Die Bücherfreundin
Nora Pester und der Verlag Hentrich & Hentrich
„Bibliotheken sind zutiefst private und religiöse Orte zugleich: Repositorien der eigenen Biografie (wie bei Chimen Abramsky, in dessen Haus verschiedene Räume Phasen seiner intellektuellen Entwicklung reflektierten), Orte an denen individuelle und kollektive Geschichte scheinbar sinnvoll ineinandergreifen, die dem Narrativ geweiht sind, der Erklärung, dem roten Faden. Allein die Reihung der Buchrücken im Regal (nach welchem Prinzip?) schafft einen trügerischen Eindruck von Ordnung: als wäre hier alles, was in goldenen Lettern leuchtet, systematisch und erschöpfend behandelt, als könnte man von einem Buch zum nächsten schreiten auf dem Pfad der Erleuchtung. Die Debatten, Ideologien, Verdrehungen und Verwechslungen, die Konflikte und Kontroversen, die auf ihren Seiten toben, schweigen, wenn sie aufrecht und würdig dastehen.“ (Sasha Abramsky, Das Haus der zwanzigtausend Bücher, München, dtv, 2015, Originalausgabe „The House of Twentythousand Books“, London, Halban Publishers Ltd., 2014).
Sasha Abramskys Buch ist eine Hymne auf seinen Bücher sammelnden Großvater Chimen (1916-2010), über den ein Freund, der Jiddisch-Experte Dovid Katz (*1956) sagte: „Wie er es liebte, darauf hinzuweisen, dass die Werke eines Rabbiners und einen radikalen Philosophen in demselben Regal standen und damit deutlich zu machen, dass das Bücherregal das wahre Reich menschlicher Harmonie ist.“
Wer Bücher verlegt, verfällt voller Leidenschaft dieser Vielfalt einer realen und gleichzeitig imaginären Bibliothek in all ihren sich gegenseitig aufhebenden, aber niemals auflösenden Widersprüchen. So erlebe ich das Angebot, das Profil des Leipziger Verlags Hentrich & Hentrich, ein Verlag mit Leidenschaft für intellektuellen Diskurs und ästhetischen Genuss. Nora Pester, die Verlegerin, bezeichnet ihren Verlag als „Der Verlag für Jüdische Kultur und Zeitgeschichte“, mit bestimmtem Artikel!
Zur Einstimmung in die Dokumentation des Gesprächs, das ich am 14. Mai 2021 mit Nora Pester führen konnte, nur einige wenige Highlights des Programms: die Trilogie mit Werken des langjährigen Leiters der Rabbiner-Hochschule Leo Baeck College in London Hyam Maccoby (1924-2004), eine Taschenbuchausgabe des „Best of“ der legendären Kolumne von Michael Wuliger in der Jüdischen Allgemeinen und die inzwischen fast 300 Bände umfassende Reihe „Jüdische Miniaturen“. 2020 erhielt der Verlag den Kurt-Wolff-Förderpreis für Unabhängige Verlage.
„Der Verlag ist mein Leben“
Norbert Reichel: Seit 2010 sind Sie Eigentümerin und Verlegerin, Sie haben den Verlag 2010 von Gerhard Hentrich sel. A. (1924-2009) und dessen Sohn übernommen. Wie kam es dazu, dass sie Verlegerin und Eigentümerin von Hentrich & Hentrich wurden? Was hat das mit Ihrem Leben gemacht?
Nora Pester: Der Verlag ist schon mein Leben. Da ist nicht viel Platz für anderes. Ich bin zu dem Verlag eher zufällig gekommen. Ich habe in Leipzig und in Wien Ende der 1990er Jahre Hispanistik, Politikwissenschaften und Volkswirtschaftslehre studiert. Ich hatte aber auch sehr früh meine erste Annäherung an die Verlagsbranche, ahnte natürlich damals nicht, dass dies mein Leben bestimmen würde. Als 18-Jährige habe ich beim Forum Verlag Leipzig mein erstes Praktikum gemacht, der sich auf Zeitgeschichte spezialisiert und auch intensiv die Wende publizistisch begleitet hatte. Es gab ein paar „Fluchtversuche“, ich wurde dann aber immer wieder vom Verlagswesen eingeholt.
Nach dem Studium, während der Arbeit an meiner Promotion, habe ich beim Passagen Verlag in Wien gearbeitet, noch den ein oder anderen Abstecher gemacht, beispielsweise in das ZOOM Kindermuseum in Wien, merkte dann jedoch, dass ich in die Verlagsbranche zurückkehren möchte. Der Zufall brachte mich nach Berlin – es war immer Zufall – zu Matthes & Seitz, wo ich auch länger geblieben wäre, doch ein halbes Jahr später verstarb der Gründungsverleger von Hentrich & Hentrich, Gerhard Hentrich.
Der Verlag wäre mit ihm gestorben. Sein Sohn, Eigentümer von Hennwack – das ist das größte Antiquariat in Berlin – wollte die Arbeit im Verlag nicht fortsetzen. Das Antiquariat ist sein „Baby“, zu dem Verlag hatte er nicht so eine enge Beziehung. Über einen Freund wurde ich dann gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, den Verlag zu übernehmen. Im Nachhinein habe ich erst mitbekommen, dass es bereits mehrere erfolglose Versuche gab, eine*n neue*n Eigentümer*in zu finden. Das bewegt mich sehr, denn es betrifft viele mittelständige Unternehmen in Deutschland, nicht nur Verlage, eigentlich ein riesiges Fiasko, ein Drama, das sich da abspielt. Weil ich die Verlagsbranche gut kannte, habe ich nicht gleich „Juhuu“ gerufen. Ich wusste aber, dass mit dem Ende des Verlages eine ganz bestimmte Traditionslinie abgebrochen wäre.
