Die Macht der Spiele

Benjamin Bigl und Sebastian Stoppe über Game-Journalismus

„Das Leitmotiv dieses Buches ist der Gedanke, dass alle Techniken Ausweitungen unserer Körperorgane und unseres Nervensystems sind, die dazu dienen, Macht und Geschwindigkeit zu vergrößern. Ohne eine derartige Zunahme der Macht und Geschwindigkeit wiederum würde es nicht zu neuen Ausweitungen unserer selbst kommen, oder man würde sie aufgeben. Denn eine Zunahme an Macht oder Geschwindigkeit in einer beliebigen Gruppierung von beliebigen Komponenten ist schon selbst ein Bruch, der eine Veränderung in der Organisation verursacht.“ (Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle – Understanding Media, 1964, zitiert nah der deutschen Ausgabe, die 1994 im Verlag der Kunst Dresden erschien)

Medien sind Werkzeuge, mit denen wir unsere angeborenen Fähigkeiten verbessern. Das gilt für Zeitungen, Radio, Fernsehen ebenso wie für Gentechnik (bis hin zur genetischen Veränderung des Menschen) und Künstliche Intelligenz. Marshall McLuhan hat sich mit der Frage befasst, wie Medien wirken, unseren Alltag und unsere Gesellschaften strukturieren und wie sich durch Medien als Werkzeuge unser Körper, physisch wie psychisch, verändert. Er konnte sich damals vielleicht noch nicht vorstellen, welche Bedeutung zum Ende des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts die Debatten um Künstliche Intelligenz, um Elektronisierung und Digitalisierung, um die weitere Entwicklung der Geräte haben, die unsere Körperfunktionen und unser Körperbewusstsein simulieren, stimulieren, beschleunigen und möglicherweise sogar auf Dauer verändern könnten. Alles Science Fiction? Eben nicht nur, Vieles, das wir vor 20, 30, 40 oder gar 100 oder 150 Jahren in Science-Fiction-Romanen und -Filmen konsumierten, ist heute Alltag oder auf dem Wege, Realität zu werden.

Die süße kapitalistische Versuchung

Deep Blue. Foto: James the Photographer. Wikimedia Commons.

Auch Spiele sind Medien, Instrumente, Gegenstände, mit denen sich Leben verändert, in feudalen Casinos, die an russische Literaten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erinnern, oder in Spielhallen irgendwo in den Innenstädten, auch im familiären Kreis und oft genug alleine vor einem Bildschirm, eine Konstellation, die sogar ungeachtet der medial und digital möglichen Komplexität an das Legen von Patiencen erinnern dürfte. Aber auch Patiencen gibt es heute elektronisch, die berühmteste dürfte „Tetris“ sein, ein scheinbar endlos weiterspielbares Spiel, das bisher nur von einem einzigen Spieler, dem 13jährigen Willis Gibson, so weit gespielt werden konnte, dass das Medium aufgab. Auch Gegner können sich elektronisch zeigen, nicht zuletzt der Schachcomputer „Deep Blue“, dem es 1997 gelang, einen Schachweltmeister zu besiegen.

Unter diesen Voraussetzungen ließe sich darüber nachdenken, was heutige Computer- und Videospiele, heutiges Gaming, E-Sports, gleichviel ob man sie allein oder mit anderen spielt, die möglicherweise sich an ganz anderen Orten aufhalten, von traditionellen Brett- oder Kartenspielen unterscheidet, von denen manche in ihrer handfesten analogen Fassung immer noch eine wichtige Rolle in der Freizeitgestaltung vieler Menschen spielen: „Monopoly“ (das es inzwischen ungeachtet des immer selben Prinzips in vielen lokalen und thematischen Varianten gibt) und „Mensch ärgere dich nicht“, „Skat“ und „Doppelkopf“, „Scrabble“ und „Schach“ – all diese Spiele haben etwas mit „Macht und Geschwindigkeit“ zu tun, vor allem mit der Fähigkeit, die „Macht und Geschwindigkeit“ der Mitspielenden beziehungsweise Gegenspielenden einzuschätzen und das eigene Verhalten daran im Interesse des eigenen Erfolgs anzupassen. Bei den genannten Kartenspielen geht es darüber hinaus um die Herstellung einer Partnerschaft auf Zeit, die beim „Skat“ nach der Reizphase entsteht, beim „Doppelkopf“ jedoch aus dem Spielverlauf möglichst früh erschlossen werden muss. Auch hier entscheidet „Geschwindigkeit“ über „Macht“, konkret: mit der Fähigkeit, ein Spiel strategisch zu strukturieren und die Verteilung der noch im Spiel befindlichen Karten aus dem Spielverlauf zu erschließen. Zufälle beeinflussen das Fortkommen bei „Monopoly“ und „Mensch ärgere dich nicht“, verkörpert durch einen Würfel, aber auch hier sind strategische Überlegungen bei der Positionierung der eigenen Spielfiguren von Vorteil. Bliebe „The Holy Game of Poker“ (Leonard Cohen, The Stranger Song), das auch im Weltraum gespielt wird, wie wir aus „Star Trek – The Next Generation“ wissen, ein Spiel, bei dem der Sieg auch auf Bluffs und extremem Durchhaltevermögen, selbst in aussichtslos erscheinender Lage, beruht, angesichts der verdeckten Karten auch gut für Betrügereien geeignet, die im Film immer wieder gut für Suspense-Situationen geeignet sind. Nicht ohne Grund spielt James Bond gerne Poker. Der Sender Sport1 sendet regelmäßig und ausführlich Poker-Partien.

