Ist das Kultur oder kann das weg?
Zur Debatte im Grünen Salon am 25.9.2019
In (fast) allen politischen Programmen spielt die Förderung der Kultur eine zentrale Rolle. In den letzten Jahren gab es allerdings einige Misstöne, die vor allem dadurch entstanden, dass in manchen Landtagen und Kommunalräten zumindest von einer Partei versucht wurde und wird, „Kultur“ und damit Kulturförderung auf Ziele der Identitätsförderung zu beschränken. Aus französischen Kommunen, in denen der Front National (bzw. heute der Rassemblement National) die Bürgermeister*innen stellten, ist dies bekannt. Betroffen waren beispielsweise die Bibliotheken, in denen Werke, die der jeweiligen kommunalen Führung nicht gefielen, entfernt oder – falls noch nicht vorhanden – nicht zugekauft wurden. Zur Erinnerung: Auch in den 1920er Jahren hatten sich völkisch verstehende Gruppierungen in den Kommunen zunächst die Kultureinrichtungen im Visier.
Vergleichbare Entwicklungen gibt es heutzutage in Polen und in Ungarn, aber auch in anderen Ländern, in denen „Kultur“ und „Nationale Identität“ miteinander verknüpft werden. Im baden-württembergischen Landtag gab es kürzlich eine Anfrage der AfD, wie viele Künstler*innen mit ausländischem Pass in Kultureinrichtungen beschäftigt würden. In Erklärungen, Programmen und Anfragen wird von dieser Partei immer wieder darauf hingewiesen, dass Kulturveranstaltungen dafür sorgen sollten, dass Nationalbewusstsein und Stolz auf die deutsche Kultur, was auch immer das sein mag, erzeugt und gepflegt werden sollten.
Shermin Langhoff hat in der ZEIT vom 21. Mai 2017 sehr deutlich gesagt, welchem Problem daher unsere Aufmerksamkeit gehören sollte: „In Dresden wurden viele freie Kulturprojekte mit einer Koalition aus AfD, CDU und FDP abgeschafft. Das sind gefährliche Entwicklungen. Und ich höre von Theaterkollegen in Freiberg und Cottbus, die sich unter Druck gesetzt fühlen. Auf einmal wird ein Neutralitätsgebot in der Kunst verhandelt. Was soll das? Noch vor wenigen Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass die Kunstfreiheit jeden Tag im Parlament von der AfD infrage gestellt wird.“ Leider kein Einzelfall.
Hier die einen – dort die anderen?
Hier die einen, dort die anderen, so einfach ist es leider nicht. Christopher Clark hat unter dem Titel „Kulturkampf“ am 29. November 2018 in der ZEIT über die mehr als 100jährige Geschichte der „‘culture wars‘ der Gegenwart um Werte und Identität“ geschrieben. Er vertrat die These, dass sich solche „Kriege“ zuspitzen und dann mehr oder weniger wieder in sich zusammenfallen, und dass ihre Bedeutung nicht in der Eindeutigkeit der jeweiligen Positionen, sondern in den verschiedenen Verästelungen in den unterschiedlichsten Lebens- und Kulturbereichen liege: „Kein Kulturkampf währt ewig. Die Auseinandersetzungen des 19. Jahrhunderts endeten, als die Spannungen innerhalb der verfeindeten Lager zu groß wurden. Es stellte sich heraus, dass die kulturellen Trennlinien in komplexen Gesellschaften nicht zwischen zwei Fronten verlaufen, sondern verästelt sind wie das Craquelé auf altem Porzellan.“
Ob ich den Optimismus von Christopher Clark teilen, soll, wage ich nicht zu entscheiden. Das Problem liegt meines Erachtens nicht nur in der jeweiligen Aussage selbst, sondern in ihren Wirkungen. Die Aussage kann sich wie schleichendes Gift in die Ansichten von Menschen einschleichen, die sich eigentlich ganz und gar nicht als nationalistisch, fremdenfeindlich oder rassistisch verstehen und es zumindest bisher auch nicht waren.
