Jüdische Geschichtsschreibung in der DDR

Zur Aktualität des jüdischen Holocaustforschers Helmut Eschwege

„Zwischendurch versuchte ich, gegen die antizionistische Kampagne in unseren Medien zu protestieren, die nicht selten in Verleumdungen gegen uns Juden und besonders gegen Israel ausartete. In Teilen der Bevölkerung wärmte die oft ungezügelte Hetze alte antijüdische Ressentiments auf.“ (Helmut Eschwege, Fremd unter Meinesgleichen – Erinnerung eines Dresdner Juden, Berlin, Ch. Links, 1991)

Die unerfüllte Hoffnung auf eine demokratische DDR

Helmut Eschwege hat mit seiner Autobiografie „Fremd unter Meinesgleichen“ (alle folgenden Zitate Eschweges wenn nicht anders genannt aus diesem Buch) nahegelegt, sich selbst und seine fünf großen Publikationen, die hier vorgestellt werden sollen, als Spiegel des gescheiterten realsozialistischen Nachfolgestaates des deutschen Nationalsozialismus zu lesen. Das ist richtig und dennoch zu kurz gegriffen. Unter widrigsten Umständen betrieb Helmut Eschwege jüdische Geschichtsschreibung nach der Shoa. Interesse fand er in der DDR nur in den kleinen jüdischen Gemeinden und bei den wenigen Christen, die begonnen hatten, sich vom Antisemitismus abzuwenden. International wurden seine Bücher mit großem Interesse aufgenommen. Helmut Eschwege gehört zu der Gruppe der frühen Forscher der jüdischen Geschichte und des Holocaust in Europa nach 1945. Dass sein Name bislang nicht in einer Reihe mit Leon Poliakov, Joseph Wulf und anderen genannt wird, ist eine Spätfolge der Zerstörung seines Lebenswerks in der DDR.

Wäre die DDR geworden wie Helmut Eschwege sie sich vorstellte, man hätte ihn zum Direktor des Museums für deutsche Geschichte berufen, oder mit Eugen Golomb und Arnold Zweig zum Mitarbeiter des ersten Botschafterteams der DDR in Israel ernannt. Zweifellos wäre dann auch in der DDR der 9. November ein Tag der Trauer für die Opfer der Shoah geworden.

Als Eschwege 1946, nach Rückkehr aus dem Exil im britischen Mandatsgebiet Palästina, vom Mitglied des KPD-Politbüros Paul Merker gefragt wurde, was denn jetzt eine antifaschistische Regierung tun solle, schlug er folgende Erklärung vor: „Das deutsche Volk anerkennt durch aktive oder passive Beteiligung in seiner überwiegenden Mehrheit am Hitlersystem seine Schuld gegenüber den Juden und hofft, den wenigen überlebenden Juden und jüdischen Gemeinschaften durch weitgehende Wiedergutmachung der wirtschaftlichen und körperlichen Schäden einen Teil seiner Schuld abzutragen.“ (zitiert nach: Jeffrey Herf, Divided Memory)

Eschwege glaubte an die Möglichkeit einer Umkehr der nicht-jüdischen Deutschen. Er verstand sich als „Jude“ und „Humanist“. Das Jahr begann für ihn mit Rosch Haschana und Jom Kippur. Auf dem Rückweg aus dem Exil, er kam über Prag, brachte er eine große Anzahl von Büchern mit, die Juden geraubt worden waren. Egon Erwin Kisch hatte ihn darauf aufmerksam gemacht. Eschwege übergab sie dem Museum für deutsche Geschichte und wurde einer von dessen Sammlungsleitern.