„Macht und Geschwindigkeit“ – das ist ein Aspekt der Spiele, einen anderen hat Karl Marx im ersten Kapitel des Kapitals über die „Ware“ beschrieben: „Die Menschen beziehen also ihre Arbeitsprodukte nicht aufeinander als Werte, weil diese Sachen ihnen als bloß sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit gelten. Umgekehrt. Indem sie ihre verschiedenartigen Produkte einander im Austausch als Werte gleichsetzen, setzen sie ihre verschiednen Arbeiten einander als menschliche Arbeit gleich. Sie wissen das nicht, aber sie tun es.“ (MEW 23) In der Tat: Spiele sind „Waren im klassischen marxistischen Sinne, „sachliche Hüllen gleichartig menschlicher Arbeit“, die sie simulieren. Bei Profispieler:innen sind sie sogar die „Arbeit“, die das jeweils eigene „Kapital“ schafft. Spiele schaffen und spiegeln soziale Beziehungen, sie haben ihre gesellschaftliche und politische Funktion im Rahmen eines kapitalistischen oder zumindest kapitalistische Grundlagen aufgreifenden Wirtschaftssystems. Darin liegt – so Karl Marx im weiteren Text der „mystische Wert“, ihr „Fetischcharakter“, dem die Arbeitenden erliegen, ohne ihn zu durchschauen.

Karl Marx hat sich nicht mit Spielen beschäftigt. Lebte er heute, würde er dies sicherlich tun, möglicherweise in Anschluss an Marshall McLuhan. Der von Marx diagnostizierte „Fetischcharakter“ ist bei Spielen wie „Monopoly“ und „Mensch ärgere dich nicht“ offensichtlich. Das hat etwas mit der Corporate Identity von Spiel- und Fangemeinschaften zu tun, die in der Regel nicht bemerken, wie sie zu Objekten einer Vermarktungsstrategie werden beziehungsweise geworden sind, gilt aber auch für jede:n Einzelne:n. In „Monopoly“ müssen sich die Spielenden auf Kosten ihrer Konkurrent:innen bereichern, sie ruinieren, um das Spiel zu gewinnen. Bei „Mensch ärgere dich nicht“ geht es um die Eliminierung der Konkurrent:innen, indem die Gegner:innen aus dem Spiel auf die Startposition zurückgesetzt, in ihren Chancen reduziert werden müssen, damit man selbst möglichst erfolgreich ins den Sieg garantierende Haus gelangt. In diesen Spielen braucht es keine Waffen, nur eine gewisse Entschlossenheit bis hin zu einer Brutalität, die bei einem Spiel wie „Scrabble“ sicherlich nicht auf den ersten Blick einleuchten mag, aber letztlich doch besteht, weil nur der überlegene Intellekt das Spiel gewinnen kann, der in der Lage ist, möglichst viele hochwertige Felder mit den eigenen Buchstaben und Wörtern zu besetzen, ein Spiel, das in diesem Punkt Eroberungen simuliert. Bildung erweist sich erst als erfolgreich, wenn man gebildeter ist als die mitspielenden Konkurrent:innen, konkret: die höchste Punktzahl erwirbt. Und „Schach“? Ein Spiel mit zwei einander gegenüberstehenden Armeen, bei dem es gilt, den gegnerischen König bewegungsunfähig zu machen? Mit unendlichen Kombinationsmöglichkeiten, die nur noch durch das japanische „Go“ übertroffen werden dürften, aber letztlich alle Spiele charakterisieren, in denen zwei Personen gegeneinander antreten. Fazit: Spiele sind eben letztlich alles andere als harmloser Zeitvertreib. Diejenigen, die sie erfinden, produzieren und uns verkaufen, profitieren vom „Fetischcharakter“ der „Ware“ Spiel.

Wie sprechen Journalist:innen und Wissenschaftler:innen über Spiele?

Spiele sind Gegenstand wissenschaftlicher und journalistischer Erörterungen. Es wäre interessant, dies für jedes einzelne Spiel zu erfragen, um daraus Schlüsse zur Veränderung der Spielkulturen der vergangenen 50 bis 70 Jahre zu erschließen (oder auch darüber hinaus). Benjamin Bigl und Sebastian Stoppe haben sich mit dem Segment der elektronischen Spiele befasst, kurz in der Regel „Gaming“ genannt. Die in ihrem 2023 bei Springer VS erschienenen Buch über den Game-Journalismus versammelten Autor:innen sprechen allerdings weniger über die Spiele selbst als darüber, wie über die Spiele journalistisch und wissenschaftlich verhandelt wird. Natürlich lässt sich das nicht immer trennen, man erfährt viele Details über die Spiele selbst, aber im Vordergrund steht eben eine Analyse derjenigen, die sich beruflich mit der Kommentierung von Spielen befassen.

Das Buch besteht aus sechs Teilen, in denen Grundlagen, Gegenstand, Anlässe, Berufs- und Spannungsfelder sowie die Recherche thematisiert werden. Es endet im sechsten Teil mit einem „Werkstattbericht“ von Eugen Pfister, Aurelia Brandenburg, Adrian Demleitner und Lukas Daniel Klausner zu ihren Arbeiten beim Aufbau einer DACH-Datenbank. „Diese wurde kollaborativ erarbeitet und führt digitale Spiele, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz bis zum Jahr 2000 entwickelt wurden.“ Die vier Autor:innen weisen darauf hin, dass ihre Datenbank unvollständig ist, auch viele relativ bekannte Spiele nicht enthalten seien, aber mit ihrem Projekt ein Anfang gemacht worden sei, um Grundlagen für journalistische Recherche und wissenschaftliche Analyse zu schaffen.