Hentrich & Hentrich hat in den 1980er Jahren als einer der ersten Verlage – das war damals noch nicht selbstverständlich – die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Rekonstruktion jüdischen Lebens, vor allem in Berlin, in sein Programm aufgenommen. Ich wollte es daher nicht unversucht lassen; ich glaube, ich war naiv – das ist auch ganz gut –, aber ich hätte es auch nicht gewagt und mir nicht zugetraut, hätten damals nicht Autor*innen und Herausgeber*innen an meiner Seite gestanden. Es sei ausdrücklich Dr. Hermann Simon (*1949) genannt, damals noch Leiter des Centrum Judaicum in Berlin. Hätte er gesagt, dass das problematisch wäre, hätte ich es nicht gemacht.
Auch Rabbiner Professor Dr. Andreas Nachama (*1951), der langjährige Leiter der „Topographie des Terrors“, hat mir sein Vertrauen geschenkt. Ich habe zwei Namen genannt, es gab noch viele andere; hätte ich nicht so viele Menschen gehabt, die mir vertrauten, die selber jüdisch sind, die sich auskannten, hätte ich die Aufgabe nicht übernehmen können. Ich bin ja selbst vor allem Verlagsfrau, nicht Expertin für das Thema. Ich musste mir das gesamte Umfeld, die Kontakte erst erarbeiten. Ich bin auch Gerhard Hentrich sehr dankbar; er lag schon im Krankenhaus, hat bis zuletzt noch Verträge unterschrieben. Er hat mir ein fast komplettes Frühjahrsprogramm hinterlassen, sodass ich nicht bei Null beginnen musste. Er hat bis zur letzten Minute für den Verlag gearbeitet. Dafür empfinde ich noch heute großen Respekt. Und dann ging es los, im Januar 2010. Und da Sie eben nach dem Leben fragten: Da gibt es nicht mehr viel Leben drum herum (lacht). Auch der Freundes- und Bekanntenkreis entwickelt sich mit so einem Verlag und prägt die privaten Aktivitäten. Das ist auch gut so
Neue Akzente im Programm – Jüdisches Leben heute
Norbert Reichel: Der Verlag ist Ihr Leben.
Nora Pester: Ja genau. Was sich mit dem Tod von Gerhard Hentrich geändert hat: dass ich für mich sehr schnell entschieden habe, die Perspektive zu erweitern. Es war vollkommen nachvollziehbar, dass Gerhard Hentrich gesagt hat, dass wir Deutschen – heute kommt uns das so selbstverständlich vor, damals war es das nicht – uns der deutschen Geschichte stellen müssen, wir müssen die NS-Zeit aufarbeiten und die verwischten Spuren jüdischen Lebens wieder sichtbar machen.
Ich habe dann 2010 gesagt, dass ich auch in die Gegenwart hineingehen, mehr heutiges jüdisches Leben, Kultur und Religion darstellen und nicht nur in der Auslöschung und Vertreibung verharren möchte. Ich möchte aber auch noch mehr in die Zeit vor der Shoah gehen und auch andere Regionen in den Blick nehmen. Natürlich sind wir sehr der jüdischen Geschichte in Deutschland verhaftet, aber jüdisches Leben spielt sich rund um den Erdball ab. Ein Steckenpferd von mir ist zum Beispiel Argentinien. Das ist die größte jüdische Gemeinde Lateinamerikas, die ganz andere Ursprünge hat, einerseits sehr deutsch geprägt, andererseits auch sehr osteuropäisch-kommunistisch, und auch dafür wollen wir sensibilisieren, sodass wir aus dem deutsch-jüdischen Cluster etwas herauskommen.
Norbert Reichel: Das, was Sie sagen, war ein wichtiges Thema bei der Konzeption der gemeinsamen Erklärung der KMK und des Zentralrats der Juden im Jahr 2016. Es sollte eben nicht nur über die Zeit von 1933 bis 1945 gesprochen werden, sondern auch über das heutige jüdische Leben, die Zeit nach 1945 und das jüdische Leben vor 1933. In Schulbüchern, in den Lehrplänen und in Fortbildungen – wenn es sie denn gibt – dominiert nach wie vor diese Fokussierung auf die Jahre 1933 bis 1945.
Das betrifft auch das aktuelle Jubiläumsjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. Das bewirkt mit Sicherheit eine Erweiterung der Perspektive. Die Zahl mag manchen Historiker*innen etwas merkwürdig erscheinen, denn es gab jüdisches Leben natürlich auch schon vor 321 in dem Gebiet, das wir heute Deutschland nennen, sonst hätte es diesen Erlass des Kaisers Konstantin nicht gegeben, und andererseits wurden mit den Rechten den Juden auch bestimmte Pflichten auferlegt, beispielsweise solche, bestimmte finanzielle Abgaben zu leisten.
Nora Pester: Es hat immer alles zwei Seiten. Ich glaube, man wollte mit dieser imposanten Zahl diesen imposanten Zeitraum darstellen und andererseits es mit einem grundsätzlichen emanzipatorischen Dokument belegen und nicht mit den ersten Pogromen, der ersten dokumentierten Vertreibung. Die Zahl ist natürlich fragil.
Norbert Reichel: Vielleicht schauen wir uns einmal Ihr Programm an. Sie haben Bücher zum Thema Shoah, aber Sie haben auch historische Werke, viele Biografien, beispielsweise in der Reihe „Jüdische Miniaturen“, Sie haben Bücher zum Antisemitismus verlegt. Beeindruckend fand ich das 2020 erschienene Buch von Samuel Salzborn „Kollektive Unschuld“. Das müsste sich gut verkauft haben.
Nora Pester: Ja, das hat sich ziemlich gut verkauft. Es war auch eine sehr angenehme Zusammenarbeit. Ich hoffe natürlich, dass Samuel Salzborn (*1977), auch wenn er mit seiner neuen Position in Berlin sehr beschäftigt ist, in diesem Bereich weitermacht. Er spricht meines Erachtens auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft an, macht dies auf einem sehr hohen intellektuellen Niveau. Ich finde, das ist eine sehr gute Kombination.
