Liebe Freund*innen des Demokratischen Salons,

in unserer Ausgabe vom Mai 2023 finden Sie acht neue Texte, darunter vier Dokumentationen von Gesprächen mit dem nordrhein-westfälischen Justizminister Benjamin Limbach, den Bonner Organisator*innen der Initiative Frauen* Leben Freiheit, dem Leiter der Koordinationsstelle Kinderarmut beim Landschaftsverband Rheinland, Alexander Mavroudis, sowie – von der Leipziger Buchmesse – mit Helga Mitterbauer und Jacques Lajarrige, Herausgeber*innen der Reihe „Forum: Österreich“ im Verlag Frank & Timme. Karlheinz Steinmüller stellt in seinem Essay utopische Literatur aus der DDR vor, Maélys Vaillant analysiert die Heterotopie in den Hotelromanen von Vicki Baum, Beate Blatz portraitiert die afrikanische Menschenrechtlerin, Feministin, Autorin und Regisseurin Tsitsi Dangarembga, und Norbert Reichel befasst sich ausgehend von Büchern von Peter Bierl und Frédéric Valin mit der „Querfront der Exklusion“.

Das Editorial befasst sich mit den Folgen aktueller Debatten über soziale Transferleistungen und Klimaschutz, die mehr miteinander zu tun haben als machen vielleicht glauben möchten.

Wie üblich finden Sie unsere Vorschläge für den Besuch von Ausstellungen und Veranstaltungen sowie unsere Empfehlungen für Lektüren, Podcasts oder Filme.

Die Bilder in diesem Newsletter stammen aus der Serie „Deciphering Photography“ von Hans Peter Schaefer.

Das Editorial:

Machen staatliche Unterstützungsleistungen träge? Diese Frage dominiert immer wieder die Debatten um Unterstützungsleistungen für Menschen, die – wie man so sagt – in „prekären“ finanziellen Verhältnissen leben. Die einzigen Unterstützungsleistungen, die nie in Frage gestellt werden, sind Kindergeld und steuerliche Kinderfreibeträge. Denn diese Leistungen erhalten alle, unabhängig vom Einkommen. Ebenso wenig umstritten war im Jahr 2022 der sogenannte „Tankrabatt“, den die FDP durchsetzte, damit niemand unter den steigenden Benzinpreisen zu leiden hätte. Betonung auf „niemand“. Das klingt fast schon so, als beneideten die Reichen die Armen, wenn diese eigene nur auf sie zugeschnittene staatliche Transferleistungen erhielten, „Neiddebatte“ einmal anders herum, eine „Gerechtigkeitsdebatte“ von oben.

Sobald Leistungen diskutiert werden, die ausschließlich arme Menschen erhalten, wird gemutmaßt, sie wollten sich in der oft zitierten „sozialen Hängematte“ ausruhen. Eine neue Sozialfigur der deutschen Debatte ist die „hart arbeitende Mitte“, die CDU und FDP nicht müde werden, als die eigentlich Benachteiligten dieser Welt darzustellen. Der US-amerikanische Armutsforscher Matthew Desmond präsentierte am 20. April 2023 in seinem Essay „The High Cost of Beeing Poor“ in der New York Review of Books jedoch ein überraschendes Ergebnis: „Juni und Juli 2021 stoppten 25 Staaten einige oder alle ihrer Unterstützungsleistungen, die sie während der Pandemie eingeführt hatten, einschließlich ausgeweiterter Arbeitslosenversicherung. Dies schuf die Gelegenheit zu schauen, ob diese Staaten sich an einem signifikanten Sprung in ihren Beschäftigungsraten erfreuen konnten. Aber als das Labor Department die Augustdaten verkündete, lernten wir, dass die fünf Staaten mit dem schnellsten Beschäftigungswachstum (Alaska, Hawaii, North Carolina, Rhode Island und Vermont) einige oder alle dieser Unterstützungsleistungen beibehalten hatten. Staaten, die ihre Unterstützungsleistungen bei Arbeitslosigkeit abgeschafft hatten, verzeichneten keine signifikante Steigerung der Beschäftigungszahlen.“ (Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch NR)