Die Herausgeber halten fest, dass eine Bestandaufnahme game-journalistischer Arbeiten bisher fehlt. Für ihr Vorhaben haben die beiden Herausgeber 30 weitere Autor:innen gewonnen, die sich alle in der ein oder anderen Form intensiv mit Teilaspekten des Gegenstandes wissenschaftlich befasst haben. Das Buch basiert hauptsächlich auf dem deutschen und dem US-amerikanischen Bereich, andere Sprachräume spielen keine Rolle. Es enthält ein Glossar der wichtigsten Fachbegriffe sowie nach jedem Beitrag ein ausführliches Literaturverzeichnis. Sehr komfortabel ist in der Online-Version die Verlinkung innerhalb des Textes, sodass man Parallelgedanken, Literaturangaben, externe Internetlinks einfach findet. Auch dies unterstreicht den Charakter des Buches nicht nur als Analyse, sondern eben auch als „Handbuch“ und Nachschlagewerk. Allerdings betonen die beiden Herausgeber, dass sie bewusst „Handbuch“ in Anführungszeichen geschrieben hätten. Sie hätten keine Vollständigkeit angestrebt. Als Nachschlagewerk ist das Buch ebenso gut nutzbar wie als eine erste Einführung hätten sie dies getan, wäre das Buch möglicherweise doppelt so umfangreich geworden, es sei denn – und da liegt durchaus ein Problem, das aber die Autor:innen und Herausgeber nicht zu verantworten haben – dass manche Aspekte bisher in journalistischen Veröffentlichungen wie auch in wissenschaftlichen Studien nur unzureichend berücksichtigt wurden. Dies scheint in der Tat der Fall zu sein.

Benjamin Bigl. Foto: privat.

Benjamin Bigl benennt im Prolog die Ziele des Bandes. Er erörtert auch die Frage, welche Ausbildungsinhalte sich aus dem vorhandenen Material für Journalist:innen ableiten ließen, die in weiteren Beiträgen eine Rolle spielt. Die beiden Herausgeber wagen mit ihrem Buch den Versuch der Unterscheidung, welche Publikationen zum Gaming tatsächlich journalistische Arbeiten sind und welche lediglich dem Marketing dienen. Umfangreiche Darstellungen von Zeitschriften, zunehmend online vertrieben, Graphiken zur Verbreitung, Umsatzzahlen, Informationen zur wirtschaftlichen Verbreitung, beispielsweise im ersten Teil des Grundlagenkapitels, für das Gabriele Hoofacker und Robert Kohlick verantwortlich zeichnen, aber auch in anderen Kapiteln, sorgen dafür, dass die Grundlagen für jede weitere inhaltliche Analyse vorliegen.

Sebastian Stoppe verfasste den Epilog „mit einem Augenzwinkern, wie man selbst Journalismus in einem Computerspiel betreiben kann.“ Sein Epilog trägt den Titel „Journalist spielen“. Es geht um den Journalisten als Spielfigur in „Zak McCracken and the Alien Mindbenders“, ein Spiel aus den 1980er Jahren. „Zak McKracken steht somit gleichermaßen in der Tradition dieser Adventurespiele, sticht jedoch andererseits durch einige Alleinstellungsmerkmale heraus. Während Maniac Mansion sich fast schon kammerspielartig auf einen einzigen Handlungsort beschränkte, erstreckt sich dieser bei Zak McKracken auf die gesamte Erde – und darüber hinaus die Marsoberfläche. Zak ist damit das prototypische Klischee eines investigativen, um die Welt reisenden Journalisten.“ Ob das Spiel – wie Sebastian Stoppe andeutet – als „Satire“ verstanden werden kann, mag vielleicht vom Charakter und den Intentionen der Spielenden selbst abhängen.

Sebastian Stoppe. Foto: Katharina Werneburg

Letztlich stellt sich bei einem solchen Spiel die Frage, ob es um Aufklärung eines Sachverhalts geht, bei dem der Aufklärende eben nicht nur zufällig Journalist:in ist oder ob es sich um eine Simulation handelt, in der jemand lernen könnte, wie (investigativ)journalistisches Arbeiten funktionieren mag. Journalist:innen sind in manchen Kriminalromanen, zum Beispiel in der Figur des Rouletabille von Gaston Leroux, oder auch in investigativjournalistischen Szenarios oft genug die Hauptpersonen, weil bei der Aufklärung eines Falls mitunter die Funktion des Journalisten und die des Kriminalisten nicht eindeutig voneinander getrennt werden können. Eines der bekanntesten Beispiele für die Verbindung von Investigativjournalismus und Kriminalistik ist der die Watergate-Affäre aufgreifenden Film „All the President’s Men“ von Alan J. Pakula aus dem Jahr 1976. In einem interaktiven Spiel ließen sich solche Szenarien durchaus aufgreifen.

Doch zur Frage, welche in dem Band noch nicht behandelten Aspekte aus meiner Sicht einen Folgeband inspirieren sollten. Interessant wäre ein eigenes Kapitel zum Gaming in migrantischen Communities gewesen, gegebenenfalls auch zum Gaming in arabischen Ländern, im Iran, in China, in Indien, um nur einige Räume zu nennen. Abgesehen von den wirtschaftlichen Aspekten ließe sich aus einer solchen Ergänzung durchaus auf politische Entwicklungen schließen, von der Frage der Zensur bis hin zur Frage der Konzeption oder Nutzung von Spielen über die Themenauswahl bis hin zu Nutzungsformaten in unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen. Ein ebenfalls zu kurz gekommener Aspekt ist die Frage nach geschlechtsspezifischen Zugängen. Unter den 32 Autor:innen sind nur sechs Frauen. Benjamin Bigl erklärte mir in einem Gespräch, dass dies daher resultiere, dass von den angefragten Frauen viele abgesagt hätten, es andererseits auch nicht so viele Frauen gebe, die sich mit dem Thema beschäftigten. Die Fragen nach Spezifika der Spiele in migrantischen Communities oder im Hinblick auf Genderspezifika, letztlich auch die Frage nach dem Umgang mit behinderten Menschen, nicht nur im Kontext der Barrierefreiheit, seien in der Tat erörterungsbedürftig.