Antisemitismus in der DDR

Aber die DDR wurde keine demokratische Republik. Mit Beginn des Kalten Krieges änderte die Sowjetunion ihre Politik gegenüber den Partnern aus der Anti-Hitler-Koalition und Israel. Hatte sie noch 1947 den Teilungsplan der UNO und das sich neu gründende Israel militärisch gestützt, setzte sie bereits kurze Zeit später auf Israels arabische Feinde. Den Kurswechsel rechtfertigte sie mit einer antisemitischen Kampagne gegen das „Jüdische Antifaschistische Komitee“, die von vielen kommunistischen Parteien des sowjetischen Machtbereichs übernommen wurde, so auch von der SED.

Im Windschatten dieses Politikwechsels vertrieb die SED 1952/53 die Hälfte aller Holocaustüberlebenden aus der DDR. Die deutschen Kommunisten entsolidarisierten sich von ihren jüdischen Leidensgenossen aus den Konzentrationslagern und reaktivierten antisemitische Narrative, die bereits in der Weimarer Republik entwickelt worden waren. Sie wurden von Eschwege selbst, Anetta Kahane, Jeffrey Herf und vielen anderen bereits ausgiebig analysiert.

Das Zentralkomitee der SED dämonisierte 1952 Paul Merker, der gemeinsam mit Julius Meyer, Leo Zuckermann und anderen ein umfassendes Entschädigungsgesetz für alle Opfer des Nationalsozialismus erarbeitete, mit folgenden Worten: er habe „Entschädigung jüdischer Vermögen“ nur gefordert, um dem „USA-Finanzkapital“ das „Eindringen in Deutschland“ zu ermöglichen. Sein Zionismus diene den Interessen „jüdischer Kapitalisten“ und habe mit „Humanität und wahrer Menschlichkeit“ nichts zu tun. Merker habe die aus „deutschen und ausländischen Arbeitern herausgepressten Maximalprofite“ in „angebliches jüdisches Eigentum“ verfälscht.

Merker wurde im Dezember 1952 verhaftet, später verurteilt. Er wurde auch nach seiner Entlassung aus der Haft nie rehabilitiert. Die SED hat sich für die antisemitische Vertreibung großer Teile der Holocaustüberlebenden aus der DDR bis zum Untergang des Staates nie entschuldigt. Es gibt dazu nach meiner Kenntnis bislang nur eine einzige valide Untersuchung, die Studie „Zurückgekehrt“ von Karin Hartewig.

Eschwege schloss sich damals der Flucht der meisten Juden nicht an. Er hätte Gründe gehabt. Er verlor seine Arbeit am Museum, weil er „Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde“ war, „jüdische Zeitungen“ las, weil er „jüdische Flüchtlinge in Westberlin“ besuchte und „in Palästina in der Emigration“ war. Dieselben Begründungen wurden auch für seinen Ausschluss aus der SED herangezogen, ergänzt um den Vorwurf seines Bekenntnisses zur „jüdischen Nationalität.“

Er begann stattdessen intensiv jüdische Geschichte zu studieren und zu „schreiben“, um seinen jetzt ehemaligen Genossen zu zeigen, „was die Nazis getan haben“. Er hoffte, sie würden dann auch erkennen, dass die Vertreibung im Winter 1952/53, so Eschwege wörtlich in seinem Beitrag „Die unorthodoxe Sicht der jüdischen Geschichte in der DDR“ (in: Robin Ostow, Jüdisches Leben in der DDR), „genau dasselbe ist.“

Er hielt nicht nur eine Umkehr der nicht-jüdischen Deutschen, er hielt auch Aufklärung und Umkehr seiner nicht jüdischen deutschen Genossen für möglich. Nach seiner Entlassung aus dem Museum begann er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Technische Universität in Dresden zu arbeiten. Seine Bücher schrieb er in der Freizeit.

Ungedruckt: „Der Leidensweg der deutschen Juden“

Die Bedingungen für eine Umkehr der deutschen Bevölkerung und Eschweges ehemaliger Genossen standen schlecht. Antizionismus und Antisemitismus gehörten zu den Traditionen der KPD seit der Weimarer Republik. Die Bevölkerung schleppte Antisemitismus und Rassismen wie in den anderen Nachfolgegesellschaften des deutschen Nationalsozialismus mit sich. Die DDR war keine demokratische Republik. Unzensierte Debatten über Schuld, Haftung und Verantwortung waren unmöglich.