Matthew Desmond betont, dass nicht „harte Arbeit“ über Wohlstand entscheide, sondern soziales und kulturelles Kapital, wie es Pierre Bourdieu, der Vater aller Ungleichheitsforschung, in seinen Studien beschrieb. Es gehe – so Matthew Desmond – eben darum, „weiß zu sein, gut gebildete Eltern zu haben oder die richtigen Leute zu kennen“. Christoph Butterwegge hat darauf hingewiesen, dass der so gerne verkündete „soziale Aufstieg“ in einer Familie nicht zuletzt aus diesem Grund etwa 70 Jahre dauere. Matthew Desmonds Schlussfolgerung: „Das heutige Problem ist nicht die Abhängigkeit, sondern die Vermeidung von Transferleistungen.“

Andererseits sind Transferleistungen nicht die Lösung aller Probleme. Bei der zurzeit mit ungewissem Ausgang diskutierten „Kindergrundsicherung“, deren Kosten – wie die zuständige Bundesministerin im April 2023 mehrfach zugeben musste – sich zurzeit noch nicht verlässlich beziffern lassen, erleben wir, wie unterkomplex diskutiert werden kann. Der FDP-Vorsitzende meinte, es wäre doch besser, die Bildungsbedingungen für Kinder aus migrantischen Familien zu verbessern. Natürlich ist in Bildung investiertes Geld gut investiertes Geld.

Aber die von Matthew Desmond zitierten Studien belegen, dass man das eine tun und das andere nicht lassen sollte. Individuelle Transferleistungen und Investitionen in die Infrastruktur sind zwei Seiten derselben Medaille. Aber wie sieht es mit der Investition in die Infrastruktur aus? Profitieren Stadtteile, Schulen, Kindertageseinrichtungen, wenn der Staat (beziehungsweise die zuständige Kommune) in die örtliche Infrastruktur investiert, beispielsweise durch zusätzliche Sozialarbeit, zusätzliche Lehrkräfte, Ganztagsangebote oder im Stadtteil erreichbare Kulturbüros? Ja, sie profitieren, aber wie nachhaltig wirken die Investitionen? Und vor allem: verändern sich die Ausgangsbedingungen für Kinder und Jugendliche in diesen Stadtteilen? Die traurige Wahrheit: eben dies geschieht nicht. Die jungen Menschen, die von sozialen Strukturprogrammen profitierten, ziehen in andere besser situierte Stadtteile um. Im Ursprungsstadtteil ändert sich kaum etwas.

Albrecht von Lucke hat im Mai 2023 in den „Blättern für deutsche und internationale Politik“ den grundlegenden Gegensatz in der Ampelkoalition beschrieben: „Faktisch agieren zwei Parteien, nämlich FDP und SPD, strikt in Verteidigung der materiellen Gegenwartsinteressen, während die Grünen versuchen, auch die Interessen der zukünftigen Generationen zu vertreten – genau wie es das Bundesverfassungsgericht jeder Regierung mit seinem historischen Urteil vom März 2021 ins Stammbuch geschrieben hat.“ Das ist die nächste Dimension der Debatte: es geht nicht nur darum, wie Politik Menschen unterstützt, die unter den gegebenen Bedingungen finanziell kaum zurechtkommen, sondern auch darum, was sie vorausschauend für die Menschen tut, die zehn, zwanzig oder dreißig Jahren die Folgen heutiger Fehlentscheidungen ausbaden müssen.

Carolin Emcke schrieb am 5. Mai 2023 in der Süddeutschen Zeitung: „Es gibt nicht hier die Klimakrise und dort die soziale Frage der Gleichheit und Gerechtigkeit, es gibt nicht hier den Klimaschutz und die in Paris verbindlich zugesicherten Emissionsminderungen und dort die Frage des Gemeinwohls und der Solidarität, es gibt nicht hier die ökologische Transformation und dort die Frage nach der Würde der Arbeit, sondern sie sind ein und dieselbe Frage. Die soziale Frage wird nicht herangetragen an die Klimakrise, sondern sie ist ihr immanent. Es sind falsche Gegensätze, die die öffentliche Auseinandersetzung absichtsvoll verdummen. Es wäre an den Sozialdemokraten, den erfundenen Widerspruch von Klimaschutz und sozialen Fragen aufzulösen.“ Tun sie aber nicht.

