Die Integrationshierarchie

Die Romane Dilek Güngörs

Je mobiler die Menschen sind, je mehr wir Mobilität als Wert vermitteln, umso wahrscheinlicher ist es, dass immer mehr Menschen eine internationale Familiengeschichte haben. In einer solchen „bunten“ Gesellschaft wird es immer mehr binationale Partnerschaften und Ehen geben und in vielen Familien wird in der Regel mehr als eine Sprache gesprochen werden.

Doch Mobilität ist nicht Mobilität. Als „Migration“ erhält „Mobilität“ eine etwas despektierlich klingende und oft auch so gemeinte Nebenbedeutung. Neben der auf Dauer angelegten Zuwanderung gibt es temporäre Zuwanderung. Temporär reisen beispielsweise Geschäftsreisende und Tourist*innen in andere Länder. Ihr Interesse bezieht sich ausschließlich auf Geschäft oder Vergnügen. Als „Migrant*innen“ nehmen sich diese Menschen nicht wahr. Eine besondere Spezies unter diesen Menschen sind vielleicht die „Expats“, Menschen, die sich in der Regel aus beruflichen Gründen immer nur für einen begrenzten Zeitraum in den Ländern aufhalten, in die sie reisten, und die ihr Herkunftsland nicht mehr als Herkunftsland begreifen.

Andere „Migrant*innen“ leben schon lange in dem Land, in das sie selbst, ihre Eltern oder ihre Großeltern eingewandert sind, aus welchen Gründen auch immer. Manche kamen auf der Suche nach einem Arbeitsplatz, manche wurden sogar ausdrücklich aufgefordert zu kommen, geradezu angeworben, andere folgten ihren Partner*innen, wiederum andere kamen aus Not, weil Armut oder Krieg in ihrem Herkunftsland ein menschenwürdiges Leben nicht mehr zuließen.

Diese „Migrant*innen“ wird von den Behörden ein „Migrationshintergrund“, manchmal auch etwas euphemistisch formuliert eine „Zuwanderungsgeschichte“ bescheinigt. Verlangt wird möglichst unverzüglich Integration, besser noch Assimilation. Werdet so wie wir, passt euch an, ihr habt eine „Bringschuld“. Und so schallt es aus den Medien heraus: „Es läuft ein Beitrag über Balkonpflanzen und zu welcher Tageszeit man sie am besten gießt. Aber gleich kommen die Nachrichten, und dann wird wieder die Integration für gescheitert erklärt, wie bereits in den 17 Uhr Nachrichten und in der Woche davor und eigentlich schon von Anfang an.“ Von einer „Holschuld“ der Aufnahmegesellschaft ist eher selten die Rede.

Die „Deutsch-Türkin“ – gibt es die überhaupt?

Foto Dilek Güngör: (c) Ingrid Hertfelder

Die eben zitierten Sätze schrieb Dilek Güngör in ihrem zweiten Roman „Ich bin Özlem“ (Verbrecher Verlag, Berlin, 2019). Die Autorin wurde in Schwäbisch Gmünd als Tochter türkischer Einwanderer geboren. Heute lebt sie in Berlin-Mitte, ist verheiratet und hat zwei Kinder, die – wie frau oder man so sagt – dann zur dritten Generation türkischer Einwanderung gehören und nach den Regeln der jeweiligen Bundes- und Landesstatistiken als „Menschen mit Migrationshintergrund“ gezählt werden.

Ob ein „Migrationshintergrund“ etwas ist, das jemanden auszeichnet, hindert, diskriminiert, stigmatisiert oder aber auch – was seltener der Fall ist – vielleicht völlig gleichgültig ist, mag von der jeweiligen Situation abhängen, in der diese Wörter verwendet werden. Und es gibt für Dilek Güngör nicht nur den türkischen Hintergrund, sondern auch den schwäbischen, den ein sich zumindest selbst für bedeutend haltender Politiker mit Wohnsitz am Kollwitzplatz (Prenzlauer Berg) einmal zum Anlass nahm, sich über den Bevölkerungsaustausch in seinem Kiez zu beschweren. Schwaben in Berlin? Ihn nervte das und die Feuilletons amüsierten sich. Im Grunde nicht mehr und nicht weniger als eine Fortschreibung des Berliner Witzes, dass die meisten Berliner*innen Schlesier*innen wären.