Schon 1958 lieferte Eschwege sein erstes Manuskript „Der Leidensweg der deutschen Juden“ bei einem Verlag ab. Arnold Zweig, den er in der Emigration kennenlernte, hatte ihn ermutigt. Professor Bernard Mark, Direktor des jüdisch-historischen Instituts in Warschau, unterstützte ihn. Es handelte sich um eine mit Dokumenten versehene, 1.370 Seiten lange Darstellung der Vernichtung der deutschen und europäischen Juden, die die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland als Voraussetzung und Ursache der Shoah schilderte und jüdischen sowie nicht-jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus in die Darstellung integrierte.

Eschwege „universalisierte“, wie der Soziologe Lepsius sagt, deutsche Schuld nicht. Für ihn bestand kein Zweifel, dass nicht – wie es die offizielle Ideologie in Sowjetunion und DDR behauptete – das Kapital oder alleine die herrschenden Klassen, sondern alle antisemitisch motivierten und auch die nicht den Nazis widerstehenden Deutschen für die Ermordung der europäischen Juden verantwortlich waren.

Eschwege präsentierte die Perspektive eines von Juden im britischen Mandatsgebiet geretteten deutschen Juden, der jeden Fortschritt aller Alliierten und der verschieden Widerstandsgruppen gegen den Nationalsozialismus herbeigesehnt hatte. Viele Ermordete, Vertriebene und Dämonisierte kommen in Eschweges Manuskript selbst zu Wort. Mit heutigen Augen betrachtet, erinnert der Text in Anlage und Stil am ehesten an Saul Friedländers „Das Dritte Reich und die Juden.“

Torso: „Kennzeichen J“

Geschichte der Shoa und der Juden entstand in Europa nach 1945 in der Regel im Dialog mit Forschern aus Israel und der westlichen Welt. Eschwege traf seinen Vetter, den Historiker Shaul Esh, der am Institut für Zeitgeschichte in Tel Aviv wirkte, zum ersten Mal 1961 in Israel. Er wurde eine wichtige Quelle seiner Inspiration.

Im Laufe der sich 15 Jahre hinziehenden Prüfungen von Eschweges erstem Manuskript über den Leidensweg der deutschen Juden schlugen die von Verlag und dem Ministerium für Kultur beauftragten Gutachter vor, die von Eschwege zusammengetragenen Dokumente zunächst getrennt von der Analyse herauszugeben.

Der dann 1966 erschienene Dokumentenband „Kennzeichen J“, bildete zwar, wie der Historiker Nicolas Berg schrieb „die erste ernstzunehmende Dokumentation des Themas in der DDR“, aber er blieb ein Torso. Eschweges Analyse fehlte. Noch nicht einmal die interpretierende Einleitung durfte Eschwege verfassen, lediglich die üblichen Dankesworte.

Zerstört: Faschismus nicht Shoah

Anders als zugesagt, erschien Eschweges Analyse der Shoah nie. Sie liegt ungedruckt im Nachlass, der sich im Zentralarchiv zur Erforschung der Juden in Heidelberg befindet. Stattdessen veröffentlichten 1973 die vom Verlag beauftragten Gutachter, Rudi Goguel, Klaus Drobisch, Werner Müller sowie der Staatssekretär für Kirchenfragen Horst Dohle, er war für die Gängelung jüdischer Gemeinden in der DDR zuständig, „Juden unterm Hakenkreuz“ (die Gutachten sind im SED-Zentralarchiv zu finden, werden in Auszügen auch in Eschweges Memoiren sowie in Aufsätzen von Alexander Walther zitiert).

Eschweges Analyse wurde in diesem Buch in eine Geschichte des Imperialismus und Kapitalismus umgeschrieben. Antisemitismus kam lediglich als Instrument zur Aufrechterhaltung bürgerlicher Herrschaft vor, er schien zur Vernichtung der Juden, die außerhalb der Verwertungslogik des Kapitals steht, in keinem Zusammenhang zu stehen.