Die Grünen können das nicht kompensieren. Es ist allen anderen Parteien im Bundestag gelungen, sie wieder in die Rolle einer „Verbotspartei“ hineinzudrängen. Statt grundsätzlich einmal gegen zu hohe Mieten vorzugehen werden Ängste geschürt, die Mieten würden durch den Umbau von Heizungen noch stärker steigen. Und die Grünen reagieren wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange. Udo Knapp am 9. Mai 2023 in taz FUTURZWEI: „Wenn CDU, SPD und FDP nun den Eindruck erwecken, die Transformation könne ohne regulierte Veränderungen in allen Sektoren des gesellschaftlichen Lebens geschafft werden, dann demonstrieren sie ihre Unfähigkeit, dem Wirtschaftsstandort Bundesrepublik und Europa den Weg eine erfolgreiche Zukunft zu weisen. Sie isolieren sich damit auch von den großen Industrien und den Mehrheiten der Funktionseliten in der Republik, die sich längst auf den Weg gemacht haben.“

Diese „Unfähigkeit“ schadet der Demokratie. Die Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland ist zwar nach der Pandemie laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung – die ZEIT berichtete am 26. April 2023 – weitgehend gestiegen, nicht jedoch bei armen Menschen und nicht unter Ostdeutschen. Populist*innen von rechts und links haben allen Anlass, sich zu einer „Querfront“ zu vereinen. Thorsten Holzhauer schreibt in seinem Essay „Linkskonservativer Populismus“ in der Maiausgabe des „Merkur“ anlässlich der von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine inszenierten „Friedensdemonstrationen“: „Dass es nicht lange dauerte, bis auch Rechtsextreme an den Demonstrationen teilnahmen, wird kaum verwundern. Was aber zur Querfront zu werden drohte, basierte auf einem geschickten Spiel mit bürgerlichen Urängsten. (…) Heraus kam die Forderung nach einem protektiven Staat, der fleißige deutsche ‚Familienväter und Frauen‘ vor den Einwanderern, ‚Fremdarbeitern‘ und kriegslüsternen ‚Eliten‘ schützen müsse.“

Schon bei der Europawahl im Jahr 2024 werden wir möglicherweise eine kleinere AfD mit vielleicht 6 – 8 Prozent sowie eine pseudolinke Wagenknecht-Partei mit etwa 12 – 15 Prozent erhalten. Bei den letzten Wahlen lag die Wahlbeteiligung in vielen prekären Stadtteilen, in denen eigentlich SPD und Linke hätten reüssieren müssen, unter 30 Prozent. Mit einer Wagenknecht-Partei mag sich dies ändern. Wenn Höcke und Wagenknecht zusammen an die 25-Prozent-Marke kommen, könnte so manche „Brandmauer“ wanken.

Vielleicht denken CDU, FDP und SPD einmal über dieses Szenario nach, bevor sie jedes politische Anliegen der Grünen diskreditieren. Und den Grünen täte es gut, ihre Strategie zu ändern. Nicht zuletzt auch die Linke: vielleicht sollte sie nach Österreich schauen. Dort lässt sich aus den Wahlergebnissen der KPÖ in Graz, Niederösterreich und Salzburg lernen, was Verena Meyer im Österreich-Newsletter der Süddeutschen Zeitung am 28. April 2023 schrieb: „Mit Wohnungspolitik lassen sich Wahlen gewinnen.“ Mit Kommunismus hat das nichts zu tun, wohl aber mit guter Sozialpolitik, eine Partei als „Kümmererpartei“. NR

Die neuen Texte im Demokratischen Salon:

  • Rubrik Afrikanische Welten: Eine der in Deutschland bekannteren afrikanischen Autorinnen ist Tsitsi Dangarembga aus Simbabwe. Sie erhielt 2021 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, wird in ihrer Heimat immer wieder von den Behörden schikaniert, weiß sich aber zu wehren. Ihre Bücher sind in deutscher Sprache erhältlich, leider sind ihre Filme bisher bei keinem deutschen Verleih verfügbar. Beate Blatz hat sie unter der Überschrift „Wir brauchen eine neue Aufklärung“ Gegenstand des Portraits sind vor allem der Essay „Black and Female“ und die „Tambudzai-Trilogie“. Immer wieder thematisiert Tsitsi Dangarembga Konflikte über Werte und Traditionen Schwarzer und weißer Menschen. Wie sind die afrikanische Tradition Ubuntu und die europäische Aufklärung miteinander vereinbar? Tsitsi Dangarembga analysiert die Verflechtung der eigenen Lebensgeschichte mit gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen. Die kolonialistische Geschichte prägt ihre Romane und Essays ebenso wie die afrikanischen patriarchalischen Traditionen. Es wäre falsch, die eine Seite als die gute, die andere als die böse zu beschreiben. Vielleicht sollte etwas grundlegend Neues entstehen? Auf dem Weg dorthin: „Read African Books!“ Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
  • Rubrik Liberale Demokratie: Der Titel des Gesprächs mit dem nordrhein-westfälischen Justizminister Benjamin Limbach nennt den Auftrag: „Freiheitsrechte schützen“. Ein Landesjustizministerium gestaltet kein Recht, dies ist Aufgabe des Bundesjustizministeriums, die Länder wirken über den Bundesrat mit. Das Land ist zuständig für Gerichte, Staatsanwaltschaften, Aus- und Fortbildung sowie für den Strafvollzug. Seit 2009 sank die Zahl von Gewaltdelikten, nach der Pandemie stieg sie wieder auf den Stand von 2019. Feststellbar ist eine höhere Aggressionsbereitschaft. Dies zeigt sich beispielsweise bei Demonstrationen der „Letzten Generation“, deren juristische und politische Bewertung eines der Gesprächsthemen ist. Benjamin Limbach lehnt eine Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters von Jugendlichen ab, er plädiert für eine umfassende Zusammenarbeit zwischen Polizei, Justiz und Kinder- und Jugendhilfe. Die Kinder- und Jugendhilfe hat zahlreiche Einwirkungsmöglichkeiten, auch auf die Familien delinquenter junger Menschen. Eine wichtige Maßnahme ist die Einrichtung von Antisemitismusbeauftragten und von Beauftragten zur Diskriminierung von nicht-binären Menschen. Gegenstand des Gesprächs waren auch Affinitäten zwischen liberalen und grünen Rechtspolitiker*innen sowie die Diversität in der Justiz. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
  • Rubrik Levantinische Aussichten: Von Tala Hariri und Homayoun, den Bonner Organisator*innen der Initiative Frauen*-Leben-Freiheit, erfahren wir von Gesprächen mit deutschen Politiker*innen, die oft nur erschreckend wenig über Geschichte und Wirklichkeit in der Islamischen Republik Iran wissen. Unwissen paart sich oft mit Kulturrelativismus, antirassistische Aktivist*innen unterstellen Kritiker*innen der iranischen Theokratie Rassismus und Kolonialismus. Tala Hariri und Homayoun benennen die deutsche Verantwortung für die Stabilität des Regimes, die Initiative Frauen*-Leben-Freiheit fordert den Abbruch der diplomatischen Beziehungen und ist besorgt, dass die Bundesregierung trotz der erklärten Feministischen Außenpolitik nur zurückhaltend agiert, im Unterschied zu den USA, zu Kanada oder zu den Niederlanden. Immer noch nicht wurden die Revolutionsgarden zur Terrorgruppe erklärt. Der Terror des Regimes hat eine über 40jährige Geschichte, umso mehr beeindruckt der Mut vieler junger Menschen, allen voran vieler junger Frauen im Iran, die sich öffentlich gegen das Regime positionieren. Das Kopftuch ist viel mehr als ein Kleidungsstück, es ist ein Symbol für den Wunsch nach Freiheit und Demokratie. „Es wackelt gewaltig“ und vielleicht wird der Iran für andere Länder zum Vorbild, als freiheitlicher und demokratischer Rechtsstaat. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