Genderspezifika ließen sich auch durchaus daraus ableiten, dass bei der Illustration von Texten über Spiele in der Regel junge Männer bei einer LAN-Party gezeigt werden. Spiele werden häufig in dokumentarischen Filmen aus der Perspektive eines Ego-Shooters gezeigt. So drängt sich schon der Eindruck auf, als wären diese Bilder charakteristisch für die gesamte Bandbreite der Spiele und der Gaming-Szene. Dabei könnten auch Paradoxien angesprochen werden wie die Frage, wie sexistisch das Bild der Lara Croft ist, obwohl hier die Protagonistin eine Frau ist.

Ein dritter Aspekt, der zu berücksichtigen wäre, ist die Frage nach unterschiedlichen Wahrnehmungen, Gewohnheiten, Nutzungen in verschiedenen sozialen Schichten, durchaus in Anlehnung an Pierre Bourdieus Klassiker „La distinction“ (französische Erstausgabe 1979, deutscher Titel: „Die feinen Unterschiede“), gegebenenfalls auch nach den SINUS-Milieus differenziert. Weitere Aspekte wären Bilder „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer), vom Antisemitismus über Antiziganismus, Klassismus, Sexismus und Rassismus bis zu Homo- und Transfeindlichkeit.

Wirtschaftsfaktor und Kulturgut

Michael Baur bietet einen lesenswerten Überblick über die Geschichte des Videospiels in den vergangenen 50 Jahren einschließlich der sich in diesem Kontext entwickelnden Berufsfelder – dazu übrigens der gesamte vierte Teil des Buches – mit den jeweiligen Produktionsabläufen bis hin zur Anerkennung der Gaming-Szene als „Kulturgut“ im Rahmen des Deutschen Kulturrates. Die gesamte Spielkultur ist „Technologietreiber, Innovationsmotor, Wirtschaftsfaktor und Kulturgut“ zugleich, ein fester Bestandteil der „Unterhaltungskultur“, in der – wie Jasper A. Friedrich feststellt – bestimmte Charaktere wie Lara Croft auch Protagonist:innen von Filmen geworden sind.

Es geht in der Medienforschung nicht nur um Technik, über deren Stellenwert in der Berichterstattung Jasper A. Friedrich ausführlich berichtet, sondern auch um Fragen jenseits der Technik, insbesondere im Hinblick auf massenkulturelle Phänomene und die Aufnahme oder Spiegelung gesellschaftlicher Entwicklungen. Im zweiten Teil des Grundlagenkapitels heben Beatrice Dernbach und Christian Sengstock die Notwendigkeit hervor, dass „die Expertise der Fachjournalisten“ unabdingbar ist, unabhängig davon, ob es um Fragen der technischen Nutzung, um Verbraucherinformationen oder auch um spezielle Interessen („special interests“) gehe.

Nicht nur in Spielen selbst, sondern auch in dem Schreiben und Sprechen über Spiele und Spielen ist die Frage von Bedeutung, welche wirtschaftlichen Kommunikationsinteressen und -patterns im Vordergrund stehen und sich gegebenenfalls auch mit anderen Fragen vermischen. Dies ist vor allem bei Fachmagazinen der Gaming-Branche und Fanzines anzunehmen. Wer Einfluss auf die Szene nehmen möchte, Produzent:innen wie Nutzer:innen, sollte allerdings – so die Annahme – als Journalist:in auch selbst Teilnehmer:in sein, um ernstgenommen zu werden. Kritisch zu bewerten seien Arbeiten, die vor allem der Eigenwerbung dienten, die aber durch ihre Kooperation mit Influencern und Superlative in der Beschreibung der jeweiligen Produkte gut erkennbar sind.

Aus der Sicht historisch-politischer Analysen, nicht zuletzt in Bezug auf Bildung und Kultur, ist vor allem der Beitrag von Jeffrey Wimmer im zweiten Teil von Bedeutung. Der Autor befasst sich mit den Gegenständen der Berichterstattung, wohlgemerkt nicht mit den Spielen selbst, sondern mit der Frage, wie über die jeweiligen Spiele geschrieben und gesprochen wird. Ein entscheidender Abschnitt ist meines Erachtens sein folgender Text: „Digitale Spiele sind demnach nicht mehr einfach (meist kindlicher) Zeitvertreib bzw. Unterhaltung, sondern aus gesellschaftlicher Sicht ein wichtiger Prozess der Kulturvermittlung in der medialen Gegenwart, und auf individueller Ebene ein aktiver Akt realweltlicher Reproduktion mit vielschichtigen sozialen und kulturellen Bezügen. Sie besitzen daher einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die individuelle Persönlichkeitsentwicklung und somit auf soziale und gesellschaftliche Zusammenhänge.“

Cosplay of World of Warcraft at Dragon Con 2014. Foto: Amy. Wikimedia Commons.

Diese Erkenntnis ließe sich auf verschiedene Genres anwenden, auf Sport-Spiele (wie das ausgesprochen populäre „FIFA“), Retro-Games, mit denen sich Spielende in Spiele vergangener Zeiten hineinversetzen, Spiele, die sich unter dem Stichwort „Call of Duty“ zusammenfassen ließen, in denen die Spielenden Kriege simulieren. In diesen Kontexten entstehen Subkulturen mit entsprechender Kleidung, Redeweisen und anderen Verhaltensmustern, mit denen sich die Spielenden jeweils von anderen Spielenden sowie von Nicht-Spielenden abzugrenzen pflegen, sodass man nicht nur von einer, sondern im Plural von „Spielkulturen“ sprechen müsse. Hier wäre allerdings die Frage zu ergänzen, die eigentlich jede historisch-politische Analyse bewegen müsste, die Frage, welche Vorstellungen Spiele von der Wirklichkeit entwickeln und wie sich die Spielenden von diesen Vorstellungen vereinnahmen lassen beziehungsweise ob gegebenenfalls politische Akteure bewusst Spiele gestalten und nutzen, um ihre eigene Propaganda zu platzieren.

