Identitätsstiftender Antisemitismus
Antisemitismuskritische Bildung und Forschung nach dem 7. Oktober
„Die Gewalt lebt von Schweigen und Indifferenz. Im öffentlichen Sprechen über Antisemitismus geht es eher um Hass und Straftaten als um die strukturelle Verankerung des Antisemitismus in allen gesellschaftlichen und sozialen Systemen. Bei Fragen, ob eine Situation antisemitisch sei, zeigt sich ein Widerspruch: Die historischen Traditionen der Diffamierung, Ausgrenzung, Entrechtung und Verfolgung werden nicht mit der Wirklichkeit der Gegenwartsgesellschaft verbunden.“ (Marina Chernivsky, Die Ruptur, in: Jüdische Allgemeine 31. Januar 2024)
Die Psychologin Marina Chernivsky gründete im Jahr 2015 das Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment, seit 2023 als Kompetenzzentrum Antisemitismuskritische Bildung und Forschung bezeichnet. 2017 gründete sie die Beratungsstelle OFEK e.V. Im Demokratischen Salon hat sie in „Wehrhaft und emanzipiert“ ihre Arbeit und das zugrundeliegende Bildungs- und Forschungsverständnis beschrieben. Sie war Mitglied im Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages, der 2017 seinen Bericht veröffentlichte, und ist in verschiedenen Beratungsgremien in Bund und Ländern.
Gemeinsam mit der Sozialarbeiterin und Erziehungswissenschaftlerin Friederike Lorenz-Sinai veröffentlicht sie regelmäßig Studien zum Antisemitismus. Friederike Lorenz-Sinai forscht und lehrt an der Fachhochschule Potsdam. In „Über das Schweigen“ hat sie im Demokratischen Salon über Dynamiken in institutionellen Gewaltsystemen und die Ausformung von Schweigepraktiken gesprochen, die sie in ihren Forschungen zu Gewaltakten in Jugendwohngruppen und zu antisemitischen Übergriffen untersucht hat.
Das Kompetenzzentrum ist Mitglied im Kompetenznetzwerk Antisemitismus. Eine wichtige Einrichtung ist die in vier Sprachen agierende Beratungsstelle OFEK e.V.. OFEK berät Betroffene von Antisemitismus und begleitet Institutionen im Umgang mit Antisemitismus. OFEK veröffentlicht regelmäßig Beratungsstatistiken und Stellungnahmen. Das Kompetenzzentrum versendet einen Newsletter, in dem aktuelle Ergebnisse, Forschungsaufrufe und Veranstaltungen vorgestellt werden.
Im Juni 2024 veröffentlichten Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ den Essay „Der 7. Oktober als Zäsur für jüdische Communites in Deutschland“.
Es ist existenziell
Norbert Reichel: Was hat sich bei OFEK seit dem 7. Oktober verändert?
Marina Chernivsky: Ich tu mich bei solchen Fragen immer etwas schwer, gleich operationalisiert darüber zu sprechen, was sich in der Beratungspraxis verändert hat. Das sprunghaft gestiegene Beratungsaufkommen kam nicht aus dem luftleeren Raum, sondern ist Resultat gesellschaftlicher Zustände. Grundsätzlich richten sich gezielte genozidale Terroranschläge gegen eine bestimmte Gemeinschaft. Auf diese Weise fühlen sich alle Angehörigen dieser Gemeinschaft mitgemeint. Der Anschlag hat Jüdinnen und Juden weltweit an die Verwundbarkeit ihrer Existenz erinnert. Diese Erfahrung berührt tiefe Schichten im jüdischen Bewusstsein und scheint existenziell, offenbar unabhängig davon, ob wir dies wissenschaftlich erforschen oder aus dem Blickwinkel des Beratungsgeschehens betrachten.