  • Rubriken DDR und Kultur: Der Zukunftsforscher und Science-Fiction-Autor Karlheinz Steinmüller präsentiert in seinem Essay „Utopische Literatur made in GDR“ eine „sehr kurze Geschichte der ostdeutschen Science-Fiction“. Er beschreibt die Voraussetzungen der Science-Fiction-Autor*innen in der DDR, den Einfluss der jeweiligen politischen Wetterlage sowie die unterschiedlichen Begrifflichkeiten, mit denen Science Fiction in der DDR belegt war, beispielsweise als „Zukunftsroman“ oder als „utopisch-technischer Roman“. Gesellschaftliche Zukunftsentwürfe entsprachen in der Regel kommunistischen Wunschträumen, sodass die Bewohner*innen auf anderen Planeten oft in vorbildlichen kommunistischen Gesellschaften lebten. Andere Modelle der Science-Fiktion wurden als „westliche Einflüsse“ offiziell bekämpft. In den 1970er Jahren befreiten sich die Autor*innen schrittweise, fantastische Elemente nahmen zu, auch verschlüsselte Kritik an in der DDR kritikablen Zuständen, Zukunftsvisionen verloren an Optimismus. Aber die Zahl der Leser*innen wuchs. So „lässt sich die Geschichte der DDR-SF als Geschichte ihrer Emanzipation interpretieren: Emanzipation aus der Funktionalisierung (als utopische Literatur) und aus der Bevormundung (durch die marxistisch-leninistische Staatsideologie)“. Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
  • Rubriken Kultur und Shoah: Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist ständiger Gegenstand österreichischer Literatur. In der von Helga Mitterbauer und Jacques Lajarrige herausgegebenen Reihe „Forum: Österreich“ des Berliner Verlags Frank & Timme finden wir Monographien, Tagungsbände und nicht zuletzt endlich wieder zugänglich gemachte Originaltexte. Die Vorstellung der Reihe auf der Leipziger Buchmesse 2023 haben wir unter dem Titel „Traumzeit im Traumland“ dokumentiert. Aber wer gehört eigentlich zur österreichischen Literatur? Ist vielleicht Raphaela Edelbauer die würdige Nachfolgerin von Franz Kafka? Was zeichnet Elfriede Jelinek und Franz Kafka, Hermann Broch, Robert Musil und den von diesem bewunderten Franz Blei, Andreas Latzko und Soma Morgenstern, Vicki Baum, Marlen Haushofer und Ingeborg Bachmann aus? In dem Gespräch werden einige der genannten Autor*innen ausführlich gewürdigt, Andreas Latzko mit seiner Sicht des Ersten Weltkriegs, Franz Blei als Autor im mallorquinischen Exil, der dort in die Wirren des Spanischen Bürgerkriegs gerät, Marlen Haushofer, die als feministische Autorin gelesen werden kann, Gregor von Rezzori, der „Epochenverschlepper“. Heterotopie – dies ein Begriff von Michel Foucault – und Heterochronie prägen die Autor*innen, die als Avantgarde deutschsprachiger Literatur gelesen werden sollten. Die vollständige Dokumentation des Gesprächs lesen Sie hier.