Der Kulturbegriff hinter diesen Debatten hat allerdings – wenn man oder frau genau hinschaut – eher mit allgemeinen politischen, religiösen oder anderen weltanschaulichen Überzeugungen zu tun. Die Künste selbst, um die es eigentlich gehen sollte, spielen eine randständige Rolle. Das Ergebnis: sobald ein Staat oder eine Religion oder eine Weltanschauung – sie müssen leider immer alle drei genannt werden, damit sich niemand nicht angesprochen fühlt – beansprucht, die Hoheit über die Kultur oder die Künste zu behaupten, ist es nicht weit zu Bilderstürmen, Bücherverbrennungen, Vertreibungen und Inhaftierungen bis hin zu Ermordungen der als kritisch oder „undeutsch“, „unpolnisch“, „untürkisch“, „unsowjetisch“ „unchristlich“, „unislamisch“ usw. gebrandmarkten Werke und Menschen. Die Künste haben keine Chance, wenn es nicht eine Kultur des Widerstands gibt.
Fürstenhöfe, Fabrikanten und Alternativkulturen
Die deutsche Kulturszene ist im Großen und Ganzen davor gefeit. Könnte man oder frau meinen. Es gibt in Deutschland eine so große Vielfalt von Kultureinrichtungen in allen denkbaren Sparten wie in kaum einem anderen Land. Dies hängt auch damit zusammen, dass die deutsche Kulturszene im 18. und 19. Jahrhundert nicht zentral in einer Metropole entstand, sondern an einer Vielzahl von Fürstenhöfen, deren Herren sehr daran interessiert waren, ihr eigenes Theater, ihre eigene Oper zu haben. Künstler (damals in der Regel eher männliche Künstler) wurden an die Höfe gelockt und manche Stadt tat es den Höfen nach. Das Amt des Stadtschreibers hat auch mit dieser Geschichte zu tun.
Im 19. Jahrhundert übernahm das Bürgertum die Aufgabe der Höfe. Fabrikanten sahen es auch als ihre Aufgabe an, die Kulturszene am Ort ihrer Werke zu unterstützen. Im 20. Jahrhundert entstanden dann alternative Kulturen. Das Theater von Bertolt Brecht ist ohne die Arbeiterkultur der 1920er Jahre nicht denkbar. Auch nach 1945 entstanden Alternativkulturen, insbesondere in der Zeit nach 1968, als sich mit der Zeit eine Fülle soziokultureller Zentren bildeten, die in vielen Städten dafür sorgen, dass – in der Regel zu erschwinglichen Preisen – Veranstaltungen jeder Art, Gastspiele und Kulturdebatten ihren Platz haben. Für diejenigen, die vor Ort bestimmte Angebote nicht vorfinden, gibt es dann die Landestheater, die von Zeit zu Zeit mit ihren Ensembles auch abgelegen erscheinende Regionen besuchen.
Das ist nicht überall in Deutschland gleichermaßen ausgeprägt. In Bayern haben die früheren Königshäuser für zentrale Strukturen gesorgt, beispielsweise in München, in Thüringen und Niedersachsen sind nach wie vor die Wirkungen der Fürstenhöfe spürbar, in Nordrhein-Westfalen und in den Stadtstaaten gibt es eine ausgeprägte Szene soziokultureller Aktivitäten.
Wer fördert eigentlich die Künste?
Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil vom 5. März 1974 festgestellt, dass Art. 5 Abs. 3 GG als „Freiheitsrecht für alle Kunstschaffenden und alle an der Darbietung und Verbreitung von Kunstwerken Beteiligten“ zu verstehen ist, „das sie vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt in den künstlerischen Bereich schützt. Die Verfassungsnorm hat aber nicht nur diese negative Bedeutung. Als objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst stellt sie dem modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung auch als Kulturstaat versteht, zugleich die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern.“ (BVerfG, Urteil vom 5. März 1974, Az. 1 BvR 712/68).