Dilek Güngör befasste sich zunächst in Kolumnen intensiv mit dem, was die Zuschreibungen eines sogenannten „Migrationshintergrundes“ so mit einem Menschen machen. Sie hat seit 1998 eine Kolumne in der Berliner Zeitung, später auch in der Stuttgarter Zeitung veröffentlicht. Diese sind unter den Buch-Titeln „Unter uns“ (2004, edition ebersbach, München) sowie „Ganz schön deutsch“ (Originalausgabe 2007 bei Piper, München) erschienen. Beide Bücher tragen denselben Untertitel: „Meine türkische Familie und ich“. Auf dem Titelblatt von „Unter uns“ befindet sich das Lob eines anderen Einwanderers. Wladimir Kaminer schreibt: „Diese Familie ist spannender als Fußball!“

Dilek Güngör hat darüber hinaus zwei Romane veröffentlicht, die nachdenklich machen. „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“ ist 2007 bei Piper erschienen, „Ich bin Özlem“ 2019 im Berliner Verbrecher Verlag. Im Grunde geht es in ihrem Werk, den Romanen und den journalistischen Arbeiten, um die Hierarchien der Ein- und Zuwanderung, die sich über die Generationen vererben. „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“ könnte man auch als Kriminalroman bezeichnen. „Ich bin Özlem“ spielt auf beiden Seiten der Grenze zwischen Auto-Biographischem und Fiktivem.

Die Hauptperson ist – auch das ein Beispiel der Hilflosigkeit unserer Sprache – „Deutsch-Türkin“. Sie hätte allerdings auch manch andere Bindestrich-Identität haben können, aber da die Autorin selbst eine deutsche und eine türkische Geschichte hat, eben diese. In den in den Romanen und Kolumnen beschriebenen Personen verdichten sich viele Geschichten, wie sie Menschen mit internationaler Familiengeschichte allenthalben erleben oder erlebt haben könnten.

Cross-Over-Küche – Cross-Over-Identitäten

Der Titel „Ich bin Özlem“ ist ein Statement, ein Bekenntnis zu sich selbst und gleichzeitig ein Cross-Over dessen, was die Ich-Erzählerin von sich selbst zu wissen glaubt und dessen, was andere ihr zuschreiben. Dabei stellt sie sich ständig die Frage, was von dem, das sie erlebt, real ist, was nur in ihrem Kopf geschieht, und was ihr von anderen vorgesagt wird.

Özlems Denken und Handeln dreht sich immer wieder um die Frage, was andere von ihr denken, denken könnten. Sie lebt in einem liberalen gut situierten Umfeld, nicht in dem, was Politiker*innen so gerne „Brennpunkt“ nennen. Die Freund*innen haben alle Abitur, sie selbst jedoch war auf der Realschule und „nur“ auf dem Wirtschaftsgymnasium, verschweigt dies jedoch aus Scham. Sie ist gebildet, obwohl sie selbst nicht glaubt, mit der Bildung ihrer Freund*innen mithalten zu können.

Özlems Biographie ist die Biographie einer erfolgreichen „Aufsteigerin“. Sie hat den in zahlreichen politischen Verlautbarungen der vergangenen zwanzig Jahre immer wieder beschworenen „Aufstieg durch Bildung“ geschafft. So ist der Schluss erlaubt, dass wenn bereits eine erfolgreich „aufgestiegene“ Frau unter den Selbstzweifeln leidet, unter denen „Özlem“ leidet, mag das in den „Brennpunkten“ noch ganz anders aussehen.

„Ich bin Özlem“ beginnt ebenso wie „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“ mit Reflexionen über das Essen und über die mit der Zubereitung verbundenen Gerüche. Und in der Tat sind Essen und Trinken für jede „Kultur“ – was auch immer man unter dem Begriff verstehen mag – von Bedeutung. So wie es von Deutschen heißt, dass sie mehr Rezepte für Kartoffelsalat hätten als Einwohner*innen. Und in angelsächsischen Ländern sind sie die „Krauts“, obwohl die wenigsten Deutschen regelmäßig Sauerkraut und Wirsing verzehren dürften. Deutscher Rock ist „Kraut-Rock“.

Schaut man genauer hin, sind eine Menge der Zutaten, die frau oder man für ihre Mahlzeiten brauchen, selbst „Migrant*innen“. Kartoffeln und Tomaten kommen nicht aus Deutschland, nicht einmal aus Europa. Ein besonders augenfälliges Beispiel für die Weltreisen der diversen Gemüse, Früchte und Gewürze ist das philippinische Volkslied „Babay Kubo“. Das Lied nennt 18 verschiedene Früchte und Gemüse. Der Wissenschaftsjournalist Charles C. Mann: „Die Botaniker in Manila, die mir von diesem Lied erzählten, lachten, als sie den Text aufschrieben. Jede einzelne dieser altehrwürdigen traditionellen Gartenpflanzen, sagten sie, sei in Wirklichkeit eine importierte Art, die ursprünglich in Afrika, Amerika oder Ostasien zu Hause sei. Wie mein eigenes Tomatenbeet ist der in Babay Kubo besungene Garten ein modernes exotisches Objekt. Weit davon entfernt ein Ergebnis uralter Sitten und Gebräuche zu sein, stellt er ein polyglottes, kosmopolitisches, durch und durch zeitgenössisches Artefakt dar.“ (Charles C. Mann: Kolumbus‘ Erbe – Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 2013). Und wie schaut es in den Regalen und Theken unserer Supermärkte aus?