  • Rubriken Treibhäuser und Kultur: Die Brüsseler Germanistin Maélys Vaillant stellt in ihrem Essay „Im Goldenen Käfig“ die Hotelromane von Vicki Baum Sie versteht den Ort Hotel als mehrdeutigen Ort, im Sinne von Michel Foucault als Heterotopie. Im Hotel interagieren Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlichen sozialen Standes. Das Hotel ist Bühne des Reichtums, der hier zur Schau gestellt werden kann. Es ist ein Ort der Täuschung, Ort des Spiels mit Konventionen, auch ein Ort des Vorspielens eines sozialen Status, den man gar nicht hat. Für diejenigen, die keinen anderen Ort mehr ihr Zuhause nennen können, ist das Hotel ein Gefängnis, ungeachtet ihrer Möglichkeiten, sich frei bewegen zu können. Die Figuren, die Vicki Baum im Grand Hotel einander begegnen lässt, spiegeln nicht nur die Gesellschaft ihrer Zeit, sondern weisen in ihren Träumen, in ihrem alltäglichen Verhalten, in ihren Begrenzungen und Beschränkungen weit darüber hinaus. Sie sind anonym und doch werden sie ständig beobachtet, manche durch die Gestapo. Für manche ist das Hotel eine Vorstufe, für andere der Ort des Exils. Der Essay beruht auf einer im Verlag Frank & Timme veröffentlichten Studie. vollständigen Essay lesen Sie hier.
  • Rubrik Kinderrechte: Über die Bekämpfung der Kinderarmut in Deutschland spricht Alexander Mavroudis, Leiter der Koordinationsstelle Kinderarmut beim Landesjugendamt Rheinland. Titel der Dokumentation: „Kommunale Gestaltungsvisionen“. Thema sind „die Ursachen“ und „die möglichen Folgen“ von Armut, die sich je nach Wohnort, je nach Familiengeschichte deutlich unterscheiden können. Es ist nicht so, dass sich arme Familien nicht organisieren könnten, aber sie spüren die Folgen in vielen alltäglichen Situationen, insbesondere in der Teilhabe beziehungsweise Nicht-Teilhabe in der Gemeinde, an Kultur, an Sport, auch an schulischen Veranstaltungen wie Klassenfahrten. Für die Kolleg*innen in den Kommunen und bei den Trägern der freien Jugendhilfe bedeutet dies einerseits Sensibilität für die jeweilige Situation, eine „Armutssensibilität“, die Paternalismus vermeiden sollte, andererseits ein Gespür für möglichen „Klassismus“ und Formen einer „selffulfilling prophecy“. Wichtig sind in der Praxis einfach zugängliche Anlaufstellen wie Familienbüros, beispielsweise in Einkaufszentren, und Familienzentren in Schulen und Kindertageseinrichtungen. Ziel der Förderung durch Bund und Land sollte eine nachhaltige Stärkung der Kommunen sein. Das vollständige Gespräch lesen Sie hier.
  • Rubrik Treibhäuser: In seinem Essay „Querfront der Exklusion“ stellt Norbert Reichel Bücher von Frédéric Valin und Peter Bierl vor, die aus unterschiedlichen Blickwinkeln beschreiben, wie verbreitet Ableismus und Eugenik auch dort sind, wo sie niemand vermuten möchte. In der Öffentlichkeit werden Pflegekräfte gerne gelobt, im ersten Frühjahr der Pandemie wurden sie beklatscht, aber ihre Arbeitsbedingungen verhindern eine die Würde der Patient*innen wahrende Betreuung. Dies hat Frédéric Valin bereits in seinem Buch „Pflegeprotokolle“ In „Ein Haus voller Wände“ wird er deutlicher: die Betreuung von Menschen mit geistigen Behinderungen folgt allen Regeln der Exklusion, er spricht sogar vom „totalen Charakter der Behindertenhilfe“. Exklusion ist Programm und nicht weit ist der Weg zu den menschenverachtenden Fantasien eines Peter Singer. Dieser spielt eine zentrale Rolle in dem Buch „Unmenschlichkeit als Programm“ von Peter Bierl. Peter Bierl präsentiert ein Who-is-who der Eugenik und findet in den vergangenen 100 Jahren Sozialdemokrati*innen, Feminist*innen, Naturwissenschaftler*innen, Nobelpreisträger*innen, die darüber nachdachten, wer ein Recht auf Leben haben solle und wer nicht. Bis in die heutige Zeit sinnieren Politiker*innen darüber, ob sozial schwache Menschen Kinder haben dürften. Es gab in demokratischen Staaten wie Schweden Zwangssterilisationen. Das Vorgehen der Nazis war einzigartig, singulär, doch darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Linke und Liberale für Züchtungsfantasien und Eugenik gewinnen ließen. Es gab etwas wie eine „rassehygienische Internationale“. Den vollständigen Essay lesen Sie hier.