Vielfalt der Themen – Vielfalt der Leser*innen
Norbert Reichel: Darf ich die Frage anschließen, welche Leser*innen Sie haben? In letzter Zeit habe ich festgestellt, dass viele Werke, Forschungsarbeiten jüdischer Wissenschaftler*innen, beispielsweise zum Antisemitismus, vorwiegend in der jüdischen Community rezipiert werden, manche Wissenschaftler*innen der traditionellen Fachbereiche der Sozialwissenschaften und der Politikwissenschaften die Arbeiten ihrer jüdischen Kolleg*innen jedoch nicht in dem Maße rezipieren wie es erforderlich wäre. Ich habe manchmal den Eindruck, es leben zwei verschiedene Communities nebeneinander her. Haben Sie auch manchmal diesen Eindruck, dass Sie vielleicht nur für diejenigen veröffentlichen, die ohnehin schon viel Wissen und viel Interesse für das Thema aufbringen?
Nora Pester: Das sind eine ganze Menge an Fragen. Ich beginne mal mit den Zielgruppen, die dann doch oft sehr schwer zu eruieren sind. Man findet die Bücher manchmal in einem ganz anderen Kontext wieder als ursprünglich intendiert. Aber meist ist es relativ eindeutig. Wenn wir Titel zur jüdischen Religion, zur jüdischen Kultur machen – wir haben inzwischen auch ein ganz gut aufgestelltes Programm jüdischer Kinder- und Jugendliteratur –, damit erreichen wir natürlich jüdische Familien, überhaupt Jüdinnen und Juden. Jetzt haben wir zum Beispiel das Buch über Rabbinerinnen veröffentlicht, „Reginas Erbinnen“, das Rabbinerin Antje Deusel und Rocco Thiede herausgegeben haben. Das lesen vor allem Frauen, aber es interessieren sich eben auch viele Frauen aus der katholischen Kirche dafür, die wissen wollen, wie ist das im Judentum? Das ist dann zum Beispiel für Maria 2.0 interessant.
Je mehr es in den biografischen und in den historischen Bereich der Aufarbeitung hineingeht, da ist es dann schon eher die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die zu diesen Büchern greift. Bei politischen Themen, vor allem mit Bezug auf Israel, gibt es so etwas wie einen Generationenwechsel. Vor Corona hatten wir noch große Veranstaltungen, da kamen zu Buchvorstellungen von Samuel Salzborn, Alex Feuerherdt und Florian Markl – ich nenne die Titel „Vereinte Nationen gegen Israel“ und „Die Israel-Boykottbewegung“ – 300 bis 400 junge Studierende in den Hörsaal. Es gibt ein großes Interesse an diesen aktuellen Debatten.
Was die Autor*innen angeht, da bin ich ganz bei Ihnen. Ich bemühe mich, die jüdischen Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Es ist nicht unbedingt eine Frage der Quantität, wie viele jüdische Autor*innen es gibt, sondern eine Frage der Hörbarkeit und Sichtbarkeit. Es gibt so viele interessante Autor*innen. Manche scheuen sich, andere sind wiederum sehr präsent wie beispielsweise Max Czollek (*1987) oder Mirna Funk (*1981). Das ist wirklich nicht so einfach, gerade für viele, die nicht in der ersten Reihe stehen, diesen Schritt zu gehen, ihr Gesicht in der Öffentlichkeit zu zeigen. Das hängt auch davon ab, ob sie in bestimmten Positionen sind oder nicht.
Das treibt uns in unserer Arbeit sehr um. Es geht nicht nur um die thematische Diversität, sondern auch um die Perspektiven. Deshalb schaue ich auch etwas kritisch auf die „1700 Jahre“. Das ist schon etwas kurzfristig entstanden und bei so manchem Projekt denke ich, dass Themen von Akteuren oder Vereinen behandelt werden, bei denen ich mich frage, ob die überhaupt längere ausgewiesene Expertise haben oder ob es einfach diesem Großprojekt geschuldet ist.
Ich finde das alles grundsätzlich gut, aber ich würde mir ein bisschen mehr Sensibilität für die Vielstimmigkeit wünschen. Ich möchte nicht sagen, da dürfen jetzt nur noch Jüdinnen*Juden sprechen. Das haben wir ja auch in anderen Bereichen …
Norbert Reichel: … und ist eher kontraproduktiv, weil es Allianzen verhindert.
Nora Pester: Absolut. Das sehe ich ganz genauso. Ich würde mir ein Bewusstsein dafür wünschen, dass man bei der Besetzung von Podiumsdiskussionen fragt, ob auch jemand aus der jüdischen Gemeinschaft dabei ist, der in die Runde hineinpasst. Und ich hoffe auch, dass sich mehr Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft entschließen, sich zu äußern. Ich habe aber auch Verständnis dafür, wenn manche sagen, dass sie das nicht möchten, weil es ihnen zu heikel ist.
Psychologische Verwerfungen
Norbert Reichel: Ich nenne mal zwei Ereignisse, die wir auch als Pole sehen mögen. Das eine ist die Auseinandersetzung um die Unabhängige Expertenkommission des Deutschen Bundestages zum Antisemitismus, die zunächst keine jüdischen Expert*innen vorsah. Diese wurden erst auf Intervention des Zentralrats der Juden berufen. Das andere war eine Podiumsveranstaltung in Erfurt, an der drei jüdische Frauen teilnahmen, alle mit dunklen Locken, und eine blonde Moderatorin, die Vieles gar nicht verstand, was ihre Gesprächspartner*innen diskutierten. Dieses Missverhältnis thematisierte eine der drei jüdischen Frauen sozusagen pars pro toto am Beispiel der Haare. Durch die Moderation entstand ein wenig der Eindruck, als würde „jüdische Perspektive“ vorgeführt. Irgendwie fehlt meines Erachtens die Sensibilität bei manchen Medien. Wir haben das nicht nur beim Thema Judentum, zuletzt auch beim Thema Rassismus, als in einer Veranstaltung fünf weiße Menschen miteinander sprachen, die pflichtgemäß jeden Rassismus verurteilten, aber die Schwarze Perspektive fehlte völlig.
