Die Climate Fiction und die Politik

Theresa Hannig über ihre Romane und die Klimakrise

„Ich hoffe, dass mein Buch als Warnung gelesen wird. Sowohl von der Politik, als auch von den Aktivist:innen und der sogenannten schweigenden Mehrheit. Wenn die Gewalt so eskaliert wie in meinem Buch, verlieren am Ende alle. Wir kommen dem Klimaschutz nicht näher und der gesellschaftliche Zusammenhalt zerbricht. Deshalb hoffe ich, dass Gesellschaft und Politik einlenken (….)“ (Theresa Hannig im Nachwort zu „Parts Per Million – Gewalt ist eine Option“)  

„Parts Per Million“ ist der fünfte Roman von Theresa Hannig.Er erschien im September 2024 bei Fischer Tor und ist – eingelesen von Heike Warmuthauch als Hörbuch erhältlich. Der Roman könnte als Spiegelung ihres vorangegangenen Romans „Pantopia“ gelesen werden. In „Pantopia“ schaffen zwei Nerds dank der von ihnen konstruierten und immer selbstständiger werdenden Künstlichen Intelligenz „Einbug“ eine ideale und gerechte Welt, in der es keine Nationen mehr gibt und die Menschenrechte weltweit durchgesetzt werden. Natürlich gibt es Widerstände zu überwinden, aber die Macht der an „Pantopia“ interessierten Menschen ist einfach stärker. In „Parts Per Million“ erleben wir die apokalyptisch beschriebene Klimakrise und begleiten die Autorin Johanna Stromann zunächst als Beobachterin in die Kreise der Widerstandsbewegung, die sich zunehmend radikalisiert, aber auch immer weiterwächst. Ist „Gewalt“ wirklich – wie der Untertitel suggeriert – eine „Option“?

© Theresa Hannig

Theresa Hannig ist Politikwissenschaftlerin, hat in den Bereichen Mediendesign und Umwelt gearbeitet, zeitweise mit einer eigenen Firma und konzentriert sich seit etwa 2018 ausschließlich auf ihre schriftstellerische Tätigkeit. Sie hat für ihre Romane mehrere Preise gewonnen, veröffentlicht regelmäßig in verschiedenen Zeitungen, beispielsweise einmal im Monat in der wochentaz. In einer ihrer Glossen beschrieb sie die Zukunft eines von der AfD beherrschten Thüringens und Sachsens, die sich vom Rest der Bundesrepublik Deutschland abspalten und dank eines Migrationsprogramms der Bundesregierung viele Einwohner:innen verlieren. Im Jahr 2100 liegt das Durchschnittsalter bei 71. Nachdem der letzte Einwohner gestorben ist, wird dieses Restreich zum größten zusammenhängenden Naturschutzgebiet Europas. Zu ihren Romanen gibt es Unterrichtsmaterialien, sie besucht regelmäßig Schulen. Seit 2021 ist sie Mitglied des Stadtrats für die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen und Referentin für Gleichstellung und Antidiskriminierung. Eines ihrer Anliegen ist die Erarbeitung einer umfassenden KI-Strategie.

Utopie vs. Dystopie

Norbert Reichel: Aus meiner Sicht unterscheidet sich „Parts Per Million“ von deinen vorangegangenen Romanen. Was war die Idee?

Theresa Hannig: Ich habe mich gefragt, was die Realität macht, während ich versucht habe, mit „Pantopia“ eine neue Utopie zu schaffen. Ich bin vielleicht sehr idealistisch, was die Wirkung von Literatur betrifft. Aber irgendwie hofft man doch immer als Autorin, dass Literatur die Welt verändern kann. Zumindest ein bisschen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite: Es war klar, dass nach „Pantopia“ die Welt weitergeht und nicht eine solche Utopie entsteht. Das war ziemlich ernüchternd. Und dann klebte sich die „Letzte Generation“ auf die Straße. Ich saß mit meinem Lektor zusammen und wir überlegten, was passiert denn jetzt? Es war noch Corona-Zeit, „Pantopia“ konnte auf der Leipziger Buchmesse nicht vorgestellt werden, weil die Messe ausfiel.

Wir waren beide sehr an der Frage interessiert, wie sich die Klimaschutzproblematik weiterentwickelt. Wir hatten beide Kim Stanley Robinson gelesen, „Das Ministerium für die Zukunft“. In diesem Roman gibt es die „Children of Kali“, eine Terrorgruppe, die sehr effektiv, sehr gruselig agiert, indem sie Flugzeuge abschießt. Dieses Buch ist ein ganz tolles Buch. Es hat uns beide fasziniert und wir hatten die Idee, wie wäre es, wenn wir diese Geschichte einmal durchspielen? Wie sähe das in Deutschland aus, wie in Europa? Das Thema ließ mich nach dem Gespräch nicht mehr los.

Du sagst, das Buch unterscheide sich von den anderen, aber das Thema Klima spielt in allen Büchern eine Rolle, nicht im Vordergrund, aber immer am Rande, als Hintergrund, beispielsweise in „Die Optimierer“ das Wüstenklima, das im September in Europa herrscht.

Norbert Reichel: Deine Bücher werden von Kommentator:innen zur Climate Fiction gezählt. Der Begriff ist jetzt etwa 15 Jahre alt.

Theresa Hannig: Mit Genre-Begriffen ist das eine solche Sache. Science Fiction ist eine Nische, Climate Fiction ist eine Unternische von Science Fiction. Du grenzt mit solchen Zuschreibungen dein Publikum immer weiter ein. Erst seit etwa zwei Jahren werden solche Bücher in Deutschland unter dem Begriff der Climate Fiction geführt. Dazu gehört zum Beispiel der Solarpunk, der insgesamt etwas hoffnungsvoller ist. Alles andere firmiert unter Dystopien. Utopien gibt es eigentlich nicht. Solarpunk ist etwas schmutziger, nicht so perfekt wie eine Utopie. Ich kann mich mit solchen Zuordnungen nicht hundertprozentig identifizieren, fühle mich aber in der Community sehr wohl und verlasse diese daher auch nicht. Ich schreibe Geschichten, die mich interessieren, der Verlag schreibt ein Genre drauf und der Buchhandel sortiert es in eine Schublade.

