Moralisch konsequent

Über Identitäten, Kulturen und irritierte Gefühle

„Because when we start deceiving ourselves into thinking that we want something or need something, not that it is a pragmatic necessity for us to have it, but that it is a moral imperative that we have it, then is when we join the fashionable madmen, and then is when the thin whine of hysteria is heard in the land, and then is when we are in bad trouble. And I suspect we are already there.” (Joan Didion, On Morality, 1965, in: Joan Didion, Slouching towards Bethlehem, New York, Farar, Straus and Giroux, 1968)

Die Frage nach dem moralisch richtigen, dem moralisch guten Leben ist nicht neu. In den 2010er und 2020er Jahren wurde sie jedoch immer mehr zu einer Frage, über die diejenigen, die sich darüber stritten, eigentlich gar nicht mehr streiten wollen, denn sie wissen Bescheid. Sie sind ja die Guten, fehlerlos und unabdingbar. Joan Didion diagnostizierte eine solche Weltsicht bereits 1965, mitten in dem Jahrzehnt, in dem in den USA die Schwarze Bürgerrechtsbewegung, die aufkommende weiße Hippie-Bewegung, die mit John F. Kennedy’s Namen verbundene Aufbruchstimmung, die Kontroversen um den Vietnamkrieg sowie politisch motivierte oder zumindest politisch konnotierte Morde den Eindruck einer „Hysterie“ erweckten, in der diejenigen, die eine andere Auffassung von dem pflegten, was zu tun wäre, von ihren Gegner*innen gerne als „Verrückte“ oder für nicht satisfaktionsfähig erklärt wurden.

Dies gilt nicht nur für Streitigkeiten zwischen verschiedenen Gruppierungen, sondern auch für deren Innenleben. Die Streitenden glauben mit geradezu religiös anmutender Inbrunst an ihr Modell für ihre und die allgemeine Zukunft. Sie rechtfertigen es mit einer Art Rousseau’scher „Volonté générale“, die sich durchsetzen werde und alle anderen Zukunftsentwürfe disqualifiziere. Aber wer sind denn nun die wirklich Guten? Joan Didion notiert nüchtern: „it is difficult to believe that ‚the good’ is a knowable quantity.” Es bleibt allenfalls die „fundamental loyalty to the social code”. Wie groß die Gruppe dieses „social code“ tatsächlich ist, spielt keine Rolle. Es gibt eben die Guten und die Bösen.

Die Sehnsucht nach Eindeutigkeit

Im Jahr 1967 portraitierte Joan Didion den Genossen Michael Laski, Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der USA (Marxisten-Leninisten). Das Portrait ist ebenfalls in ihrem Essayband „Slouching Towards Bethlehem“ enthalten. Sie nannte Laskis Gruppe eine stalinistisch-maoistische Splittergruppe. Ende der 1960er Jahre entstanden aus der vor allem von Studenten (in der Regel männlich) geprägten Studentenbewegung in vielen westlichen Demokratien solche Splittergruppen, so auch in Deutschland. Wer die 1970er Jahre in deutschen Universitäten erlebt hat, kann nicht nur von der sozialliberalen Aufbruchsstimmung, den Ostverträgen und dem traurigen Abgang des Friedensnobelpreisträgers Willy Brandt, sondern auch von der Vielzahl sich kommunistisch nennender Parteien und Gruppierungen berichten, die sich mal auf die Sowjetunion, mal auf China, mal auf Albanien, mal nur auf Marx und Lenin, mal auch auf Stalin und Mao, mal auf Trotzki, gelegentlich auf Rosa Luxemburg beriefen, sich mal zur Gewaltlosigkeit, mal zur Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele bekannten. Aber ihr Feindbild war stets klar: revisionistische, als kompromisslerisch markierte Positionen in der Tradition von Eduard Bernstein oder Karl Kautsky waren von Übel. Und Revisionisten waren irgendwie alle, die nicht der Lehre des jeweiligen Heiligen der eigenen Gruppierung folgten.

Gerd Koenen beschrieb die Wirren und Wirrnisse dieser „kleine(n) deutsche(n) Kulturrevolution 1967-1977“ in seinem Buch „Das rote Jahrzehnt“ (Köln, Kiepenheuer & Witsch, 2001). Heute gibt es von diesen Gruppen nur noch Kleinstparteien, in Deutschland die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), eine weitere Partei, die sich auf die trotzkistische 4. Internationale beruft, und die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD). Alle drei treten mehr oder weniger regelmäßig zur Bundestagswahl an. All diese Gruppierungen und Parteien einte und eint die Sehnsucht nach Reinheit, einer „unbefleckten Klarheit”, wie sie Joan Didion beim Genossen Laski als entscheidenden Antrieb diagnostiziert: The world Michael Laski had constructed for himself was one of labyrinthine intricacy and immaculate clarity, a world made meaningful not only by high purpose but by external and internal threats, intrigues and apparatus, an immutably ordered world in which things mattered.”