Nora Pester: Gerade was Jüdinnen*Juden betrifft, schwingen auch Ängste mit. Ich meine jetzt nicht nur auf Seite der Jüdinnen*Juden, sondern auf Seiten der Mehrheitsgesellschaft. Mache ich da etwas falsch? Kann ich etwas Falsches sagen? Wir versuchen, mit unseren Veranstaltungen solche Hemmschwellen abzubauen, sie niedrigschwellig anzulegen, in gewissem Maße Normalität zu vermitteln. Aber ich glaube, da fehlt noch ganz viel. Das ist in solchen Situationen wie zur Zeit, mit den kriegerischen Auseinandersetzungen in Nahost, noch schwieriger. Solche Entwicklungen wirken sich unmittelbar auf unsere Arbeit aus. Wir haben zurzeit wegen der Pandemie keine öffentlichen Veranstaltungen, aber wenn wir sie hätten, würden wir feststellen, wie sich die Diskurse verschieben.
Norbert Reichel: Auf meine Texte bekomme ich auch gelegentlich sehr emotionale Rückmeldungen, gerade im Hinblick auf meine Bewertung der BDS-Bewegung, die aus meiner Sicht eindeutig antisemitisch ist, auch wenn manche nicht wahrhaben wollen, was es bedeutet, sich mit Hamas und Hisbollah in ein Boot zu setzen. Das sind natürlich hoch emotionale Diskussionen. Erleben Sie auch in Rückmeldungen, dass sehr emotional agiert wird?
Nora Pester: Ja. In Bezug auf Israel sowieso. Aber da merken wir natürlich, wie in anderen gesellschaftlichen Themenbereichen auch, dass immer mehr in der eigenen Position verharrt wird. Es wird immer schwieriger, Menschen aus ihrer Perspektive und ihrem eigenen Logikmuster herauszuholen. Das ist auch ein Thema in unserer Arbeit und mit unseren Partnern und wir fragen uns, wen erreichen wir? Damit meine ich nicht Herkunft und Alter, sondern – Sie sprachen es ja an – erreiche ich nicht die, die sich ohnehin schon mit dem Thema auskennen. Und das muss ich so zu einem großen Teil bejahen. Ich finde es trotzdem wichtig: Man muss immer wieder diejenigen, die das Vorwissen haben, dort abholen, wo sie sind, dort bestätigen. Es ist nicht unbedingt ein Nachteil, dass wir bestimmte Kreise permanent bespielen. Trotzdem gibt es immer wieder welche, die sich neu interessieren. Das ist gerade in dem politischen Kontext so.
Was die Narrative von Nationalsozialismus und Shoah angeht, sieht es schon etwas anders aus. Da gibt es eine hohe Emotionalität und manchmal auch so etwas wie eine Überidentifikation, dass dann eigene Familiengeschichte neu interpretiert wird oder dass eine starke Opferidentifikation entsteht, durch die Distanz verloren geht. Das ist auch nicht ohne. Wir erleben das bei Manuskripten, die wir bekommen, und wir bekommen im Durchschnitt drei pro Tag, von denen wir natürlich einen hohen Prozentsatz ablehnen müssen.
Das ist in jeder Hinsicht emotional und psychologisch ein Minenfeld, dass hier eigene Geschichten transportiert bzw. sogar transformiert werden, entweder eine eigene Familienopfergeschichte oder eine eigene Familientäter*innengeschichte. Das wird dann auf meinem Schreibtisch abgearbeitet. Wir stoßen da oft an unsere Grenzen.
Jüdisches Leben in der DDR
Norbert Reichel: Täter*innengeschichte ist schon eine sehr schwierige Geschichte. Darüber wollen viele nicht sprechen. Zur Täter*innengeschichte im Kontext der Shoah gibt es eine ostdeutsche Variante von Seiten der Westdeutschen. Viele Westdeutsche behandeln Ostdeutsche pauschal entweder als Opfer oder als Täter*innen und tun oft so, als gäbe es nach 1945 eigentlich nur die westdeutsche Geschichte. Die ostdeutsche Geschichte wird geradezu exotisiert. Naika Foroutan hat das mal eine „Migrantisierung“ der Ostdeutschen genannt.
Nora Pester: Das merken wir bei unserer Arbeit an dem Buch „Jung und jüdisch in der DDR“. Das ist so ein verdoppeltes Schweigen. Da sind Biographien dabei, die in der DDR-Zeit nicht ausgesprochen worden, weil der antifaschistische Widerstand im Vordergrund stand. Jüdische Verfolgungsgeschichten wurden nicht tabuisiert, aber sie waren marginalisiert. Hier habe ich eine Autorin mit einer Familiengeschichte des Exils in der Sowjetunion, ihre Eltern waren dort im Gulag interniert. Als dann die Familie nach Deutschland, in die DDR, zurückkam, konnten sie darüber nicht sprechen, weil ihre Geschichte hinter der antifaschistischen Linie der DDR-Geschichtsschreibung zurückgedrängt wurde. Dann aber, nach der Wende, als das Gefühl aufkam, jetzt können wir über unsere jüdische Geschichte sprechen, wurde wiederum die DDR-Erfahrung tabuisiert, oder vielleicht nicht tabuisiert, es hat schlichtweg niemanden interessiert.