„Parts Per Million“ ist eine Geschichte über eine sehr nahe mögliche Entwicklung unserer Zukunft, über Klimaaktivismus und Klimaterrorismus. Und wer sich dafür interessiert, sollte, darf, muss dieses Buch lesen.

Macht und Ohnmacht

Norbert Reichel: Es gibt meines Erachtens in deinen Büchern noch ein weiteres verbindendes Element. Es gibt immer autoritäre bis hin zu totalitären Strukturen und es gibt immer Menschen, die sich dagegen auflehnen. Ist das vielleicht ein roter Faden, der sich durch deine Bücher zieht?       

Theresa Hannig: Ich mache mir darüber gerne Gedanken. Wie funktionieren politische Systeme? Welche Hebel muss man bewegen, um bestimmte Dinge zu erreichen? Wie diskutieren wir darüber? Welche Geschichten erzählen wir? Es gibt endlos viele Variationen, weil es unter Menschen viele verschiedene Beziehungen gibt, Machtgefälle, je nach politischem Kontext und je nach eigenen moralischen Einstellungen. Diese Beziehungen verändern sich ständig. In meinem nächsten Buch geht es – ich sage das mal ganz lapidar – um Kommunalpolitik und Steuern. Da sagen manche, wie langweilig ist das denn? Aber auch hier geht es um die Hebel, die man bewegen muss, um politisch und gesellschaftlich voranzukommen. Es geht immer um die Frage: Wer hat die Macht und wie rechtfertigen wir das?

Norbert Reichel: In „Die Optimierer“ ist es meines Erachtens ziemlich eindeutig, wer die Macht hat.

Theresa Hannig: Schon, aber der Protagonist Samson hält zu Beginn alles für gut und richtig. Es ist auch gut und richtig für jemanden, auch für einen großen Teil der Bevölkerung, für Menschen, die ihre eigene Autorität, ihre Selbstwirksamkeit gerne abgeben. Aber das ist kein gerechtes System, wenn ein Teil der Bevölkerung darunter leidet (in Klammern: kein System ist vollkommen gerecht!).

Norbert Reichel: Wer leidet in „Die Optimierer“? Martina, die von dem Lebensberater Samson in die „Kontemplation“ geschickt wurde, leidet. Sie erhält zwar weiterhin ihr bedingungsloses Grundeinkommen, aber sie hat keinen Platz mehr in der Gesellschaft, keinen Arbeitsplatz. Sie wird nicht gebraucht. Sie bringt sich um. Motto ist der Satz, der gleichzeitig Grußformel ist: „Jeder an seinem Platz“. Bei Samson ist es doch etwas anders. Er fängt erst an, an dem System zu zweifeln, als ihn seine Frau verlässt und er daraufhin Sozialpunkte verliert.

Theresa Hannig: Und er verliert immer weiter Sozialpunkte. Dieser Prozess lässt sich nicht aufhalten. Es geht alles gut, wenn Menschen auf der vorgeschriebenen Schiene bleiben. Dann gibt es das optimale Leben. Aber Menschen sind nicht so. Sie verändern sich, ihre Lebensverhältnisse verändern sich. Menschen leben in und mit Konflikten, es kann eine Zeitlang gut gehen, aber dann innerhalb einer Sekunde hast du den Konflikt. Das sieht Samson nicht, weil er gerne in der Sicherheit des Systems lebt. Er glaubt wie ein Kind, die werden schon für mich sorgen. Das ist so in etwa auch die Haltung mancher Bürger:innen gegenüber der Politik hier und heute. Viele sehen Politik als eine Serviceagentur. Die Politik soll die Demokratie auf dem Silbertablett servieren, gute Gesetze machen.

Norbert Reichel: So heißen die Gesetze in „Die Optimierer“ ja auch: „Die Guten Gesetze“. Ich will nicht unsachlich werden, aber in der Wirklichkeit gibt es das ja auch, vom „Wachstumsbeschleunigungsgesetz“ bis zum „Gute-KiTa-Gesetz“, ein Sammelsurium von einlullenden Euphemismen.

Theresa Hannig: Demokratie ist Handarbeit, die viele Menschen im Ehrenamt leisten. Wenn alle glauben, Demokratie ist etwas, das mir geliefert werden soll, dann zerbröselt es. Das sehen wir meines Erachtens gerade. Ich war am Wochenende auf einer Veranstaltung des Kreisjugendrings, mit der Kinder, Jugendliche an die Demokratie herangeführt werden sollten, mit kostenlosem Essen und Trinken, mit Spielen, mit Gesprächen mit Mandatsträger:innen. Es war kaum jemand da. Es waren viele engagierte Leute da, es war groß angelegt, aber wenig Publikum. Ich war als Stadträtin dabei, zum „Meet and Greet“, auch andere Stadträt:innen waren da und Stadtjugendrät:innen.

Ich habe mich gefragt, was sollen wir noch machen? Wir legen den Leuten die Demokratie zu Füßen, zeigen ihnen, wie sie partizipieren können, wie sie ihre Meinung sagen können. Alles ist da! Gleichzeitig hatte ich auf TikTok ein Video gepostet, zu einem Thema der Bundespolitik, über das ich mich aufgeregt hatte. Es ging mir darum, dass die aktuelle Migrationspolitik eine Stellvertreterdebatte ist, obwohl wir eigentlich viel wichtigere und drängendere Probleme haben. Und ich bekomme Unmengen von Hasskommentaren. Natürlich eine Menge Bots, aber es sind mit Sicherheit auch echte Menschen darunter. Das Video hatte drei Minuten. Ich habe in der Statistik gesehen, dass die meisten das Video gar nicht zu Ende gesehen hatten, viele hörten nach drei Sekunden auf, schrieben dann aber einen langen Text, in dem sie ihren Hass ausließen. Es war Hass gegen mich als Person, die als Grüne identifizierbar war. Ich bin ein Feindobjekt. Mit ganz vielen Superlativen: der größte, der schlimmste und so weiter. Viel von AfD-Anhänger:innen.

