Die Slowakei ist in einer tiefen Krise
Eine kurze Bilanz des Jahres 2024 von Michal Hvorecky
Die politische Orientierung der slowakischen Regierung hat sich nach dem Regierungswechsel im Herbst 2023 und dem Wechsel des Amts des Präsidenten von Zuzana Čaputová zu Peter Pellegrini deutlich verändert. Dies hat sich bei EU-Entscheidungen im Hinblick auf die Unterstützung der Ukraine noch nicht so stark ausgewirkt wie befürchtet, aber es gibt deutliche Anzeichen, dass die Slowakei gemeinsam mit Ungarn eine Annäherung an Putins Russland betreibt. Innenpolitisch ist die von Viktor Orbán propagierte „illiberale Demokratie“ Vorbild. Besonders betroffen sind Justiz und Kultur.
Der Schriftsteller Michal Hvorecky ist ein führendes Mitglied der zivilgesellschaftlichen Opposition im Kulturbereich. Zuletzt berichtete er im Demokratischen Salon im März 2024 über die großen Demonstrationen vor allem in Bratislava. Unter der Überschrift „Hass und Hetze? Wir doch nicht – nur die anderen“ kommentierte die Osteuropahistorikerin Martina Winkler (Universität Kiel) im Juni 2024 im Demokratischen Salon die Entwicklungen nach dem Attentat auf den Ministerpräsidenten Robert Fico. Die „illiberale“ Entwicklung setzt sich seitdem fort. Den „Bauplan für eine populistische Kulturpolitik“ beschrieb Markus Huber in der Dezemberausgabe 2024 der Zeitschrift „Politik & Kultur“. Allerdings erscheint die Regierung weniger stabil als zu Beginn. Es wird sogar über Neuwahlen spekuliert.
Zum Jahreswechsel 2024 auf 2025 beschreibt Michal Hvorecky die tiefe Krise des Landes und mögliche Perspektiven.
Versuche zum Umbau des Justizsystems
Norbert Reichel: Welche Bilanz würdest du für das Jahr 2024 ziehen?
Michal Hvorecky: Um es kurz zusammenzufassen: Es sind jetzt – zum Jahreswechsel 2024 auf 2025 – 14 Monate der vierten Regierung von Robert Fico und wir sehen die ersten Ergebnisse. 2024 war ein turbulentes Jahr, für das ganze Land, für die Regierung, für die Kulturszene, auch für mich persönlich nach der Strafanzeige der Kulturministerin Martina Šimkovičová gegen mich. Dem Land geht es nicht gut. Ich glaube, es ist in einer tiefen Krise. Es droht gerade ein großer Streik der Ärzte. Viele Ärzte wollen die Krankenhäuser verlassen. Tausende haben schon gekündigt. Es gibt große Verhandlungen zwischen dem Gesundheitsministerium und den Ärzten. Es gibt Drohungen eines Lehrerstreiks. Es gibt eine große Unzufriedenheit mit der Arbeit dieser Regierung. Am heftigsten sind vor allem drei Bereiche betroffen: Justiz, Kultur und Umwelt, inzwischen kommt das Gesundheitswesen als vierter Bereich hinzu.
Das Jahr 2024 war auch historisch bedeutsam. Im Mai gab es dieses schreckliche Attentat auf den Premierminister Robert Fico. Seitdem hat er sich verändert. Er kann nicht mehr richtig durchregieren. Die Dreierkoalition ist schwach und instabil geworden. Das Parlament ist oft längere Zeit nicht beschlussfähig. Einige sprechen schon von vorgezogenen Neuwahlen. Alles ist sehr intensiv. Es gibt viel zu wenig gute Nachrichten aus diesem Jahr. Es gibt viel Frustration, viel Wut. Wir hatten gerade noch am 12. Dezember 2024 einen letzten Protest dieses Jahres, eine Demonstration der offenen Kulturszene, ein Abschlusskonzert am Freiheitsplatz in Bratislava. Es waren etwa 5.000 bis 6.000 Menschen. Die Proteste sind damit für dieses Jahr erst einmal abgeschlossen. Ich bin voller Widersprüche in mir bei einer Bewertung des Jahres. Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht.
Am Montag, dem 14. Dezember 2024, hatte ich auch mein Verhör wegen der Anzeige der Kulturministerin. Deshalb bin ich selbst in keiner sicheren Position. Mein Kopf ist voller Gedanken und Erlebnisse. Ich hoffe, das nächste Jahr wird besser.
