Kampfplatz Geschichte
Jenseits der Faulenbach-Formel
„Wenn das Streben nach Zugehörigkeit, Ansehen und Aufwertung ein allgemeines soziales Bedürfnis ist, so ist die Beschäftigung mit der Geschichte als Begründerin von sozialen Zugehörigkeiten eine vorwissenschaftliche, in lebensweltlichen Bedürfnissen wurzelnde Tätigkeit. Das Individuum und die Gruppe brauchen Bestätigung für ihre Position und befragen die Geschichte nach Symbolen, die diese Bestätigungen liefern.“ (Rolf Schörken, Zur Formenvielfalt der Legitimation durch Geschichte, in: Karl-Ernst Jeismann, Hg., Geschichte als Legitimation? Internationale Schulbuchrevision unter den Ansprüchen von Politik, Geschichtswissenschaft und Geschichtsbedürfnis, Braunschweig 1984)
Der Text von Rolf Schörken (1928-2014) erschien 1984, ein Jahr vor der bahnbrechenden Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985, fünf Jahre vor der Öffnung der Grenze zwischen den beiden deutschen Staaten am 9. November 1989. Die Zeit, dass die Bezeichnung des Kriegsendes als „Befreiung“ große und mehrheitlich zustimmende Aufmerksamkeit erhielt, war 1975 noch nicht gekommen. Und kaum jemand erinnerte sich daran, dass schon von Walter Scheel am 6. Mai 1975 in der Bonner Universitätskirche über die „Befreiung“ am 8. Mai 1945 sprach: „Aber wir vergessen nicht, dass diese Befreiung von außen kam, dass wir, die Deutschen, nicht fähig waren, selbst dieses Joch abzuschütteln, dass erst die halbe Welt zerstört werden musste (…)“. Die Rede und ein Faksimile der entsprechenden Redekarte sind in dem von Knut Bergmann herausgegebenen Band „Walter Scheel – Unerhörte Reden“, (Berlin / Brandenburg, be.bra verlag, 2021) zu finden.
Die Faulenbach-Formel
In derselben Rede sagte Walter Scheel: „Adolf Hitler war kein unentrinnbares Schicksal. Er wurde gewählt.“ Es folgte leider keine öffentliche Debatte darüber, welche Art der „Bestätigung“ im Sinne von Rolf Schörken die Deutschen bei der Wahl Adolf suchten. Für viel zu viele Deutsche wurde zwar der Krieg zum „Joch“, doch führte dies auch zur Wahrnehmung der NS-Gewaltherrschaft als „Joch“? Nicht unbedingt. Die Wahrnehmung der NS-Gewaltherrschaft als „Joch“, als die Zeit eines von Deutschen organisierten Menschheitsverbrechens entstand erst mit der Zeit und hatte – so muss ich es leider sagen – ihre Konjunkturen.
Die deutsche Geschichte ist – vielleicht ist dies ein Allgemeinplatz, der gar nicht aufgeschrieben werden sollte – eine Geschichte radikaler Umbrüche. Das gilt nur bedingt für 1848 und für 1871, aber es gilt unbedingt für 1918, 1933, 1945 und 1989. Stets folgten Debatten über Kontinuitäten und Diskontinuitäten, über Schuld und Unschuld. Die gesellschaftliche, juristische und politische Aufarbeitung der Verbrechen der Vergangenheit war ein wesentlicher Teil dieser Debatten, die sich 1945 in eine östliche und eine westliche Debatte verzweigten, die miteinander konkurrierten. Vereinfacht gesprochen: in der Deutschen Demokratischen Republik wurden die NS-Verbrechen als Folge von Kapitalismus und Imperialismus verharmlost, in der Bundesrepublik Deutschland viel zu lange beschwiegen. Beide deutschen Staaten pflegten ihren jeweiligen Opferdiskurs, die einen sprachen über das Leid von Soldaten, über Bombenangriffe und Vertreibung, die anderen über die Leiden der kommunistischen Held*innen. 1989 entstand eine neue Konkurrenzsituation im Hinblick auf die Bewertung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der kommunistischen Diktatur im Vergleich. Es entstand – mit unterschiedlichen Begründungen – die verhängnisvolle Formel von den „beiden deutschen Diktaturen“.
Mit Recht wird immer wieder die sogenannte Faulenbachformel zitiert, die Bernd Faulenbach (*1943) 1992 bei den Beratungen der Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur“ fand und die die folgenden Debatten über die Konzeption von Gedenkstätten maßgeblich beeinflusste: „Die NS-Verbrechen dürfen nicht durch den Hinweis auf das Nachkriegsunrecht relativiert, dieses Unrecht darf aber auch nicht angesichts der NS-Verbrechen bagatellisiert werden.“
Ich zitiere die Formel nach einem von Dieter Garbe am 10. Dezember 2015 in Kiel gehaltenen Vortrag: „Die Gedenkstättenkonzeption des Bundes: Förderinstrument im geschichtlichen Spannungsfeld“). In den Folgejahren wurde die Faulenbachformel immer wieder in Frage gestellt. Vor allem die Singularität der Shoah wurde zu einem ständigen Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Kontroversen. Dieter Garbe referierte in seinem Vortrag die Geschichte dieser Debatten in Bundestag und Öffentlichkeit. Heute, im Jahr 2021, ließe sich die Faulenbachformel vielleicht auch auf die Debatten um Bewertung und Aufarbeitung der deutschen Kolonial-Verbrechen anwenden.