Norbert Reichel: Bist du sicher?

Theresa Hannig: Ja, viele schreiben ja explizit, dass sie jetzt nur noch AfD wählen, weil die Grünen die größte Gefahr für Deutschland seien, … verstörend. Das, was auf TikTok geschieht, ist nur Emotion, nur Hass, nichts Konstruktives, und es wird damit nur noch problematischer, anstrengender, schwieriger. Ja, wo ist da noch einmal der Zusammenhang zu deiner Frage?

Revolution!

Norbert Reichel: Das hast du in „Die Optimierer“ beschrieben: Es ist die Vereinzelung. In dem Buch leben alle im Grunde für sich hin. Am Schluss gibt es eine kleine Widerstandsbewegung, der sich Samson anschließt, weniger aus eigenem Willen, er rutscht da irgendwie rein. In „Parts Per Million“ sieht das anders aus. Da haben wir eine ganz bewusst geschaffene Widerstandsbewegung, die auf Traditionen der Vergangenheit aufbaut. Das Camp, das wir zu Beginn kennenlernen, sieht etwa aus wie die Anti-AKW-Camps der 1970er und 1980er Jahre. Auch die Leute sind etwa genau so angezogen. Die Bewegung in „Parts Per Million“ wächst exponentiell an.

Theresa Hannig: Das Thema haben wir auch in „Die Unvollkommenen“. Mit zum Teil denselben Personen wie in „Die Optimierer“. Da geht es um eine Revolution. Eigentlich geht es immer um Revolution. Ich habe ja Politikwissenschaften studiert, weil ich verstehen wollte, wie die Welt zusammenhängt, warum wählen die Leute was, etwa so wie als Kind mit der Frage, warum gibt es Krieg? Wenn du tief einsteigst, stehst du am Ende dennoch ratlos da, aber mit viel mehr Hintergrundwissen, so viele Pros, so viele Contras, aber du kommst nicht weiter.

Norbert Reichel: In „Die Optimierer“ gibt es die „Liga für Roboterrechte“. Man weiß allerdings nie so richtig, wer Mensch ist und wer Roboter, fast schon wie in „Blade Runner“. Ob die Bewegung erfolgreich sein könnte, bleibt bei „Die Optimierer“ meines Erachtens offen, bei „Parts Per Million“ scheint es ja einen Weg zu geben, allerdings mit exzessiver Gewaltbereitschaft. Es gibt natürlich auch die These, dass 3,5 Prozent reichen, um eine Revolutionsbewegung auf den Weg zu bringen. Kohei Saito hat das in seinem Buch „Systemsturz“ beispielsweise als eine Hoffnung benannt. In dem Buch hat er eine ökologische Interpretation des späten Karl Marx vorgestellt. Aber auch Rechtsextremisten berufen sich auf die 3,5-Prozent-Formel, in den USA gibt es die „Three Percenters“.

Theresa Hannig: Das ist die These von Erica Chenoweth und einem Team der Harvard Universität. Aber es ist auch die Frage, ob die 3,5 Prozent wirklich reichen? In „Pantopia“ bezieht sich Einbug, die Künstliche Intelligenz, darauf. In „Parts Per Million“ gibt es eine Szene in der die Aktivist:innen darüber diskutieren, ob der Fokus auf die 3,5 stimmt oder ob es nicht doch parallel Bewegungen geben muss, die gewalttätig sind, damit der Druck auf die Politik erhöht wird und die Verhandlungsbereitschaft gegenüber den friedlichen Bewegungen steigt.

Norbert Reichel: Erica Chenoweths Team verweist darauf, dass friedliche Bewegungen erfolgreiche seien als gewalttätige. Ein Beispiel, bei dem das funktionierte, war die friedliche Revolution in der DDR. Die entsprach im Detail der Analyse Lenins (in: „Der linke Radikalismus – Die Kinderkrankheit des Kommunismus“): Revolutionen sind erfolgreich, wenn die oben nicht mehr können, die unten nicht mehr wollen und die unten bereit sind, dafür zu sterben. Genau das erlebten wir 1989, vor allem am 9. Oktober 1989, als die SED auf die Demonstrant:innen nicht schießen ließ, obwohl das chinesische Vorbild vom 4. Juni eigentlich nahelag. Das war der eigentliche Wendepunkt, der zeigte, dass die oben wirklich nicht mehr konnten. Der Gedanke ließe sich fortführen, warum gewalttätige Revolutionen letztlich scheitern, weil sie die Gewaltspirale immer weiter anheizten und letztlich in autoritären oder totalitären Diktaturen landeten, von der Sowjetunion bis China, von mancher Befreiungsbewegung in der sogenannten „Dritten Welt“ von Zimbabwe bis hin zu Nicaragua.

Theresa Hannig: Und die mittleren sagen nichts? 

Norbert Reichel: Nicht unbedingt. Die friedliche Revolution wurde in der Tat von einer etwa drei bis vier Prozent der Bevölkerung erfassenden Gruppe von Aktiven bewirkt. Aber nach dem Mauerfall sah es schon wieder anders aus. Am 19. Dezember 1990 funktionierten große Demonstrationen der – wenn man so will – „Mitte“ der Bevölkerung die ursprünglichen Parolen um und verlangten deutsche Einheit, D-Mark, Wirtschaftswunder. Es gab ein Plakat auf dem stand „Helmut, nimm uns an die Hand, und führe uns ins Wirtschaftswunderland“.