Norbert Reichel: Wie hat sich die Polizei bei dem Gespräch verhalten?
Michal Hvorecky: Ich war mit meinem Rechtsanwalt da, denn ich möchte das nicht unterschätzen. Die Kulturministerin behauptet, ich hätte bei einem Text im Oktober 2023, bei der Gründung der Regierungskoalition, sie verleumdet. Theoretisch droht mir auch eine Haftstrafe von fünf Jahren. Das Verhör war sehr professionell, die Polizei war sehr professionell. Wir wollten diese weitere Schikane des Staates gegenüber kritisch schreibenden Personen als Gelegenheit nutzen und haben eine juristische Analyse vorbereitet, auch mit Hilfe einer Verfassungsjuristin, um der Polizei zu erklären, worum in den 2020er Jahren für eine Ideologie? Wie unterscheidet sich der heutige Neofaschismus von dem Faschismus der Nazizeit oder aus Italien in den 1920er und 1930er Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs? Was bedeutet eigentlich Pressefreiheit? Warum ist sie wichtig? Wir haben viele Fälle beschrieben, aus der Slowakei, aber auch aus dem Ausland, aus Island, aus Österreich. Der Polizist selbst sagte mir, dass in der Geschichte des Paragraphen zur Verleumdung es nach Tausenden von Anzeigen bisher nur drei Fälle gab, die tatsächlich vor Gericht kamen. Ich hoffe noch, dass die Anzeige schon in der ersten Instanz abgelehnt wird.
Andererseits habe ich erfahren, dass die juristische Unterstützung der Kulturministerin von der Firma von Robert Kaliňák erfolgt. Das ist der aktuelle Verteidigungsminister, ein sehr umstrittener Politiker. Seine Firma ist sehr bekannt, sie unterstützt den Staat auch bei der Verteidigung von Oligarchen und Sponsoren von SMER. Das sind schon sehr mächtige Leute.
Norbert Reichel: Man versucht, politische Gegner einzuschüchtern.
Michal Hvorecky: Auf jeden Fall. Das ist die Strategie.
Norbert Reichel: Welche konkreten Anzeichen gibt es zum Umbau des Justizsystems, nach dem Vorbild Ungarns oder der PiS-Regierung in Polen?
Michal Hvorecky: Die Justiz musste bereits im Frühjahr 2024 eine große Reform erleben. Die Strafen wurden geändert. Viele Oligarchen, die vor Gericht standen, sind wieder auf freiem Fuß, darunter viele Parteimitglieder von SMER wie der Vizepräsident des Nationalrats. Viele kritische Künstlerinnen und Künstler wie Ilona Nemeth und ich sind angezeigt worden. Es gibt erheblichen Druck von Seiten der Politik gegen Andersdenkende. Ich lasse mich nicht einschüchtern. Ich äußere mich weiter, gehe zu Demonstrationen. Es gab zu meiner Unterstützung auch einen öffentlichen Aufruf, den Tausende von Menschen unterzeichnet haben. Ich habe viel Solidarität gespürt. Das gibt mir viel Hoffnung und gibt mir auch ein Stück Glauben an die Zukunft der Slowakei. Das zeigt, dass es immer mehr Menschen gibt, die unzufrieden damit sind, wie sich die Lage entwickelt.
Meine Sorge ist aber auch, dass die Konsequenzen des Diskurses, der Hasstiraden und der Maßnahmen von Martina Šimkovičová auch in der Zeit, in der sie nicht mehr Kulturministerin sein wird, nachwirken. Das hat Spuren hinterlassen. Es ist nicht nur sie, sondern wir haben als Land das zugelassen! Die Direktorin der Nationalgalerie wurde jetzt entlassen, eine unserer besten Kuratorinnen. Der Verfall in der Kultur geht weiter und es wird Jahre dauern, bis das wieder repariert werden kann.
Neben der Kulturszene kommt die zivilgesellschaftliche Opposition auch aus der Umweltbewegung. Aber wir bräuchten mehr, offensichtlich reicht das nicht. Im Dezember 2024 demonstrierten noch etwa 5.000 Menschen. Ich hätte mir 50.000 Menschen gewünscht.
Norbert Reichel: Ermüdungserscheinungen?