Veranstaltungen mit Beteiligung des Demokratischen Salons:

  • Foucaults Narben – deciphering photography: Empfehlen dürfen wir Ihnen den Band „Foucaults Narben“, Gedichte von Norbert Reichel und Fotografien von Hans Peter Schaefer aus der Serie „fotografien entziffern / deciphering photography“, der Band erschien Ende Januar 2023 im reserv-art Verlag und ist im Buchhandel erhältlich. Die Fotografien sind bis zum 21. Mai 2023 in der Kölner Galerie r8m, Luxemburger Str. 197, 50939 Köln, zu sehen. Am 21. Mai 2023, 14 Uhr, werden im Rahmen der Finissage auch einige der Gedichte vorgetragen. Dazu gibt es die bei einer Finissage üblichen Leckereien (in flüssiger und in fester Form).
  • Kinderarmut: Am 2. Juni 2023, 16.30 Uhr bis 18.30 Uhr, findet ein digitales sozialpolitisches Fachgespräch statt, das der Landschaftsverband Rheinland und der Demokratische Salon gemeinsam gestalten. Titel: „Den unsichtbaren Armutsrucksack leichter machen – Welches Leben wollen wir für Kinder und Jugendliche?“ Gesprächspartner*innen sind, Annette Berg von der Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin, Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds, Heike Moerland von der Diakonie Nordrhein-Westfalen, die Publizistin Marina Weisband sowie die Autorin Undine Zimmer, die aus ihrem Buch „Nicht von schlechten Eltern“ (als Fischer Taschenbuch erhältlich) lesen wird. Es geht in dem Gespräch um die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen sowie die damit verbundene Frage, welche Spielräume Kommunen haben und wo sie ihre Grenzen finden, nicht zuletzt im Kontext der zurzeit kontrovers diskutierten Kindergrundsicherung. Die Veranstaltung richtet sich an Fach- und Leitungskräfte sowie politisch Verantwortliche in Kommunen, Ländern und Bund und bei Freien Trägern aus den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Gesundheit, Soziales, Kultur, Sport und Stadtentwicklung. Anmeldung bis zum 25. Mai bitte hier.
  • Karlrobert Kreiten: Am 27. August 2023, 18 – 20 Uhr, gibt es im Bonner Leoninum eine von der Theatergemeinde Bonn und dem Demokratischen Salon gemeinsam vorbereitete Veranstaltung zum Gedenken an den 80. Jahrestag der Hinrichtung des jungen Pianisten Karlrobert Kreiten durch die Nazis in Plötzensee. Zu seinem Gedenken spielt Knut Hanßen Stücke seines letzten wegen seiner Verhaftung nicht mehr gespielten Konzerts. Susanne Kessel wird zwei eigens zu diesem Anlass komponierte Klavierstücke von Ursel Quint und David Graham uraufführen. Dazu gibt es Diskussionen mit den Künstler*innen und mit Expert*innen der historisch-politischen Bildung. Die Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner wird eröffnen. Oliver Hilmes stellt sein 2023 erschienenes Buch „Schattenzeit“ vor, in dem er die Geschichte Karlrobert Kreitens ausführlich beschreibt. Die Veranstaltung wird von der Landeszentrale für politische Bildung NRW gefördert. Nähere Informationen über das ausführliche Programm sowie die Anmeldung demnächst hier.