Angesichts der Bedeutung der Faulenbachformel für die deutsche Erinnerungskultur nach 1989 ist es vielleicht von Interesse, einen früher entstandenen Text von Bernd Faulenbach zu zitieren. In demselben Symposium, dem ich den Text von Rolf Schörken entnahm, im Jahr 1984, hielt Bernd Faulenbach den Vortrag „Die These vom deutschen Sonderweg und die historische Legitimation politischer Ordnung in Deutschland“. Seine Analyse: „Die beispiellose Katastrophe, in der das zur Erfüllung der deutschen Geschichte stilisierte Dritte Reich unterging, hat das deutsche Nationalbewusstsein und auch das deutsche geschichtliche Bewusstsein schwer erschüttert. Dies hatte zur Folge, dass die nationale Geschichte – insgesamt gesehen – als Legitimationsinstanz und Legitimationspotenzial an Bedeutung verlor.“
Die teleologische Versuchung
Es ließe sich darüber nachdenken, ob und wie der von Bernd Faulenbach diagnostizierte Gedanke der „Erfüllung der deutschen Geschichte“ in den beiden deutschen Staaten diskutiert oder auch in Bildungseinrichtungen vermittelt wurde. Für die DDR lässt sich die Frage relativ einfach beantworten. Sie pflegte einen Geschichtsunterricht in hegelianischer Tradition, im Sinne von Karl Marx sozusagen „vom Kopf auf die Füße gestellt“. Sie begründete ihr spezifisches sozialistisches Geschichtsverständnis im Hinblick auf die Geschichte vor 1945 radikal und ex negativo. Die DDR war der antifaschistische Staat per se, der mit dem Antifaschismus auch den als Ursache des Faschismus identifizierten Kapitalismus überwunden hatte.
In der Bundesrepublik Deutschland, die als BRD abzukürzen in bundesrepublikanischen Kreisen verpönt war, während diejenigen, die mit der DDR sympathisierten, dies provokativ taten, sah es etwas anders aus. In der Generation der zwischen 1945 und Mitte der 1960er Jahre geborenen Menschen gab es viele, die in ihrem Geschichtsunterricht nichts über die Zeit zwischen 1933 und 1945 erfuhren, und ebenso sehr viele Menschen, die davon auch nichts (mehr) wissen wollten. Es hing letztlich vom Engagement der Lehrkräfte ab, ob und wie die NS-Zeit thematisiert wurde oder nicht. An den Hochschulen war durchaus Vorsicht geboten, wenn sich der ein oder andere Historiker mit in die Schreckensjahre von 1933 bis 1945 zurückreichender Karriere zu Wort meldete.
Eine teleologische Versuchung fehlte der Bundesrepublik Deutschland. Bernd Faulenbach: „Die Bundesrepublik konsolidierte sich weitgehend ohne historische Legitimation.“ Aber irgendwie schien der deutschen Geschichte – aus bundesrepublikanischer Sicht – offenbar immer etwas zu fehlen. Nur zaghaft wagten manche, an die Stelle von Nationalbewusstsein etwas anderes, vielleicht angesichts der Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz ein Demokratiebewusstsein, zu setzen. Die Debatte um die sogenannte „Deutsche Einheit“, jährlich mit dem 17. Juni als westdeutscher Nationalfeiertag markiert, überlagerte Debatten um die Demokratie, der Willy Brandt in seiner Regierungserklärung im Jahr 1969 dann mit der Formel „Mehr Demokratie wagen“ zu ihrem Recht verhelfen wollte. Während jedoch manche diese Formel auf die Zeit vor 1945 bezogen und Kontinuitäten bis in die Zeit vor 1969 suchten, bezogen andere sie mehr oder weniger ausschließlich auf den östlich gelegenen Teil Deutschlands und die Sowjetunion, deren Verfasstheit die westliche Praxis per se legitimieren sollte.
Nach wie vor retteten sich Westdeutsche in die Annahme eines deutschen „Sonderwegs“ in der Geschichte, der zwar kein Ziel benannte, wohl aber Differenzen zu den Entwicklungen anderer Staaten begründete, im Osten wie im Westen. Nur am Rande: zu dieser Wahrnehmung von Differenzen gehörte auch, dass in Schulen und Medien die Mär verbreitet wurde, das Deutsche Reich habe so gut wie keine Kolonien gehabt, obwohl es mit seinen pazifischen und afrikanischen Besitztümern zu den drei größten Kolonialreichen gehörte und 1884/1885 Gastgeber der sogenannten „Kongo-Konferenz“ war. Doch diese Zusammenhänge unterrichtete in den westdeutschen Schulen kaum jemals jemand.
Bernd Faulenbach spricht davon, dass „die Sonderwegsdiskussion noch heute (NR: d.i. 1984) politisch aufgeladen“ ist, was auch immer damit gemeint sein mag. Konservative Kreise – so Bernd Faulenbach – vermerkten die Folgen von „reeducation und reorientation“ nach 1945 als Grund einer fehlenden Bereitschaft, eine moralisch positive Erzählung deutscher Nationalgeschichte zu formulieren. „Es lässt sich nicht übersehen, dass die Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland und die deutsche Geschichte bei dieser Interpretation relativ unverbunden nebeneinander standen.“ Populär war lange Jahre das von Helmuth Plessner 1959 bei Kohlhammer in Stuttgart veröffentlichte Buch „Die verspätete Nation – Über die politische Verführbarkeit des bürgerlichen Geistes“. Es wurde zu einem der Longseller unter den politischen beziehungsweise historisch-politischen Büchern. Manche leiteten daraus ab, dass Deutschland sich auch in der Nachkriegszeit neu als Nation konstituieren müsse. Diese bundesrepublikanische Debatte wurde in der DDR durch die Einführung des Begriffs der „sozialistischen Nation“ gekontert. Der Begriff der Nation war kontinuierlich attraktiv, in Ost und West, und offenbar verbindender als die Begriffe der Demokratie und des Sozialismus.
Ausgesprochenes und Unausgesprochenes
1985 bewirkte die Rede Richard von Weizsäckers ein – wie gesagt mehrheitlich zustimmendes – Bewusstsein einer denkbaren Ableitung der deutschen Gegenwart aus der Anerkennung der verbrecherischen Vergangenheit und dem Respekt vor den Opfern. Allerdings konnten die Täter*innen noch nicht benannt werden. Dazu war die Zeit noch nicht reif. Richard von Weizsäcker konnte am 8. Mai 1985 von einer „Befreiung“ sprechen, er konnte nicht darüber sprechen, was Deutsche als Täter*innen zur Shoah, zu den Überfällen und der Ausbeutung in Europa beigetragen hatten. Die Botschaft von Wolfgang Staudtes 1946 erschienenen Films „Die Mörder sind unter uns“ war kein Thema der deutschen Erinnerungskultur.