Das Verfassungsgericht sagt allerdings nichts dazu, wie der Staat diese Förderung auszugestalten hat. Dies ist vor allem eine Aufgabe der Länder. In Hessen ist Kultur Staatsziel. § 26e der Landesverfassung: „Die Kultur genießt Schutz und die Förderung des Staates, der Gemeinden und Gemeindeverbände.“ Wie an dem Buchstaben „e“ zu erkennen, eine spätere Hinzufügung. In Sachsen gibt es einen „Kulturpakt“, in Nordrhein-Westfalen ein Kulturfördergesetz. Ähnliches in anderen Ländern, in manchen gibt es Diskussionsprozesse, wie Kulturförderung mit Hilfe des Staates gestaltet werden könnte.
Die Formulierung der hessischen Landesverfassung verrät, wer fördert. Die Förderung von Kultureinrichtungen ist vorrangig – und das gilt für alle Länder – eine Aufgabe der Kommunen, die von den Ländern unterstützt wird. Der Löwenanteil der Förderung liegt mit etwa vier Fünfteln bei den Kommunen, angesichts der unterschiedlichen Ausstattung der Haushalte mit allen damit verbundenen Problemen. Die Länder, die Kulturfördergesetze oder Vereinbarungen verabredet und in ihren Landtagen beschlossen haben, formulieren ebenfalls Ziele, nennen jedoch keine konkreten Zahlen, in welcher Höhe gefördert werden soll. Kritiker*innen befürchten angesichts der oft unkonkreten Zahlenwerke Tendenzen wie in Österreich. Dort wurde offen ausgesprochen, dass sich Kunst und Kultur am Markt bewähren müssen.
Die Folgen sind in den Einrichtungen spürbar. Dazu gehören in erster Linie prekäre Arbeitsverhältnisse und Zeitverträge. Kleine Einrichtungen müssen sich gegenüber großen Einrichtungen bewähren. In den Kommunen gibt es in den Räten immer wieder Auseinandersetzungen darüber, ob und wie eine vorhandene Einrichtung, beispielsweise eine Oper oder eine Konzerthalle saniert, eine neue gebaut – die Debatten um Elbphilharmonie Hamburg und Bonner Festspielhaus lassen grüßen – oder ob die Zuschüsse für kleinere Einrichtungen verzichtbar sind. Mitunter gibt es dann Argumente wie der Verweis darauf, dass dieses oder jenes kleine Theater doch schon 50 Jahre gefördert worden sei und dies doch ausreichen müsse.
Eine Lobby für die Künste
Oder sollte ich schreiben: Die Künste brauchen eine Lobby? Die umfassendste Lobby hat die Musikszene – unbestritten, aber im Grunde gilt für alle Sparten, dass sie sich mitunter recht schwertun, sich Gehör zu verschaffen. Dies hat auch mit der Vielfalt der Sparten und der Kreativität der Künstler*innen zu tun.
Während beispielsweise der Sport mit seiner mehr oder weniger zentralistischen Organisation vom Deutschen Olympischen Sportbund über die Landessportbünde bis zu den Kreis- und Stadtsportbünden eine relativ einheitlich auftretende Lobby hat, in der die Kreativen, d.h. die Sportler*innen, von Funktionär*innen vertreten werden, die haupt- oder ehrenamtlich viel Zeit damit verbringen, sich Gehör zu schaffen, ist das in der Kunst- und Kulturszene schwieriger.
Es gibt in den Künsten und in der Kultur weder dem Sport vergleichbare „schlagkräftige“ zentrale Organisationen, die in ihrer Struktur mit den Sportorganisationen vergleichbar wären, noch gibt es ausreichend Funktionär*innen, die die Anliegen der Künstler*innen vertreten könnten. Die Sportorganisationen greifen auch gerne auf ehemals aktive Politiker*innen zurück, die genau wissen, wie man oder frau sich in den politischen Debatten um Fördertöpfe bewegen müssen.