Das, was Ende der 2010er Jahre als „Identitätspolitik“ firmiert, mag an diese Bewegungen Ende der 1960er und der 1970er Jahre erinnern. Und vielleicht gibt dies Hoffnung, dass die unerbittlichen Kämpfe um die Frage, wie sich welche Identität denn nun tatsächlich sicht- und hörbar machen ließe und vor allem wer dazu überhaupt berechtigt wäre, ihre Sicht- und Hörbarkeit einzufordern, sich mit der Zeit auflösen. So wie eine Vielzahl der Bewegungen der 1970er Jahre in der Partei der Grünen, zum Teil auch der SPD und der Linken aufgingen, wäre dies für den aktuellen „Kampf der Identitäten“ denkbar. Aber so weit sind wir noch lange nicht.

Jan Feddersen und Philipp Gessler haben im Ch.Links Verlag im Jahr 2021 das Buch „Kampf der Identitäten“ veröffentlicht, Untertitel: „Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale“. Grundlage ihrer Analyse sind Gespräche, die sie mit Intellektuellen aus Wissenschaft, Kultur und Publizistik geführt haben. Ihr Ausgangspunkt ist folgende Definition von „Identitätspolitik“: Sie ist „der Name für einen politischen Ansatz und ein Theoriegebäude, die in erster Linie diskriminierte Gruppen der Gesellschaft in den Blick nehmen und deren Lage verbessern, ihre Anerkennung (oder Sichtbarkeit) erhöhen wollen. Diese Gruppen werden – so die grundlegende Theorie – definiert oder definieren sich selbst vor allem durch ihre ethnische, sexuelle oder kulturelle Prägung oder durch äußere Merkmale wie etwa die Hautfarbe oder ‚Behinderungen‘, die sie von der Mehrheitsgesellschaft oder den mächtigen Gruppen in der Gesellschaft oder den mächtigen Gruppen in der Gesellschaft unterscheiden.“ Unter Bezug auf das Manifest des Combahee River Collective aus dem Jahr 1977 verweisen sie auf „die Idee der Mehrfachunterdrückung“, die Intersektionalität.

Die beiden Autoren sind in den Jahren 1957 und 1967 geboren, haben daher die Entwicklungen der 1970er und der 1980er Jahre als sehr junge Menschen erlebt. Sie zitieren Susanne Schröter (*1957), Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam: „Es ist ein bisschen so wie bei den Linken der Siebzigerjahre, die glaubten, für die Arbeiterklasse zu sprechen, aber von Arbeitern ausgelacht wurden, wenn sie mit ihren Flugblättern vor den Fabriktoren auftauchten.“ Susanne Schröter bezieht ihre Analogie auf das Verhalten muslimischer „Aktivisten, die ihr Vorgehen jetzt identitär aufladen und beanspruchen, für alle Muslime zu sprechen.“ Diese Muslim*innen zugeschriebene Neigung lässt sich auch für andere Aktivist*innen diagnostizieren. Darauf verweist Paula-Irene Villa Braslavsky (*1968): „Jede soziale, linke Bewegung hatte und hat in der Moderne die Tendenz, dass sie sich differenziert, zersplittert oder gar sektiererisch bekriegt. Das kann man an der Arbeiterbewegung beobachten, am Feminismus, bei der Schwulen- und Queerbewegung.“ Ein Unterkapitel des Buches von Jan Feddersen und Philipp Gessler trägt folgerichtig die Überschrift „Spaltung der Linken und der Gesellschaft“. Es herrscht die Sehnsucht nach Eindeutigkeit, nach jener „unbefleckten Klarheit“, die Joan Didion bei dem Genossen Laski feststellte, eine durchaus religiös konnotierbare Reinheitsfantasie. Das Ergebnis: Splittergruppen statt Allianzen und Bündnisse.

Meinungsfreiheit in der Identitätspolitik

Aktuelle Bezugspunkte der Debatten um die „Identitätspolitik“, auf die sich auch Jan Feddersen und Philipp Gessler beziehen, sind Bücher wie „Die Selbstgerechten“ von Sahra Wagenknecht (2021 bei Campus) oder „Generation Beleidigt“ von Caroline Fourest (Originaltitel „Génération offensée“, deutsche Fassung 2020 bei Edition Tiamat) sowie die von Wolfgang Thierse geäußerte Kritik an einer seiner Ansicht nach falschen Prioritätensetzung, die ihm heftige Kritik der SPD-Parteivorsitzenden Saskia Esken einbrachte. Letztlich erleben wir eine Debatte über Konkurrenzen zwischen „Identitätspolitik“ auf der einen Seite und „Sozialpolitik“ sowie „Klimapolitik“ auf der anderen Seite. Als konkrete Anlässe für ihr Buch nennen Jan Feddersen und Philipp Gessler ferner einige Ereignisse der Wahlkämpfe des Herbsts 2021: Bettina Jarasch, Kandidatin der Grünen für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, erzählte, sie habe als Kind davon geträumt, „Indianerhäuptling“ zu werden. Wie so manche Kinder. Sie entschuldigte sich. Auch die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, entschuldigte sich für ihre ausdrücklich als Zitat gekennzeichnete Verwendung des „N-Worts“, das ihr in einem Schulbuch aufgefallen war. Wohlgemerkt: die Kritik kam aus den eigenen identitätsbewussten Reihen.