Michal Hvorecky: Vielleicht. Aber auch viel Frustration und Resignation. Viele glauben, es wird sich nichts ändern. Bisher hat die Opposition wenige reale Ergebnisse erreicht. Die Kulturministerin – ich sage das immer wieder – wird nur zurücktreten, wenn sie zurücktreten muss. Freiwillig wird sie das nicht tun. Sie wird nur zurücktreten, wenn die Koalition zerfällt. Ähnlich war das zur Zeit der Regierung von Vladimír Mečiar. Der Kulturminister wollte damals nicht zurücktreten, er musste.
Die Parteien und mögliche Regierungsbündnisse
Norbert Reichel: Wie verhält sich die parlamentarische Opposition?
Michal Hvorecky: Sie ist schon sehr aktiv. Progesívne Slovensko steigt in allen Umfragen, in einigen Umfragen ist die Partei schon auf Nummer Eins. Das verstärkt sicherlich auch heftig die Spannungen in der Dreierkoalition. Die PS tut was möglich ist. Sie reisen durch das Land, sprechen mit Menschen, organisieren eigene Demonstrationen, sind auch im Parlament sehr präsent. Ich kann nur hoffen! Ohne sie wird es keine neue Regierung geben. Aber sie brauchen mehr Zusammenarbeit.
Hätten wir jetzt schon vorgezogene Neuwahlen, wäre das Ergebnis noch nicht grundsätzlich anders als vor 14 Monaten. Es gäbe sicherlich eine andere dritte Partei. Aber SMER und HLAS wären sicherlich noch die Parteien, die über die künftige Regierung entscheiden, möglicherweise mit der Partei Hiutne Republika, eine eindeutig rechtsextreme Partei, die SNS ablösen könnte. Bei den Europawahlen erhielt Hiutne Republika über zehn Prozent der Stimmen.
Wenn die PS eine Regierung bilden wollte, müsste sie auch Kompromisse eingehen, mit den Christdemokraten der KDH oder der liberalen SAS – wenn die beiden Parteien es überhaupt ins Parlament schaffen. Vielleicht wäre auch ein Kompromiss mit der HLAS möglich, das wäre aber eine schwierige Regierungsbildung. Aber solch schwierige Regierungsbildungen gibt es zurzeit überall in Europa, in Frankreich, in deutschen Bundesländern.
Norbert Reichel: Auch in Polen ist es nicht einfach, die Rechtsstaatlichkeit nach dem Regierungswechsel Ende 2023 wieder herzustellen. Dort hängt viel vom Ergebnis der Präsidentschaftswahl im Mai 2025 ab. Es gibt immer mehr Minderheitsregierungen in Europa, entsprechend auch häufigere Regierungswechsel. Erstaunlich ist die Stabilität der Regierung beispielsweise in Dänemark, die es geschafft hat, mit allerdings zum Teil sehr fragwürdigen Maßnahmen in der Migrationspolitik die Rechtextremen zu einer kleinen unbedeutenden Partei zu machen. Wie verhält sich Peter Pellegrini?
Michal Hvorecky: Wie erwartet. Er ist oft unsichtbar, offenbar völlig einverstanden mit dem, was die Regierung macht. Viele sehen es sehr kritisch, dass er zu den Protesten der Kulturszene schweigt. Er war nicht bereit, Mitglieder von Otvorená Kultúra – Mitglieder sind inzwischen mehr als 4.000 Kulturschaffende – zu empfangen. Er wollte mit ihnen nicht reden. Er ignoriert die gesamte Gruppe und unterzeichnet alle Gesetze so wie sich das der Premierminister wünscht. Das ist mit der Amtsführung seiner Vorgängerin Zuzana Čaputová nicht zu vergleichen. Sie war immer präsent, immer sehr laut, wenn irgendwo Unrecht passierte. Sie war eine sehr wichtige Stimme im Land. Pellegrini ist eine große Enttäuschung.
Norbert Reichel: Er verhält sich im Grunde wie Andrzej Duda in Polen, der immer als „Kaczyńskis Kugelschreiber“ bezeichnet wurde. Obwohl Pellegrini nicht Mitglied der SMER, sondern der HLAS ist.
