann zitieren sie diesen Vers, aber wenn es um die Kindererziehung geht, behaupten sie, das sollten die Frauen machen, obwohl der Koran sehr deutlich etwas anderes sagt, nämlich dass die Männer Verantwortung für die Kinder übernehmen sollen. Das ist Rosinenpickerei. Aber die Frau ist das passende Ziel, um das Patriarchat zu stärken. Warum soll das im Islam anders sein als in anderen Religionen oder Kulturen?
Ich sehe diese Entwicklung unabhängig von der Religionszugehörigkeit. Siehe Polen, wo die aktuelle Gesetzgebung angeblich im Einklang mit der katholischen Kirche beschlossen wird. In den USA werden Abtreibungsärzt*innen im Namen der Religion getötet, in Indien werden Mädchen getötet, weil Jungen angeblich mehr wert wären, da gibt es die unterschiedlichsten Grundlagen. Um Frauenrechte steht es aus meiner Sicht nicht gut, wir standen schon einmal besser da. Wenn ich sehe, was ich für Hasszuschriften bekomme! Diese beziehen sich nicht nur auf mich als Muslima, sondern auch als Frau.
Das ist auch ein Ergebnis unserer Studien: Islamfeindlichkeit kommt selten allein, sondern tritt in der Regel intersektionell, kombiniert mit anderen Feindlichkeiten auf. Frauenfeindlichkeit ist ständig dabei. Ich muss mir anhören, dass man mich töten will, weil ich Muslima bin, aber weil ich eine Frau bin, soll ich vorher auch noch vergewaltigt werden. Ich muss mir dauernd Anzüglichkeiten zu meinem Äußeren anhören. Auch Frauen in der Politik ist ein Thema für sich. Das ist nicht durch das Auftreten der AfD so entstanden, sondern dieses hat dies nur noch verstärkt und sichtbar gemacht. Beispielsweise mit süffisanten Bemerkungen im Plenum. Das war auch mal anders.
Und jetzt im Bundestag?
Norbert Reichel: Wenn dann Fernsehmoderator*innen bei der Wahlberichterstattung den Eindruck erwecken, die AfD wäre eine „konservative“ Partei, fördern sie diese Stimmung nur noch mehr. Sie legitimieren die frauenfeindlichen Parolen, die wir von dieser Partei kennen.
Wenn du jetzt in den Bundestag gewählt wirst, was sind denn dann deine Ziele?
Lamya Kaddor: Ich möchte vor allem daran arbeiten, Vielfalt sichtbarer zu machen, und innenpolitische Akzente setzen.
Norbert Reichel: Da haben die Grünen ja schon eine tolle Besetzung, mit der du zusammenarbeiten würdest: Konstantin von Notz und Irene Mihalic. Mit Irene habe ich spannende Gespräche geführt, die auch im Demokratischen Salon nachlesbar sind.
Lamya Kaddor: Da wäre ich gerne dabei. Ich könnte mir auch gut vorstellen, im Bereich Radikalisierungsprävention mitzuarbeiten. Ein richtiges Demokratiefördergesetz gibt es immer noch nicht.
Norbert Reichel: Es hat auch etwas von positiver Diskriminierung, wenn diejenigen, die Opfer von Angriffen sind, selbst für die Verteidigung zuständig sein sollen, und dass dann auch noch ausschließlich.
Lamya Kaddor: In diesem Sinne setze ich mich auch dafür ein, dass wir endlich ein Einwanderungs- und Integrationsministerium bekommen.
Norbert Reichel: Dann danke ich dir für das Gespräch und wünsche ich dir bei diesem Programm und bei deiner Wahl viel Glück. Hohe Ansprüche, aber warum sollten wir die Ansprüche nicht an den Herausforderungen unserer Zeit orientieren?
(Alle Internetzugriffe zuletzt am 10.8.2021.)