Richtig gefährlich werden solche Vorfälle, wenn diejenigen, die sich gegenüber bestimmten Ausformungen von „Identitätspolitik“ kritisch oder skeptisch äußern, Beifall von der falschen Seite erhalten oder diejenigen, denen einer der genannten sprachlichen Fehlgriffe unterläuft, von der falschen Seite in Schutz genommen werden. Die neue Rechte wird nicht müde, alle, die in irgendeiner Form die Rechte von Frauen, von Minderheiten hör- und sichtbar machen wollen, zu diffamieren und findet dabei wiederum Unterstützung im bürgerlichen, konservativen und auch im liberalen und im linken Lager. All dies geschieht regelmäßig mit dem Hinweis auf die „Meinungsfreiheit“, die zwar in Deutschland niemand bedroht, die sich aber sehr einfach als bedroht darstellen lässt. Dieser Beifall von der falschen Seite hat durchaus Vorbilder. Solchen erhielten auch „Dissidenten und Renegaten wie George Orwell, Arthur Koestler oder Manès Sperber“, deren Bücher immer wieder und oft genug auf ihre Kommunismus-Kritik reduziert werden.

Ich erlaube mir an dieser Stelle den Hinweis, dass die weitaus gefährlichere Bedrohung für ein liberales gesellschaftliches Klima nicht von Vertreter*innen besagter „Identitätspolitik“, sondern von rechts kommt. Alexander Cooley und Daniel H. Nixon schreiben in ihrem Essay „Der Siegeszug des Illiberalismus“ (in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Februar 2022): „Orbáns offener Angriff auf die akademische Freiheit – unter anderem durch das Verbot der Gender Studies und die Vertreibung der Central European University aus Ungarn – lässt sich mit ultrarechten Bestrebungen in republikanisch beherrschten US-Bundesstaaten vergleichen, die die Lehre der Critical Race Theory verbieten wollen und liberale wie linke Hochschullehrer aufs Korn nehmen.“ Die Parteiprogramme der diversen Parteien der neuen Rechten enthalten entsprechende Punkte.

In den USA, in denen im Grunde jede Elternversammlung entscheiden kann, was in Schulen gelesen wird und was nicht, werden systematisch Bücher aus Schulbibliotheken entfernt, die bei weißen Schüler*innen unsichere Gefühle auslösen könnten, sozusagen Wokism mit umgekehrten Vorzeichen. Rieke Havertz, bis September 2021 US-Korrespondentin der ZEIT, hat dies am 3. Februar 2022 beschrieben: im McMinn County in Tennessee wurde „Maus“ von Art Spiegelman aus dem Programm gestrichen, es wäre – so die Begründung – „weder klug noch gesund“, den Holocaust so deutlich darzustellen. In manchen Bezirken der USA werden Prämien ausgesetzt, um Lehrkräfte zu identifizieren, die Anti-Rassismus unterrichten, um sie dann aus dem Dienst zu entfernen. In Indiana und New Hampshire gibt es Gesetzentwürfe, die Lehrer*innen untersagen sollen, unamerikanische Inhalte, das heißt Rassismus, Sklaverei und Völkermord an den First Nations, im Unterricht zu behandeln. Rieke Havertz sieht als Grund die nackte Angst vor der eigenen weißen Bedeutungslosigkeit: „Mit jedem Buchverbot, jedem mehrheitlich konservativ besetzten School Board und jedem Gesetz, das Lehrpläne einschränkt, kämpfen die Rechten in den USA zugleich gegen eine ganz andere Angst: der vor dem eigenen Bedeutungsverlust in einem ethnisch, kulturell und politisch zunehmend diverser werdenden Land. Die Furcht vor dem eigenen Untergang, so lässt es sich betrachten, wird dabei zur apokalyptischen Vorstellung an sich: Ihr Amerika könnte untergehen.“

Wir erleben vergleichbare Entwicklungen in Polen, in Ungarn, in der Türkei. In Frankreich sorgte Nicolas Sarkozy dafür, dass der französische Kolonialismus in Schulbüchern als Zivilisationsprojekt dargestellt wurde. Es wurde praktische Politik auch in der ein oder anderen französischen Kommune, in der Bürgermeister des Front National, des heutigen Rassemblement National, ihnen unpassend erscheinende Bücher aus den örtlichen Bibliotheken entfernen ließen. Kulturpolitische Sprecher der AfD fordern Ähnliches für die Spielpläne der Theater, für Schullektüren, die Ausstattung von Bibliotheken, die Erinnerungskultur. Rieke Havertz: „Die Rechten klagen über eine angeblich epidemische Cancel Culture, die sie von jeglicher Teilhabe ausschließen wolle – unternehmen aber selbst ihrerseits Versuche, Linke und deren Ideologien gleichermaßen zu canceln.“

Spielen Liberale und Linke nun das Spiel der Rechten, wenn sie sich intern über die moralisch richtige „Identitätspolitik“ zerstreiten? Jan Feddersen und Philipp Gessler halten den Begriff der „Identität“ für kontraproduktiv. Daniel Kehlmann (*1975) spricht von „Reinheitsfantasien“ und vergleicht manche heutige Debatte mit der chinesischen Kulturrevolution. Ob ein solcher Vergleich hilft, bezweifele ich, aber das ist das Problem vieler Analogien. Niemand wird in Deutschland auf dem Marktplatz mit einem Schild um den Hals vorgeführt, niemand wird in eine ferne Provinz verbannt, aber vielleicht ist das im Zeitalter der Digitalisierung auch gar nicht nötig: im Internet lassen sich Pranger und Verbannung mit wenig Aufwand exekutieren. Da braucht es keine Fahnen schwenkenden „roten Garden“ in den Straßen, keine Hausbesuche, in denen Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt werden.