Im Verlauf der Bearbeitung des Ursprungsmanuskripts tauchten immer mehr Differenzen auf. Eschwege versuchte, wie er später berichtete, „alle Einzelheiten des Geschehens mit Hilfe von Zitaten in das Manuskript einzubauen“. Das wurde abgelehnt.

„Juden unterm Hakenkreuz“ transportiert darüber hinaus auch deutsche Schuldumkehr. Die Gutachter waren ganz konträr zu Eschwege der Auffassung, deutsche Juden hätten unbeirrt von den Ereignissen seit 1933 an ihren Assimilationsbemühungen festgehalten und seien deshalb mitverantwortlich für ihre Ermordung.

Und noch mehr: Eschwege wurde lediglich im Impressum des Bandes für Anregungen und Vorarbeiten gedankt. Die Gutachter verwandelten sich in Autoren, Eschwege wurde enteignet.

Gedruckt: „Deutsche Juden im Kampf um Existenz und Menschenwürde“

Einen Teil seiner ursprünglichen Arbeit konnte Eschwege jedoch retten. Als während der Auseinandersetzung um seine Analyse deutlich wurde, dass die Gutachter den jüdischen Widerstand aus der Analyse des Nationalsozialismus ausklammerten, entwickelte er aus diesem Kapitel ein eigenständiges Werk. Es wurde von keinem DDR-Verlag angenommen.

Da Eschwege seit „Kennzeichen J“ international als der Holocaust-Forscher der DDR galt, gelang es ihm, Arnold Paucker, Historiker am Leo Baeck Institut in London, zu überzeugen, 1970 einen Auszug aus dem Widerstands-Manuskript (englischer Titel: Resistance of German Jews against the Nazi Regime, in: The Leo Baeck Institute Year Book, Volume 15, Issue 1, January 1970) zu drucken und nach einem Partner für eine Überarbeitung zu suchen. Eschweges Zugänge zu internationalen Archiven wurden von der DDR blockiert.

Es fand sich der deutsch-australische Historiker Konrad Kwiet. Der Hamburger Christians Verlag veröffentlichte das nach umfänglichen Recherchen Kwiets gemeinsam überarbeitete Buch 1984. Mit diesem Buch war es Eschwege endlich, allerdings nur in der Bundesrepublik, gelungen, dem jüdischen Kampf um „Existenz und Menschenwürde“ gegen die Nazis Stimmen und Gesichter zu geben.

In diesem Buch und damit verbundenen Vorträgen wird auch sichtbar, dass Eschwege, der in einer jüdisch sozialdemokratischen Familie in Hamburg groß geworden war, für sich selbst eine jüdisch-sozialdemokratische Position reklamierte und auf die gemeinsame Verantwortung von Sozialdemokraten und Kommunisten für den Sieg des Nationalsozialismus verweist. So formulierte er es in seiner „Stellungnahme eines in Deutschland beheimateten Juden“ anlässlich einer Tagung der Friedrich Ebert Stiftung vom Mai 1983.

Torso: „Die Synagoge in der deutschen Geschichte“

Mit der Entwicklung der DDR verbesserten sich die Bedingungen für eine Umkehr der DDR-Bevölkerung und von Eschweges ehemaligen Genossen nicht. Die DDR suchte nach dem Mauerbau internationale Anerkennung und fand sie vor allem bei den Staaten, die nach Niederlage und Waffenstillstand 1949 Israel immer noch vernichten wollten.

Walter Ulbricht und später Erich Honecker unterstützten nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 die Kriege zur Zerstörung Israels auch militärisch und förderten den Terror der PLO und ihrer Unterorganisationen gegen Israel. Die antisemitischen Rechtfertigungen waren bereits beim Angriff auf Paul Merker erarbeitet worden. Jetzt begann man auch Israels Politik mit der der Nazis gleichzusetzen. Jeffrey Herf hat die programmatische Rede Walter Ulbrichts in Leipzig vom 15. Juni 1967 in seinem Buch „Undeclared Wars with Israel“ analysiert. An eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel war nicht zu denken.