Norbert Reichel: Vor wenigen Tagen habe ich mit Kolleg*innen aus der LSBTTIQ*-Community gesprochen. Sie wiesen mich auf das „Trilemma der Inklusion“ hin, ein Begriff, den Mai-Anh Boger einführte. Die erste Perspektive betrifft den Menschen in der jeweiligen spezifischen Existenz als Frau*Mann, als Jüdin*Jude, als Schwarze*r, als Behinderte*, die zweite jeden Menschen in seinem*ihrem Wunsch, nicht in den Unterschieden zu anderen definiert zu werden, die dritte, wie Menschen im dominierenden Blick auf diese Unterschiede auf ihre Besonderheiten festgelegt werden. Je nachdem, welche Perspektive eingenommen wird, ändert sich auch das Verhalten. Bestimmte Fragen werden einfach nicht gestellt.
Nora Pester: Es wiederholen sich dieselben Fehler – eigentlich sind es keine Fehler, es ist psychologisch sogar nachvollziehbar, dass man*frau zu spät fragt. Das erlebe ich jetzt bei dem jüdischen DDR-Projekt. Auch hier sind schon einige Fragemöglichkeiten verpasst worden. Die meisten für unser Projekt Interviewten sind jetzt so zwischen Ende 40 und Ende 50, eine Generation der Zeitzeug*innen, die ihre Jugend als Jüdinnen*Juden in der DDR verbracht haben. Viele werden jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben dazu gefragt.
Norbert Reichel: Ich bin neugierig auf das Buch und darf es subskribieren? Ich denke ohnehin darüber nach, einige Menschen mit dieser Geschichte vorzustellen, die ihre Geschichte in Büchern und anderweitig dokumentiert haben. Ich denke an Chaim Noll (*1954), an Marion Brasch (*1961), an Anetta Kahane (*1954).
Nora Pester: Im Herbst machen wir auch ein Buch mit Anetta Kahane (und Martin Jander): „Juden in der DDR. Anpassung, Dissidenz, Illusion, Repression“.
Norbert Reichel: Das Buch interessiert mich, die drei von mir genannten Autor*innen haben eines gemeinsam, sie sind im weiten Sinne Kinder von Funktionär*innen. Die jüdischen Funktionärskinder sind meines Erachtens eine ganz besondere Gruppe, die sehr unterschiedlich mit ihrer jeweiligen Geschichte umgehen. Und dann gibt es die in den 1990er Jahren eingewanderten Jüdinnen*Juden aus der ehemaligen Sowjetunion.
Nora Pester: Ich habe den Eindruck, das ist in der deutschen Gesellschaft noch gar nicht so richtig angekommen, dass sich die meisten jüdischen Gemeinden zu 80 bis 90 Prozent, manchmal sogar bis zu 100 Prozent aus Jüdinnen*Juden aus der ehemaligen Sowjetunion zusammensetzen. Ich finde es auch immer noch bezeichnend, dass in vielen Positionen im jüdischen Kontext diese Gruppe noch unterrepräsentiert ist. In Leipzig haben wir mit Küf Kaufmann (*1947), dem Vorsitzendem der Leipziger Gemeinde, jemanden aus dieser Gruppe, der auch im Präsidium des Zentralrats sitzt, aber er ist die Ausnahme.
Norbert Reichel: Das ist vielleicht eine Generationenfrage. Mit der Zeit werden auch Jüngere in den Gremien arbeiten, und daher auch manche, die als Kinder aus der Sowjetunion nach Deutschland kamen.
Nora Pester: Ja, das hoffe ich auch.
Programmatische Wagnisse
Norbert Reichel: In Ihrem Programm habe ich auch Bücher gefunden, die eigentlich gar nicht in das Programm hineinzupassen scheinen, darunter das Buch von Ursel Hochmuth mit dem Titel „Illegale KPD und Bewegung ‚Freies Deutschland‘ in Berlin und Brandenburg 1942 -1945“ sowie das Buch von Inge Lammel mit dem Titel „Arbeiterlied, Arbeitergesang“.
Nora Pester: Das war noch vor meiner Zeit. Ich weiß leider nicht, was Gerhard Hentrich bewogen hat, diese, zweifelsohne wichtigen, Bücher in sein Programm aufzunehmen. Ich kann aber sagen, wir haben auch heute noch einige wenige – wenn man so möchte – Ausreißer. Jetzt ist gerade ein Buch im Druck, das im Mai 2021 erscheint, mit Tagebuchaufzeichnungen von sowjetischen Soldaten, die in Berlin 1945 einmarschiert sind. Das passt auch nicht im engeren Sinne, aber wir haben eine langjährige Zusammenarbeit mit dem Autorenpaar Erika und Gerhard Schwarz. Ich habe vor ein paar Jahren auch ein sehr berührendes Buch über den Atombombenabwurf 1945 in Hiroshima gemacht, die deutsche Übersetzung des Buches „Singvögel und Raben waren auch nicht mehr da“ von Shigemi Ideguchi. Es gibt schon manchmal ein Projekt, das keine andere Heimat findet, das ich aber grundsätzlich für wichtig erachte und zu dem ich stehe.
Norbert Reichel: In Ihrem Programm habe ich auch einige Bücher zum Thema Musik gefunden darunter Bücher zu einem meiner Lieblingskomponisten, Louis Lewandowski (1821-1894). Ich gestehe, dass ich jedes Mal, wenn ich den Friedhof in Berlin-Weißensee besuche, an seinem Grab innehalte. Ist Musik eine kleine oder eine größere Branche in Ihrem Programm?
Nora Pester: Es gibt zwei Branchen, die sind schon etwas überrepräsentiert, das sind Musik und Medizin. Wir haben viele Biographien von Medizinern und Musikern im Programm. Ich selbst habe zu beiden Gebieten keine persönlich geprägte Beziehung. Aber es ist in beiden Bereichen so, dass dort jüdische Vertreter*innen überdurchschnittlich präsent waren, besonders in der Medizin. Vor der Zeit des Nationalsozialismus gab es sehr sehr viele jüdische Ärzte. In der Musik ist es ähnlich.