Künstler*innen organisieren sich oft selbst in kleinen Organisationen, haben aber nicht die Infrastruktur, die sich in den Förderstrukturen sowie den politischen Entscheidungsprozessen ausreichend auskennt. Sicherlich gibt es den Deutschen Kulturrat, der regelmäßig die lesenswerte Zeitschrift „Politik und Kultur“ herausgibt, doch bleibt es letztlich bei der Diagnose, dass die Welt der Künste und der Kultur viel zu vielfältig ist, als dass es eine Lobby geben könnte, die mehr Menschen als das ohnehin schon geneigte Publikum erreicht.
Ob die diversen nach Bologna entstandenen Studiengänge des Kulturmanagements mittelfristig an der prekären Lage einer Lobby für die Künste etwas ändern können, darf bezweifelt werden. Ein Studium des Kulturmanagements ist gut und schön, aber was nützt es, wenn die für das Verständnis der Künste erforderliche Allgemeinbildung nicht gepflegt werden kann?
In Bonn gibt es eine sehr aktive Lobby durch die Theatergemeinde. Die Vorsitzende, Elisabeth Einecke-Klövekorn, ehrenamtlich tätig, unterstützt durch eine hauptamtliche Geschäftsstelle mit Geschäftsführer und u.a. Jugendreferentin, hat im Demokratischen Salon ihre Angebote vorgestellt. Bonn hat eine Vielfalt von Kulturangeboten, die sich durchaus mit Angeboten von Metropolen messen kann. Wenn man oder frau bedenkt, dass jeder der 12 Bezirke Berlins so groß ist wie Bonn oder Mönchengladbach, muss sich das Angebot in Bonn nicht verstecken. Logische Folge wäre eigentlich, dass sich Bonn auch als Kulturhauptstadt Europas präsentieren sollte.
Kultur braucht Austausch – Kultur braucht Bildung
Es ist nicht Aufgabe der Europäischen Union, die kulturelle Infrastruktur in den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Gelegentlich gibt es Bauzuschüsse oder auch Zuschüsse zur Digitalisierung oder zur Ausgestaltung des Managements. Der entscheidende Beitrag der Europäischen Kulturförderung ist der internationale Austausch von Kultureinrichtungen und von Künstler*innen. Allerdings brauchen diejenigen, die einen solchen Austausch finanzieren wollen, fundierte Kenntnisse des europäischen Fördergeschäfts. Dazu wird u.a. mit Mitteln der Europäischen Union und der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien Beratung angeboten, in Bonn durch das Creative Europe Desk KULTUR in den Räumen der Kulturpädagogischen Gesellschaft. Die Geschäftsführerin, Lea Stöver, hat ihre Arbeitsweise und beispielhafte Projekte im Demokratischen Salon vorgestellt.
Der Austausch auf europäischer Ebene ist ein entscheidender Faktor zur Lösung des zu Beginn dieses Artikels beschriebenen Problems: wenn es gelingt, den europäischen Austausch, der weit über die Grenzen der Europäischen Union hinausgeht, die örtliche Vielfalt der Kulturszene sowie die haupt- und ehrenamtlich Aktiven zu ermutigen und zu vernetzen, wird es auch leichter, erfolgreich gegen alle Bestrebungen, die Künste für antidemokratische Zwecke zu instrumentalisieren, zu handeln. Die Besonderheiten der Bonner Kulturszene, die gerade in diesem Kontext wirken, dürfte meines Erachtens durchaus auch ein Vorbild für andere Städte sein.
Bliebe noch ein Punkt: die kulturelle Bildung, künstlerisch-ästhetische Bildung. Das ist mehr als Werbung für ein junges Publikum, das ist auch Motivation junger Menschen, sich künstlerisch zu äußern und die eigenen Talente zu pflegen. Aber das ist im Großen und Ganzen auch eine andere Geschichte, die im Demokratischen Salon ihren Platz finden wird.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2019, die Internetlinks wurden am 17. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)