Als beratende Institution mit Community-Bezug, musste OFEK sofort darauf reagieren und im Krisenmodus arbeiten. Die Vergegenwärtigung der Größe des Ereignisses kam dennoch in Schüben. Wir haben eine sprunghaft gestiegene Inanspruchnahme der Beratung erlebt, als Resultat der sich verdichtenden antisemitischen Bedrohung aber auch einer globalen Verunsicherung und noch heute noch andauernden Normalitätsverschiebung. Solche Ereignisse verändern immer etwas auf Dauer, individuell wie kollektiv.
Norbert Reichel: Manche sagen – meines Erachtens mit Recht –, dass mit dem 7. Oktober etwas ausgebrochen ist, das latent immer schon da war.
Friederike Lorenz-Sinai: Ja, antisemitische Bedrohung bricht nicht auf einmal aus oder steigt plötzlich an. Es gab schon vorher einen Alltagsantisemitismus und eine konstante Gefährdungslage durch antisemitischen Terror. Eine kurze Sortierung unserer Studien. Da ist zum einen die Studie, die von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gefördert wird. In dieser Studie fragen wir nach der Bedeutung des 7. Oktobers, nach den Auswirkungen auf jüdische und israelische Communities in Deutschland. Auf den viersprachigen Forschungsaufruf hin haben wir bisher mit fast hundert Personen narrative Interviews und Gruppendiskussionen geführt. Einige Interviewpartner:innen haben zudem für die Studie dreimonatige Selbstbeobachtungen durchgeführt. Damit wollen wir Veränderungen im zeitlichen Verlauf verstehen. Aktuell führen wir für diese Studie noch Interviews mit Jugendlichen und Gruppendiskussionen mit jüdischen Schülerinnen durch. Zudem führen wir seit dem Jahr 2018 unsere Bundesländerstudienreihe durch, in der wir Lehrkräfte und ehemalige jüdische Schüler:innen nach ihren Erfahrungen mit Antisemitismus fragen, sowie Studien zu Antisemitismus an Gedenkstätten und im Kontext der Polizei.
Im Vergleich dieser empirischen Datenlage vor und nach Oktober 2023 wird der Einschnitt des 7. Oktobers sehr deutlich. Zugleich gibt es aber auch Kontinuitäten an Antisemitismuserfahrungen, die sich durchziehen. Die Befunde zeigen, dass mit dem Massaker in Israel eine weitere Dynamik für Jüdinnen und Juden in Deutschland einsetzt. Interviewpartner:innen berichten von Reaktionen aus ihrem nichtjüdischen Umfeld, von Bekannten, von Freund:innen, von Kolleg:innen. Sie erleben teilweise zugewandte, empathische, unterstützende Gesten und heben diese als wichtig und haltgebend hervor. Was jedoch überwiegt ist das Erleben von Indifferenz bis hin zur Bedrängung; Studienteilnehmende erfahren, dass sich Personen aus ihrem nahen Umfeld berufen fühlen, rigorose Statements zu formulieren und Israel die Schuld für den Angriff der Terrororganisationen und seine Konsequenzen zuzuschieben. Teilweise beginnen solche Konfrontationen schon am Abend des 7. Oktobers in der Bar, bei privaten Treffen und auf social media. Während die Studienteilnehmer:innen noch dabei sind, die Informationen aus Israel zu erfassen, ihren Schmerz zu bewältigen, teilweise in großer Sorge um direkt betroffene Angehörige und Bekannte in Israel sind, erleben sie, wie zugleich Personen, die in keinerlei persönlichem Verhältnis zu Israel oder Gaza stehen, starke Emotionen an die Ereignisse herantragen. Oft erfolgt dies in Kombination mit geringer Kenntnis der politischen und historischen Hintergründe der Lage im Gazastreifen, in Israel und den weiteren involvierten Ländern.