Die Deutschen kochen – wenn sie überhaupt noch kochen – und essen heute cross over, auch dann, wenn sie das, was sie essen für typisch italienisch, griechisch, türkisch oder chinesisch halten. Und sie verändern die eingewanderten Gerichte. Ihre Nachfrage führte dazu, dass Restaurants mit den Angeboten einer Küche aus anderen Ländern sich dem deutschen Geschmack angepasst, sich assimiliert haben. Denn weil die Deutschen gerne dicke Soßen mögen, erhalten die Spaghetti Carbonara eine Sahnesoße und die chinesischen Gerichte etwas cremig Süßsäuerliches, in dem Fleisch- und Gemüsestückchen schwimmen oder pappen dürfen.

Es geht auch in die andere Richtung. Niemand weiß heute noch, wer als erster auf die Idee kam, Fleischscheiben und Salate zwischen zwei Brotscheiben zu packen und das Ergebnis „Döner“ zu nennen. In der Türkei gibt es ein solches Produkt nicht, aber in China. Dort heißt es „Deutscher Döner“. (nachzulesen in: Maren Möhring: Fremdes Essen – Die Geschichte der ausländischen Gastronomie in der Bundesrepublik Deutschland, München, Oldenbourg Verlag, 2012). Als Dilek Güngör einer Einladung der Berliner Initiative „Wir machen das. Jetzt“ folgte, war ihr Beitrag ein Kartoffelsalat. In den USA gibt es für all diese Cross-Over-Varianten auch den Begriff der „Cultural Appropriation“, der dort von manchen als besonders üble Form der Diskriminierung verstanden wird.

Von der „Türkin“ wird erwartet, dass sie sich in allen türkischen Gerichten auskennt und daher zu Partys Börek mitbringt und natürlich allen, die höflich-neugierig fragen, das Rezept übergibt. Was sie jedoch nicht erzählt, ist, dass das Rezept kein Familienerbstück, sondern das Ergebnis einer Suche in einem Kochblog ist.

Die „Türkin“ selbst befürchtet, dass sie nach dem riecht, was sie kocht. Sie befürchtet zu „stinken“. Sie verwendet so gut wie keinen Kümmel und kein Knoblauch, glaubt jedoch, dass man dies geradezu von ihr erwarte (abgesehen davon ist Kümmel ein wichtiger Bestandteil der bayerischen Küche). Die Großmutter aus „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“ riecht – wie wir bereits im ersten Absatz des Buches erfahren – „nach saurem Yoghurt“. „Ich bin Özlem“ beginnt mit folgendem Absatz: „Der Geruch von geschmortem Fleisch hängt warm und schwer in der Luft. Meine Kleider, meine Haut, alles an mir riecht nach Fett und angebratenen Zwiebeln. Bevor die Gäste kommen, werde ich duschen. / Dass mir das immer noch nachgeht.“

Özlem möchte sich bewusst von dem Bild, das andere nach ihrer Wahrnehmung von ihr, der „Türkin“ haben, abheben. Da spielt es keine Rolle, dass alle Menschen, die gerne kochen, nach dem riechen, was sie gekocht haben. Egal was man oder frau kochen, alles riecht, Hände, Haare, Kleider. Özlem glaubt jedoch, dass das nur sie betreffe, mit ihrem „türkischen Migrationshintergrund“. Aber was ist daran türkisch?

Männer und Frauen – Frauen und Männer

Als „Türkin“ wird von Özlem ein ganz bestimmtes Kochverhalten erwartet oder erwartet sie es nur von sich selbst? Vermutlich beides. „Warum ich mich von Mal zu Mal übertreffen muss. Dabei bin ich keine großzügige Gastgeberin. Eine großzügige Gastgeberin scheut weder Mühe noch Kosten, ich aber kaufe, was im Angebot ist, ich kaufe gutes Fleisch, aber nicht das beste. Ich gehe nicht auf Märkten umher und befühle die Tomaten, ich nehme die, die am rotesten aussehen. Trotz allem gelte ich als die leidenschaftlichste Köchin von uns allen. Schwierig ist das nicht, keine meiner Freudinnen legt Wert darauf, eine gute Köchin zu sein. Sie sagen bei jeder Gelegenheit, wie ungern sie kochen.“

Es ist also nicht nur das, was die „Türkin“ kocht, sondern auch, dass sie gerne kocht, was die deutsch-deutschen Freundinnen eben nicht tun, diese auch mit der Absicht, dass sie sich von der Hausfrauen-Identität ihrer Mütter und Großmütter distanzieren wollen. In manchen Kreisen ist es sogar eine Art Gesellschaftsspiel zu erzählen, dass frau nicht kochen kann so wie es in diesen Kreisen auch hipp ist zu erzählen, dass man oder frau schlechte Schulnoten in Mathe hatte. Kein Wunder, dass so viele Kinder Angst vor Mathe haben. Gelungenes Priming.