Insofern dokumentiert die Rede vom 8. Mai 1985 einen Bewusstseinsstand bundesrepublikanischen Geschichtsverständnisses, wie er sich seit etwa Mitte der 1960er Jahre und dann mit der sozialliberalen Koalition entwickelt hatte. Der innerdeutsche Widerstand gegen die NS-Herrschaft wurde zunehmend positiv rezipiert, allerdings gab es auch hier Lücken, insbesondere im Hinblick auf den kommunistischen Widerstand, der zwar in der DDR zur maßgeblichen Widerstandsbewegung stilisiert wurde, im Westen jedoch weitgehend ignoriert wurde. Es gab immer wieder Konflikte um die Anerkennung verschiedener Opfergruppen, die Legitimation von Widerstandsgruppen, die Rolle der Wehrmacht, der Justiz, die Rechtmäßigkeit von Urteilen der NS-Zeit. Von diesen Konflikten zeugen die Kontroversen um die deutsche Geschichte im Rahmen der 1968er-Rebellion, der Historikerstreit und die diversen Debatten um Ausstellungen, beispielsweise die beiden Wehrmachts-Ausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung, oder die Ausgestaltung von Mahn- und Gedenkstätten. All diese Debatten belegen, dass sich die bundesdeutsche Öffentlichkeit erst langsam daran gewöhnen musste, dass es in der deutschen Geschichte verbrecherische Kontinuitäten gibt.
Bernd Faulenbach formuliert am Ende des Vortrags aus dem Jahr 1984 eine grundlegende Voraussetzung jeder Beschäftigung mit Geschichte: „Geschichte wird nur dann zur Identitätsbildung, zur Stabilisierung des Selbstverständnissens von sozialen Gruppen – zumal der deutschen Gesellschaft – wirklich beitragen können, wenn sie ihre traditionskritische Aufgabe ernst nimmt und bei aller notwendigen Berücksichtigung des Gewichts der Vergangenheit das Eigenrecht der Gegenwart und die relative Offenheit des Horizonts für die Zukunft beachtet.“ Das klingt noch ganz werteneutral, ist es aber nicht. Zur „Identitätsbildung“ kann eben auch Abspaltung gehören, insofern führt noch lange nicht jede „Identitätsbildung“ ins freiheitlich-demokratische Paradies. In der seinem Vortrag folgenden Diskussion bezeichnet Bernd Faulenbach die „Frage nach der Durchsetzung von Demokratie“ als grundlegenden „Rahmen“: „Nur müsste dann der Begriff der Demokratie als solcher auch noch differenziert werden, was sehr schwierig werden würde.“
Der braune Faden des Geschichtsrevisionismus – ein Kulturkampf
In den 2010er Jahren entstand eine Sicht auf Geschichte, die sicherlich (noch) nicht mehrheitsfähig ist, deren Gefahren für die Demokratie jedoch nicht unterschätzt werden dürfen. Es ist eine Sicht, in der der Begriff der Demokratie als Wertmaßstab durch einen anderen ersetzt werden soll, den der Nation. Und manche Debatten der 1980er Jahre erleben in den 2010er und 2020er Jahren offenbar eine Renaissance. Erinnerungskultur war möglicherweise doch nur ein rein bildungsbürgerliches Projekt und ist es möglicherweise sogar noch heute.
Norbert Frei hat gemeinsam mit drei Kolleg*innen die Kontinuität „rechten“ Denkens und Handelns in der deutschen Geschichte nach 1945 nachgezeichnet (Norbert Frei / Franka Maubach / Christina Morina / Maik Tändler: Zur rechten Zeit – Wider die Rückkehr des Nationalismus“, Berlin, Ullstein, 2019). Die Autor*innen ziehen in ihrem Buch mit dem mehrdeutigen Titel den Schluss, „dass es nicht um neue Themen geht, wohl aber um neuartige Zuspitzungen und Vereinnahmungen.“ Sie beschreiben die Kontinuität rechten Denkens und Handelns in Deutschland und analysieren „den Rechtsruck der letzten Jahre als jenes gesamtdeutsche Problem (…), das er ist.“ Vier Themen stehen im Mittelpunkt ihrer Analyse: die Relativierung des Holocaust, die Fremdenfeindlichkeit, die Affinität zur Gewalt sowie die Reaktionen von „rechts“ gegen die Gegenwehr von Staat und Zivilgesellschaft.
Es ergibt sich so etwas wie ein brauner Faden des Geschichtsrevisionismus, verbunden mit einem durchaus „romantischen“ Verständnis von Geschichte. Eine Forscher*innengruppe der Universität Duisburg-Essen hat in dem 2018 erschienen Band „Großerzählungen des Extremen – Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on Terror“ (Bielefeld, transcript) in solchen Erzählungen „viele Elemente einer klassischen romantischen Geschichte“ identifiziert. Bezogen auf den sogenannten „Islamischen Staat“ diagnostizieren die Autor*innen, „dass sich die kulturelle Ausdrucksform von ISIS in Form seiner Propagandamaterialien westliche Seh- und Erzählgewohnheiten zu eigen macht, um die Geschichte eines Helden zu entfalten, der nach einem Erweckungserlebnis gegen einen ungerechten Feind und für eine moralisch überlegene Ordnung kämpft.“ George W. Bush war ein „Reborn Christian“, sodass sein „War on Terror” dem Krieg, den die von ihm bekämpften Terrorist*innen führen, strukturell ähnelt, ebenso, wie dies diverse Erzählungen der europäischen und amerikanischen Rechten tun. Populistische Erzählungen sind nicht per se anti-demokratisch, aber sie haben ein anti-demokratisches Potenzial, das in den meisten Fällen obsiegt, wie Radikalisierungsprozesse beispielsweise bei sich ursprünglich gemäßigt gebenden rechts orientierten Parteien und Organisationen belegen.