Insbesondere schmerzt viele Interviewte, dass sich von ihnen geschätzte Personen, die sich ansonsten zu jeder Form von Gewalt und Unrecht äußern, ausschweigen oder die Gewalt relativieren, sobald Israelis die Betroffenen sind. Die Infragestellung und das Schweigen zu Kriegsverbrechen wie dem Einsatz systematischer sexualisierter Gewalt als Mittel des Terrors, zu den Geiselnahmen von Kindern und Erwachsenen, zum gezielten Beschuss ziviler Gebiete in Israel führt zu einer einschneidenden Differenzerfahrung in den Beziehungen zum nichtjüdischen Umfeld, aber auch im Vertrauen in gesellschaftliche Grundwerte und in die Rolle von Menschen-, Kinder- und Frauenrechts-Organisationen.
Nach dem 7. Oktober wird zudem eine anti-israelische Positionierung zum Trend, wird sozusagen en vogue. Das hat eine jahrzehntelange Tradition, aber es wird jetzt unübersehbar, für uns in der Wissenschaft insbesondere in Aufrufen zum Boykott israelischer Kolleg:innen und Universitäten sowie in den zahlreichen offenen Briefen, von denen die ersten bereits im Oktober von Wissenschaftler:innen verfasst und unterschrieben wurden.
Marina Chernivsky: Es hat definitiv eine Radikalisierung stattgefunden. Antisemitisches und Antizionismus haben sich normalisiert. Antisemitismus kommt nun aus allen Richtungen. Studienteilnehmende thematisieren die veränderte Qualität antisemitischer Übergriffe. Es merken auch jene, die sonst nicht zwingend mit dem Thema befasst waren und Antisemitismus nicht als Teil ihres Lebens geordnet haben. Die gesellschaftliche Verschiebung spiegelt sich also in der Lebenswelt der Betroffenen wider. Es gibt nur begrenzte Möglichkeiten für Jüdinnen und Juden, sich öffentlich zu zeigen. Einige Studienteilnehmer:innen sagen, solange ich mich im beruflichen und öffentlichen Rahmen oder auf social media nicht sichtbar als Jüdin oder Jude zeige, bin ich relativ sicher, muss aber diese Bedrängungen und Positionierungen ertragen. Das eine ist die Ebene der Übergriffe, von denen Interviewpartner:innen berichten – Beleidigungen, von Angesicht zu Angesicht, am Telefon oder in den sozialen Medien, Nötigung auf der Straße, auf der anderen Seite die Ebene der Diskriminierung, zum Beispiel am Arbeitsplatz – Sicherheitsbedürfnisse werden übergangen oder man wird aufgefordert, eine anti-israelische Position einzunehmen oder mit anti-israelischen Organisationen zusammenzuarbeiten. Eine dritte Ebene ist die Verzerrung, die Verschiebung des Diskurses. Das sind nicht einzelne Situationen, das ist eine Atmosphäre, der Entzug von Solidarität, die Verengung von Räumen, Einschränkungen, die das Leben im Alltag massiv beeinträchtigen.
Es ist dennoch schwierig, den 7. Oktober als Signalbegriff für das Einsetzen von Antisemitismus anzuführen. Diskursiv wird es aber genauso getan. Die Sprache ist dabei verräterisch; es wird gesagt, Antisemitismus sei gestiegen. Gestiegen ist aber nicht nur der Antisemitismus, sondern die Bereitschaft sich antisemitisch zu äußern, oder antisemitisch zu agieren.
Eine grundsätzliche Ablehnung alles Jüdischen
Norbert Reichel: Es ist vielleicht gar nicht die Frage, ob es mehr und radikalere Antisemit:innen gibt, sondern die Frage, warum und wann Antisemitismus in welcher Form sichtbar wird, sich wo und wie öffentlich manifestiert. Es sind auch bestimmte Milieus, du hast es im Kulturmilieu, bei den Clubs, bei antikolonialen Linken.