Strafe ohne Urteil – gnadenlos

Es geht nicht um Stilfragen, sondern um die Grundlagen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats. Jan Feddersen und Philipp Gessler schreiben über „Sprachkämpfe“, über „Privilegien“, die sogenannte „Cultural Appropriation“, sogenannte „Mikroaggressionen“, all dies jedoch aus „einer liberal-linken Perspektive“, die Meinungsfreiheit fordert und Kritik nicht nur zulässt, sondern einfordert. Es geht aber nicht darum, jemandem das Recht abzusprechen, sich zu äußern, sondern darum, jemandes Recht anzuerkennen, sich zu äußern. Ein politischer Diskurs muss auch möglich sein, wenn manche Teilnehmer*innen nicht persönlich betroffen sind. Eben dieses Recht sprechen manche Vertreter*innen der „Identitätspolitik“ allen ab, die anders sind als sie. Etwas holzschnittartig, aber durchaus treffend beschreiben Jan Feddersen und Philipp Gessler die Dilemmata des Hangs zur Eindeutigkeit: „Die Identitätspolitik will, zumindest in ihren Auswüchsen, nicht nur bestimmen, wie und mit welchen Wörtern über bestimmte Themen gesprochen wird, sondern auch, welche Themen überhaupt behandelt werden dürfen, welche Positionen noch nicht einmal geäußert werden sollen und wer eigentlich nur schweigen und ‚lernen‘ soll.“ Es geht in der „Identitätspolitik“ darum anzuerkennen, dass es das Recht aller Menschen ist, Rechte zu haben, wie es Hannah Arendt formulierte. Das ist die Grundlage. Dass manche das berühmte Kind mit dem Bade ausschütten, indem sie Hannah Arendts Satz etwas variiert verstehen, ist eine andere Frage. Es geht eben nicht darum, rundum und ohne Abstriche recht zu haben.

Zum freiheitlich-demokratischen Diskurs gehören das Risiko und das Recht, unrecht zu haben oder sich auch einmal zu etwas zu äußern, zu dem man*frau nur unzureichend Bescheid weiß. Ein gewisser Dilettantismus ist geradezu das Wesensmerkmal der Demokratie, denn sonst bekämen wir eine Expertokratie, die sehr an den platonischen Staat erinnern dürfte, der mehr oder weniger autoritär und paternalistisch agiert. Doch was geschieht, wenn jemand Fehler macht. Werden Fehler toleriert oder führen sie zu Sprechverboten? Welche Sanktionen haben diejenigen zu erwarten, die etwas Falsches sagen, das vielleicht gar nicht rundum falsch, sondern nur unvollständig und im Diskurs korrigierbar und ergänzbar wäre?

Jan Feddersen und Philipp Gessler referieren in zwei Kapiteln „Orte der Identitätspolitik“ in den USA und in Deutschland, jeweils gegliedert nach Hochschulen, Kulturszene und Medien. Durchweg geht es um „ideologische Reinheit“ und den Primat „emotionale(r) Reaktionen“. Ein falsches Wort und schon ist es um jemanden geschehen, gnadenlos. Ein Beispiel ist die Debatte um die britische Wissenschaftlerin Kathleen Stock (*1972), die Anna-Lena Scholz im Dezember 2021 für die ZEIT interviewt hat. Kathleen Stock kündigte nach Anwürfen, sie hätte sich trans-feindlich geäußert, erhielt natürlich Unterstützung von fragwürdiger Seite, wie bei Gender-Themen immer üblich, beispielsweise von Kolumnisten wie Harald Martenstein (*1953), aber auch durch die „Junge Freiheit“. Eine Debatte, wie sich das, was Kathleen Stock sagte und schrieb, historisch einordnen ließe, welche der von ihr vorgetragenen Aspekte berechtigt, welche kritisch zu bewerten wären, fand nicht statt. Die Anklage wurde verlesen, wozu dann noch verhandeln? Die Exekution folgte der Anklage auf dem Fuße, lifelong sentence.

Ähnlich ging es schon anderen Autor*innen, Professor*innen, die sich beispielsweise mit Studierenden konfrontiert sahen, die die Gewalt in einem Kafka-Text oder einem Shakespeare-Drama irritierte und sich als traumatisiert, retraumatisiert outeten. Daniel Kehlmann berichtet von einem solchen Fall: „In einem Kurs über Shakespeares ‚Richard III.‘ stand eine Studentin auf und sagte, sie fühle sich wegen der Brutalität des Königs in diesem Kurs nicht mehr sicher. Mein Freund hat Angst bekommen, denn er wusste, wenn er jetzt nur ein falsches Wort sagt, kann er gekündigt werden.“ Nun hat Richard III., zumal schon lange tot, keine Herrschaftsgewalt in einem amerikanischen Hörsaal, doch so kann es mit scheinbar harmlosen Lektürevorschlägen gehen, gleichviel ob Kafka, Kant oder was auch immer. Die unsicheren Beschäftigungsverhältnisse an amerikanischen Universitäten wirken „brandbeschleunigend“.