Aus der SED war Eschwege bereits als Jude ausgestoßen, jetzt verfolgte ihn das Ministerium für Staatssicherheit in einem Operativen Vorgang mit dem Namen „Zionist“. Er wurde, so heißt es da wörtlich, als „Feind der DDR“ betrachtet, der einen „potentiellen Stützpunkt des Gegners“ darstelle (MfS BV Dresden, Akte OD TU/H, 25. Juli 1984, Seitenpaginierung 000031, im Archiv der Außenstelle des BStU von Dresden).

Es ist daher verwunderlich, dass überhaupt noch ein weiteres Buch Eschweges zu jüdischer Geschichte in der DDR erscheinen konnte: „Die Synagoge in der deutschen Geschichte.“ Ganze Kapitel des neuen Manuskripts, zum Beispiel über die deutsche, antisemitische Romantik, wurden aus seinem Text entfernt. Gestrichen wurden auch Begriffe wie „jüdische Nationalität“ und „jüdisches Volk.“ Das Manuskript musste nach seiner Abgabe im Mai 1967, so Eschwege, „alle paar Jahre der ideologischen Situation angepasst werden.“ Der Band erschien durchzensiert zwölf Jahre nach seiner Fertigstellung 1980. Er blieb erneut ein Torso.

„Kulturpolitik auf eigene Faust“

Die militärische Unterstützung der Kriege gegen Israel, die Unterstützung des Terrors der PLO gegen Israelis, waren in der DDR nur selten Protesten ausgesetzt. Nur Juden wie Eschwege und wenige andere hielten dagegen.

Eine kleine Gruppe deutscher Christen, häufig im Umkreis der „Aktion Sühnezeichen“ artikulierte jedoch ihre Kritik. So protestierten 1975 evangelische Bischöfe gegen die UNO Resolution 3379 der UN-Generalversammlung vom 10. November 1975, die Rassismus und Zionismus gleichsetzte. Die UNO-Vertreter der DDR hatten zugestimmt. Die Bischöfe formulierten (zitiert bei Karin Hartewig): „Wir haben nicht zu vergessen: als Christen sind wir nach dem Zeugnis der Bibel in die Geschichte Gottes mit dem Volk Israel gestellt; als Deutsche haben wir in der Vergangenheit das Existenzrecht des jüdischen Volkes in einem erschreckenden Maße verneint.“

Bereits seit den 1960er Jahren wurden Eschwege und sein Freund Eugen Golomb, ein aus Auschwitz geflohener jüdischer Offizier Polens, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Leipzig, als Experten für Juden und Jüdisches von solchen deutschen Christen zu Vorträgen eingeladen. Eschwege machte, so formuliert die Historikerin Karin Hartewig, „Kulturpolitik auf eigene Faust.“

Das Synagogenbuch und die nie gedruckten Manuskripte Eschweges über „Das Jiddisch, seine Geschichte und Kultur“, die „Geschichte der jüdischen Friedhöfe auf dem Gebiet der DDR“ und die „Geschichte der Juden in den Ländern und Städten der DDR“ gingen in solche Vortragsabende ein. Eine Würdigung jüdischer Traditionen, die in der verordneten politischen Kultur der DDR ausgeschlossen war, wurde hier möglich.

Die Aktualität von Helmut Eschwege

Der jüdische Historiker Helmut Eschwege hatte den Holocaust überlebt, weil – so schrieb er in „Der Leidensweg der deutschen Juden“ – Juden im britischen Mandatsgebiet Palästina ihn, seine Mutter und Geschwister aufgenommen hatten und die alliierten Armeen sowie die ganz verschiedenen Widerstandbewegungen Europas Hitler besiegten. Eschwege hat nie aufgehört die Toten des deutschen Zivilisationsbruchs zu betrauern und die jüdischen und politisch sehr unterschiedlichen Traditionen des Widerstandes gegen seine Verursacher in ihrer Gesamtheit zu würdigen.