Wer in Deutschland meint, sich über andere Regionen der Welt äußern zu müssen, die landläufig „Orient“ genannt werden, glaubt in der Regel, dass dort die Männer bestimmen, wo es lang geht. Frauen gehören ins Haus. Der bayerische Kabarettist Bruno Jonas hat das mal so karikiert, dass ein “Migrationshintergrund“ etwas sei, wo der Mann bestimme, die Frau und die Kinder gehorchten und dann, wenn sie das nicht täten, „dann setzt’s was“. Kunstpause: „So hätte man das in Bayern auch gern.“

Genau dies erlebt Zeynep, die Erzählerin von „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“, und zwar nicht nur in der Türkei: „Onkel Mehmet legte die Spielregeln fest, und die Familie folgte ihnen. Ich musste an Stefan denken. Auch wenn wir nicht in der Redaktion waren, hatte er sich so benommen, als wäre er mein Chef. Genauso wie Onkel Mehmet wollte er immer derjenige sein, der bestimmte. Ständig fielen ihm Dinge an mir auf, die ihm nicht passten, die ich anders machen sollte. Stefan wäre lieber mein Trainer gewesen als mein Freund.“

Keine Frage, welche Aufträge Zeynep dann von ihren Kollegen erhält. Natürlich muss sie den von der Redaktionskonferenz ohne ihr Zutun beschlossenen Bericht über die „Männercafés“ schreiben, über „die Männer, die dort fernsahen, Karten spielten oder Tee tranken“. Sie wird zur Expertin für die „Teehauskultur“ der türkischen Zuwanderer erklärt. Sie wehrt sich nicht: „Jeder hätte sofort kapiert, dass etwas lief zwischen Stefan und mir.“ Die Männer im Teehaus sind freundlich, der Artikel gelingt, er wird zur Kenntnis genommen, nicht mehr und nicht weniger, aber sie möchte mit ihrem Freund darüber sprechen: „An dem Abend, als ich aus dem Teehaus zurückkam, hatte ich mich bei Stefan darüber beschwert, dass er mich zu Geschichten zwang, die ich nicht schreiben wollte. Aber er sagte nur, er wolle Privates und Berufliches nicht miteinander vermischen. Im Büro sei ich für ihn eine Kollegin wie jede andere, er sei mein Vorgesetzter, er entscheide, was für die Leser unserer Zeitung interessant sei und was nicht.“

Zur Erinnerung: Erst im Jahr 1977 wurde in Deutschland eine Regelung abgeschafft, dass eine Frau, die einen Beruf ergreifen wollte, die Zustimmung ihres Ehemannes vorweisen musste. Bis 1958 durfte der Ehemann die Arbeitsstelle der Frau ohne ihr Einverständnis kündigen. Bis 1956 mussten in Baden-Württemberg Lehrerinnen ihren Beruf aufgeben, wenn sie heirateten, bis 1951 in ganz (West-)Deutschland.

Die Integrierten

„‘Ich lache, weil du Integration gesagt hast.‘ / Er sah mich fragend an. / „’Meine Eltern kommen aus der Türkei.‘ / ‘Und?‘ / ‘Mann, Integration und Türken, verstehst du es wirklich nicht.‘ / Er schmunzelte, aber so lustig wie ich fand er es nicht.“

Dieser Dialog ist eine Szene im fünften Kapitel des Romans „Ich bin Özlem“. Dilek Güngör dekonstruiert das Vokabular der Integration, das „Integrationsgeschwätz“ um „Herkunft“ und „Kultur“, das Menschen folklorisiert. „Und was die anderen tun und glauben, nennt man Sitten und Gebräuche, Folklore und fremde Kultur, während das Eigene das Eigene ist und keine Merkmale hat.“

Manches, was Özlem erlebt, erinnert an eine Szene, die Mark Terkessidis in seinem Buch „Interkultur“ (Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2010) referiert. Ein Lehrer nahm den kleinen Mark als Experten für alles Griechische in Anspruch. Der Grieche in der Klasse weiß doch sicher alles über Perikles! Er ist ja Grieche. Und so geht es weiter: alle Türk*innen müssen eine Meinung über den türkischen Staatspräsidenten haben, und zwar die, die ihre deutsch-deutschen Gesprächspartner*innen gerne hätten, eine Erwartungshaltung, der sich auch viele Jüdinnen und Juden immer wieder ausgesetzt sehen, wenn von ihnen ein Statement, natürlich ein verurteilendes, zur Politik Benjamin Netanjahus verlangt wird. Vielleicht hilft in solchen Situationen die Strategie der Gegenfrage, indem man oder frau die Deutsch-Deutschen, die Biodeutschen, wie sie inzwischen auch genannt werden, nach Details der deutschen Geschichte und ihrer Meinung zu welchem innen- und außenpolitischen Problem auch immer fragt. Die Antworten werden überraschen.