Theresa Hannig: Revolution ist ein schwieriges Thema. Es war schwierig, das Buch zu schreiben. Es hat mich einerseits gepackt, andererseits aber auch abgestoßen. Die gesamte Recherche zur Klimakrise ist so deprimierend. Du kannst eigentlich nur noch jeden Tag heulen. Und wenn du mit Menschen redest, die nicht so tief im Thema stecken, dann hörst du: Ach, übertreib nicht, es ist schlimm, aber so schlimm wird es schon nicht werden. Die Leute, die sich noch intensiver als ich damit beschäftigen, sind oft ausgehöhlt, depressiv, richtig krank, klimadepressiv, verzweifelt, oder sie ergeben sich doch der Verdrängung.

Entweder du beschäftigst dich damit oder du lässt es irgendwann, liest keine Zeitungen mehr, schaltest die Nachrichten ab. Der Weg ist vorgezeichnet. Es wird immer schlimmer.

Norbert Reichel: Ist das eine politische Analyse oder eine apolitische Einstellung?

Theresa Hannig: Das ist eine menschliche Einstellung.

Norbert Reichel: Ich bin mir da nicht so sicher.

Theresa Hannig: Wenn mit Politik das organisierte Leben von Gemeinschaften gemeint ist, dann ist es auf jeden Fall politisch. Um die Klimakrise zu versinnbildlichen wird oft von dem Haus gesprochen, das bereits lichterloh brennt; die Klimaaktivisten sind diejenigen, die Alarm schlagen und dafür als Störenfriede bezeichnet und mundtot gemacht werden. In „Parts Per Million“ fangen sie an, Fenster und Türen einzutreten. Aber das Haus brennt weiter, egal was wir tun.

Das Ulrike-Meinhof-Syndrom

Norbert Reichel: Interessant ist in diesem Kontext die Radikalisierung der Hauptperson, der Erzählerin in „Parts Per Million“. Am Anfang dachte ich, da ist eine Erzählerin, die ein Buch schreiben möchte, dazu recherchieren, aber alles aus der Distanz der Beobachterin. Ich hielt das für eine Rahmenhandlung, doch mit der Zeit änderte sich das und sie wurde die Hauptperson. Sie kommt in das Protest-Camp, erfährt, dass sich dort alle mit Kampfnamen tarnen, mehr oder weniger im Untergrund leben. Langsam aber sicher wird sie zur Aktivistin, schließlich zu einer der Hauptaktivist:innen, die alles aufgibt, was ihr vorher wichtig war. Die Ehe scheitert, die Beziehung zu ihrer Tochter löst sich immer weiter auf. Mich hat der Weg ein wenig an Ulrike Meinhof erinnert.

Theresa Hannig: Ich weiß. Die Parallele wird kommen. In einer Szene wird auch der Begriff „Grüne RAF“ verwendet. Das ist für das Story-Telling sinnfällig. Ich hatte ursprünglich gedacht, jüngere Protagonist:innen in den Mittelpunkt zu stellen, dachte dann aber, dass ich, die ich jetzt Anfang 40 bin, doch aus einer anderen Generation komme und nicht wahrhaftig schreiben kann, wenn die Protagonist:innen so jung sind. Ich hätte mich mit den persönlichen Themen der Protagonist:innen beschäftigen müssen und die Klimakrise wäre auf der Strecke geblieben. Und wenn ich sie über die Klimakrise hätte reden lassen, wäre es unrealistisch geworden. Die Erzähltaktik wäre nicht aufgegangen.

Enthält Theresa Hannig, Wo acht Arme grillen.

Bei meinen Recherchen habe ich gleichzeitig Tagebuch geschrieben und dabei festgestellt, was mich bei dem Thema bewegt. Und dann musste ich den Punkt finden, wo es komplett in die Fiktion umklappt. Natürlich ist klar, dass die Autorin, Johanna Stromann, sehr nahe an mir dran ist. Aber das geht nur bis zu einem gewissen Punkt. Es muss irgendwann in Richtung Roman gehen. Denn am Ende wird Johanna wie Ulrike Meinhof zur Terroristin, ich bleibe aber weiter Autorin, die dir ein Interview gibt und morgen wieder im Stadtrat über Gewerbesteuern und Parkplätze diskutiert.

Norbert Reichel: Das schreibst du auch im Nachwort. Ich fand das übrigens interessant, dass du im Nachwort dich so deutlich von der Gewalt der Gruppe und der Protagonistin distanziert hast. Ich darf zitieren: „Ich bin Demokratin. Ich bin Stadträtin, und ich weiß, wie langsam und zäh die Mühlen des politischen Alltags mahlen. Es ist so frustrierend. Aber es ist meiner Meinung nach der einzige Weg, der uns sicher in die Zukunft führt. Wenn wir versuchen, die demokratischen Prozesse durch Gewalt zu umgehen, landen wir am Ende in einem autoritären System.“ Klare Worte und auch eine Warnung vor einer Öko-Diktatur. Ich hatte schon ein wenig den Eindruck, du müsstest vorbeugen, dass nicht jemand denkt, o – die Johanna Stromann, das ist die Theresa Hannig, da müssen wir aufpassen, dass die morgen nicht loszieht und Menschen, die sie für den Klimawandel verantwortlich macht, verprügelt oder noch Schlimmeres tut.

Theresa Hannig: Ich habe ein paar Beta-Leser:innen, die das Manuskript vor der Veröffentlichung lesen. Und da sagten einige, sie sähen mich in der Hauptperson. Ich sagte, es müsste doch eigentlich klar sein, dass es immer einen Unterschied zwischen der Figur eines Romans, Erzähler-Ich und der Autorin geben muss! Es ist natürlich gut, dass das Buch so geschrieben ist, dass es den Leser:innen so nahe geht, aber es ist nicht gut, wenn ich als Autorin immer mit dieser Person identifiziert werde. Ich will ja auch noch über andere Themen schreiben.

Das Thema war mir wichtig, ich wollte das Buch so veröffentlichen wie es ist, ich wollte, dass die Leute aufgerüttelt sind, aber es durfte nicht der Eindruck entstehen, als befürworte ich das Vorgehen der Hauptpersonen des Romans. Ich wünsche mir, dass Politiker:innen das Buch lesen und sagen, ja, wir müssen jetzt dringend etwas gegen den Klimawandel tun. Fünf vor zwölf – ein abgelutschtes Wort. Aber wenn wir jetzt nicht handeln, haben wir nicht nur die Klimakrise, sondern auch noch den Klimaterrorismus – eine exponentielle Verschlimmerung des Problems. Ich habe naiv, idealistisch – you name it – die Hoffnung, dass mein Buch etwas bewirkt.