Marina Chernivsky: Es gibt die spezifischen Ausformungen des Antisemitismus in den diversen Handlungsfeldern. Wir kennen das aus der täglich gelebten Praxis in der Beratung und Fortbildung. An Schulen ist die Fachdebatte zum Beispiel weiter als an Hochschulen, oder in den Kulturinstitutionen. Was einige intuitiv merken, dass der Antisemitismus inzwischen „en vogue“ geworden ist, wie Friederike es formuliert. Im Kern steht immer noch der Post-Shoah-Antisemitismus und eine überformte, verzerrte Beziehung zum Nahostkonflikt. Der Umgang mit diesem Thema ist geprägt von Halbwissen, Verschwörungsmythen, aber auch von emotionalen Bedürfnissen der von außen Zuschauenden. Israel und so auch die Juden werden generalisierend durch die Linse der Täterschaft betrachtet; die Angriffe gegen werden deshalb als gerechtfertigt angesehen. Es geht um eine grundsätzliche Ablehnung des Jüdischen.
All das aktualisiert die tiefste jüdische Erfahrung, mitteln im sozialen Gefüge schutzlos zu sein. Es wird deutlich, dass der Großteil der Studienteilnehmenden ihre Suche nach schützenden jüdischen Räumen und Allianzen thematisiert. Wir sehen es in den Daten, aber auch im Kontext der Beratung. Historisch gesehen haben solche Es ist zugleich eine historische Dimension, die Erkenntnis, dass die Antizipation einer weiteren Entfremdung, die Marginalisierung, Ausgrenzung, die jüdische Gemeinschaft letztlich immer auch gestärkt hat. Eine Auswirkung dieser Ruptur ist das Wachsen an der Trauer, an der Einengung der gesellschaftlichen Räume und vielleicht auch die Erfahrung kollektiver Selbstwirksamkeit.
Norbert Reichel: Vielleicht gibt es gar keine angemessene, passende Sprache. Vielleicht können wir uns immer nur vorläufig äußern, weil sonst auch gar kein Gespräch entstehen könnte. Ob dieses Gespräch entstehen kann, angenommen wird, das ist eine andere Frage. Die Frage ist daher vielleicht eher, wer auf die versuchten Annäherungen mit der Sprache, das Framing der Ereignisse wie eingeht oder eben auch nicht. Fragen machen etwas mit den Befragten, obwohl die Fragenden das oft gar nicht merken.
Marina Chernivsky: Ich gab zuletzt ein Interview für eine Tageszeitung. Der Journalist wollte nur eine einzige Sache wissen und fragte ziemlich aufdringlich nach der Angst. „Warum haben Juden Angst?“ wollte er wissen. „Wie ist diese Angst, die Juden haben?“ Auch wenn das Erfragen von Ängsten sicherlich berechtigt ist, ist die Penetranz in der Erkundung des Jüdischen durch die Angstbrille mindestens an einem Punkt sehr eingeengt. Die Angst ist politisch – sie ist nicht selbstverschuldet, nicht nur individuell. Das nicht wissende, nicht fragende, zweifelnde hetzende Umfeld macht Angst – diese Angst ist berechtigt, und doch fragen viele, ob sie diese Angst haben dürfen. Die Frage nach der jüdischen Angst kann nicht nur aus jüdischem Blickwinkel beantwortet werden – die Frage klingt so, als würde der Fragende, das soziale (nichtjüdische) Umfeld nicht Teil der Angst sein. Es ist nicht gut, Jüdinnen und Juden pauschal als Traumatisierte sehen, die in Angst leben. Dass Angst dennoch Teil des Alltags ist, versteht sich unter den derzeitigen Umständen von selbst.
Ein klares Feindbild
Norbert Reichel: Was ergeben eure Studien dazu?
Friederike Lorenz-Sinai: Das, was es so schwer macht, ist dieser Moment, den Marina eben auch ansprach, dass der Antisemitismus in hohem Maße identitätsstiftend ist und das zunehmend auch offen sein darf. Hier wird offenbar eine attraktive Position angeboten, die leicht einzunehmen ist, und mit der man sich politisch-kritisch zu fühlen vermag. Das alte Feindbild des Antisemitismus wird durch die antizionistische Haltung überformt und neu angeboten. Man kann sich kritisch, liberal, humanistisch positionieren und hat dabei ein sehr klares Feindbild, in dem die Welt schematisch in Gut und Böse unterteilt wird.