Der Rechtsstaat scheint bei einer solchen Praxis keine Rolle mehr zu spielen. Die bloße Beschuldigung reicht, um jemanden abzuurteilen. Weitere Beweisführung ist nicht mehr erforderlich. Die Existenzen vernichtenden Urteile im Namen der „Identitätspolitik“ ähneln durchaus entsprechenden Urteilen bei unbewiesenen Vorwürfen sexualisierter Gewalt. Es gab keine Anklage, daher auch kein Gerichtsurteil gegen Woody Allen, aber allein der Vorwurf seiner Ex-Frau Mia Farrow hat ihm erheblich geschadet. Semper aliquid haeret.

Immerhin gibt es einen Aufruf von 153 namhaften Intellektuellen, der in den USA, in Frankreich, in Italien und in Deutschland erschien und sich gegen jede Form von „Illiberalismus“ richtete: „Widerstand darf nicht – wie unter rechten Demagogen – zum Dogma werden.“ In Deutschland veröffentlichte ihn die ZEIT. „Diese stickige Atmosphäre wird den existenziellen Anliegen unserer Zeit schaden. Die Einschränkung der öffentlichen Debatte – ob durch eine repressive Regierung oder eine intolerante Gesellschaft – beeinträchtigt diejenigen am meisten, die am wenigsten Macht haben, und schwächt die Fähigkeit aller zur demokratischen Teilhabe. Schlechte Ideen besiegt man, indem man sie entlarvt, durch Argumente und Überzeugungsarbeit, nicht durch den Versuch, sie zu verschweigen oder von sich zu weisen.“

„Authentizitätswahn“ vs. „Ambiguität“

Ein gefährlicher Begriff ist der Begriff der „Authentizität“. Thomas Bauer spricht in „Die Vereindeutigung der Welt“ (Untertitel: „Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt“, 2018 bei Reclam erschienen) von „Authentizitätswahn“: „Ambiguität ist dabei nicht erwünscht, eine Tatsache, die das Entstehen großer Kunst nicht gerade befeuert.“ Thomas Bauer berichtet von einem Kunststudenten, der die Auffassung vertreten hätte, „dass es vor allem auf Authentizität ankomme und nicht darauf, gut malen zu können.“ Das mag etwas sehr nach grobem Holzschnitt klingen, doch scheint dahinter vor allem der Wunsch nach etwas Ungekünsteltem, Reinem, Natürlichem zu sichtbar zu werden, das die Persönlichkeit des Künstlers, der Künstlerin „eindeutig“ wiedergibt. „Authentisch ist der Mensch offensichtlich nur dann, wenn er sein Inneres, seine vermeintlich unverfälschte Natur, ungefiltert nach außen stülpt.“ Wer nachfragt ist verdächtig. Aber gerade das ist das, was eigentlich Kunst ausmacht: zunächst erst einmal Unverständnis, Fragen, Nachdenken.

Statt dem Bemühen um Verständnis regiert Protest im Zeichen der „Authentizität“. Jan Feddersen und Philipp Gessler beschreiben den Streit um das Bild „Open Casket“ der amerikanischen Künstlerin Dana Schutz. Sie hatte das Foto eines jungen Schwarzen genutzt, der 1955 als 14jähriger von zwei weißen Männern ermordet wurde. Die Mutter hatte den offenen Sarg gezeigt, „damit die Welt sieht, was man meinem Kind angetan hat“. Die Mörder wurden nicht bestraft. „Die afroamerikanische Künstlerin Hannah Black forderte die Zerstörung des Bildes, da es die Gefühle von Afroamerikaner*innen verletze. Schutz habe als weiße Amerikanerin kein Recht, sich an dem Leiden der schwarzen Bevölkerung zu bereichern.“ Hannah Black erhielt Zuspruch von vielen Künstler*innen.

Sicherlich wäre die Frage erörternswert, ob Dana Schutz pietät- oder gar respektlos gehandelt hätte. Aber Pietät ist nicht der Sinn von Kunst. Abgesehen davon hatte Dana Schutz gerade dies im Sinn: aufmerksam machen, dass die Respektlosigkeit, die Pietätlosigkeit in der Mordtat, nicht in der Darstellung des Mordopfers liegt. Dana Schutz verzichtete auf den Protest hin auf den Verkauf des Bildes, vernichtete es jedoch nicht.

Dürfen sich Weiße mit dem Leid von Menschen, die anders aussehen als sie und deshalb unter Diskriminierung, Missachtung und Gewalt leiden, solidarisieren? Darf jemand, der nie in Armut gelebt hat, Armut als Skandal bezeichnen, jemand der kein Jude ist, sich gegen Antisemitismus engagieren? Abgesehen davon – dies am Rande – spricht es meines Erachtens nicht für ein differenziertes Kunstverständnis, wenn dieses ausschließlich an der wirtschaftlichen Verwertbarkeit festgemacht wird. Genau dies wurde aber unterstellt. Was wäre geschehen, wenn Dana Schutz das Bild verkauft hätte, das Geld aber der Familie des Ermordeten gegeben hätte?