Zu den gängigen Klischees deutscher Integrationspolitik gehört es davon auszugehen, dass das Land, in dem Eltern oder vielleicht auch nur die Großeltern geboren sind, die Heimat ist. Dass jemand nicht nur eine Heimat haben kann und dass jemand möglicherweise mit dem Land, aus dessen Sprache der Name kommt, kaum persönliche Gefühle verbindet, verstehen nur wenige.

Das, was hier geschieht, ist „Priming“, „Othering“. Das Ergebnis: „Selffulfilling Prophecy“. Wer lange genug hört, wo er oder sie eigentlich hingehört, glaubt das irgendwann selbst. Özlem: „Wieso setze ich alles, was ich in der Welt sehe, in Bezug zur Türkei und zum Türkischen? Ich habe nie in der Türkei gelebt, alles, was ich über dieses Land, seine Menschen und seine Kultur weiß, weiß ich von ein paar Wochen Sommerferien oder weil es mir jemand anderes erzählt hat, es ist Wissen aus zweiter Hand. Ich sage ‚bei uns‘, als wären das meine Erinnerungen, und erzähle von meinen Verwandten in einer Weise, dass man den Eindruck bekommt, ich wäre in der Türkei groß geworden und erst seit Kurzem in Deutschland.“ Schlussfolgerung: „Vielleicht gibt es an mir nichts Interessantes außer meinem Türkischsein.“ Özlem erfüllt die Klischees, die sie selbst kritisiert. Sie macht sich selbst zur „Türkin“ und leidet zugleich darunter, dass sie in den Augen der Verwandten in der Türkei und der sich „türkischer“ als sie fühlenden Mitbürger*innen in ihrem Kiez, nicht türkisch genug ist.

Wie gut sie in Deutschland „integriert“ ist, erfährt Zeynep, als sie in die Türkei reist, um sich dort um ihre kranke Großmutter zu kümmern. Auch hier geht es wieder um etwas, das mit Kochen, Essen, Bewirtung und Gastfreundschaft zu tun hat. Die Männer sorgen dafür, dass die Frauen sie bewirten können. Sie erfährt: „‘Die jungen Frauen, die jetzt heiraten bestehen alle darauf, dass sie einen Esstisch bekommen, mit mindestens acht Stühlen‘, sagte Özlem dann. ‚Wenn ich jetzt heiraten würde, würde ich auch so einen großen Tisch wollen.‘ Wer was in die Ehe mitzubringen hatte, war genau festgelegt. Die Männer waren offenbar für das Esszimmer zuständig.“ (Anmerkung: die andere Özlem trägt nur denselben Namen, die Personen sind nicht identisch.)

Dieser kleine Kulturschock mag harmlos klingen, ist er auch, aber die eigentliche Geschichte in „Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter“, eine Mord-Geschichte, hat es in sich und entlarvt die Hierarchien in der türkischen Familie. Details werden hier nicht verraten, nur so viel zur Einordnung: es handelt sich nicht um einen „Ehrenmord“, auch wenn „Ehre“ eine wichtige Rolle spielt. Ob das, was da geschieht, „typisch türkisch“ oder „typisch orientalisch“ ist, ist irrelevant. Eine vergleichbare Geschichte hätte auch ganz gut zu einem amerikanischen Film über die italienische Cosa Nostra nach dem Muster des „Paten“ gepasst. Der zentrale Punkt: Männer können auch nicht wie sie wollen. Sie sind Teil einer Hierarchie und haben dort ihren Platz einzunehmen. Aber die Frauen stehen alle noch etwas tiefer in der Rangordnung.

Man spricht Deutsch

Für deutsche Tourist*innen ist die Formel „Man spricht Deutsch“ bei der Auswahl eines Restaurants in welchem Urlaubsland auch immer wichtig (wer es etwas satirisch mag, schaue sich den Film „Man spricht Deutsch“ von Gerhard Polt an). Was es bei den deutsch sprechenden Wirtsleuten dann zur örtlichen Flamenco- oder Sirtaki-Musik zu essen gibt, ist eine andere Frage, siehe oben, cross-over-food zur cross-over-music.

Aber die Sprache wird immer wieder als das wesentliche Distinktiv für die Dokumentation des „Integrationserfolgs“ empfunden, zumindest bei denen, die sich als „Einheimische“ verstehen. Dann hört schon mal ein Professor oder eine Professorin mit dem sogenannten „Migrationshintergrund“ von ihren deutsch-deutschen Gesprächspartner*innen: „Sie sprechen aber gut Deutsch“. Die geeignete Antwort nach der Methode Gegenfrage, die den meisten dann aber leider nicht sofort einfällt, wäre „Sie aber auch“.