Michal Hvorecky: Die Zukunft der HLAS als Partei ist sehr unsicher. Der neue Parteivorsitzende ist der Innenminister Matúš Šutaj Eštok. Er ist sehr umstritten und unbeliebt. Die Partei sinkt in den Umfragen. Im Herbst 2024 gab es leider einen sehr skandalösen Fall, als zwei Polizisten in Košice einen Obdachlosen getötet haben. Der Innenminister trat nicht zurück. Es gab kaum Aufarbeitung der polizeilichen Brutalität.
Pellegrini ist in der Partei nicht mehr so aktiv wie er das einmal war. Andererseits gibt es drei Abgeordnete von HLAS, die sich wie sonst nur wenige in der Regierungskoalition für die Kulturszene interessieren und sich auch kritisch zu dem geäußert haben, was die Kulturministerin macht, zur Kulturförderung, zu ihren Maßnahmen in Nationalgalerie und Nationaltheater. Sie interessieren sich für Otvorená Kultúra. Der Premierminister behauptet immer wieder, dass er zu 100 Prozent hinter der Kulturministerin steht. Diese drei Abgeordneten geben Hoffnung, dass nicht alle in der Koalition hinter der Kulturministerin stehen.
Norbert Reichel: Ich fasse die Lage einmal so zusammen: Es gibt Instabilität in der Regierung, es gibt Druck von außen, aber es reicht noch nicht aus, um eine andere Mehrheit zu schaffen. Vielleicht gehen wir noch einmal auf die Entwicklungen der extremen Rechten ein. Wir haben die SNS als Teil der Regierung, der die Kulturministerin und der Umweltminister Tomáš Taraba angehören. Die SNS verliert an Zuspruch, aber dafür gibt es jetzt das zweistellige Ergebnis von Hiutne Republika bei den Europawahlen.
Michal Hvorecky: In den Umfragen liegt Hiutne Republika zurzeit nicht so hoch, so etwa zwischen sieben und zehn Prozent. SNS liegt inzwischen bei zwei oder drei Prozent und wird es höchstwahrscheinlich nicht mehr ins Parlament schaffen. Hiutne Republika ist in der Opposition sehr laut. Die Partei nutzt sehr intensiv die Kraft der Algorithmen der sozialen Netzwerke.
Neuorientierung der slowakischen Außenpolitik
Norbert Reichel: Außenpolitisch vertritt Fico ähnliche Ansichten wie sein Vorbild Viktor Orbán. Dazu passen weitere Nachrichten vom Jahresende 2024. Fico traf Putin und verkündete, die Ukraine müsse Gebiete an Russland abtreten und hat die Slowakei als Vermittler angeboten. Putin hat Fico, Orbán und Gerhard Schröder Neujahrswünsche geschickt. Putin sortiert schon sehr genau, wem er Wünsche schickt und wem nicht.(Fico steht nicht auf dieser Liste, ihm wurden aber Neujahrswünsche geschickt – so der Pressesprecher Putins). Die Präsidentin der EU-Kommission, der US-Präsident, der französische Staatspräsident und der britische Premierminister, der deutsche Bundeskanzler waren zum Beispiel nicht dabei, auch nicht die italienische Ministerpräsidentin.
Michal Hvorecky: Es gibt eine grundlegende Neuorientierung der slowakischen Außenpolitik. Juraj Blanár, der wie Fico SMER angehört, vertritt eine vierseitige Außenpolitik – so nennt er es – nach allen Seiten offen. Er ist aber sehr russisch orientiert. Es gab jetzt einen Staatsbesuch in Sankt Petersburg, geplant ist ein Besuch von Andrej Danko, dem Chef der SNS, in Russland. Am 9. Mai will Fico – so sagt er – nach Moskau fahren.
Das alles ist skandalös. Die Slowakei hat auch gemeinsam mit Ungarn den neuen georgischen Präsidenten anerkannt – gegen die heftige Kritik der georgischen Zivilgesellschaft und Opposition und gegen die heftige Kritik der Europäischen Union an der Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses. Orbán steht nicht mehr alleine in der Europäischen Union. Er darf sich darauf verlassen, dass Fico und Blanár ähnlicher Meinung sind.