Hanno Rauterberg schreibt in seinem Essay „Wie frei ist die Kunst? Der neue Kulturkampf und die Krise des Liberalismus (2018 in der edition suhrkamp erschienen) nicht nur in Bezug auf den Streit um „Open Casket“ von einem „Repräsentationsmonopol“, von „Essentialismus“, von einem „Diskurs“, der „in den USA dieser „Diskurs“ keineswegs nur das Kunstfeld beschäftigte, mindestens ebenso sehr prägt er die Pop- und Alltagskultur.“ Mit folgendem Ergebnis: „Und so bestimmt weniger der ästhetische Ausdruck, dafür stärker der gefühlte Eindruck die Qualitätsvorstellung eines Kunstwerks.“ Damit verschwindet – so die Analyse Hanno Rauterbergs – „das Ungewisse der Kunst, ihre schöne, funkelnde Polyvalenz“. Dies mag etwas preziös klingen, trifft die Sache jedoch im Kern: gerade die Vieldeutigkeit der Kunst öffnet Diskurse, schafft die „Ambiguitätstoleranz“, die Thomas Bauer als Grundlage jeder aufklärerischen Haltung beschrieben hat. Thomas Bauer notiert, dass viele Wähler*innen des Donald J. Trump „seine „authenticity als wichtigsten Grund für ihre Wahlentscheidung“ genannt hätten.“ Sexismus ist amoralisch, aber kann durchaus „authentisch“ sein? Donald J. Trump wusste was er tat, als er entsprechende Sprüche twitterte.

Scharlachrot

Anne Applebaum formuliert in ihrem Essay „Die neuen Puritaner – Die Algorithmen der Wut und die Verteidigung des Rechtsstaats“ (in: Lettre international, Winter 2021) die Konsequenzen: „Wenn wir alle schwierigen, anstrengenden und exzentrischen Leute aus den kreativen Berufen vertreiben, in denen sie früher erfolgreich waren, werden wir zu einer öderen, langweiligeren und uninteressanten Gesellschaft werden, in der Manuskripte aus Angst vor willkürlichen Urteilen in den Schubladen bleiben. Die Künste, die Geisteswissenschaften und die Medien werden apodiktisch, vorhersehbar und mittelmäßig werden. Demokratische Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, das Recht auf Selbstverteidigung, das Recht auf einen fairen Prozess – ja sogar das Recht auf Vergebung – werden verkümmern. Dann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als uns zurückzulehnen und darauf zu warten, dass die Hawthornes der Zukunft uns bloßstellen.“

So weit wie in den USA ist es in Deutschland nicht. Aber dennoch gibt es auch hier – so Harald Welzer (*1958) „‘kleine radikale identitätspolitische Gruppen von Studierenden‘, die in manchen Fällen ‚extrem ausgrenzend vorgehen und von den Universitätsleitungen gedeckt werden, weil sie Angst haben, sich mit diesen Gruppen anzulegen.“ Er nennt als Beispiel die oft zitierte Entfernung eines frauenverachtend gelesenen Gedichtes von Eugen Gomringer von der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule. Die von Harald Welzer angedeutete Analogie zum Vorgehen der Nazis an den Universitäten und ihrer zahlreichen Anhängerschaft unter Studierenden auch in der Zeit vor 1933 kommentieren Jan Feddersen und Philipp Gessler: „Wir verstehen Welzer so, dass es naiv wäre, die Auswüchse einer Bewegung wegzunicken, nur weil sie im Kern irgendwie links und eher jung ist.“

Hans Magnus Enzensberger veröffentlichte bereits 1981 in TransAtlantik, einer Zeitschrift, die er gemeinsam mit Gaston Salvatore gegründet hatte, den Essay „Das Ende der Konsequenz“ (nachzulesen auch in seinem Buch „Politische Brosamen“, Frankfurt am Main, 1982). Der Essay bietet ein Feuerwerk der Sprache des moralischen Rigorismus: „Der Jargon der Eindeutigkeit dröhnt von den Tribünen ganzer Kontinente und verpestet alle Kanäle der öffentlichen Rede: die Gesetze der Geschichte sind ‚ehern‘, die Beschlüsse ‚unumstößlich‘, die Entschlossenheit ist ‚fanatisch‘, ‚eisern‘, ‚unbeirrbar‘ und so weiter und so immer fort.“ Das Wort von der Alternativlosigkeit, der TINA-Rhetorik, die Margaret Thatcher und später Angela Merkel pflegten, war 1981 noch nicht ganz so populär, hätte aber auch gut gepasst. Das Problem: „Das Konsequenz-Gebot verwechselt eine logische Kategorie mit einem moralischen Postulat. Weit entfernt davon, Klarheit zu schaffen, richtet es infolgedessen ein krausemauses Durcheinander in den Köpfen an.“