Andreas Audretsch und Claudia C. Gatzka haben 2020 im Bonner Dietz-Verlag das Buch „Schleichend an die Macht“ herausgegeben, Untertitel: „Wie die Neue Rechte Geschichte instrumentalisiert, um Deutungshoheit über unsere Zukunft zu erlangen.“ Sieben Autor*innen befassen sich mit der Frage, wie Geschichte, „Geschichtspolitik“ genutzt werden kann und wird, um Schritt für Schritt „Deutungshoheit“ zu erobern. So wie es in den 1970er Jahren eine links orientierte Rezeption von Carl Schmitt gab, gibt es heute eine rechts orientierte Rezeption von Antonio Gramsci. Die beiden Herausgeber*innen schreiben in ihrer Einleitung: „Kern der These Antonio Gramscis ist, dass es in einer modernen Gesellschaft nicht möglich ist, durch eine kleine Gruppe von ‚Herrschenden‘ die große Mehrheit der Bevölkerung von oben zu regieren. Eine herrschende Ordnung bezieht ihre Stabilität vielmehr daraus, dass die Mehrheit der Bevölkerung an sie glaubt.“
Der „Kulturkampf der Neuen Rechten“ konzentriert sich auf „Geschichtspolitik“. Das Buch nennt Beispiele aus Deutschland, Italien und Ungarn. Dazu gehört in Italien die Abwertung des 25. April als nationalem Feiertag zum Gedenken an die „Befreiung von Faschismus und deutscher Besatzung“ und „an die Erfolge der Resistenza im Zweiten Weltkrieg“. Der damalige italienische Innenminister Matteo Salvini nahm am 25. April 2019 nicht an den Feierlichkeiten teil, sondern an der Einweihung eines Polizeikommissariats in Corleone (Sizilien). Claudia Gatzka beschreibt, wie „der 25. April den Rechtspopulist*innen inzwischen als Chiffre für die vermeintliche Dominanz und Intoleranz der politischen Linken“ gilt und Salvini „Befreiung“ neu definiert: „Seine zentrale Botschaft ist dabei, dass seine Liberazione wirklich für ‚alle‘ Italiener*innen gelten soll, und nicht nur für die Linken.“ Eine exklusive Lesart des 25. April hatte zwar niemand in Anspruch genommen, aber Salvinis Rhetorik sorgt dafür, dass der Konsens über die „Befreiung“ als italienisches nationales Ereignis zerstört wird. Ihm geht es um eine Verschiebung der „Befreiung“ von internen auf externe Tätergruppen. Nicht mehr die italienischen Faschisten wären Anlass der „Befreiung“, sondern die Deutschen, die die italienische Unabhängigkeit schon vor 1945 bedrohten und dies – mit den Mitteln der Europäischen Union – neuerdings wieder täten.
Tommaso Baris von der Fondazione Gramsci verdanke ich den Hinweis, dass es in Italien nach 1945 immer wieder Debatten gab, wie inklusiv der 25. April zu verstehen sei. Insofern hat auch das Verhalten Matteo Salvinis eine Vorgeschichte. Der Weg ist frei, die antieuropäischen und antideutschen Elemente der Rhetorik Salvinis und seiner Mitstreiter*innen als „Befreiungskampf“ („guerra di liberazione“) zu popularisieren. Den Euro vergleicht Salvini mit Panzern, denn auch der Euro töte. Claudia C. Gatzka verweist darauf, dass die Wahl des Ortes Corleone als Schauplatz von Salvinis geschichtspolitischer Demonstration durchaus symbolisch zu verstehen ist. Die Wahl des Heimatorts des „Paten“ der Romane von Mario Puzo (1920-1999) und der Filme von Francis Ford Coppola (*1939) rückt die angeblich von den Deutschen dominierte Europäische Union in die Nähe einer Mafia-Organisation.
In Ungarn wird Brüssel durch die Rhetorik von Viktor Orbán – so der Autor des Kapitels „‘Make Hungray great again‘“, Stephan Ozsváth – zum „neuen Moskau“ oder einem „neuen Wien“. So wie in Italien der Verweis auf deutsche Besatzung einen soll, eint nach Orbáns Vorstellungen der Verweis auf die habsburgische und sowjetische Herrschaft. In Ungarn gab es nach Orbáns Auffassung keine Mitschuldigen an der Shoah, auch 1956 keine Mitschuldigen an der sowjetischen Niederschlagung des Aufstandes. Es gab „keine Täter*innen – keine Geheimdienst-Mitarbeiter*innen und keinen Lynchmob – sondern nur Opfer.“ Orbán nutzt seinen Einfluss und seine große Mehrheit im ungarischen Parlament, die er sich dank einer Wahlrechtsreform ermöglichte, um Schulbücher umzuschreiben und das „Haus des Terrors“ in Budapest nach seinen Vorstellungen zu gestalten.
Eine zentrale Akteurin war die „Unternehmerin und Historikerin María Schmidt“. An der Stelle der Imre-Nagy-Statue steht jetzt ein „Denkmal für die Opfer des ‚roten Terrors‘ während der Räterepublik 1919. Es war während der Ära des Reichsverwesers Miklós Horthy eingeweiht worden.“ „Auch Orbán lobt Horthy als ‚außergewöhnlichen Staatsmann‘.“ Der 1975 erschienene „Roman eines Schicksalslosen“ von Imre Kertész wurde von den Lehrplänen gestrichen. Stattdessen lesen ungarische Schüler*innen Bücher von Autoren mit eindeutig nationalsozialistischer Vergangenheit. Zentral für das neue Geschichtsverständnis der ungarischen Regierung ist die um den Vertrag von Trianon entstandene „Subkultur“: „‚nationale‘ Rockbands fordern ‚Weg mit Trianon‘ und zelebrieren in ihren Konzerten das Glaubensbekenntnis der Zwischenkriegszeit (‚Ich glaube an die Wiederaufstehung Ungarns‘), das Schulkinder aufsagen mussten.“ Groß-Ungarn ist kein Hirngespinst, sondern so etwas wie eine konkrete Utopie, eine der großen Erzählungen, die die Ungarn stolz auf sich machen sollen.