Norbert Reichel: Du hast mit „Parts Per Million“ den ersten Roman über die „Letzte Generation“ geschrieben. Die Gruppe, der Johanna zu Beginn begegnet, hatte sich zwar nicht angeklebt, sie werden alle von der Straße getragen, sitzen dann wie ein Häufchen Elend am Straßenrand. Das Motiv des Anklebens kommt dann etwas später. Die Reaktionen der erbosten Autofahrer entsprechen durchaus den Übergriffen, die wir in den Medien gegenüber den Aktivist:innen der Letzten Generation erlebt haben. Sehr aggressiv, klare Selbstjustiz, während die Aktivist:innen eher unberührt von diesem Hass da saßen. Ich frage mich, ob das Buch Leute tatsächlich aufrütteln wird oder einfach nur zeigt, was alles noch geschehen könnte.

Theresa Hannig: Das eine wäre die sinnvolle Konsequenz des anderen. Wenn ich mir die aktuellen Entwicklungen ansehe, kann ich das hinnehmen oder ich muss mir sagen, dass ich etwas dagegen tun muss. Das hängt natürlich auch von den Leser:innen ab.

Norbert Reichel: Der erste, der den Begriff von der „Klima-RAF“ benutzte, war Alexander Dobrindt.

Theresa Hannig: Ich lebe in Bayern. Das Vorgehen gegen die Aktivist:innen ist extrem hart. Es ist das Ziel, die „Letzte Generation“ als „kriminelle Vereinigung“ zu brandmarken. Ich unterstütze die „Letzte Generation“ voll und ganz. Sie ist ist friedlich, gewaltfrei. Wer weiß, wie sich das weiterentwickelt, je nachdem wer in der nächsten Bundesregierung sitzt. Ich habe große Angst vor einer schwarz-blauen Bundesregierung. Es gibt eine Menge konservativer Politiker:innen, die sich gegen die AfD und den Rechtsextremismus positionieren. Aber es gibt auch Politiker, die mit dem Feuer spielen, indem sie Formulierungen von der AfD übernehmen und die Grünen zum Hauptgegner erklären wie zum Beispiel Markus Söder.

Antikapitalistische Literatur und die Social Media

Norbert Reichel: Du bist ein sehr politischer Mensch. Du schreibst politische Romane. Würdest du deine Literatur auch als antikapitalistische Literatur bezeichnen? Und wenn ja, was verstehst du unter „antikapitalistisch“?

Theresa Hannig: Der Kapitalismus hat uns in Europa, im globalen Norden, in den letzten 150 Jahren einen enormen Aufstieg, Wohlstand und Fortschritt ermöglicht. Vergleichbar mit dem Verbrennungsmotor, der viel Nutzen gebracht hat. Jetzt sind wir aber über den kritischen Punkt hinaus und brauchen etwas anderes. Wir müssen etwas Neues finden, weil uns ein Weiter-So kaputtmacht.

Norbert Reichel: Was könnte das sein?

Theresa Hannig: „Pantopia“. Eine gemeinwohlorientierte Kreislaufwirtschaft. Es würde schon viel bringen, wenn wir extremen Reichtum besteuern, viel höhere CO2-Preise verlangen würden. In „Pantopia“ habe ich das alles sehr genau ausgeführt.

Aber es gibt auch andere Systeme. Ich habe gerade „Always Coming Home“ von Ursula K. Le Guin gelesen. Da geht es um eine zukünftige Gesellschaft, die im Einklang mit der Natur lebt. Das wird so zwar nicht passieren, aber es ist ein sehr interessantes und hoffnungsvolles Gedankenspiel. Eigentlich wäre es relativ einfach. Wir müssten einfach dieses kapitalistische Gewinn-über-alles-System verlassen.

Im Kindergarten bringst du den Kindern bei, freundlich, rücksichtsvoll, solidarisch zu sein. Das ist ganz normal. Das habe ich so mit meinen Kindern erlebt, auch in der Schule. Doch dann gehst du in die Arbeitswelt und es ist ganz normal, egoistisch, unsolidarisch, raffgierig zu sein, andere zu übervorteilen und so weiter und so weiter. Auch innerhalb der Familie ist das so. Man hält zusammen. Aber außerhalb der Familie ist es wieder anders. Warum handeln wir nicht so, wie es eigentlich jeder „vernünftige“ Mensch tun würde? Es müsste doch eigentlich jedem klar sein, dass es nicht sinnvoll ist, Multimilliardären die Steuern zu erlassen, wenn viele Menschen nicht genug zu essen haben. Das ist einfach unvernünftig. Warum sollen wir das als Gesellschaft zulassen?

Ein zweiter Punkt: Über die sozialen Medien werden massenweise Falschinformationen, Lügen und Hass verbreitet. Ich erlebe das jetzt auf TikTok. Die Politiker:innen, mit denen ich spreche, unterschätzen das vollkommen. Niemand von denen hat einen TikTok-Kanal. Dann sagen sie, das ist doch nur eines von vielen Social Media. Nein, das ist mit Abstand das wichtigste Informationsmedium für junge Menschen zwischen 10 und 25 Jahren, die dort jeden Tag mehrere Stunden unterwegs sind. In den letzten Jahren war in Deutschland hauptsächlich die AfD auf TikTok unterwegs. Sie beherrscht TikTok und da muss man sich über die Wahlergebnisse in Sachsen und Thüringen nicht wundern. Das ist ein Versagen der demokratischen Parteien. Es gibt offenbar keine nachhaltige Social-Media-Strategie, nichts. Ich bin in meinem Umfeld die Einzige, die auf TikTok postet.