Die Analyse Hans Magnus Enzensbergers gilt für beide Seiten. Sie gilt für diejenigen, die sich für als die einzigen Auserwählten inszenieren, die ausschließlich das Recht haben, die Anliegen und Diskriminierungen der Gruppe, der sie angehören, zu formulieren. Sie gilt aber auch für diejenigen, die diese Anliegen, die alle ihre Berechtigung haben, von vornherein für belanglos und unangemessen erklären, weil ihnen diejenigen, die sie äußern, nicht gefallen. Eitelkeit auf beiden Seiten? Aber es wird noch schlimmer. Ein Beispiel für einen Menschen, dem eine längst widerrufene Entscheidung, eine längst vergangene Lebensphase ständig vorgehalten wurde, war Herbert Wehner, der von sich mal sagte, ihm werde angesichts seiner Vergangenheit die Haut bei lebendigem Leibe abgezogen. Hans Magnus Enzensberger berichtet von einer Veranstaltung, in der ein „Junglehrer“ namens „Bernhard“ einen Zettel aus der Tasche zog und vorlas: „Tatsächlich! Es geht daraus hervor, schwarz auf weiß, dass Wehner im Jahre 1926 öffentlich zum Bombenwerfen aufgefordert hat. Und heute ist er gegen den Terrorismus! Jetzt blickt sich Bernhard einen Moment lang beinahe triumphierend um. Er findet Herbert Wehner ‚unglaubwürdig‘. Er hat den Eindruck, als hätte er soeben etwas bewiesen. Aber was eigentlich?“ The Scarlet Letter!

Wie gesagt: die Strafe folgt der Anklage auf dem Fuße, lebenslang und konsequent. Solche Konsequenz jedoch führt gelegentlich zum Massenmord. Hans Magnus Enzensberger berichtet von einem jungen Dozenten Anfang der 1960er Jahre an der Pariser Sorbonne, dem drei junge Männer aus Kambodscha lauschten. „Die Vertreibung der Imperialisten und die Übernahme der politischen Macht nütze nichts, wenn man die vorhandenen Sozialstrukturen unangetastet lasse.“ Die drei jungen Männer aus Kambodscha hießen Khieu Samphan, Jen Sary, Saloth Sar, der dritte wurde später bekannt als Pol Pot. Sie handelten etwa 15 Jahre später konsequent, moralisch rigoros, gnadenlos. There was no alternative. Im Namen der reinen Lehre.

Alle Teile der Lösung sind auch Teil des Problems

Hans Magnus Enzensberger zitiert einen weiteren Revolutionär der 1960er Jahre, Eldridge Cleaver. „‚Baby‘, sagte der Schwarze Panther damals, ‚you’re either part of the problem, or you’re part of the solution.’ – Inzwischen hat sich herausgestellt, dass das nicht zutrifft. Je weniger eine ‚Lösung’ in Sicht ist, desto offenkundiger dürfte die Tatsache geworden sein, dass es niemanden gibt, der nicht ein Teil des Problems wäre. Es ist bemerkenswert, mit welcher Vehemenz sich die Intelligenz unseres Landes gegen diese schlichte Einsicht sträubt. So wird die Verdrängung zur Hauptaufgabe der kritischen Kritik.“ Läuft der sogenannte Wokism Gefahr, in diesem Gewirr von Problemen und Lösungen sich zu radikalisieren? Bevor Sie die Frage mit Ja beantworten, bitte ich Sie jedoch einmal nachzudenken, möglichst gründlich.

Milan Kundera lässt in „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ Sabrina darüber nachdenken, was sie eigentlich an den Bildern des sozialistischen Realismus mit all den fröhlichen Traktorist*innen und Feldarbeiter*innen, mit all ihren Halstüchern und sauberen Hemden und Blusen, den optimistischen Lieder auf den Lippen störe. Sie stört sich nicht an den Motiven oder der mehr oder weniger unbeholfen kitschigen Darstellung, sie stört die Vorstellung, dass die Welt tatsächlich so sein könnte. Ich empfehle einen Besuch des Bundesfinanzministeriums. Dort befindet sich an der Außenfassade heute noch ein solches Fresko, fröhlich, optimistisch, totalitär: „Sag mir, wo du stehst …“.

Daniel Kehlmann zieht in seinen Gesprächen mit Jan Feddersen und Philipp Gessler aus den diversen identitätspolitischen Kontroversen den Schluss, dass auch Schauspieler*innen sich letztlich nur noch selbst spielen könnten, obwohl es eigentlich zu ihrem Berufsbild gehört, möglichst viele Identitäten zu verkörpern. Adriana Altaras (*1960) hat sich schon des Öfteren darüber amüsiert, dass sie als junge Schauspielerin immer die Putzfrauen und die armen Migrantinnen spielen durfte, weil sie eine bestickte Bluse besaß. In der Jüdischen Allgemeinen polemisierte sie Anfang Februar 2022 zur Frage „Wer spielt wen?“, ob sie erst die Medea spielen dürfe, wenn sie am Wochenende zuvor ihre Kinder verspeist habe. Ich wage die Frage, ob in diesem Sinne nur noch Nazis Nazis spielen dürfen? Adriana Altaras schreibt, dass sie endlich in der deutschen Gesellschaft angekommen sein dürfte, so „war meine Lieblingsrolle im vergangenen Jahr die 82-jährige Nazi-Oma. Ein Schmuckstück an Rolle! Der israelische Regisseur Oren Schmuckler hatte mich besetzt; meinen Gegenspieler, den Juden, mit einem Schauspieler, der sonst nur Nazis spielen darf. Es ging auf.“ Anlass dieses Artikels waren Einwände von Maureen Lipman gegen Helen Mirren als Darstellerin von Golda Meir, weil Helen Mirren keine Jüdin wäre.