Alexander Gauland ist vielleicht der AfD-Politiker, der in seinem Auftreten und in seiner Kleidung am ehesten dem Bild eines konservativen bürgerlichen Politikers entspricht. Er versteht es, die Stimmungen in seiner Partei bis zum rechtsextremen Rand zu bedienen. Dazu gehören nicht nur antisemitische Codebegriffe wie „Globalisten“, sondern auch das gesamte Dominanz-Vokabular der „white supremacy“, nur diesmal in deutscher Version. Andreas Audretsch zitiert Gaulands Kyffhäuser-Rede vom 2. September 2017. Gauland vereinnahmt die gesamte deutsche Kulturvergangenheit von Luther über Lessing bis hin zu Goethe für seine Geschichtsauffassung: Audretsch zitiert: „Was in der Bismarck-Zeit, eben auch in diesem Denkmal, die Vollendung erlebte, hatte Luther begonnen, hatte Lessing fortgesetzt und hatte die goethische Sprache vollendet. Es war die Dominanz deutscher Kultur und deutscher Sprache in Europa.“
Damit ist die nationalistische Katze aus dem Sack. Es geht nicht um das im sogenannten „Ethnopluralismus“ der Identitären Bewegung angedeutete scheinbar gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Kulturen, die sich jeweils in ihren Territorien bewegen, aber nicht auf andere Territorien übergreifen, es geht um „Dominanz“ und „Hierarchie“, ein deutsches „Germany First“, das in der Tat in bürgerlich-konservativ ummantelten Sätzen deutschen Imperialismus zum Kern der Politik macht: „Es geht um Geschichtspolitik, aber gleichzeitig geht es um viel mehr. Es geht darum, den mühsam erkämpften grundlegenden gesellschaftlichen Konsens, der im Kern Freiheiten und Rechte für alle Menschen beinhaltet, zu brechen und zu ersetzen – durch einen rechtsradikalen, völkischen, nationalistischen Grundkonsens.“
Präzedenzfall Polen – der Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs
Ein Präzedenzfall für Auseinandersetzungen um die Nationalisierung der Erinnerungskultur ist der Streit um das Museum des Zweiten Weltkriegs in Polen. Der von der polnischen Regierung aus dem Amt als Gründungsdirektor entlassene Paweł Machcewicz hat diesen Streit ausführlich in seinem Buch „Der umkämpfte Krieg – Das Museum des Zweiten Weltkriegs in Danzig – Entstehung und Streit“ dokumentiert (die deutsche Ausgabe erschien 2018 in Wiesbaden bei Harrassowitz, die polnische Ausgabe mit dem einfachen Titel „Muzeum“ erschien 2017 in Krakau).
Die Dokumentation des Streits enthält eine Fülle von Details. Das Buch bietet eine beeindruckende Chronik der Auseinandersetzungen, Schikanen, Diffamierungen, auch immer wieder Hinweise auf das ursprüngliche Konzept, das internationalen Standards genügen sollte, die beispielsweise im Beirat von der Expertise eines Timothy Snyder garantiert werden sollten, der mit „Bloodlands“ die vielleicht umfassendste Darstellung der Genese und der Folgen des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 vorgelegt hat. Timothy Snyder und andere international bekannte Kolleg*innen wurden von der polnischen Regierung aus dem Beirat des Museums entfernt und durch ausschließlich polnische Kolleg*innen ersetzt, die das von der Regierung vertretene „Monopol auf polnische Identität und Patriotismus“ umzusetzen versprachen. Verlangt wurde eine stärkere Berücksichtigung des militärischen Teils der Vergangenheit, „sie kritisierten das Museum des Zweiten Weltkriegs unter anderem dafür, dass es den Zivilisten zu viel Aufmerksamkeit schenke und dadurch die militärischen Aspekte der Nationalgeschichte vernachlässige.“ Kritisiert wurden ferner „Universalisierung“ und „Europäisierung“ der Erinnerung.
Die polnische Regierung verlangte den Vorrang polnischer vor europäischer Identität, durchaus im Sinne der ehemaligen Regierungschefin Beata Szydło, die nach dem Wahlsieg ihrer Partei, der PiS, bei ihrer Amtsübernahme am 16. November 2016 die EU-Fahne entfernte und sich ausschließlich vor der polnischen Fahne präsentierte. Paweł Machcewicz fasst den Kern des Streits wie folgt zusammen: „Die Diskussion um das Museum war nicht nur eine Auseinandersetzung über die Interpretation der Geschichte, sondern auch über die Beziehung Polens zu seinen Nachbarn, über seinen Platz in Europa sowie insgesamt über die Ausgestaltung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Im heftigen Angriff der national-konservativen Kräfte auf die Pläne für das Weltkriegsmuseum lassen sich die Reaktionen von ‚Euroskeptikern‘ erkennen, die die polnische Eigenständigkeit, die besondere ‚Eigenart‘ verteidigen wollen. Deshalb sehen sie ein Projekt, das die polnische historische Erfahrung in eine größere Erzählung über das Schicksal Europas und der Welt einfügen möchte, als Bedrohung für die nationale Identität an.“
Die ursprüngliche Konzeption des Museums orientierte sich an Vorbildern wie dem Flanders Fields Museum im flämischen Ypern, dem britischen Imperial War Museum in Manchester oder dem Historial de la Grande Guerre im französischen Péronne (Somme). Paweł Machcewicz beschreibt auch politisch veranlasste Veränderungen in diversen Museen, beispielsweise im Hinblick auf die Ukrainisierung des Museums des Großen Vaterländischen Krieges nach der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991. „Das Kiewer Museum war für uns nicht als Ausstellung ein Vorbild, dafür aber lebendiges Beispiel dafür, wie man die Erinnerung an den Krieg unter dem Einfluss aktueller Ereignisse verändern kann und wie schwer es doch zugleich ist, frühere Vorstellungen über diesen Krieg zu verändern.“
Paweł Machcewicz und seine Kolleg*innen besuchten weitere Museen in Moskau, in New Orleans, das Holocaust-Museum in Washington. Politische Implikationen finden sie überall, auch in dem zuletzt genannten Museum: „Die Entstehung des Holocaust-Museums in Washington, des ersten narrativen Geschichtsmuseums der Welt, lagen absolut politische Motive zugrunde. Im Jahr 1977 nahmen die USA Beziehungen zur Palästinensischen Befreiungsorganisation auf und entschlossen sich, Waffen an Ägypten und Saudi-Arabien zu verkaufen.“ Die Gründung des Museums verfolgte das Ziel, die israelische Kritik an der amerikanischen Außenpolitik abzufedern.