In unserer Studie zum 7. Oktober haben wir bisher Jüdinnen und Juden im Alter von 16 bis 80 Jahren befragt. Die geschilderte Erfahrung ist so bedrohlich, so tief spaltend, weil man sich zumindest symbolisch angegriffen fühlt. So inszenieren das ja auch die Terrorgruppen und ihre Sympathisant:innen. Es ist ein Angriff auf Jüdinnen und Juden weltweit, auf die das nicht-jüdische Umfeld teilweise identitätsstiftend reagiert. Studierende sind nicht antisemitischer als andere Bevölkerungsgruppen. Aber Hochschulen sind bedeutsame Orte der Aushandlung, der politischen Positionierung, der politischen Events und der Diskussion, sodass der antizionistische Trend dort besonders sichtbar ist, sichtbarer als an anderen Orten. Für viele jüdische Studierende ist es seit dem 7. Oktober eine Grunderfahrung, dass der eigene Schmerz nicht nur nicht gesehen, sondern umgedreht wird und anderen Menschen eine Identitätsstiftung bietet.
Eine für unsere Studie interviewte Studentin sagte, sie fühle sich von ihren Professor:innen „betrogen“. Hier gibt es auch einen deutlichen Unterschied zu den Schulen. Die Angebote der Antidiskriminierungsarbeit an Hochschulen sind nicht auf die Situation jüdischer Hochschulangehöriger ausgerichtet, sie wurden im Hinblick auf Diskriminierungs- und Gewaltschutz lange einfach nicht mitgedacht. Stattdessen werden Antisemitismus in Deutschland und die Situation in Israel und im Gaza oft als eine politische Meinungsfrage und behandelt, auf das mit Bildungs- und Dialogformaten reagiert wird.
Marina Chernivsky: Es wird oft versucht, diese Entwicklung nicht in der historischen Entwicklung zu sehen. Ich würde so weit gehen zu sagen, dass einige sich als Juden verraten fühlen. Jüdische Studierende sind hier durch die Schulen gegangen; manche haben in ihrer Schulzeit Antisemitismus erlebt, dann werden sie an Hochschulen von diesen Strukturen eingeholt.
Die Hochschule ist allerdings ein anderer sozialer Raum als die Schule. Antisemitismus an Hochschulen hat unter anderem eine ideologische Struktur. Es ist ein akademischer Raum, der den Studierenden einen Raum für Freigeist und Diskurs bieten will und muss. Dass genau an diesen Orten Ausschluss jüdischer Erfahrungen stattfindet und eine dogmatische Einschränkung erfolgt, ist besonders brisant. Ich finde es bezeichnend, wie die jüdischen Studierenden sich im Zuge der Eskalation organisieren, vernetzen und gegenseitig unterstützen. Uns erreichen auch immer mehr Fälle mit dem Bezug zu Universitäten, die zum Teil auf institutionellen Antisemitismus hindeuten.
Wir sprechen hier nicht von alltäglichen Erfahrungen, sondern von Strukturen, die Antisemitismus teilweise stützen und legitimieren.
OFEK ist seit etwa zehn Monaten de facto im Dauereinsatz und es gibt auch andere Initiativen, die an Hochschulen tätig sind. Diese Krise schafft höhere Nachfrage, die Hochschulen sind dabei sich einzugestehen, ein Problem zu haben. Das Risiko, dass die Nachfrage sinkt, ist natürlich auch gegeben. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus kommt selten aus intrinsischer Motivation, sondern wird meistens von außen angestoßen. Mal war es die antisemitische Schmierwelle, dann waren es die Auschwitzprozesse, die rechtsextremen Anschläge der 1990er Jahre, dann in den 2000er Jahren eine größere Präsenz der Debatten um Israel. 2014 führten die gewaltbereiten Demonstrationen gegen Israel und die jüdische Gemeinschaft zu einer weiteren Aufmerksamkeitsfokussierung der deutschen Politik. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 hat das antisemitische und rassistische Potenzial noch einmal deutlich gezeigt. Die Relevanz des Antisemitismus muss immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden. Auch das nehmen Jüdinnen und Juden sehr genau wahr.