Es gibt nun einmal auch die Hierarchie der Sprachen. Wenn „Mehrsprachigkeit“ gelobt wird, meinen die meisten Deutsch-Deutschen Englisch, Französisch, Spanisch, vielleicht noch je nach Herkunft Russisch, obwohl Russisch-Kenntnisse schon gerne etwas despektierlich vermerkt werden, vor allem im „Westen“, denn das klingt doch sehr nach DDR-Biographie. Andere Sprachen stehen in der Sprachhierarchie weiter unten, sie sind eben nur „Herkunftssprachen“, in manchen Schulgesetzen auch als „Muttersprache“ bezeichnet, obwohl diejenigen, die diese „Muttersprache“ angeblich beherrschen sollten, oft besser Deutsch sprechen als Türkisch, Arabisch, Italienisch oder Griechisch. In mehr oder weniger regelmäßigen Abständen verlangen Politiker (übrigens fast immer Männer), dass die Zugewanderten auch zu Hause nur Deutsch sprechen sollten, dass Kinder, die nicht genügend Deutsch sprechen, gar nicht erst eingeschult werden sollten oder dass die Kinder aus den guten deutschen Familien nicht durch den Kontakt mit denen, die eben nicht aus diesen Familien kommen, benachteiligt werden sollten.

Im 14. Kapitel von „Ich bin Özlem“ gibt es eine heftige Debatte über die richtige Schule für die Kinder. Es geht um den Notendurchschnitt, den Kinder brauchen, um eine bestimmte Schule zu besuchen, um den „Aufnahmetest für ein altsprachliches Gymnasium“, um das, was in der Politik gerne eine „Brennpunktschule“ genannt wird. Die braven Kinder der deutschen Familien haben nicht unbedingt deutsche Namen. Eines der Kinder, um die es geht, heißt „Luis“, ein anderes „Laszlo“, klingt aber integrierter als „Özlem“, oder „Zeynep“. Die Eltern haben klare Pläne für ihre Kinder. Es ist „für sie unvorstellbar, dass ihre Kinder einmal nicht aufs Gymnasium gehen. Vorstellbar ist, dass ihre Kinder das Studium abbrechen, um dann ein Unternehmen zu gründen oder für eine NGO nach Brasilien gehen, dass ihre Kinder Künstler werden oder vielleicht Tischler, um hinterher doch noch Architektur zu studieren. Aber dass ihr Kind kein Abitur macht, geschweige denn auf eine Hauptschule geht, das nicht. Dass ihre Kinder in einem Geschäft Schule verkaufen oder Busfahrer werden, im Getränkemarkt Kisten stapeln, Pakete austragen oder in einer Änderungsschneiderei Hosen kürzen, zieht keiner in Betracht. Mit solchen Leuten sind sie nicht einmal befreundet.“

Alle, die an diesem Gespräch teilnehmen, außer Özlem, haben Abitur, alle haben studiert, einige promoviert, alle halten sich für fortschrittlich und liberal. Und deshalb kommt eine „Brennpunktschule“ auch auf gar keinen Fall in Frage. Natürlich sollen „Brennpunktschulen“ gut ausgestattet werden, aber nicht zum Wohle der Kinder mit der Brennpunktbiographie. Ralf, einer der Teilnehmer des Gesprächs: „Das ist eine Brennpunktschule, 80 Prozent der Kinder sind nicht deutscher Herkunft und viele aus schwierigen Familien. Darum der schöne Spielplatz im Innenhof, die Lesepatenschaften und die Whiteboards. Solche Schulen kriegen Gelder von hier und da, Projektwochen, Musikfeste, hast du nicht gesehen, damit ihnen nicht noch die letzten deutschen Eltern davonlaufen.“

Solche Schulen können natürlich auch gentrifiziert werden, wie es zurzeit offenbar in Berlin-Neukölln auf dem Rütli-Campus im Reuter-Kiez (Neukölln) geschieht. Inzwischen wurde so viel Geld in diesen Campus gesteckt, dass die Kinder, die damals der Anlass des „Brandbriefes“ (die passende Metapher zur „Brennpunktschule“) der Lehrer*innen und der Startschuss für eine bundesweite politische Aufmerksamkeit war, schleichend verschwindet. „Migrationshintergrund“, schwierige Familie, unzureichende Deutschkenntnisse, mangelnde Schulleistungen – diese Mischung kennzeichnet das Bild, dass selbst gebildete und liberale Menschen vom Umfeld einer „Brennpunktschule“ verbreiten. Natürlich sagt niemand das so offen, und in Nordrhein-Westfalen hat man daher jetzt in der Partei, die sich vor allem als Partei der Gymnasialeltern zu verstehen scheint, den Euphemismus der „Talentschule“ erfunden.