In der Musik interessieren mich vor allem die Remigrationsgeschichten. Dazu halte ich im Herbst in Schwerin einen Vortrag. Es geht um Musiker*innen und Komponist*innen, die sich nach dem Exil entschieden, wieder nach Deutschland zurückzukehren. Auch wenn Musik eine universelle Sprache ist, fühlten sich aber gerade diejenigen, die mit Texten arbeiteten, Lieder geschrieben haben, dann in Deutschland oder Österreich wegen der deutschen Sprache wieder wohler, weil es ihre Muttersprache war.
Norbert Reichel: Viele Komponist*innen sind hier kaum bekannt. Manchmal ist es das Verdienst einzelner Orchester und Dirigent*innen, sie in Deutschland zu spielen. In München erlebte ich einmal eine wunderbare Aufführung mit Werken von Mieczysław Weinberg (1919-1996) durch das Jewish Chamber Orchestra Munich.
Nora Pester: Gerade Komponist*innen sind darauf angewiesen, gespielt zu werden, um allgemeine Öffentlichkeit zu erfahren. Es gab jetzt viel Aufmerksamkeit zum 150. Geburtstag von Leo Blech (1871-1958), dem ehemaligen Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper. Mich hat besonders gefreut, dass der Rundfunk nicht nur seine Lebensgeschichte erzählte – was wichtig genug ist –, sondern auch seine Musik neu einspielte. Es sind ganz oft engagierte Einzelpersonen, in diesem Fall die Biographin von Leo Blech, Jutta Lambrecht, die dafür sorgen und die Werbetrommel gegen das Vergessen rühren.
Norbert Reichel: Die Finanzierung wird nach dem Ende der Pandemie sicherlich noch eine besondere Aufgabe. Olaf Zimmermann, der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrats, sagte mir in unserem Gespräch, nach Corona käme die zweite Krise, in der die Kulturetats der Kommunen und der Länder gegen Kämmereien und Finanzministerien durchgesetzt werden müssen.
Sie erwähnten die Medizin als einen Bereich Ihrer Arbeit. Ich lese regelmäßig die Jüdische Allgemeine, die ausführlich über medizinische Forschung in Israel informiert. Die medizinische Forschung in Israel ist weltführend.
Nora Pester: Wenn Sie Israel erwähnen, das kommt nicht von ungefähr. Medizin war ein Bereich, in dem Jüdinnen*Juden tätig sein durften. Man muss immer dazu sagen, dass man Jüdinnen*Juden in bestimmten Branchen überproportional häufig findet, weil ihnen andere Branchen, beispielweise im Staatsdienst, nicht zugänglich waren. Aber ich glaube, es hat auch etwas mit einer ethischen Einstellung zu tun, die aus dem Judentum kommt. Es gibt eine spezifische jüdische Ethik der Medizin, die auch in Israel eine Rolle spielt, dass man einerseits die ethischen Fragen anerkennt, andererseits aber auch dem Fortschritt dem Gegenüber aufgeschlossen ist.
Ich finde es faszinierend, was es Anfang des 20. Jahrhunderts in der Medizin an Forschung, Fortschritt und neuem Wissen gab, das dann von den Nationalsozialisten vernichtet wurde. Das ist für mich ein derart – erlauben Sie mir diesen Begriff – krasses Beispiel von doppelter Zerstörung. Nicht nur Menschen wurden vertrieben und ermordet, auch Wissen und Erkenntnis wurden dauerhaft eliminiert. Vieles musste nach 1945 wieder neu entwickelt und erfunden bzw. aus dem Ausland, wie den USA, übernommen werden. Ich nenne nur als Beispiele Krebsforschung und Krebsfürsorge,
Der Besessene
Norbert Reichel: Was war Herr Hentrich für ein Mensch?
Nora Pester: Leider kann ich zu seiner Person nicht sehr viel sagen. Ich habe Herrn Hentrich nur wenige Male vor seinem Tod getroffen und kennen lernen dürfen. Aber natürlich: Aus unserer Arbeit ergibt sich schon ein Bild. Bemerkenswert finde ich, dass er das Verleger-Dasein nie zu seinem Lebensziel erklärt hat. Er kommt aus derselben Branche, aber er war Drucker. Die Familie Hentrich wurde in der NS-Zeit verfolgt, weil seine Mutter als sogenannte „Halbjüdin“ galt, was auch dazu führte, dass sein Vater Zwangsarbeit leisten musste. Die Familie wurde drangsaliert beziehungsweise schikaniert. Sie waren nicht kommunistisch eingestellt, aber ich würde sie als antifaschistisch bezeichnen. Sie trugen auch nach 1945 eine große Wut auf das NS-Regime in sich. Gerhard Hentrich hatte im Krieg ein Bein verloren, er war für sein Leben gezeichnet.
Er hat nach dem Krieg mit seinem Vater in West-Berlin, in Steglitz, die Druckerei Hentrich aufgebaut. Das war eine angesehene, wenn nicht die angesehenste Druckerei West-Berlins. Die Theater haben dort ihre Plakate, ihre Programmhefte drucken lassen. Daraus ist dann der Verlag entstanden, auch eher ein Zufall. In den 1980er Jahren kamen zwei Lehrer in die Druckerei, ziemlich frustriert, mit einem Buchmanuskript: „Steinerne Zeugen“. Es ging um Spuren jüdischen Lebens in Berlin. Die beiden Lehrer hatten es nicht geschafft, einen Verlag für dieses Manuskript zu finden, weder in Westdeutschland noch in West-Berlin. Das können wir uns heute nicht vorstellen. Das ist etwas, was mich immer so wütend macht, wenn es heißt, es wäre doch alles erforscht und die Aufarbeitung wäre abgeschlossen. Das war in den 1980er Jahren noch längst nicht auf dem Niveau, das für uns heute selbstverständlich ist.