Bei Sportspielen dürfte die Annahme, es handele sich um Propaganda, gegenstandslos erscheinen, abgesehen davon, dass der Kauf und Verkauf von Spielern den auch in der Wirklichkeit vorhandenen Marktwert spiegelt und damit Menschen als Tauschobjekt zur Verbesserung der eigenen Ausgangsposition erklärt. Bei Spielen, bei denen es im Negativen um Krieg, im (scheinbar) Positiven um den Aufbau eines Staatssystems geht, kann dies schon zu anderen Problemen führen, wenn die Spielenden weder die Zeit noch die Anleitung haben, Er- und Gespieltes im Hinblick auf Realitätstauglichkeit zu überprüfen. Ein Spiel wie das NSU-Monopoly ist einfach zu entschlüsseln, bei Spielen nach dem Muster von „Die Siedler von Catan“ ist dies schon schwieriger. Vor allem dürfte es schwierig werden, wenn Spielende den Eindruck gewinnen, dass sie die Macht, die sie im Spiel erwerben, auch in Wirklichkeit erwerben könnten, sodass reale politische Probleme von entsprechend motivierten Spielern gelöst werden könnten. Dieser Gedanke liegt alles andere als fern, wie die zynische Version des „Monopoly“ der Terrorist:innen des NSU belegt, die nach dem Selbstmord der beiden männlichen Täter gefunden wurde. Benjamin Bigl hat sich an anderer Stelle mit „rechter Netzkultur“ befasst. Er wies mich auch darauf hin, dass Steam, die viertgrößte Plattform für Computerspiele verkauft ein Spiel, das für Selbstmordattentate gegen Israelis wirbt, hierzu aktuelle Berichte beim ZDF und bei t-online hin. Ebenso ließe sich nach Spielen suchen, die Staatspropaganda verbreiten, beispielsweise aus Russland oder aus China.

Spiele verändern die Wahrnehmung der Wirklichkeit außerhalb der Spiele. Jeffrey Wimmer nennt verschiedene Aspekte der Aneignung, der Akkulturation, der Kontexte und hinter der Produktion eines Spiels stehenden Absichten. Vor allem wenn diejenigen, die ein bestimmtes Spiel spielen, sich fast nur noch mit denjenigen treffen, die dasselbe Spiel spielen, reduziert sich das Verständnis für Realitäten außerhalb des Spiels erheblich. Aber um dies zu entfalten, brauchen wir Wirkungsstudien. Wimmer nennt einige Ansätze, beispielsweise zur Entwicklung von Führungsstilen im Rahmen von „World of Warcraft“. Bei Sportspielen könnte sich gegebenenfalls eine Überidentifikation mit bestimmten Herkünften ergeben, im Zweifel die Verstärkung einer latent bereits vorhandenen nationalistischen Einstellung.

Christian Zabel sowie Felix Reer und Robin Janzik führen diesen Kontext im Hinblick auf Spiele aus, deren Grundlage eine „Virtual Reality“ ist, bis hin zur Konstruktion eines „Metaverse“. Die Frage stellt sich weniger, wie jemand hineinfindet, als wie jemand wieder herauskommt: „Rezipierende haben also nicht mehr das Gefühl, einen Medieninhalt als Zuschauende weitestgehend passiv zu konsumieren, sondern fühlen sich an den Ort des Geschehens versetzt, können dort agieren und werden so Teil der Handlung (…).“ Ein Kernbegriff ist in diesem Kontext „Embodiment“, was im Grunde schon sehr nah an eine auf Dauer – gemäß kapitalistischer Logik – angelegte Veränderung der eigenen Persönlichkeit durch Konsum eines bestimmten Spiels heranreicht. Abenteuer- und Rollenspiele, Fantasiewelten dominieren, dies alles ohne großen Aufwand vor dem Bildschirm, während Anhänger:innen von Cosplay sich schon etwas aufwändiger ausrüsten müssen und – das kommt hinzu – sich eigens für die jeweilige Veranstaltung ankleiden, schminken, zurechtmachen müssen, dies aber anschließend auch wieder komplett rückgängig machen.

Kausalketten? Kommunizierende Röhren!

Die Zeitschrift „Mittelweg 36“ hat im Oktober 2020 in dem Themenheft „Von einsamen Wölfen und ihren Rudeln“ auch einen Essay über diese Frage veröffentlicht. Der schwedische Soziologe Matthias Wahlström schrieb dort: „Es ist durchaus möglich, Erklärungen dafür zu finden, wie individuelle Täter Lernprozesse in sozialen Online- und Offline-Kotexten durchlaufen, die ihre Neigung zum Einsatz politischer Gewalt erhöhen.“ Es geht hier nicht um eine unilineare Kausalität, sondern um eine „diskursive Gelegenheitsstruktur“, zu der auch Online-Foren und Internetspiele gehören können, aber nicht müssen.

Andreas Garbe bringt die Debatten um elektronische Spiele in der Überschrift seines den vierten Teil zum Thema der Berufsfelder einleitenden Beitrag auf den Punkt: „Quotenbringer und Prügelknabe“. Er spricht von „Goldgräberstimmung“, „Kommerz“, was aber auch dazu geführt habe, dass die Berichterstattung zu elektronischen Spielen als nicht seriös klassifiziert wird. Mit „Kultur“ hätte das nichts zu tun. Abgesehen davon, dass sich sicherlich debattieren lässt, ob man einen exkludierenden oder inkludierenden Kulturbegriff verfolgen sollte, sind wir hiermit in einer Debatte, die Missstände, beispielsweise die Radikalisierung von Menschen auf exzessiven Gebrauch beziehungsweise Missbrauch von elektronischen Spielen zurückführt.