Özlem gerät bei diesem Dauer-Priming in die Defensive. „Sie sind gegen mich, alle am Tisch, sie unterscheiden zwischen sich und den Türken und Arabern und es ist klar, wohin sie mich sortieren.“ Ein paar Krokodilstränen werden auch vergossen (ich entschuldige mich bei allen Krokodilen für diese Metapher), denn da gibt es doch so eine tolle Schule, die hat „jetzt extra eine Klasse mit deutschen Kindern, die heißt ‚Prima Deutsch‘, aber aus unserer Kita wollte trotzdem keiner hin‘, sagte Johanna. ‚Schade eigentlich.‘“ Und zur Krönung des Ganzen: „Dich meinen wir nicht, Özlem, aber die anderen Türken, die schon.“

Özlem zweifelt. Ständig fühlt sie sich auf einer „Aufholjagd“. „Um dorthin zu gelangen, wo Eva ist, muss ich Bach lieben, in den Ferien nach Sylt fahren, mir Kaschmirpullover kaufen, nachlesen, wer die Phönizier waren, schmecken, was ein guter Rotwein ist. Ich darf mich nicht langweilen bei Kafka und schon gar nicht bei Thomas Mann.“ Aber wie wäre es mit einem Alternativprogramm, beispielsweise mit Bâkî, Nâzım Hikmet und Orhan Pamuk, Rotwein aus der Türkei statt aus Frankreich, Kenntnisse der wechselvollen Geschichte der Stadt Izmir, die früher einmal Smyrna hieß, oder der Musik der Sufis? Für die Deutsch-Deutschen womöglich Folklore, in der Debatte zwischen Deutsch-Deutschen und Deutsch-Türk*innen ein Wettbewerb um die Pole-Position im Spiel der „feinen Unterschiede“ im Sinne von Pierre Bourdieu. Wer entscheidet eigentlich, was zum „kulturellen Kapital“ gehört und was nicht? Wer legt eigentlich die Hierarchie der Bildungsgüter fest, in der sich Özlem verfängt?

Gerade gebildete Menschen sortieren die Welt gerne nach dem Grad der Verfügbarkeit von Bildungsgütern bei ihren Mitmenschen. Auch scheinbar gebildete Diskurse können verletzten. Alltagsdiskriminierung hat eben viele Gesichter, auch liberale. Vielleicht passt ein Satz von Ingeborg Bachmann über das Leben in Wien auch hier: „Nie ein hartes Wort in den Vorzimmern, immer nur ein kränkendes.“ (zitiert nach: Gila Lustiger, Erschütterung – Über den Terror, Berlin Verlag 2016).

Wieder zu Hause

„Heimat“ ist ein merkwürdiges Wort. Es ist eines der Wörter, deren Bedeutung erst in ihrem „Gebrauch in der Sprache“ entsteht (Ludwig Wittgenstein). Vielleicht ist „Heimat“ nur ein „Gefühl“, in dem man nicht bewertet wird, nicht ständig auf der „Aufholjagd“ ist. Özlem: „Nicht besonders sein müssen. Mich nicht vergleichen, nicht messen, nicht ständig nach links oder rechts gucken müssen. Nicht horchen, ob Eva oder Philipp oder noch wer etwas sagt. Einfach sein können. Nicht immer werden müssen, aufholen, nachrennen. Wo ist die Leichtigkeit?“ Und im Großmutter-Roman: „Ich glaube, ‚zu Hause‘ ist ein Gefühl“. Es folgt ein Streit über Gerüche. Reicht der Geruch „abgefeilter Fingernägel“ aus, um ein Zu-Hause-Gefühl zu haben, wie Zeyneps Mutter meint, oder muss es wenigstens „frisch gebackenes Brot“ sein, so Zeynep selbst. Zu Hause, das hat zumindest nichts damit zu tun, wo man wohnt oder wo man mal gewohnt hat. Der Begriff ist genauso unscharf wie „Heimat“. Wie gesagt: „ein Gefühl“.

In „Unter uns“ gibt es eine Glosse, in der die beiden Töchter ihren Eltern in Berlin das Gefühl geben wollen, zu Hause, sprich: in der Türkei, zu sein. Sie schenken ihnen türkische Deckchen und ähnlichen Schnickschnack und müssen sich dann von ihrem Vater fragen lassen, ob sie schon gemerkt hätten, dass es zu Hause ausschließlich weiße Designermöbel gebe.

Özlem ist geradezu Opfer ihres eigenen Selbstbildes geworden, als Tochter türkischer Eltern. Und so ergeht es auch ihr, die nicht nur Deutschen ständig erklären muss, ob sie im Urlaub in die Türkei fährt, ob sie türkisch kocht, ob ihre Kinder Türkisch lernen. Ihre „türkeistämmigen“ – noch so ein Wort der Hilflosigkeit unseres Sprechens über das Thema – Mitmenschen verhalten sich genauso. Sie – so Özlem – „dürfen so indiskret werden, wie sie wollen. (…) Ich bin eine von ihnen und werde immer eine von ihnen bleiben, ihr Mädchen, dass sie ausfragen dürfen, obwohl ich längst eine erwachsene Frau bin. Ich entkomme ihnen nicht, in ihren Augen bleibe ich Türkin, ganz gleich was für einen Pass ich habe.“