In Moskau, in Osaka und in Nagasaki stellten Paweł Machcewicz und seine Kolleg*innen fest, wie Regierungen die Akzente und Schwerpunkte von Ausstellungen verschoben. „Der japanische Ministerpräsident ordnete an, überall Teile von Ausstellungen über japanische Verbrechen zu überprüfen (…). Im Friedensmuseum von Osaka wurde für mehrere Monate ein Teil der Ausstellung geschlossen – nach ihrer Wiedereröffnung stellte sich heraus, dass sie nun nicht mehr über die japanischen Verbrechen in Asien erzählte, sondern über das Leiden der japanischen Zivilbevölkerung unter den amerikanischen Bombenangriffen.“ In Deutschland gibt es durchaus ähnliche Debatten um die Bombenangriffe auf Dresden, nur mit dem Unterschied, dass sich eine der japanischen Auffassung vergleichbare Umdeutung mit den gegebenen politischen Mehrheiten nicht durchsetzen lässt. In Russland sorgte Wladimir Putin im Gegensatz zu Boris Jelzin für „eine immer deutlichere Rehabilitierung der Sowjetzeit und auch des Stalinismus“ Seit 2015 erfahren wir im 1995 gegründeten Museum zum kommunistischen Terror im früheren Gulag Perm-36 von der „Bedeutung des Gulag-Systems und der Zwangsarbeit für den Sieg über das Dritte Reich (…). Es wird hervorgehoben, unter welch guten Bedingungen die Häftlinge lebten und arbeiteten und welch angeblich blühendes Kulturleben in Lager geherrscht habe.“
Eindrucksvoll ist die Reaktion eines Mannes, der dem Museum des Zweiten Weltkriegs Erinnerungsstücke seines in Plasnitz / Piaśnica ermordeten Vaters und seines in Stutthof /Sztutowo inhaftierten Schwiegervaters überlassen hatte: „Meine Mama hat diese Dinge von Vater vor der Gestapo versteckt, dann vor dem kommunistischen Geheimdienst, und nun nehme ich sie aus dem Museum, damit die Politiker nicht mit ihnen manipulieren können.“ Der Vergleich des Vorgehens der PiS-Regierung mit dem Vorgehen der kommunistischen Regierungen Polens zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch von Paweł Machcewicz. Und das gilt offensichtlich nicht nur für Polen.
Polnische Ängste – polnische Versuche der Selbstbehauptung
Die von Paweł Machcewicz dokumentierten Veränderungen in diversen Museen belegen eine fundamentale Veränderung der Hierarchie des Gedenkens und der Dokumentation von Gedenken: Politik schlägt Museum schlägt Geschichtswissenschaft. Sie belegen aber auch, in welchem Tempo eine Regierungspartei in der Lage ist, bisherige Konsense aufzukündigen und ihre nationalistische Sicht durchzusetzen. Anders gesagt: die bisherigen Konsense waren alles andere als stabil. Paweł Machcewicz: „Es ist nicht mehr die universitäre Geschichtswissenschaft, die hauptverantwortlich für die Gestaltung unserer Vergangenheitsvorstellung ist, sondern in immer größerem Maße das Museumswesen in dem unaufhörlichen Bemühen, Botschaften immer attraktiver zu vermitteln, um ein Massenpublikum anzuziehen. Dies ist für Politikerinnen und Politiker eine Versuchung.“
Die polnische Regierung widerstand dieser Versuchung nicht: „Die Vorstellung, dass ein Historiker vor allem eine ‚Staatsraison‘ repräsentieren und die ‚Geschichtspolitik‘ seines Landes realisieren müsse, anstatt nach Wahrheit zu streben, ist in Polen zu einem Dogma der Rechten geworden.“ Vielleicht ist der Begriff der „Wahrheit“ (polnisch: „prawda“) etwas hochgestochen, aber er ist aus den von Paweł Machcewicz geschilderten Erfahrungen mit allen seinen zumindest scheinbar eindeutigen Implikationen verständlich. Es hat schon einen Hauch von Zynismus, dass die beiden Begriffe, die den Namen der führenden polnischen Regierungspartei ausmachen, dieselbe Wurzel haben wie das polnische Wort für Wahrheit: „Prawy i Sprawiedliwość“ (PiS, deutsch: „Recht und Gerechtigkeit“). Das „Recht“, die „Gerechtigkeit“ werden schon begrifflich so eng mit dem Begriff der „Wahrheit“ verbunden, dass der Eindruck entstehen muss, dass es keine anderen Lesarten der gesellschaftlichen Entwicklungen und schon gar nicht der Vergangenheiten und der Erinnerung geben kann als die von der Regierung beziehungsweise der Partei vorgegebenen. Alle anderen leugnen eben die „Wahrheit“ und verstoßen gegen das „Recht“, handeln gegen „Gerechtigkeit“. So sind auch die Initiativen der polnischen Regierung, jeden Hinweis auf eine Mitwirkung von Pol*innen an der Shoah und anderen Verbrechen der deutschen Besatzung unter Strafe zu stellen, erklärbar. Dort, wo das „Recht“ nicht ausreicht, muss es eben geschaffen und mit Hilfe der Rechtsprechung durchgesetzt werden.