Norbert Reichel: Adhokismus möchte ich das nennen. Es wird immer nur über Bedrohungen diskutiert, wenn gerade etwas passiert ist. Jetzt erleben wir das auch mit den Morden von Solingen am 25. August 2024. Da werden alle möglichen Maßnahmen gefordert, von denen viele überhaupt nicht umsetzbar sind. Und manche scheinen wirklich zu glauben, dass wir den Islamismus besiegen, wenn die Messer, die man mit sich führen darf, etwas kürzer sind. Und dann sind manche offenbar – ich unterstelle das einfach – froh, dass sie jetzt erst mal nicht über Rechtsextremismus sprechen müssen. So ähnlich ist es ja auch beim Umgang mit Antisemitismus.
Marina Chernivsky: Das hängt mit einer weiteren Struktur zusammen. Die Thematisierung von Antisemitismus ist eng mit der Überzeugung der bewältigten Vergangenheit und der eigenen nationalen Identität verflochten. Antisemitismus bringt die Menschen immer wieder vor einen Spiegel.
Norbert Reichel: Den sie dann immer gerne auch verhängen, sodass man nichts mehr sieht. So richtig schauen sie nur in den Spiegel, wenn es mal wieder einen Gedenktag gibt. Dann fühlen sie sich gut und rechtschaffen.
Marina Chernivsky: (lacht) Tja.
Projektionen und Erlösungsfantasien
Norbert Reichel: Ich möchte euch mit einer Hypothese konfrontieren, die mir seit längerer Zeit durch den Kopf geht. Ich frage mich, wie es kommt, dass sich so viele Deutsche – nicht nur Deutsche – so stark auf die Palästinenser fixieren? Das hat meines Erachtens schon etwas mit Freud’scher Objektwahl zu tun. Warum reagieren sie nicht auf das Leid anderer Bevölkerungsgruppen, beispielsweise der Êzîd:innen, der Kurd:innen, der Rohingya, Sikhs und Muslim:innen in Indien, der Sinti und Roma, der Frauen im Iran und in Afghanistan? Ich könnte noch einige mehr nennen. Aber immer wenn in Israel etwas passiert, gibt es diese hohe politische und mediale Aufmerksamkeit für die Palästinenser:innen. Da wird nicht gefragt, warum es keiner palästinensischen Regierung, keiner palästinensischen Organisation jemals ein Anliegen zu sein schien, Gaza, das seit 2005 nicht mehr besetzt ist, zu einem prosperierenden Modell-Land zu machen, zu so etwas wie Singapur oder Dubai. Die Schuld für alles Unheil dieser Welt wird immer allein bei Israel gesucht, und das ist vielleicht der Kern der Fixierung: Die Palästinenser:innen sind der willkommene und einfach kommunizierbare Grund, dass man sich pauschal kritisch über Jüdinnen und Juden äußern darf. Das ist eine sehr merkwürdige Fixierung, geradezu ein Tunnelblick, und ich habe keine Idee, wie man dies aufbrechen könnte.
Marina Chernivsky: Auch da gibt es historisch vorgelagerte Entwicklungen. Dazu gehört die Studentenbewegung um 1967/1968 in der Bundesrepublik, die antizionistische Linie in der DDR, dann auch im vereinten Deutschland. Die antisemitisch-antizionistische Ideologie fungiert als Klebstoff, auch in einer Brückenfunktion zwischen Rechten und radikalen Linken sowie als Gegenstand einer radikalen pädagogischen Erziehung in den 1960er Jahren.