Eigentlich gibt es doch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken. Aber wer setzt das um? Wer macht Faktenchecks, wer sperrt? Es wird einfach zugelassen, dass eine destruktive, anti-demokratische Medienlandschaft auf die Menschen einwirkt. Und wenn man sich anschaut, in welchem Maße autoritäre Staaten wie Russland gezielt Einfluss auf Social Media nehmen, um Deutschland zu destabilisieren, dann sieht man, wie groß die Gefahr ist.

Norbert Reichel: Ich darf zu diesem Thema einen Kommentar von Livia Gerster in der FAZ zitieren, der just an dem Tag erschien, an dem wir gerade miteinander sprechen: „Bändigt den Algorithmus“. Ich zitiere: „Zwischen Tanz- und Schminkvideos taucht plötzlich Alice Weidel auf und erzählt von vergewaltigenden Flüchtlingshorden. Zwischen Fitness- und Finanztipps erscheint ungefragt Maximilian Krah und erklärt, warum echte Männer rechts sind. Die AfD ist besonders präsent auf Tiktok. Und sie ist besonders beliebt bei jungen Menschen, wie die Landtags- und Europawahlen zeigten. / Viel wurde gerätselt, was die AfD auf Tiktok besser macht als die übrigen Parteien. Dabei ist ihr Erfolg leicht erklärbar. Der Algorithmus sozialer Medien funktioniert nach dem gleichen Muster wie Populismus: Alles, was Wut und Angst erzeugt, verfängt. Süß und lustig ist auch gut, aber lange nicht so erfolgversprechend wie die Apokalypse. Babykatzen? Niedlich, weiter. Blackout-Challenge? Krass, weiter. Dritter Weltkrieg? Hilfe! Da bleibt man hängen, vielleicht nur ein paar Sekunden länger. Der Algorithmus merkt sich das. Er spielt einem immer mehr Untergangsszenarien in die Timeline. Und schließlich auch die angebliche Lösung: die AfD.“ Alles ganz beiläufig, man muss gar nicht gezielt nach der AfD suchen. Die kommt ganz von allein.

Aber was ließe sich tun?

Theresa Hannig: Content-Filter. Bei Facebook machen das zurzeit schlecht verdienende Menschen zum Beispiel aus Indien. Das ist schon ein weiteres Problem. Du könntest das auch über KI-Filter regeln. Das würde einen großen Teil erreichen, den Rest müsste man händisch machen.

Norbert Reichel: Und wer programmiert die KI?

Theresa Hannig: Ach, es ist technisch überhaupt kein Problem, das zu erstellen. Ich habe zu dem Thema eine kurze taz Kolumne geschrieben. Wie man in 100 Jahren mit Fake news umgeht.

Norbert Reichel: Livia Gerster schlägt vor, dass man nur noch Posts angezeigt bekommt, die man abonniert hat. Aber ob die Werbeindustrie das mitmacht, ist auch eine schwierige Frage. Das ist noch um einiges härter als die Debatte um das Werbeverbot für Zucker.

Theresa Hannig: Meines Erachtens fehlt der politische Wille. Auch Strafzahlungen sind viel zu niedrig. Vielleicht ein paar Millionen EUR! Das zahlen die aus der Portokasse und lachen sich ins Fäustchen. Aber wie gesagt: das Bewusstsein in der Politik ist einfach nicht da. Wir haben immerhin den EU-AI-Act. Gehst du eine Ebene tiefer, Bundestagsabgeordnete, verstehen die das nicht, haben keine Zeit dazu. Sie sehen einfach nicht den Langzeit-Aspekt, stattdessen reden sie über Grenzkontrollen.

Norbert Reichel: Radikalisierung funktioniert nicht über die Grenzen, sondern über Social Media. Die potenziellen Täter:innen sitzen schon längst in Deutschland und oft sind sie auch Deutsche.

Theresa Hannig: Das geht in alle Richtungen, Islamismus, Rechtsradikalismus, Antisemitismus, Antifeminismus, Queerfeindlichkeit, Rassismus gleichermaßen. Das findest du auf TikTok alles.

Norbert Reichel: Und wer sich langweilt, konsumiert eben alles, was der Algorithmus vorsetzt.

Theresa Hannig: Langeweile? Das verharmlost meines Erachtens das Problem. Du hast eben von Vereinzelung, von Einsamkeit gesprochen. In einem anderen Zusammenhang. Aber da liegt das Problem. Menschen verlieren ihre realweltlichen Netzwerke. Es gibt wenig Räume, in denen Menschen sich treffen, sich begegnen.

Ich lebe in Fürstenfeldbruck. In der Innenstadt gibt es keine richtige Einkaufsmeile, keine Fußgängerzone, kaum Geschäfte für junge Leute. Warum sollte ich dahin gehen? Es gibt keine Verweilmöglichkeiten, keine schönen Treffpunkte, an denen ich nichts konsumieren muss, aber es führt eine Bundesstraße mitten durch den Ort. Es gibt viele Vereine, aber ich höre von Jugendlichen, wo soll ich hin, da bin ich eben online.

Norbert Reichel: Ich denke, es gibt Orte, da ist es noch schlimmer.

Theresa Hannig: Exakt. Wenn du nichts hast, dann hast du immer noch dieses zauberhafte Handy, das dir die ganze Welt ins Gesicht strahlt. Fahr mit der Bahn, geh ins Restaurant und die Leute schauen ins Handy. Auch ohne Hate wäre Social Media ein gefährliches Medium. Wir haben nicht gelernt, damit umzugehen.

Norbert Reichel: Ich erinnere ich an die Werbung einer Telefongesellschaft, die zehn Menschen am Tresen einer schönen Bar zeigte. Alle schauten in ihr Handy und in der Werbung wurde Kommunikation versprochen. Niemand redete mit seinen Nachbar:innen. Das war keine Satire, ganz ernst gemeint.

Theresa Hannig: Eigentlich ist es großartig, was Social Media bietet. Aber du brauchst erst einmal eine richtige Social-Media-Kompetenz. Du musst wissen, was du da in der Hand hast. Du musst dir über dich selbst klar werden, was bin ich für ein Mensch, was brauche ich.