Das kommt in der Slowakei nicht überall gut an. Die Slowakei ist im Grunde sehr proeuropäisch, aber bei Fico erleben wir eine eindeutig pro-putinische Ausrichtung der Regierungspolitik. Dazu ist auch zu sagen, dass Sergej Lawrow in einer seiner typischen Provokationen Anfang Dezember 2024 erzählt hat, dass die Slowakei ernsthaft überlege, Teil der geopolitisch asiatisch und an Russland ausgerichteten Eurasischen Wirtschaftsunion zu werden. Das hat das slowakische Außenministerium allerdings sofort dementiert. Aber diese Provokation ist ein Zeichen, dass Russland spürt, dass jetzt eine günstige Zeit ist, mehr Druck auf die Slowakei auszuüben.
Norbert Reichel: Russland hat aus meiner Sicht zurzeit zwei gravierende Probleme. Einerseits verliert Russland die für die diversen Engagements in Afrika wichtige Unterstützung in Syrien – allerdings noch mit offenem Ausgang – und auf der anderen Seite ist Russland in der Ukraine im Grunde nicht viel weitergekommen als es 2014 schon war. Ob Russland nun ein paar Tausend Quadratkilometer mehr oder weniger besetzt, ist nicht die entscheidende Frage, dramatisch ist der Terror gegen die Infrastruktur in der Ukraine. Und dann sind da noch all die Unwägbarkeiten der kommenden Präsidentschaft von Donald Trump. Fico und Orbán sind gefährlich. Gefährlich sind aber auch die Rechtsparteien, die zurzeit (noch) in der Opposition sind wie die FPÖ in Österreich, der Rassemblement National in Frankreich, die AfD in Deutschland, alle drei verhalten sich im Grunde überwiegend russlandfreundlich.
Michal Hvorecky: Dieser globale Rechtsruck macht mir sehr große Sorgen. Außen- und innenpolitisch gleichermaßen.
Norbert Reichel: Spielt Migration eine Rolle in der politischen Debatte?
Michal Hvorecky: Das hat sich seit 2015 sehr abgeschwächt. Nach den erfreulichen Entwicklungen in Syrien hat sich der Innenminister sofort zu Wort gemeldet und gewarnt, wir müssten aufpassen, dass nicht wieder Flüchtlinge aus Syrien nach Europa kommen wollen.
Norbert Reichel: Ganz anders als in Deutschland. Da kamen am Tag nach der Flucht Assads nach Moskau sofort die Forderungen, dass alle aus Syrien nach Deutschland geflüchteten Menschen doch jetzt schnell zurückkehren müssten. Das wurde dann wieder abgeschwächt, das Handwerk beispielsweise setzte sich für die aus Syrien stammenden Fachkräfte ein.
Michal Hvorecky: Die allgemeine Stimmung ist gut. Die slowakische Öffentlichkeit sieht, dass außer den Menschen aus der Ukraine, die gut integriert sind, in allen möglichen Bereichen arbeiten, in Fabriken, Cafés, Restaurants, Schulen sichtbar sind, kaum jemand in die Slowakei kommt. Es gibt schon – ähnlich wie in Polen – eine gewisse Müdigkeit gegenüber Zugewanderten aus der Ukraine, aber in der Gesellschaft gibt es wenig Spannungen, das ist allenfalls politisch. Es gibt zum Beispiel Aussagen von Robert Fico, in Kyiv gäbe es keinen Krieg.
Im November war ich in Kyiv. Eine Woche lang. Ich hätte Robert Fico gewünscht, eine Nacht in einem Luftschutzbunker zu verbringen. Dann verträte er vielleicht eine andere Meinung. Insgesamt steht die Slowakei immer noch sehr stark an der Seite der Ukraine. Es gibt viel humanitäre Hilfe. Es gibt auch viel ukrainische Literatur, die jetzt ins Slowakische übersetzt wurde.
Norbert Reichel: Und jetzt finden wieder Demonstrationen gegen Fico statt, diesmal gegen seinen prorussischen Kurs. Anlass sind seine Drohungen gegen die Ukraine, weil sie die Durchleitung von russischem Gas in die Slowakei eingestellt hatte. Du hast an den Demonstrationen teilgenommen und in der FAZ berichtet.