Man mag es für unwahrscheinlich halten, dass Neo-Nazis öffentlich fordern könnten, dass Adriana Altaras auf keinen Fall eine „Nazi-Oma“ spielen dürfe und an ihrer Stelle Ursula Haverbeck vorschlagen. Aber möglich wäre es, wenn man die Frage, wer wen spielen dürfe, zu Ende denkt. Simon Schick hat in seinem Buch „Rechte Gefühle“ (Bielefeld, transcript, 2021) beschrieben, dass es zu den Erfolgsrezepten der neuen Rechten gehört, sich selbst als das eigentliche Opfer zu betrachten und beispielsweise den Vorwurf des Rassismus umzukehren. Täter-Opfer-Umkehr ist zurzeit ohnehin die erfolgreichste Strategie, von eigenem Fehlverhalten abzulenken. Die Hölle – das sind frei nach Jean-Paul Sartre – immer die anderen.

Das Elend: Linke und Liberale spielen das Spiel der Rechten, der Gegner*innen von Kunst- und Meinungsfreiheit, im Namen einer falsch verstandenen scheinbaren Rücksichtnahme. Das Ergebnis: die Schwächung berechtigter Anliegen. Wenn jedes Wort auf der sprichwörtlichen Goldwaage liegt, wird sich irgendwann niemand mehr äußern. Solidarität mit Minderheiten wird es nicht mehr geben, wenn nur noch diese für sich selbst sprechen dürfen. Es entsteht ein intellektuell-identitäres Ghetto, das letztlich auch ein reales Ghetto werden kann.

Jan Feddersen und Philipp Gessler benennen die Brisanz identitätspolitisch geprägter Diskurse: „Identitätspolitik von links ist mehr als nur ein flüchtiges Aufregerthema in der Mediengesellschaft: Sie ist die mächtigste Quelle einer kulturellen Neusortierung zumindest der westlichen Welt.“ Ihr Buch endet mit 18 Thesen für eine linke und liberale Politik, die durchaus als politisches Programm gelesen werden dürfen. Die beiden Autoren fordern: „Genaues Zuhören und ein sprachlicher ‚Raum für das Dazwischen‘ ist nötig.“, „Robustheit und Augenmaß“, „politische Gelassenheit“, „weniger Alarmismus“ und „gegenseitigen Respekt“. Sie plädieren für „eine Art Pragmatik im Alltag“, die sich auch als Aufforderung zu mehr Gelassenheit lesen ließe, für „ein universalistisches Weltbild“.

Das Gegenbild einer „ambiguitätstoleranten“, „polyvalenten“ Kunst oder eines eben solchen Diskurses wären eine Kunst oder ein Diskurs, die eher den Blut-und-Boden-Idealen der Nazis oder dem stalinistischen sozialistischen Realismus ähneln. Wir sollten dies umdrehen und darüber nachdenken, warum wer so gnaden- und erbarmungslos handelt. Könnte es möglicherweise einfach daran liegen, dass jemand so lange mit seinen*ihren Anliegen weder gesehen noch gehört wurde, dass es keine Alternative mehr zu geben scheint? Meines Erachtens nicht von der Hand zu weisen.

Aber vielleicht lässt sich sogar ein Gemeinsames finden, durch das Allianzen und Bündnisse möglich werden, um gemeinsam gegen Diskriminierung, Exklusion und Ignoranz vorzugehen. Wer sich selbst als Teil des Problems erkennt, ist einer Lösung vielleicht schon ganz nahe, auch dann, wenn diese – wie eigentlich alle Lösungen gesellschaftlicher Probleme – auch immer nur eine vorläufige Lösung sein wird. Thomas Bauer: „Man könnte dabei von vormodernen Gesellschaften lernen, in denen über lange Zeit eine sehr ambiguitätstolerante Mentalität herrschte. Dort wurde Ambiguität nicht nur geschätzt und gepflegt, sondern regelrecht eingeübt, fand sozusagen ein ständiges ‚Ambiguitätstraining‘ statt. Vorrangige Trainingsfelder sind jene Bereiche, die sich traditionell durch große Ambiguität auszeichnen, also Kunst, Musik, Literatur und Verwandtes.“ Wie „ambiguitätstolerant“ diese Gesellschaften wirklich waren, ließe sich erforschen und erfragen, aber letztlich hat jede Zeit ihre eigenen Toleranz- und Intoleranzmodelle. Vielleicht vergoldet sich im Rückblick, beispielsweise auf die Zeit im Andalusien vor 1492, manche längst vergangene Zeit zu sehr. An der Berechtigung der Forderung Hannah Arendts, dass es das Recht jedes Menschen ist, Rechte zu haben, ändert dies nichts.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Februar 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 10.2.2022.)