Wo ist der Fortschritt? Welcher Fortschritt?

Der Band enthält unter anderem Theresa Hannig, Hand, Herz und Hose.

Norbert Reichel: Du hast das sehr schön in deiner Erzählung „Hand, Herz und Hose“ karikiert: „Menschen fanden heutzutage vor allem in drei Bereichen Arbeit: Hand, Herz und Hose. Früher hätte es noch einen vierten Arbeitsbereich gegeben: das Hirn. Doch die meisten Aufgaben, die Wissen oder Intelligenz erforderte, waren von Software übernommen worden.“ Das geht dann so weit, dass die Beschädigung einer Maschine ein „Kapitalverbrechen“ ist: „Deteratur war schlimmer als Mord und wurde mit persönlichem Biocycling geahndet.“

Vielleicht sollten wir auch darüber nachdenken, warum die Utopie in „Pantopia“ von „Einbug“ ausgeht, einer Künstlichen Intelligenz. Eigentlich doch ein sehr skeptisches Menschenbild. In „Die Optimierer“ geht der Widerstand von der „Liga für Roboterrechte“ aus.

Theresa Hannig: Die sind alle guten Willens, aber wie heißt es: Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.

Norbert Reichel: Du bist nicht so optimistisch für die Zukunft?

Theresa Hannig: Ich schwanke. Ich sage es mal so: Es gibt ein paar harte Wände, gegen die wir fahren könnten. Wenn wir die nicht mitnehmen, schaut es ganz gut aus. Es gibt den Gapminder von Hans Rosling, in dem man sehen kann, was in den letzten 100 Jahren alles erreicht wurde. Literacy, Impfquoten, Demokratisierung – man könnte denken, alles nicht so schlimm.

Wenn ich in Schulen über „Die Optimierer“ spreche, geht es auch um die Frage, ob wir in einer Dystopie leben. Ich stelle dann immer die Frage, wann es in der Vergangenheit für welche Bevölkerungsschicht besser war. Es gibt nicht viele Antworten. Ich möchte nicht als homosexuelle Person in der Zeit vor den 1990er Jahren gelebt haben, nicht als Frau in einer Zeit vor den 1970er Jahren, in der ich kein Konto eröffnen durfte, mir der Arbeitsplatz durch den Ehemann ohne mich zu fragen gekündigt werden durfte, nicht als Schwarzer Mensch in den USA der 1960er Jahre und davor.

Vergleiche ich die Gegenwart mit einem Idealzustand, könnte man depressiv werden. Vergleicht man sie mit der Vergangenheit, sieht das schon viel besser aus. Aber wir haben auch die Nebenwirkungen: Artensterben, Mikroplastik, Klimakrise. Wir haben viele Fortschritte auf Kosten der Umwelt erzielt. Deshalb bin ich so gespalten. Es gibt so viele Zerstörungen, die schon irreversibel sind. Dann kann es sein, dass wir irgendwann so gegen die Wand fahren, dass es nicht mehr weiter geht. Davor habe ich schon Angst.

Norbert Reichel: Es könnte diktatorische Lösungen geben. Während in Frankreich Macrons Rentenreform zu riesigen Demonstrationen und Regierungskrisen führte, hat China das gerade mal so ohne große Widerstände einfach umgesetzt. Das könnte ich mir auch in Fragen des Umwelt- und Klimaschutzes vorstellen. In „Die Optimierer“ ist es ja auch so. Fleischkonsum wird zum Beispiel hart bestraft. Es gibt zwar einen Fleisch-Schwarzmarkt, an dem sich auch Samsons Eltern beteiligen, aber sie werden zu Parias und ihm werden als Kontaktperson weitere Sozialpunkte abgezogen. Sippenhaft.

Theresa Hannig: Demokratie bewährt sich dann als gutes System, wenn diejenigen, die die Demokratie tragen gut informierte und vernünftige Bürger:innen sind. Wenn sie das nicht sind, sind alternative Systeme plötzlich attraktiv. Aber auf lange Sicht sind sie nicht effektiv, weil sich Menschen auf Dauer nicht an Gesetze halten werden, an deren Entstehung sie nicht beteiligt waren. Frei nach dem Prinzip: No taxation without legislation.

Auch wenn es snobistisch klingen mag, es ist auch ein Bildungsproblem, weil man eigentlich wissen müsste, wohin Rechtsextremismus, Faschismus führen und wie gefährlich und zersetzend der Weg der AfD für die Demokratie ist.

Norbert Reichel: Kann Literatur das Leben ändern?

Theresa Hannig: Ich möchte eine Welt, in der das passiert.

Kann Literatur das Leben ändern?

Norbert Reichel: Wie reagieren deine Leser:innen oder die Menschen, die du auf Lesungen triffst?

Theresa Hannig: „Pantopia“ war eine ganz große Freude für mich und für die Leser:innen. Zu „Die Optimierer“ gab es den ein oder anderen Brief. Aber zu „Pantopia“ kamen Leute und bedankten sich für das Buch, weil es ihnen so viel Freude und so viel Hoffnung gemacht hat. Das ist das größte Kompliment. Das berührt mich sehr. Da teilen wir einen Traum. Das ist so schön. Da kommen Leute und schütten mir ihr Herz aus.

Norbert Reichel: Wäre denkbar, dass du dieses schöne Gefühl mit „Parts Per Million“ wieder zerstörst? Weil manche das erst einmal als Aufruf zur Gewalt lesen könnten?

Theresa Hannig: Ja, das schöne Gefühl ist damit erst mal dahin. Aber „Pantopia“ ist schon zweieinhalb Jahre alt. Und schau dir die Welt an! Wir brauchen viele Geschichten, Tausende von Geschichten, alle müssen daran mitarbeiten, die Zukunft besser zu machen. Es gibt so viele engagierte Menschen. Das macht mir auch Mut, wenn ich an der Welt verzweifele. Dann beschäftige ich mich mit ehrenamtlichen Projekten und erlebe eine Menge Leute, die alle darauf hinarbeiten, dass es besser wird. So kann es dann gehen.