Michal Hvorecky: Es waren Demonstrationen für Europa. Wir schwenkten die Flaggen der Europäischen Union und riefen: ‚Wir sind nicht Russland. Wir sind Europa!‘ Dann hörten wir die Hymne, die Ode an die Freude. Einer der Hauptredner war der slowakische visuelle Künstler Rudolf Sikora. Er rief die slowakischen Oppositionsparteien dazu auf, sich mit Aktivisten und Bürgerverbänden gegen die Bedrohung durch den russischen Einfluss und Hybridkrieg zu verbünden. ‚Ich bitte sie, Oppositionspolitiker, kommen Sie vernünftig zusammen‘, so Sikora. Er ist achtzig und eine Legende der slowakischen Kultur und des demokratischen Widerstandes. Über Hundert Mal wurde er in der 1970er und 1980er Jahren von der kommunistischen Staatssicherheit als Dissident verhört. Aktiv bereitete er die Samtene Revolution im November 1989 vor. Seinen Aufruf sollte man auch in Österreich, Deutschland oder Schweiz hören. Die Slowakei zeigt, was es bedeuten kann, wenn man mit neuen Rechten koaliert. Sie werden als Regierungsparte nicht plötzlich milder oder versuchen, tatsächlich Probleme zu lösen. Viele in Österreich sagen jetzt: Lasst die FPÖ doch regieren, damit die Leute sehen, dass sie es nicht können. Und ähnliches gilt für die AfD in Deutschland. Ich sage: Bitte nicht. Kaum eine Kunstgalerie, Museum oder Theaterfestival haben den Kulturkampf der Ministerin Šimkovičová nach nur einem Jahr unbeschadet überstanden. In kurzer Zeit wurden tiefgreifende Änderungen mit langjährigen Konsequenzen in der Kulturlandschaft unternommen. Keine öffentlich geförderte Institution ist frei von der Bevormundung und ihrer gefährlichen Ideologie.“
Außen- und Innenpolitik lassen sich nicht trennen. Die Entstehung einer fünften Kolonne des totalitären Russlands droht bald direkt in der Mitte des Kontinents, mit Ungarn, der Slowakei und Österreich, in Tschechien. Diese SK-HU-AT-CZ-Allianz der kleptokratischen Autokraten, die Anne Applebaum in ihrem letzten Buch eindrucksvoll beschrieb (Autocracy Inc., New York, Doubleday, 2024) ähnelt auf der Landkarte der alten Donaumonarchie. Oder erinnert sie eher an die Brochsche „fröhliche Apokalypse“? Schauen sie Richtung Osten, der Blick in dieses Chaos enthält die Keime der Zukunft.
Gesundheit, Inflation und teure Mieten
Norbert Reichel: Das Thema der Gesundheit nanntest du als den vierten problematischen Bereich. Könnten diese Entwicklungen den Druck auf die Regierung erhöhen?
Michal Hverecky: Das ist ein sehr heikles Thema. Die Ärzte drohen, dass sie die Krankenhäuser verlassen, dass sie kündigen. Tausende haben das schon getan. Sie erpressen im Grunde das Gesundheitsministerium, fordern mehr Geld, bessere Bedingungen für ihre Arbeit. Der Innenminister nennt sie inzwischen Terroristen. Das Thema stellt ein bisschen die Kulturszene in den Schatten. Viele kritisieren auch die Haltung von Robert Fico, der sagt, Gesundheit wäre nicht sein Thema. Aber er ist für diese Regierung verantwortlich! Er ist der Chef!
Norbert Reichel: In Deutschland berichtete sogar die Tagesschau. Welche Gründe führen die Ärzte konkret an?
Michal Hvorecky: Viele Ärzte verlassen die Slowakei, zumindest nach Tschechien. Das Parlament hat im Dezember 2024 ein Gesetz verabschiedet, das Ärzten die Kündigung verbietet. Ihnen drohen Gefängnisstrafen. Viele haben zu lange Arbeitszeiten, die Krankenhäuser sind höchst sanierungsbedürftig. Alle, die im Gesundheitswesen arbeiten sind gestresst.
All dies ist ein Zeichen, wie sehr sich die Lage zugespitzt hat. Die Regierung hat wenig Optionen als zu verhandeln. Die Ärzte haben starke Gewerkschaften. Auch Oligarchen im Gesundheitswesen kritisieren die Regierung. Die Ärzte haben sich kurz vor Weihnachten mit der Regierung bis März 2025 geeinigt. Der Premierminister Fico hat das Dokument noch nicht unterzeichnet und ist auch nicht zur Pressekonferenz erschienen. Die Einigung kam zustande, obwohl das Parlament nicht tätig wurde, was ursprünglich von den Ärztegewerkschaften gefordert worden war. Dies bedeutet, dass sich die Regierung nun zu Gesetzesänderungen verpflichtet. Stimmt der Nationalrat diesen nicht zu, werden die Kündigungen der 3.300 Ärzte ab März doch wirksam.