Der bekannteste Vertreter dieser These war und ist vielleicht Christian Pfeiffer. Das Medium kann – in Abwandlung zu Marshall McLuhans berüchtigter These – nicht nur zur eigentlichen Botschaft, sondern zur zweiten Natur werden. Es geht am Bildschirm, erst recht mit einer Virtual-Reality-Ausstattung, somit schon einen Schritt weiter als bei einer Verkleidung im Karneval oder im Cosplay, sodass letztlich die Frage für den Spielenden offenbleiben mag, welche Realität nun die eigentliche ist und welche nicht. In diesem Kontext spielt auch die Frage eine Rolle, warum die Inszenierung eines Amoklaufs durchaus der Inszenierung eines Videospiels ähnelt. Aber: Ähnlichkeiten in der Struktur sind noch lange keine Kausalkette.

Immer wieder gibt es dessen ungeachtet aus dem politischen Raum, auch in Erziehungsratgebern, die Empfehlung, man möge den Gebrauch von Spielen begrenzen beziehungsweise den Rückzug eines jungen Menschen in die Welt seiner (in der Regel junge Männer) Spiele als Alarmsignal erkennen. Solche Sichtweisen referiert Andreas Garbe am konkreten Beispiel sogenannter „Amokläufe“. Koinzidenzen werden zu Korrelationen, Gleichzeitigkeit zu einer Kausalbeziehung, als gäbe es immer nur einen einzigen Grund, um deviantes Verhalten zu erklären. Und schon sind wir in Verbotsdebatten gelandet oder in Debatten zur Verschärfung welcher Gesetze auch immer.

Die Annahme von die Persönlichkeiten der Spielenden verändernden Entwicklungen geht weit über medizinische Implikationen wie Cybersickness oder Suchtverhalten hinaus. Da liegt auch die Frage nach Kinder- und Jugendschutz nicht fern. Darüber schreiben Max de Baey-Ernsten und Daniel Hajok. Neben den bekannten Kinder- und Jugendschutzrichtlinien seien „auch kinderrechtsbasierte Ansätze von Relevanz“, ein Anliegen, das „Schutz“ dynamisch versteht und nicht auf bloße Verbote und strafrechtliche Verfolgung reduziert. Insofern ist auch hier ein interdisziplinärer Zugang erforderlich. In ihrem Beitrag vermerken die beiden Autoren die unterschiedlichen Motivationen von Kindern und Jugendlichen, sich für das ein oder andere Spiel beziehungsweise überhaupt für ein Spiel zu entscheiden. Sie nennen „inhalts-, konsum-, kommunikations- und verhaltensbezogene Risiken“, bei denen sich auch die Frage nach „Befähigung und Begleitung“ stelle, zu der nicht zuletzt die Einbeziehung von Eltern gehöre.

In diesen Debatten finden wir jedoch – so Andreas Garbe – oft viel „Bauchgefühl“ statt „Wissenschaft“. Andreas Garbe zitiert eine Untersuchung aus den USA, der zufolge sich sieben von acht Tätern überhaupt nicht für Videospiele interessiert hätten. Entscheidender – und dies entspricht den Erkenntnissen aus der Analyse von Morden wie in Utøya, Christchurch oder Halle – sind Internetcommunities, in denen entsprechende Fantasien gepflegt und mit pseudo-politischen Verschwörungserzählungen begründet werden, zu denen die Täter dann in der Regel eigene Hunderte von Seiten umfassende Manifeste hinzufügen. Aber warum es sich schwer machen, wenn eine einfache Erklärung ausreicht, so falsch sie auch ist? Solche Untersuchungen sind in Deutschland noch nicht in der allgemeinen Berichterstattung „angekommen“, während man sich in den USA – dank der Einlassungen von Donald Trump – bereits über Schein-Korrelationen amüsierte: „Und ein kanadischer Komiker erntete viel mediale Aufmerksamkeit für ein Video, in dem er Videospiele für seine kaputte Toilette und verformte Pfannkuchen verantwortlich machte.“ Dies lässt sich auch in der Sprache der Berichterstattung finden, die Pascal Wagner analysiert (sein Beitrag ließe sich auch als grundsätzlicher Tipp für angehende Journalist:innen verwenden).

Konkret wird die Frage der Wirkungen im dritten Teil des Buches erörtert, in dem es um die Anlässe der Berichterstattung geht. Melanie Verhovnik-Heinze befasst sich mit School-Shootings und zeigt, „wie solche Spiele tatsächlich in multikausal bestimmte Radikalisierungsprozesse hineinwirken können und welchen Einfluss sie auf Kognitionen, Emotionen und Verhaltensweisen haben“. Abzulehnen ist die eindimensionale Sichtweise, der zufolge School-Shootings und andere vergleichbare Gewalttaten, in Einkaufszentren, Sportstätten oder wo auch immer, eine unmittelbare und sogar logische Folge der Spiele sind. Der Umkehrschluss, dass ein Verbot solcher Spiele dazu führe, dass es keine derartigen Massaker mehr gäbe, ist einfach absurd. Medien sind nicht der, aber durchaus ein Faktor in „Radikalisierungsprozessen“. „Medien wie gewaltdarstellende Computerspiele werden im Bereich der psychosozialen Risikofaktoren verortet und wirken in die sich selbst verstärkende soziale Isolation der betreffenden Person hinein.“ Es lässt sich aber auch feststellen, dass die „Interaktivität“ eines Spiels stärker wirke als die bloße Beobachtung von Gewalttaten. „Belohnungen“ spielen eine wichtige Rolle. Melanie Verhovnik-Heinze unterscheidet „General Aggression Model“ und „General Learning Model“. Man lernt im Grunde nur das, wozu es bereits vorher eine entsprechende Nähe und Affinität gab. Anders gesagt: Es ist nicht allein die Geschichte einer Tat, es ist auch die Vorgeschichte mit all ihren Kontexten. Andererseits: „Zusammenfassend lässt sich vorwegnehmen, dass die Exposition gegenüber gewalthaltigen Computerspielen das relative Risiko der Gewaltbereitschaft erhöht. Dies kann wiederum die Aggression und damit auch antisoziales Verhalten steigern, wohingegen prosoziales Verhalten verringert wird.“