Eschwege schrieb im Dialog mit Bernard Mark, seinem Vetter Shaul Esh, den Historikern Arnold Paucker und Konrad Kwiet an der Geschichte modernen Judentums in Europa, das die deutschen Gesellschaften seit Beginn der Moderne hassten, verfolgten und schließlich vollständig auszulöschen versuchten. Ohne die Zensur wären Eschweges Bücher, wie Nicolas Berg schrieb, ähnlich wie die Werke Leon Poliakovs und Joseph Wulfs, heute als Pionierleistungen früher, jüdischer Forschungen zur Shoah und der Geschichte der Juden in Europa bekannt.

Es waren erst der Runde Tisch und die im März 1990 zum ersten Mal frei gewählte Volkskammer, die sich, wie Eschwege bereits 1946 vorschlug, in einem Beschluss am 12. April 1990 zu Verantwortung und Haftung der DDR für die deutschen Verbrechen bekannten, für eine Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel einsetzten, verfolgte Juden zur Einwanderung einluden und sich in einem weiteren Beschluss von der Dämonisierung Israels wie der Juden durch die SED distanzierten.

Die Geschichte von Helmut Eschwege und seinen gedruckten, zensierten und ungedruckten Manuskripten spiegelt die Abwehr der DDR-Gesellschaft gegen Juden und Jüdisches. Eschwege hat die Elemente dieser Abwehr in seiner Autobiografie sichtbar gemacht: (1) die Dämonisierung von Juden als Ausbeuter und Kapitalisten, (2) ihre Dämonisierung als antihumanistisch und antiuniversalistisch, (3) die Behauptung der Illegitimität Israels, (4) die Relativierung der Shoa als eines unter vielen Verbrechen des Kapitalismus, (5) die Beschuldigung, Juden seien mitverantwortlich für ihre Ermordung und die (6) Empathielosigkeit mit den Opfern des Nationalsozialismus, die Weigerung „alle Einzelheiten des Geschehens“ zu erinnern und zu verinnerlichen.

Diese Elemente des Antisemitismus, gibt es immer noch. Eschweges Geschichte, seine gedruckten, zensierten und ungedruckten Manuskripte haben deshalb auch Bedeutung für die Analyse des Antisemitismus, weit über die DDR hinaus. Helmut Eschwege schloss mit seinen Texten an die lange Tradition säkularer, jüdischer Geschichtsschreibung an.

Martin Jander, Berlin

Der Autor unterrichtet im Programm FU-BEST und an der Berliner Dependance der Stanford University deutsche Geschichte im europäischen Kontext. Neben der Geschichte der DDR und ihrer Dissidenten hat Jander ein zweites Forschungsfeld: die drei deutschen Terrorismen (links, rechts, islamistisch) nach 1945 und ihre internationalen Verbindungen. Mit Anetta Kahane entwickelte er die These von der „unvollendeten Republik“, um die Gegenwart der Bundesrepublik zu beschreiben (nachzulesen in dem von ihnen gemeinsam herausgegebenen Buch „Gesichter der Antimoderne“).

Zum Weiterlesen:

  • Abraham J. Arnold, Judaism: Myth, Legend, History and Custom: From the Religious to the Secular. Montreal – Toronto, Robert Davies Publishing, 1995.
  • Alexandra Brandl, Helmut Eschwege – Das Schicksal eines jüdischen Historikers in der DDR, in: Sina Wolff, Sophie Spitzner, Bernd Zöllner, Martin Kaden, Stephan Conrad (Hrsg.), Das Verhältnis der DDR zum Antisemitismus, Döbeln 2023.
  • Michael Brenner, David N. Myers, Hg., Jüdische Geschichtsschreibung heute, München. C.H. Beck, 2002
  • Nicolas Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, Göttingen, Wallstein, 2003.
  • Dan Diner, Der Krieg der Erinnerungen, Berlin, Rotbuch-Verlag, 1991.
  • Hans Erler, Judentum und Sozialdemokratie, Würzburg, Königshausen & Neumann, 2009.
  • Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 2 Bde., München, C.H. Beck, 2007.
  • Friedrich Ebert Stiftung, Hg., Die Vergangenheit mahnt! – Zum 40. Jahrestag des Aufstands im Warschauer Ghetto, Dokumentation einer Tagung vom 27. – 29. Mai 1983.
  • Jan Gerber, Die Holocaust-Rezeption in der DDR, in: Martin Luther Universität Halle-Wittenberg, Hg., Der Holocaust in der deutschen und israelischen Erinnerungskultur, Hallesche Beiträge zur Zeitgeschichte, Heft 8, Halle 2000.
  • Karin Hartewig, Zurückgekehrt, Köln, Böhlau, 2000.
  • Thomas Haury, Antisemitismus von links, Hamburg, Hamburger Edition, 2002.
  • Jeffrey Herf, Divided Memory, Harvard University Press 1997 (deutsche Ausgabe: Zweierlei Erinnerung, Propyläen Verlag, 1998).
  • Jeffrey Herf, „Hegelianische Momente“, in: Christoph Cornelißen, Lutz Klinkhammer, Wolfgang Schwentker, Hg., Erinnerungskulturen. Deutschland, Italien Japan seit 1945, Frankfurt, S. Fischer, 2003.
  • Jeffrey Herf, Undeclared Wars with Israel, Cambridge University Press 2016.
  • Jeffrey Herf, Jews, Germans, Shoah and Israel, Thesen anlässlich des Workshops der Amadeu Antonio Stiftung über Jeffrey Herfs Werke am 14. Januar 2020 im Centrum Judaicum.
  • Anetta Kahane, Heike Radvan, „Das hat`s bei uns nicht gegeben!“ – Antisemitismus in der DDR, Berlin, Amadeu Antonio Stiftung, 2010.
  • Anetta Kahane, Martin Jander, Hg., Gesichter der Antimoderne, Baden-Baden, Nomos, 2020.
  • Anetta Kahane, Martin Jander, Hg., Juden in der DDR, Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2021 (darin enthalten auch ein Beitrag über Helmut Eschwege).
  • Olaf Kistenmacher, Arbeit und „jüdisches Kapital“ – Antisemitische Aussagen in der KPD-Tageszeitung ´Die Rote Fahne` während der Weimarer Republik, Bremen, edition lumière, 2016.
  • Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 1993.
  • Bernard Mark, Der Aufstand im Warschauer Ghetto – Entstehung und Verlauf. Berlin, Dietz, 1957.
  • Robin Ostow, Jüdisches Leben in der DDR, Frankfurt, Jüdischer Verlag, 1988.
  • Shulamit Volkov, Deutschland aus jüdischer Sicht, München, C.H. Beck, 2022.
  • Alexander Walther, Helmut Eschwege and Jewish Life in the German Democratic Republic, in: Jay Howard Geller, Michael Meng (Eds), Rebuilding Jewish Life in Germany, New Jersey 2020.
  • Alexander Walther, (Jüdische) Historiker*innen in der DDR und die Erforschung von Judentum und Shoah, in: Jörg Ganzenmüller (Hg.), Jüdisches Leben in Deutschland und Europa nach der Shoah, Köln 2020.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2024. Es handelt sich um einen Vortrag zur Konferenz „…und der Zukunft zugewandt? – Über jüdische Geschichte(n) in der DDR“ im Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien Potsdam, Jüdisches Museum Berlin, 18. bis 20. Oktober 2023. Internetzugriffe zuletzt am 10. November 2024. Titelbild: Synagoge in Görlitz, Foto: Hans Peter Schaefer.)