Norbert Reichel: Wie sieht es mit sozialen Themen aus? Hier könnte ich mir genauso kritische Debatten vorstellen wie beim Thema Gesundheit.
Michal Hvorecky: Die Lage hat sich weiter zugespitzt. Die Teuerung (Lebensmittel zirka 4,5 Prozent, Inflation zirka 3 Prozent) hält an. Ab 1. Januar 2025 wird es weitere Teuerungen geben. Die soziale Spannung ist in der Gesellschaft sehr präsent. Auch das stellt die Kultur in den Schatten, gerade auch in der Mittelschicht. Die Spaltung im Land zwischen reichen und ärmeren Menschen wird immer größer. Ich habe leider keine besseren Nachrichten. Aber es ist wohl ähnlich wie in Deutschland. Auch da gibt es diese Teuerung.
Norbert Reichel: Die Teuerungsrate ist deutlich gesunken, aber es ist immer die Frage, zwei oder drei Prozent von was? Das Ausgangsniveau ist seit der Teuerung der vorangegangenen Jahre deutlich höher, sodass vor allem Lebensmittel deutlich teurer geworden sind. Nichts wurde wieder preiswerter. Nur bei den Energiepreisen gab es etwas Entspannung, aber ob diese Entwicklung stabil ist, ist noch eine andere Frage. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf außenpolitische Positionierungen. Russisches Öl und Gas sind für einige Parteien immer noch das Zaubermittel für eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung.
Die Teuerung belastet vor allem diejenigen sehr, die mit jedem Cent rechnen müssen, aber auch Mittelschichten. Ein ganz kritischer Punkt sind die Mieten. In den großen Städten finden die Kommunen kaum noch Fachpersonal für Kindertagesstätten, Pflege, Krankenhäuser, auch in vielen anderen Bereichen, weil die Mieten zu hoch sind. Das reicht bis in die Peripherie hinein, beispielsweise ans Ende der S-Bahnringe von München oder Berlin. Und diejenigen, die vom Land her einpendeln, haben oft sehr lange Wege und müssen mit den Benzinpreisen zurechtkommen. Der Öffentliche Nahverkehr erreicht ländliche Gebiete nur bedingt.
Michal Hvorecky: Das, was du beschreibst, könnte auch für uns gelten. Die hohen Mieten sind auch bei uns ein großes Problem. Das ist inzwischen ein europäisches Problem geworden. Wir bekommen in der Slowakei kaum noch Lehrer, Krankenschwestern, Pflegekräfte. Das hat auch damit zu tun, dass unsere gesamte Wirtschaft immer noch sehr stark auf fossilen Energien beruht. Die Autoindustrie ist nach wie vor der Motor der Wirtschaft. Die vier wichtigsten Autohersteller, jetzt als fünfter auch Volvo, planen für E-Autos, aber das geht nicht voran. Die gesamte Branche steckt in einer tiefen Krise. Aber das muss ich einem Deutschen nicht erklären.
Norbert Reichel: Ein Ausblick?
Michal Hvorecky: Wir werden weiterkämpfen. Und wir hoffen, dass die Kulturministerin zurücktritt. Die Kulturszene erlebt eine internationale Solidarität wie wahrscheinlich noch nie zuvor. Es gab zum Beispiel beim Mitteleuropäischen Forum Mitte November 2024 auch internationale Gäste wie Timothy Garton Ash, Milo Rau und Anne Applebaum, die sich mit der Lage in der Slowakei solidarisch erklärten. Das finden wir sehr wichtig und das gibt uns Hoffnung, dass die Welt uns nicht vergessen wird, dass die Slowakei Teil einer internationalen Gemeinschaft geworden ist und dass das, was bei uns passiert, auch als eine Art Vorwarnung, nicht zuletzt in Deutschland, wahrgenommen wird, auf keinen Fall mit den neuen Rechten zu regieren, keine Koalitionen mit ihnen zu bilden.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2025, Internetzugriffe zuletzt am 5. Januar 2025. Das Titelbild zeigte eine der Demonstrationen gegen Fico in Bratislava. Foto: Michal Hvorecky.)