Die beiden Lehrer kamen zu Hentrich und baten ihn, das Buch zu drucken. Sie hätten die Suche nach einem Verlag aufgegeben und wollten es jetzt selbst publizieren, auf eigene Kosten. Er sagte ihnen, dass er das machen werde, er fände auch das Thema wichtig, aber er meinte, es reiche nicht, das Buch zu drucken. Es bräuchte eben auch einen Vertrieb. Das war die Geburtsstunde der Edition Hentrich, die ein tolles Programm gemacht hat, auch Standardwerke zur NS-Geschichte, die nach wie vor Gültigkeit haben.
So wie es mir vermittelt wurde – Gerhard Hentrich war damals schon Ende 50 – war das so etwas wie eine späte schicksalhafte Genugtuung. Er konnte sich zuvor nicht so engagieren wie er das vielleicht gewollt hätte, aber jetzt öffnete sich ein Fenster, durch das alles, was in ihm gearbeitet hatte, was ihn bewegte, jetzt auch seinen publizistischen Ausdruck finden konnte. Er war dazu natürlich auch finanziell in der Lage. Er hatte die Druckerei, war vermögend, konnte sich das leisten.
1981 wurde die Edition Hentrich gegründet, der erste Band in einer Reihe „Deutsche Vergangenheiten“ war „Steinerne Zeugen“. Die Edition Hentrich hat er dann etwa zehn Jahre betreut, aber dann meinte er, es sei jetzt gut, ich gebe es ab. Er hat Druckerei und Verlag verkauft. Das war im Jahr 1994. Dann merkte er aber, dass sein Lebenswerk versandete. Derjenige, der es übernommen hatte, hatte kein Interesse an einer Fortführung.
1998 hat er dann noch einmal neu mit seinem Sohn Hentrich & Hentrich gegründet. Das war auch die Geburtsstunde der „Jüdischen Miniaturen“, der Reihe, die noch heute von Hermann Simon betreut wird und inzwischen fast 300 Bände umfasst. Ich glaube, diese Neugründung charakterisiert ihn auch sehr gut. Er sagte, er habe die Edition aufgebaut, sei jetzt zwar über 70, aber er lasse nicht zu, dass sein Lebenswerk verschwindet. Bis zu seinem Tod im September 2009 hat er kontinuierlich jedes Jahr etwa 20 Titel veröffentlicht. Ich verwende mal jetzt ein schwieriges Wort, aber ich meine es positiv: er war ein Besessener.
Ehemalige Mitarbeiter haben mir berichtet, dass er – auch in der Druckerei – teilweise sehr autoritäre und cholerische Züge an den Tag legte. Gleichzeitig hat er auch immer wieder Menschen eingestellt, die anderswo, beispielsweise wegen persönlicher Schicksalsschläge, keine Anstellung mehr gefunden hätten, die auch ein wenig aus dem Raster, aus der gesellschaftlichen „Normierung“ herausgefallen waren, Menschen, die zu alt oder krank waren. Gerhard Hentrich war in Berlin dafür bekannt, dass er diese bewusst aufnahm. Er sagte zu mir: Frau Pester, wenn Sie sich auf diese Mitarbeiter einlassen, dann gibt es auch schwierige Zeiten, aber wenn es darauf ankommt, sind diese Mitarbeiter so loyal und fleißig wie niemand sonst. Das hat mir sehr imponiert, denn das ist unter Arbeitgebern sicher nicht selbstverständlich.
Machloket – Diskurse und Hoffnungen
Norbert Reichel: Sie haben promoviert. Thema war „Die soziale Verfassung Europas – Eine rechts- und diskurstheoretische Betrachtung“ (veröffentlicht in Wien, Passagen Verlag, 2006).
Nora Pester: Die Arbeit entstand in einer Zeit, in der Europa hoch im Kurs stand und endlich einmal neben der wirtschaftlichen und politischen Union auch so etwas wie eine geistige Union, eine Wertegemeinschaft diskutiert wurde. Das brach dann durch die Finanzkrise jäh ab und daran konnte bisher nie mehr angeknüpft werden.
Norbert Reichel: Und dann kam die Zuwanderungskrise. Und wenn wir bedenken, wie sich mit der Zeit Staaten wie Ungarn oder Polen positionierten …
Nora Pester: Wenn ich mir heute die Unterlagen anschaue, die ich damals für die Promotion gesammelt habe, frage ich mich: Spielt es wirklich keine Rolle mehr, was Europa als Gemeinschaft von Werten, Gedanken und Kulturen ausmacht? Das waren Debatten von einer Intensität und von einem intellektuellen Niveau, das ist nie wieder erreicht worden. Extrem traurig. Meine Doktorarbeit liest sich heute eher wie ein utopischer Roman.
Es ist mir fast peinlich, dass ich mich damals auf eine beinahe naive Art auf dieses Gefühl eingelassen habe und echt glaubte, mit der Grundrechtecharta der Europäischen Union gäbe es ein Wertefundament, auf dem die Union weiterentwickelt werden könnte. Ich habe völlig danebengelegen.
Norbert Reichel: Zum Thema Europa schätze ich sehr den Roman von Robert Menasse „Hauptstadt Europa“, über den ich auch geschrieben habe. Das ist eines der Bücher, die mit Recht den Deutschen Buchpreis bekommen haben.
Nora Pester: Das sehe ich auch so.
Norbert Reichel: Vielleicht noch eine Frage zu den Veranstaltungen, die Sie anbieten?