Sind all diese Zuschreibungen „rassistisch“? Dilek Güngör bezeichnete in einer Lesung Rassismus als „so ein großes Wort“. Und genau darauf kann es hinauslaufen. Rassismus ist ein ebenso unscharfer Begriff wie Heimat, Identität oder Migration. All diese Begriffe dienen ausschließlich der Abgrenzung. Aber auch wer sich von „Rassismus“ abgrenzt, legitimiert sich mit allen Begleiterscheinungen. Er oder sie dürfen sich dann über mangelnde Deutschkenntnisse äußern, denn „Rassisten“, das sind die anderen. Man beschreibt ja nur und erweist sich in seiner eigenen politischen Korrektheit, indem man oder frau zusätzliche Stellen, Finanzmittel für die „Integration“ der Menschen aus dem „Brennpunkt“ fordert und durchsetzt. Die diversen Euphemismen für diese Stadtteile sprechen für sich: „Soziale Stadt“, „Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf“, in Frankreich: „Zones d’éducation prioritaires“. Aber manchmal brennt es in den Brennpunkten wirklich, nicht nur in der Sprache.

… doch wo bleibt das Positive?

Es lohnt sich immer, in diesen und vergleichbaren Debatten Erich Kästner zu zitieren. Warum sollte nicht folgende Utopie Wirklichkeit werden? Wir definieren „Heimat“ und „Herkunft“ neu, verwenden zumindest das Wort „Heimat“ nur noch im Plural und lassen Begriffe wie „Migrationshintergrund“ und „Integration“ aus unserem Sprachgebrauch verschwinden.

Andreas Reckwitz (in: Die Gesellschaft der Singularitäten, Berlin, Suhrkamp, 2017) lässt eine solche Utopie angesichts von world food und world music denkbar werden. „Diese kulturellen Objekte und Praktiken existierten also zunächst vollkommen unabhängig vom kulturellen Kapitalismus. Ihre Ökonomisierung und Verwandlung in merkantible Güter bedeutet gewisse eine Kommerzialisierung: das Essen in der Familie oder die Musik von Jugendlichen füreinander verwandelt sich in Waren mit Tauschwert (zum Restaurantessen, zur CD, zum Konzertbesuch). Sie bedeutet aber auch in einem abstrakteren Sinne, dass sich kulturelle Objekte aus diversen Herkunftskontexten unterschiedslos zur Konsumtion anbieten: Man wählt zwischen ihnen, kann sie annehmen oder ablehnen und im Lebensstil miteinander kombinieren. Genau diese Haltung der Wahl ist typisch für die spätmoderne Hyperkultur.“

Das ist die Utopie, aber es kann auch anders ausgehen, noch einmal Andreas Reckwitz: „Ihm steht auf der anderen Seite ein ganzes Bündel von anti-liberalen (sub)politischen Kulturessenzialismen und -kommunitarismen (Ethnizität, Nationalität, religiöser Fundamentalismus, Rechtspopulismus) entgegen, die gegen die Hyperkultur und ihre Märkte nun kollektive Identitäten mobilisieren. Diese Identitätsbewegungen bewegen sich freilich innerhalb der Logik der Gesellschaft der Singularitäten: Auch sie setzen auf Kultur und Singularität, verorten diese jedoch nicht auf mobilen Märkten, sondern innerhalb besonderer – religiöser, nationaler, ethnischer, völkischer – Kollektive. Das Ergebnis sind für die Gesellschaft der Singularitäten überaus charakteristische Konflikte um die Kultur.“ „Kultur“ wird dann zum Kampfbegriff.

Leidet Özlem einfach an einem gigantischen Minderwertigkeitskomplex? Oder braucht Özlem sogar psychologische Unterstützung? So formulierten es einige Zuhörerinnen Dilek Güngörs bei einer Lesung in Bonn. Und warum behauptet sich Özlem nicht selbstbewusst gegen all die Formen von Alltagsdiskriminierung und gegen all die Erwartungen und Zuschreibungen, die sie von Seiten ihres Umfelds, sogar von ihren liberalen Freund*innen erfährt? Warum lässt sie das nicht im wahrsten Sinne des Wortes einfach abtropfen? Warum macht sie sich selbst zur “Türkin“? Und warum rauscht das im Radio so beiläufig erklärte „Scheitern von Integration“ so einfach an ihr vorbei? Warum geht sie nicht auf die Barrikaden oder ignoriert das einfach alles?

Es ist nicht die Aufgabe eines Romans, diese Fragen zu beantworten, sondern eben diese Fragen zu provozieren. Aber vielleicht wird ja was draus. Wer weiß? Letztlich ist es auch die Frage, wie ernst wir unseren eigenen Liberalismus nehmen dürfen und ob nicht das schleichende Gift des Illiberalismus uns mehr infiziert hat als wir es uns zugeben wollen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2020. Die im Text erwähnten Bonner Lesungen fanden am 7. November 2019 in der Bundeszentrale für politische Bildung sowie am 29. Januar 2020 in der Theatergemeinde Bonn statt. Die zweitgenannte Veranstaltung wurde von der Heinrich Böll Stiftung NRW und vom Integrationsstab Bonn finanziell unterstützt.)