Letztlich entspricht diese These der Analyse von Siegfried Kracauer in seinem Buch „Von Caligari zu Hitler“ (1947), in dem einerseits die Wechselwirkung zwischen Produzent:innen und Publikum, andererseits auch die Wechselwirkung zwischen Wähler:innen und zur Wahl stehenden Parteien beschrieben werden. Im Grunde handelt es sich um kommunizierende Röhren. Siegfried Kracauer erklärt den Aufstieg der Nazis aus einer solchen Wechselwirkung: „Da die Deutschen auf politischer Ebene gegen Hitler waren, muss ihre seltsame Bereitwilligkeit, denNaziglauben anzunehmen, ihren Ursprung in psychischen Dispositionen haben, die stärker als alle ideologischen Skrupel waren. Die filme des präfaschistischen Zeitraums sind für die psychologische Situation durchaus erhellend.“

Andererseits warnt auch Kracauer vor voreiligen Schlüssen: „Die Illusion bestand darin, dass man dem technischen Fortschritt die Kraft, Veränderungen zu bewirken, zuschrieb, die nur durch organisierte politische Arbeit erreicht werden kann. Technischer Fortschritt kann jedem Herrn dienen. Das erklärt die Zweideutigkeit, die den sozialistisch angehauchten Produkten der Neuen Sachlichkeit zu eigen war. Die Architektur dieses Stils wurde im faschistischen Italien aufgegriffen; in Deutschland selbst schien sie seltsam hohl und ihre sozialistischen Absichten zu desavouieren.“ Ein bestimmtes Ergebnis, beispielsweise die Etablierung einer faschistischen Diktatur, ergibt sich nicht zwangsläufig, auch gegenteilige Ergebnisse sind denkbar. Sicherlich erleichterte die exzessive Nutzung des Flugzeugs Hitler die Verbreitung seiner Thesen, aber dies ist kein Argument gegen Flugzeuge. Ähnlich ist es mit Spielen: Spiele wie das von der Bundeswehr betriebene „POL&IS“ oder das von Frederic Vester erfundene „Ökolopoly“, das es unter dem Namen „Ecopolicy“ inzwischen auch elektronisch gibt, verbreiten demokratische Botschaften, die Frage ist daher eher: sind sie auch als „Massenphänomen“ vermarktbar? Ungeachtet sicherlich in pädagogischen Prozessen einzubeziehender Kritik, wie beispielsweise aus Kreisen der Friedensbewegung zum „POL&IS“.

Kundenacquise und Kundenbindung

Sport ist ein Wirtschaftsfaktor, E-Sports inzwischen ebenfalls. So wie sich vieles aus der analogen Welt in die digitale verlagert, geschieht dies eben auch mit dem Sport, allerdings mit einem wichtigen Unterschied: E-Sports sind ein neues Segment der Sportindustrie, nicht die Alternative, die die bisherigen Segmente abschafft. Eher dürften E-Sports das Interesse am Sport erhöhen, wenn sie auch nicht unbedingt Menschen veranlassen, selbst Sport zu treiben. E-Sports ermöglichen Teilhabe an Sport ohne sich auf einer Sportanlage, in einer Sporthalle, beim Joggen im Wald oder mit dem Fahrrad durch welche Landschaft auch immer zu bewegen.

Tino Schöber und Thomas Horky bieten eine Übersicht über den Themenkomplex E-Sports. Im Unterschied zum Gaming ist für E-Sports die „Wettbewerbsorientierung“ fundamental. Unter den Sportarten dominiert Fußball, es gibt sogar eine virtuelle Liga. Es gibt Zuschauer:innen, digital und international. E-Sports haben es inzwischen in verschiedene Koalitionsverträge und Regierungserklärungen geschafft. Die Umsetzung ist in Schleswig-Holstein mit vier regionalen E-Zentren am weitesten gediehen. Es gibt Übertragungen in Spartensendern, mit eSPORTS1 sogar einen eigenen Kanal.

Bühne und Zuschauer:innen in der Key Arena zu The International 2014. Foto: Jakob Wells. Wikimedia Commons.

Es gibt Überlegungen, ausgewählte Spiele olympisch zu machen, gegebenenfalls schon 2028, auf der anderen Seite wehren sich Sportverbände dagegen, kritisch äußerte sich der Deutsche Olympische Sportbund, unbeschadet einer Anerkennung der gesellschaftlichen Bedeutung: „Als gemeinwohlorientierter Sportverband sehen wir aktuell keinen Anlass, die Abgabenordnung zu ändern und mit eGaming/‚eSport‘ einen Bereich aufzunehmen, der vor allem kommerziellen Verwertungsinteressen folgt. Darüber hinaus wollen wir einer Verwässerung des Sportbegriffs entgegenwirken, der aus unserer Sicht gegeben wäre, wenn ‚eSport‘ in der Abgabenordnung mit dem gemeinwohlorientierten Sport gleichgesetzt würde.“ Auch im Schulsport gibt es bisher keine Neigung, E-Sports unter die Schulsportarten zu zählen und beispielsweise als außerunterrichtliche Sportgemeinschaft zu fördern.