Die Motivation der polnischen Regierung ließe sich vielleicht aus der Erfahrung als Puffer zwischen Deutschland beziehungsweise Deutschem Reich auf der einen Seite und der Sowjetunion beziehungsweise Russland auf der anderen Seite erklären. Am 1. September 1939 überfiel das Deutsche Reich Polen, am 17. September folgte von der anderen Seite die Sowjetunion. Damit wurden der Hitler-Stalin-Pakt beziehungsweise die Molotow-Ribbentrop-Linie zur Aufteilung der Herrschaftsgebiete in Mittel- und Osteuropa umgesetzt. Die Sorge, dass dies wieder geschehen könnte, motiviert meines Erachtens die polnische Politik, nicht zuletzt weil die Bedrohung durch Russland, gerade nach den Erfahrungen auf der Krim und in der Ost-Ukraine, aus polnischer Sicht von den Deutschen fahrlässig unterschätzt wird, sodass sich möglicherweise sogar ein heimliches Einverständnis zwischen Deutschland beziehungsweise der EU und Russland ableiten ließe. Zumindest wird der Eindruck plausibel, NATO und EU wären auch im Falle eines Angriffs Russlands auf Polen die zahnlosen Tiger, als die sie sich in der Ukraine ja auch erwiesen. Ängste der Regierungen in den baltischen Staaten sind vergleichbar und die Rhetorik Donald J. Trumps fiel dort wie in Polen auf fruchtbaren Boden. Eine solche Sicht rechtfertigt das Vorgehen der polnischen Regierung nicht, könnte es aber zumindest teilweise erklären.
Paweł Machcewicz schreibt, „wir haben es mit einer Konfrontation unterschiedlicher Modelle zu tun. Mit einem bewussten Polentum, das es versteht, sich seiner Vergangenheit zu stellen und über sie zu sprechen. Einem Polentum, das sich realistisch, ja sogar kritisch betrachten kann, da es die Fähigkeit besitzt, Bedrohungen real zu beurteilen und daraus Schlüsse zu ziehen. Und mit einem anderen Polentum, das sich und andere unaufhörlich seiner Größe versichert, das ‚sich von den Knien erhebt‘, eigentlich aber unsicher ist, immerfort furchtsam, das Angst hat, dass Polen in Kürze zu bestehen aufhört. Einem Polentum, das sich vor intellektuellem Mut und kritischem Denken fürchtet, obwohl eine solche Haltung der eigenen nationalen Kultur untreu wird, in der das Nachdenken über Mängel, Fehler oder Verschulden stets einen sehr wichtigen Platz hatte.“
Kulturkampf – auch in Deutschland?
Ob es in Deutschland ähnliche Entwicklungen geben könnte, die die Träume von AfD und affinen Parteien und Organisationen erfüllen, halte ich zurzeit für wenig wahrscheinlich, auch wenn wir die Gefahr nicht unterschätzen sollten. Paweł Machcewicz verweist darauf, dass Donald Tusk in seiner Zeit als polnischer Regierungschef Angela Merkel in Berlin die ursprüngliche Konzeption des Museums des Zweiten Weltkriegs als „Alternative zum ‚Vertriebenenmuseum‘“ vorstellte. Er habe jedoch nicht das Gehör gefunden, dass er sich gewünscht habe. Andererseits unterscheidet sich die dann umgesetzte Konzeption des ab 2022 der Öffentlichkeit zugänglichen „Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ (die Internetpräsenz ist zurzeit noch sehr lückenhaft) durchaus erheblich von den ursprünglichen Plänen einer Erika Steinbach, andererseits handelt es sich nach derzeitigem Stand nicht um ein Museum, dass die Vertreibungen Deutscher aus Schlesien, Pommern und Ostpreußen und die Vertreibungen von Pol*innen aus den ehemals polnischen Regionen im heutigen Weißrussland und in der heutigen Ukraine sowie die Folgen des Hitler-Stalin-Paktes und der von USA, Sowjetunion und Vereinigtem Königreich verfügten Nachkriegsordnung in dem Zusammenhang darzustellen versucht, wie sie Timothy Snyder in „Bloodlands“ thematisiert hat.
Es bleibt offen, ob allen Besucher*innen des Dokumentationszentrums klar werden wird, dass die heutige polnische Ostgrenze nach wie vor im Großen und Ganzen ein Ergebnis des Hitler-Stalin-Paktes ist. Ein nationalistisch-revanchistisches Projekt ist das Museum jedoch nicht. Dies sollte beruhigen, zeigt aber, dass eine nationale Perspektive, die nicht unbedingt eine nationalistische sein muss und das Primat der Politik die Konzeption historischer Gedenkorte auch in Deutschland prägen. Auch in Deutschland spielt Wissenschaft unbeschadet ihrer Freiheiten nicht die erste Geige. Sie berät, aber sie entscheidet nicht. Bei einer grundlegenden Veränderung politischer Mehrheiten ließe sich manches vorstellen und befürchten. Erinnerungskultur bleibt nach wie vor ein politisches Projekt, das sich nicht mit seiner Akzeptanz bei einem liberalen Bildungsbürgertum zufriedengeben darf.