Friederike Lorenz-Sinai: Diese Zentrierung, dass sich an diesem Konflikt das Schicksal der Welt entscheide, haben wir in diesem Ausmaß in keinem anderen Konflikt. Auf der Ebene der Subjekte wird aber sehr deutlich, dass die schematische, objektivierende Rollenzuweisung nicht funktioniert. In unserer Studie nach dem 7. Oktober haben sich auch Menschen gemeldet, die sich selbst als politisch linksstehend, als liberal, als kritisch gegenüber der israelischen Regierung bezeichnen. Das Leid der Bevölkerung in Gaza, die Situation von besonders vulnerablen Personen, wie beispielsweise schwangeren Frauen, Jugendlichen und Kindern, das treibt Interviewpartner:innen um. Die Anerkennung unterschiedlicher jüdischer Perspektiven und Positionen zur politischen Situation steht nicht im Widerspruch zu den oft geteilten Antisemitismuserfahrungen in Deutschland. Auch Interviewpartner:innen, die sich als jüdische Person in pro-palästinensischen Gruppen engagieren, schildern schützende Strategien im Umgang mit Antisemitismus, wie beispielsweise, mit dem eigenen Kind nicht überall Hebräisch zu sprechen, sich vom Uber-Fahrer eher absetzen zu lassen und nicht vor der Haustür.
Norbert Reichel: Woher kommt gerade in diesem Konflikt die schematische Aufteilung im Diskurs, die Verzerrung, die Täter-Opfer-Umkehr, die Zuweisung von Schuld an Israel?
Marina Chernivsky: Mit den Begriffen müssen wir vorsichtig sein. Der Begriff des Sektenhaften liegt sicherlich nicht fern. Wir haben schon oft darüber diskutiert, denn Verschwörungsmythen haben immer etwas Sektenhaftes. Es geht nicht um Fakten und Wahrheiten, sondern um Projektionen.
Diese Struktur ist nicht neu, die zieht sich ungebrochen weiter. So auch die Übertragung der Täterschaft auf Juden, in der Rolle der ultimativen Täter. Das haben wir schon bei der Kreuzigung Jesu. Es ist die Paradoxie, dass die Juden als Täter markiert und diffamiert werden dürfen, dass sie dann sozusagen ein Freiwild sind. Das ist die Tradition des Anti-Judaismus, die sich aktuell nach dem 7. Oktober wieder einmal so deutlich zeigt.
Die Figur der Täterschaft ermöglicht uns, die Projektion aufrechtzuerhalten. Vor 100 Jahren und davor waren es Christen, die behaupteten, Juden wollten sie umbringen, vergiften. Das sind heute ähnliche Strukturen. Die Projektion der Täterschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland ist etwas Besonderes, weil darüber die Reinheit wiederhergestellt, damit die Absolution erteilt werden kann. Das zeigt sich nach dem 7. Oktober sehr deutlich. Eine nicht-jüdische Studentin, die den Terror gegen Juden nicht kritisieren will, sagte mir, sie wolle doch auch einmal auf der richtigen Seite der Geschichte stehen.
Im Prinzip müsste es doch möglich sein, sich mit Menschen in Gaza zu solidarisieren, ohne grundsätzlich auf antisemitische Konstruktionen zurückgreifen zu müssen. Aber das wird einfach nicht möglich gemacht. Trotzdem äußern sich viele Jüdinnen und Juden in unseren Interviews sehr reflektiert. Sie reflektieren, dass die militärische und die politische Lösung viel verändern werden.
Vielleicht noch etwas zum Abschluss zu unserem Bildungsansatz: Es gibt keine andere Möglichkeit, sich reflektiv zu diesem Thema in Beziehung zu setzen, als das Thema zu entdramatisieren. „Die richtige Seite der Geschichte“? Das muss alles auf den Tisch. Dafür eignen sich offene Gespräche besser als jede komplizierte Ersatzhandlung.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2024, Internetzugriffe zuletzt am 17. September 2024. Das Titelbild zeigt ein Gemälde von Benzi Brofman, Foto: Hanay, Wikimedia Commons.)