Jaspar A. Friedrich bezeichnet E-Sports als „gesellschaftliches Massenphänomen“, E-Sports sind damit ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Jochen Koubek analysiert im fünften Teil unter den „Spannungsfeldern“ die gesamte Palette der Verführung und Verführbarkeit beziehungsweise Kundenbindung unter dem Stichwort der „Monetarisierung“, die mit Werbung, Abonnements, Gebühren wie in anderen als wirtschaftlich relevant erkannten Bereichen vor allem junge Spieler:innen überfordern dürften. Ob „Spielejournalismus“ – wie Jochen Koubek hofft – zur „Aufklärung“ beitragen kann, möchte ich hier nicht bewerten. Dazu wäre eine ausführlichere Analyse auch der Curricula zu Wirtschaftsfragen in der Schule erforderlich. Ebenfalls im fünften Teil befasst sich Martin Dietrich mit den „perfekten Fans“, „Gaming-Influencer(n)“. Gerade hier zeigt sich, dass sich die scheinbar unschuldigen Spiele bestens eigenen, um wirtschaftliche, kapitalistische Strukturen zu beschreiben. Dies dürfte jedoch bei den Auftraggeber:innen und Macher:innen schulischer Curricula unter Ideologie-Verdacht fallen. Aber was bedeutet das für Journalist:innen? Sind sie nur noch „Influencer“? Damit stellt sich auch die Frage, wer ein Interesse haben könnte, sie zu bezahlen. „Influencing“ ist ein durchaus einträgliches Geschäft. Im Einzelnen lassen sich die verschiedenen Funktionen des Journalismus oft gar nicht so einfach trennen: „Sowohl der Spielejournalismus als auch die Influencer selbst befeuerten die Transformation der Medienlandschaft hin zu einzelnen Persönlichkeiten, die ihren Habitus als Spielefan und -Kritiker als stärkstes Alleinstellungsmerkmal inszenieren. Bei Gaming-Redaktionen ist es heutzutage üblich, dass nicht nur Print- und Online-Texte geschrieben werden. Vielmehr komplementieren Videos, Podcasts und Live-Streaming das Angebot, in denen die Meinungen sowie Vorlieben der Redakteure und Redakteurinnen prägend sind.“ Die Aufgabe des Journalismus als (kritische) „Kontrollinstanz“ wird somit immer wieder konterkariert.

Jaspar A. Friedrich beschreibt die Wechselwirkung zwischen der Popularität des Gamings und wirtschaftlichen wie technologischen Entwicklungen: „Spiele sind eine treibende Kraft in der Entwicklung von Computerhardware, Software und Benutzerschnittstellen. Es lassen sich in der Summe allerdings nur wenige technologische Innovationen außerhalb der Computerspielbranche finden, die nur deshalb entwickelt wurden, weil es Computerspiele gab und gibt. Die meisten technologischen Innovationen betreffen den Fortgang der Entwicklung der Computerspielbranche selbst bzw. deren Fähigkeit, Innovationen zu adaptieren und weiterzuentwickeln.“

Die Frage, ob sich elektronische Spiele pädagogisch nutzen lassen, liegt nahe. Mit dieser Frage befassen sich Eik-Henning Tappe und Markus Gennat. Sie schreiben: „Durch die interaktive Manipulation von immersiven Spielwelten und -inhalten können dabei Selbstwirksamkeitsprozesse angestoßen werden, die zu einer freiwilligen, intensiven Auseinandersetzung mit komplexen Sachverhalten führen.“ In der Kinder- und Jugendforschung sowie der Bildungsforschung würden diese Effekte der Spiele unter die informelle Bildung gezählt werden. Bereits 2010 gab Nils Neuber einen Sammelband zu „Informelles Lernen im Sport“ heraus. Es gibt vergleichbare Untersuchungen zur informellen Bildung beispielsweise in der Skater-Szene. Die beteiligten Personen erwarben dort ohne pädagogische Anleitung durch Dritte organisatorische, technische und soziale Fähigkeiten, die sie in der Schule als der gängigen Einrichtung formaler Bildung oder außerschulischen Einrichtungen der non-formalen Bildung nicht erlernt hätten. Allerdings ist auch die Frage der beiden Autoren berechtigt, ob und wie sich die eher „unbewusst“, das heißt ohne Bezug auf ein bestimmtes Curriculum erworbenen Fähigkeiten, die auch „Selbstwirksamkeitserfahrungen“ sind, auch in formalen oder non-formalen Bildungsprozessen nutzen ließen. Natürlich spielt die Entstehung von „Flow“ nach Mihály Csíkszentmihályi eine wichtige Rolle. Eben dieser „Flow“ fehlt bekannterweise in der Regel in formalen Bildungsprozessen und lässt sich künstlich nur in Ausnahmefällen erzeugen. Ob die „Gamification“ von Bildungsprozessen hilft, wird von den beiden Autoren diskutiert. Im Grunde ist sie ein Widerspruch in sich: „Als Entwickler:in solcher Systeme muss man sich dann ggf. die Frage gefallen lassen, ob durch die Instrumentalisierung von Spiel nicht dessen Authentizität untergraben wird und somit seine originär-inhärenten Qualitäten verloren gehen.

Anders gesagt: Der Bildungsmarkt ist ein zentrales Segment des gesamtgesellschaftlichen Marktes, auf dem sich Gaming, E-Sports, Spiele im Grunde jeder Art platzieren ließen und in der Vergangenheit auch immer haben platzieren können, auch dank des in einem kapitalistischen Rahmen inszenierbaren „Fetischcharakter“ der angebotenen Waren, die ihre eigene Nachfrage erzeugen, die wiederum neue Produkte hervorruft, sodass Spiele letztlich dazu beitragen, dass nicht nur die Spielenden, sondern auch die Erfinder:innen, Produzent:innen und Vermarkter:innen gleichermaßen von dem „Flow“ erliegen, der ihr Verhalten zu steuern und zu verändern vermag. Dieser Kontext wird in game-journalistischen Arbeiten jedoch eher am Rande vermerkt, wenn überhaupt.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Veröffentlichung im Januar 2024, Internetzugriffe zuletzt am 16. Januar 2024. Titelbild: Cosplay at Stan Lee’s Comikaze Expo 2011, Draenite Paladine from World of Warcraft. Foto: Srini Rajan. Wikimedia Commons.)