Norbert Reichel: Und der nächste Roman?

Theresa Hannig: Da geht es – wie gesagt – um Kommunalpolitik und Steuern, um die ganz konkrete Ebene der Demokratie in einer Kommune. Ich bin ja in der Kommunalpolitik und weiß, was man vor der Haustür vorfindet. Als Roman ist das schöner als das Protokoll einer Sitzung.

Norbert Reichel: Kleiner Tipp: Meine Interviews mit Marina Weisband, Sandro Witt und Jürgen Wiebicke über ihre Bücher und Projekte. Alle drei sagen, wir brauchen Orte, an denen sich Menschen begegnen, miteinander ins Gespräch kommen, gemeinsam versuchen, ein Problem zu lösen. So entstehen Selbstwirksamkeitserfahrungen. Steffen Mau hat in seinem jüngsten Buch („Ungleich vereint“, Berlin, Suhrkamp, 2024) vorgeschlagen, die Tradition der Runden Tische aus den frühen 1990er Jahren wieder aufzunehmen. Die wurden mit der deutschen Einheit eingestellt, auch ein Grund dafür, warum es in vielen Regionen Ostdeutschlands keine Selbstwirksamkeitserfahrungen mehr gab.

Theresa Hannig: Finde ich eine sehr gute Idee! Aber offenbar mögen das nicht alle: Es gab doch den Bürgerrat zur gesunden Ernährung. Da kamen dann Leute wie Philipp Amthor, die meinten, sie ließen sich als legitimierte Abgeordnete doch nicht von unlegitimierten Menschen sagen, was sie tun sollten. Mit einem Satz machte er alles kaputt, was die beteiligten Menschen in langen Arbeitsprozessen entwickelt hatten. 

Norbert Reichel: In Irland hat das hervorragend funktioniert. Es ging dort um die Ehe für alle und Schwangerschaftsabbrüche. In einem erzkatholischen Land wurden die bestehenden Regelungen erheblich liberalisiert. Klar gibt es Widerstände: Nicht nur von Seiten gewählter Abgeordneter, auch von etablierten Nicht-Regierungsorganisationen, die für sich den Anspruch haben, die nicht organisierten Menschen zu vertreten. Der Vorteil von Bürgerräten oder wie auch immer man sie nennen möchte liegt einfach darin, dass Menschen mit völlig unterschiedlichen Ansichten, Einstellungen und Vorerfahrungen sich miteinander verständigen müssen. Man muss die anderen eben auch wenn es erst einmal nicht passt, einfach einmal aushalten. Das täte auch manchen Abgeordneten und Ministerialrät:innen ganz gut. In „Pantopia“ sagt Henry: „Im Gegensatz zu allen anderen politischen Systemen nutzt Pantopia den Netzwerkeffekt: Je mehr Leute mitmachen, desto attraktiver wird es für jeden Einzelnen. Und vom ersten Augenblick an ist es für die Menschen nachteiliger, zu bescheißen als zu kooperieren.“

Theresa Hannig: Ich bin ein großer Fan solcher Verfahren. Bei den althergebrachten demokratischen Auswahlprozessen, werden am Ende immer die üblichen Verdächtigen gewählt, weil bestimmte Bevölkerungsgruppen – Alleinerziehende, Geringverdienende, Schichtarbeiter, Menschen mit Migrationshintergrund – es sich oft gar nicht leisten können zu partizipieren. Die, die eigentlich gehört werden müssten, werden nicht gehört. Wenn man selbst in einer Gruppe ist, die etwas entscheiden kann, sollte man sich immer fragen: Wer fehlt? Wen hören wir nicht? Wen vergessen wir? Das schafft Offenheit..

Norbert Reichel: Gute Ideen brauchen so etwas wie ein soziales „Crowd-Funding“. Davon lesen wir auch in „Pantopia“. Angelika, die Gegenspielerin von Henry und Patricia, versucht alles, um zu verhindern, dass sich „Pantopia“ verbreitet, versucht, die beiden verhaften und vor Gericht stellen zu lassen. Das gelingt ihr nicht, weil auch innerhalb von Verwaltung und Polizei „Pantopia“ immer mehr Anhänger:innen gewinnt.

Theresa Hannig: Angelika glaubt nicht an den Erfolg von „Pantopia“ und handelt nach dem Muster ihres Amtes. Wenn sie recht hätte – und in der Realität hat sie ja recht –, dann wäre ihr Verhalten gerechtfertigt. Es geht mir darum, dass man anfängt, Ideen ernst zu nehmen. Das sagt Patricia in einem Interview: „Und es geht uns darum, eine neue Weltordnung zu schaffen. Aber dafür müssen wir die Welt nicht zerstören. Es reicht, wenn wir uns alle unserer eigenen Macht bewusst werden.“

Norbert Reichel: Insofern sind in jeder Hinsicht „Pantopia“ und „Parts Per Million“ vielleicht zwei Seiten einer Medaille? Es gibt eine Zukunftsvision und es gibt zwei unterschiedliche Wege, diese Vision zu verwirklichen, einen friedlichen und einen gewalttätigen.

Theresa Hannig: Ich bin auf die Rezeption von „Parts Per Million“ gespannt. Es kann sein, dass es mir so ausgelegt wird, als wollte ich jemanden zu Gewalt anstiften. Daher auch das Nachwort. Damit muss ich mich auseinandersetzen. Aber wer nach der Lektüre von „Parts Per Million“ wirklich wissen will, wie ich mir eine bessere Welt vorstelle und wie wir dahinkommen, der kann einfach nochmal „Pantopia“ lesen.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2024, Internetzugriffe zuletzt am 19. September 2024, Das Titelbild zeigt Aktivist:innen der Letzten Generation in Berlin nach Räumung am Straßenrand, Foto Stefan Müller, Wikimedia Commons.)