Nora Pester: Normalerweise sehr viele. Das ist ein ganz wichtiger Baustein in unserem Verlagsprofil. Vor Corona hatten wir mindestens 100 Veranstaltungen im Jahr, natürlich nicht alle alleine organisiert, oft in Kooperation mit Partnern. Das vermissen wir sehr. Es fehlt der unmittelbare Kontakt zwischen Autor*innen und Publikum. Aber das allein ist es bei uns nicht. Wir machen keine klassischen Lesungen, auch relativ wenig in Buchhandlungen. Wir arbeiten viel mit Stiftungen wie der Konrad-Adenauer-Stiftung oder der Friedrich-Naumann-Stiftung zusammen, mit Museen oder jüdischen Kulturfestivals. Wir sind auch oft an Orten, die eine historisch-thematische Aufladung haben, mit einem Thema verbunden sind. So erreichen wir sehr unterschiedliche Zielgruppen. Unsere Veranstaltungen sind sehr viel diskursiver angelegt als die üblichen Lesungen.
Norbert Reichel: Machloket.
Nora Pester: Ja, genau so kann man sie überschreiben. Machloket, das Streitgespräch, das ist auch für die Gesellschaft, für die Gemeinschaft wichtig, der Austausch. Das kann das digitale Format nicht ersetzen, auch wenn ich über dieses Format Menschen aus anderen Regionen der Welt zuschalten kann, denen eine analoge Teilnahme nicht möglich wäre. Aber in seiner Offenheit ist ein solches digitales Gespräch eingeschränkt. Das merken wir bei unseren Themenabenden, bei Salonabenden, Podiumsdiskussionen. Das hat eine ganz andere Interaktion, eine ganz andere Dynamik, und dieser argumentative Austausch fehlt. Ich engagiere mich auch über den Verlag hinaus für einen Erinnerungsort in Leipzig: die Riebeckstraße 63. Wir merken immer mehr, wie wir in unserer digitalen Gedankenblase gefangen sind. Das digitale Format hat zum Teil auch pragmatische Vorteile, bei Verabredungen zum Beispiel, aber es fehlt die unmittelbare, die nicht geplante, die scheinbar beiläufige Kommunikation. Ich hoffe, dass das auch wieder zurückkommt, aber der Mensch ist ein Gewohnheitstier und man hat sich vielleicht auch etwas daran gewöhnt, dass man auf diese digitale Weise bilateral und sehr pragmatisch kommuniziert.
Norbert Reichel: Vielleicht sind in der Zukunft Hybridformate eine Lösung?
Nora Pester: Das kann ich mir gut vorstellen. Ich habe das in Leipzig erlebt. Hier überträgt Rabbiner Zsolt Balla seit Beginn der Pandemie seine Gottesdienste auch digital, und es gibt viele Menschen, die sehr dankbar dafür sind. Vielleicht kann man zukünftig live vor Ort und via Internet an Veranstaltungen teilnehmen. Das fände ich sehr schön.
Norbert Reichel: Ich hoffe, dass die Buchmessen bald wieder wie gewohnt stattfinden. Vielleicht klappt es ja dieses Jahr wieder in Frankfurt.
Nora Pester: Wie wichtig die Buchmessen sind, merken wir jetzt, wo sie nicht stattfinden. Alle haben immer gejammert, was für ein Aufwand das ist, wie anstrengend und welche Reizüberflutung. Ich möchte auch eine Lanze brechen für die vielen Festivals jüdischer Kultur, die, oft ehrenamtlich getragen, oft auch von den Städten, sicherlich auf unterschiedlichem Niveau, aber wirklich eine kontinuierliche Präsenz jüdischer Kultur geschaffen haben. Ich glaube, das haben wir unterschätzt, als es noch selbstverständlich war. Besonders wichtig finde ich die Festivals, die ohne große Budgets und zentrale Intendanz aus den jeweiligen Stadtgesellschaften organisiert und getragen werden, wie zum Beispiel in Leipzig und Chemnitz.
Norbert Reichel: Was würden sie sich denn darüber hinaus für die Zukunft wünschen?
Nora Pester: Ich würde mir wünschen, dass wir wieder weniger Bücher im Bereich Antisemitismus herausbringen müssten. Ich schließe mit einer Anekdote: Es war kurz nachdem wir von Berlin nach Leipzig umgezogen waren. Wir hatten im September 2018 unsere Zelte aufgeschlagen. Im Oktober war die Frankfurter Buchmesse. Ich stehe mit einem Kollegen am Messestand, Gäste sind noch nicht da, alles schick, wir schauen in das Regal, doch dann sehen wir, jeder zweite Titel hat etwas mit Antisemitismus zu tun. Zehn Jahre vorher hatte ich mir vorgenommen: Ich will jüdisches Leben, jüdische Kultur, Religion in mein Programm aufnehmen. Den Anspruch habe ich weiterhin, aber wir müssen natürlich auf bestimmte Bedürfnisse und Entwicklungen reagieren, und dann sehe ich, wie viele Titel zum Antisemitismus wir im Programm haben. Das ist auch notwendig, das will ich nicht in Abrede stellen, aber das ist ein persönlicher Wunsch, dass wir uns perspektivisch auch wieder als Gesellschaft, als jüdische Gemeinschaft ganz selbstverständlich dem Leben widmen können.
Norbert Reichel: Das ist im Demokratischen Salon nicht anders. Ich habe zwölf Rubriken darunter eine mit dem Titel „Shoah“, eine mit dem Titel „Antisemitismus“. Ich habe mir das sehr überlegt, ob das nicht zu einseitig ist. Ich veröffentliche alle Titel immer unter zwei Rubriken. Unser Gespräch könnte ich unter „Liberale Demokratie“ und unter „Kultur“ veröffentlichen. Oder ist eine der Rubriken dann doch wieder „Antisemitismus“?
Nora Pester: Man möchte es ja auch nicht den anderen überlassen. Ich kann diese Stimme nicht abgeben, ich muss da weitermachen.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2021, alle Internetzugriffe wurden am 15. September 2022 auf ihre Richtigkeit überprüft.)