Noch einmal zurück zum Sammelband von Andreas Audretsch und Claudia C. Gatzka. In diesem Band formuliert Jürgen Kocka folgendes Fazit: „Schließlich ist auf den Zusammenhang zwischen Geschichtsdeutung und Gegenwartsorientierung einzugehen und zu zeigen, welche fundamentale Bedeutung der Umgang mit Geschichte für die Stärkung oder Schwächung der Demokratie, für den Zusammenhalt oder die Spaltung der Gesellschaft und die Zukunftsfähigkeit des Gemeinwesens besitzt.“ Markus Linden sieht einen „Wettbewerbsvorteil der Rechten“: „So bleibt der partielle Erfolg des Linkspopulismus auf Konstellationen beschränkt, in denen die ökonomische Dimension kollektiver Benachteiligung so ausgeprägt ist, dass sie umfassend offensichtlich wird. (…) Der heutige Rechtspopulismus greift die antikapitalistische Argumentation im Rahmen der Agitation gegen ‚die Agenten des Brüsseler Zentralismus‘, ‚die globalistische Krake‘ oder ‚die Globalisten‘ (Alexander Gauland) mit auf. Er kann aber zusätzlich auf kulturelle Abgrenzungskriterien verweisen, die im Ergebnis in Programmen der nationalen Schließung und der Fremdenfeindlichkeit münden.“
Es sind aber nicht nur die „Fremden“. Auch innerhalb der deutsch-deutschen Gesellschaft gibt es Hierarchien, Dominanz und Herrschaft der einen über die andere Gruppe. Im Mittelpunkt des „Kulturkampfes“ steht der Kampf der Geschlechter. Claudia C. Gatzka analysiert den rechten Antifeminismus: „Die Aufladung des Frauenkörpers als Symbol der Nation verwies auf die wahrgenommene Bedrohung durch alliierte Besatzungssoldaten, die Beziehungen mit deutschen und italienischen Frauen eingingen. Bei solchen Bedrohungsszenarien geht es jedoch nie um den Kampf für Frauenrechte, sondern um die symbolische Funktion des Frauenkörpers für die ‚Ehre‘ der Nation- und um verunsicherte Männlichkeit.“ Die Angst in Polen, Ungarn oder in Russland vor Homosexualität hat durchaus etwas damit zu tun. Es geht um die Angst vor der Verweiblichung des männlichen Körpers. „Gayropa“ – wie es in Russland heißt – macht Männer durchweg zu Tätern. Es entstehen intersektionelle Interpretationen von Geschichte, in der polnische Männer – daher auch das Interesse an einer stärkeren Berücksichtigung des Militärs in den Geschichtsmuseen – in die Opferrolle geraten.
Antifeminismus, Antirassismus, Antisemitismus – das sind nur drei der Begriffe, die in den intersektionellen Kontexten „rechte“ Rhetorik bestimmen. Der Antifeminismus dürfte jedoch die Variante sein, die allen anderen Elementen der Menschenfeindlichkeit gemeinsam ist. Der Männlichkeitskult, der in den Reden rechter Politiker immer wieder eine zentrale Rolle spielt, braucht den Anti-Feminismus, weil er sonst keine Grundlage hätte. Das führt dann zu Merkwürdigkeiten wie den Äußerungen von Caroline Sommerfeld, die in der Zeitschrift „Sezession“ „für die Abschaffung des Frauenwahlrechts“ eintrat. Sie begründete dies mit „meiner weiblichen Natur, Männer für mich entscheiden zu lassen.“ Neben der üblichen „Alltagsmysogonie“, die sich in Parlamenten auch in unappetitlichen Zwischenrufen äußert, bilden der Kampf gegen „Gender Studies, Gender Mainstreaming und Feminismus“ den Kern rechter, illiberaler und antidemokratischer Politik. Wenn es gelingen sollte, Frauen wieder auf ihre nach Ansicht rechter Politiker*innen angestammten Plätze zu verweisen, ist der Weg zur nationalen Vorherrschaft nicht weit. Das wussten die Nazis, das wissen Djihadisten wie die Taliban, das wissen rechte Parteien – so bürgerlich sie sich auch immer kleiden mögen.
Es ist nicht Aufgabe von Historiker*innen, neben der Analyse die Therapie zu leisten. Einen Ansatz für eine Therapie bietet vielleicht das Plädoyer der Forschergruppe um Norbert Frei in ihrem Schlusskapitel mit dem 1979 von Dolf Sternberger und 1990 von Jürgen Habermas ins Spiel gebrachten „Verfassungspatriotismus“ „mit dem klaren Plädoyer, die Loyalität der Bürger an Rechtsgarantien und demokratische Verfahren zu binden statt an Herkunft und Schicksal“. Ob jedoch „Verfassungspatriotismus“ die Kampfbegriffe des „Wir“, der „Heimat“ und der (natürlich glorreichen) „Geschichte“ zu ersetzen vermag, möchte ich bezweifeln. Dazu ist der Begriff zu wenig konkret und vor allem weckt er keine nachhaltig wirksamen Gefühle, schon gar nicht bei denen, die sich in ihrer Lebensweise bedroht fühlen. Die Aufkündigung oder zumindest die Relativierung der Faulenbach-Formel ist durchaus eine Option zukünftiger Entwicklungen. Nicht zuletzt: „Nation“ ist als popularisierbarer Begriff leider griffiger als „Demokratie“ und somit leichter als Stoff einer neuen großen Erzählung verwendbar.
Entwarnung ist nicht angezeigt. „Schleichend an die Macht“ ist vielleicht nur eine Momentaufnahme wie die Entwicklungen in Polen, Ungarn und anderswo belegen. Sind wir in Deutschland vorbereitet? Nehmen wir die Strategien einer Umwertung der Geschichte von rechts ernst genug? Und was geschieht eigentlich im Geschichtsunterricht unserer Schulen? Wer sich die Einheitlichen Prüfungsanforderungen der KMK für das Fach Geschichte anschaut, wird Fragen stellen, beispielsweise warum für das Thema „Islam und der Westen“ ein Text von Samuel P. Huntington gewählt wurde oder warum beim Thema der Täter*innen in der Shoah für den Prüfungserfolg eine Kritik der Positionen von Daniel J. Goldhagen erwartet wird. Die undifferenzierte Darstellung der DDR anhand des Textes „Die Partei hat immer recht“ ist ein dritter Punkt, der Anlass zur Sorge um das zukünftige historische Differenzierungsvermögen junger Menschen gibt. Dies näher zu analysieren, wäre jedoch vielleicht ein geeigneter Gegenstand für einen anderen Essay.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Oktober 2021, alle Internetzugriffe zuletzt am 30.9.2021.)