Weitere Veranstaltungen, Ausstellungen und Wettbewerbe:

  • Solingen ‘93: Am frühen Morgen des 29. Mai 1993 wurden in Solingen Gürsün İnce (*4. Oktober 1965) Hatice Genç (*20. November 1974) Gülistan Öztürk (*14. April 1981) Hülya Genç (*12. Februar 1984) und Saime Genç (*12. August 1988) ermordet. Der Erinnerungsort „Alter Schlachthof“ präsentiert am 24. Mai 2023, 18.30 Uhr einen von Birgül Demirtaş und Adelheid Schmitz herausgegebenen Sammelband. Zu Wort kommen Überlebende und Familienangehörige der Familie Genç sowie andere Betroffene rassistischer und extrem rechter Gewalt. Ergänzend dazu werden die Geschehnisse um den Brandanschlag, Zusammenhänge, Nachwirkungen und Folgen sowie Erinnerungspraxen aus unterschiedlichen Perspektiven wissenschaftlich eingeordnet, reflektiert und kritisch diskutiert. Die Veranstaltung findet in der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Gebäude 3, Raum E.001 statt, direkt gegenüber vom Erinnerungsort (S-Bahn-Station Derendorf).
  • Solingen ‘93: Das Zentrum für verfolgte Künste erinnert mit einer Ausstellung und Veranstaltungen vom 29. Mai bis zum 17. September an den 30. Jahrestag des Brandanschlags. Die Ausstellung wird am Vormittag des Jahrestags eröffnet. Anwesend ist Claudia Roth, Staatsministerin für Kultur und Medien. Ein Presserundgang findet am 29. Mai 2023 ab 9 Uhr nach Anmeldung statt. Die Ausstellung „Solingen ‘93“ will zeigen, wie an die Todesopfer rechter Gewalt seit 1980 erinnert wird und welche Initiativen in Solingen nach 1993 oder in Hanau nach 2020 entstanden sind. Sandra del Pilar hat Portraits der fünf ermordeten Menschen eigens für die Ausstellung geschaffen, Beata Stankiewicz schuf ein Porträt der 2022 verstorbenen Mevlüde Genç. Weitere Informationen zu Programm und Konzeption finden Sie in der anliegenden Pressemitteilung. Weitere Informationen erhalten Sie über presse@verfolgte-kuenste.de.
  • „Von Einzelfall zu Einzelfall – Ist die Polizei noch zu retten?“ Diese Frage ist am 25. Mai 2023, 19 Uhr, Thema der nächsten Streitbar in der Bildungsstätte Anne Frank, Hansaallee 150, 60320 Frankfurt am Main. Es diskutieren Thilo Cablitz, Polizeibeamter und Pressesprecher der Berliner Innenverwaltung, und Daniela Hunold, Professorin für Soziologie mit Schwerpunkt Polizeiforschung an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht. Die Moderation übernimmt Hadija Haruna-Oelker, Hessischer Rundfunk. Weitere Informationen finden Sie hier.
  • 17. Juni 1953: Am 25. Mai 2023, 10.00 – 16.00 Uhr, findet anlässlich des bevorstehenden 70. Jahrestags des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 in der Bundesstiftung Aufarbeitung (Kronenstraße 5, 10117 Berlin) eine gemeinsame ganztägige Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft e. V., der Berliner Landeszentrale für politische Bildung und der Bundesstiftung Aufarbeitung statt, Titel: „Protest! Aufstand und Aufbegehren in Diktatur und Demokratie – Geschichte und Gegenwart“. Den Abschluss bildet um 18.00 Uhr die Abendveranstaltung „Protest und Erinnerung“. Um Anmeldung wird an protest@deutsche-gesellschaft.de bis zum 23. Mai 2023 gebeten. Tagung und Abendveranstaltung können über den youtube-Kanal der Stiftung verfolgt werden und sind auch anschließend verfügbar. Die Stiftung verweist ferner auf die sechsteilige Diskussionsreihe „Wut/Mut! Protest, Aufstand und politischer Aktivismus in Diktatur und Demokratie“, die am 6. Juni 2023 beginnt.
  • Vielfalt in russland: Nicht alle Menschen, die in der Russischen Föderation leben, sind russ*innen. Die nGbK-Arbeitsgruppe FATA collective zeigt bis zum 29. Mai 2023 im Kunstraum Kreuzberg, Mariannenplatz 2, Berlin, die eindrucksvolle Ausstellung Өмә [ome] (ein baschikirisches Wort für „kollektive Selbsthilfepraktiken“). Es beteiligten sich 27 Künstler*innen. Das Programm macht deutlich: „russland ist eine Kolonialmacht“ und macht dies nicht nur durch die Kleinschreibung des Landesnamens deutlich: „Während sich russland oft als eine antikoloniale und antiimperialistische Macht darstellt, die unterdrückte Völker unterstützt, verfolgte es zugleich stets eine strenge ‚Rassenhierarchie#, an deren Spitze ethnische russ_innen standen. Bis heute spitzt sich die Situation weiter zu.“ Erzählt werden die „ungehörten und unerzählten ‚Theirstories‘ der Kolonisierung“. Wir sehen Videos, Installationen und vieles mehr in 13 Räumen, die den „historischen und politischen Kontext einer anhaltenden russischen Kolonialexpansion und Gewalt in verschiedenen Territorien“ sichtbar machen.
  • 75 Jahre Israel: Die Bildungsstätte Anne Frank lädt für den 31. Mai 2023, 18.30 Uhr, in ihren Räumen, ein zu einem Gespräch zwischen Meron Mendel und Alena Jabarine ein. Die Moderation übernimmt Livia Gerster. Thema sind auch die kritischen Fragen um die umstrittene Justizreform und die unterschiedlichen Erinnerungen an den Tag der Staatsgründung am 14. Mai 1948 von Seiten jüdischer und arabischer Israelis sowie der Bewohner*innen der palästinensischen Gebiete. Weitere Informationen bieten eine Sonderausgabe der Jüdischen Allgemeinen, eine Israel gewidmete Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 2. Mai 2023 sowie das von Meron Mendel im März 2023 veröffentlichte Buch „Über Israel reden“, das im April 2023 im Demokratischen Salon vorgestellt wurde.
  • Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“: Diese Ausstellung ist noch bis zum 4. Juni 2023 im Jüdischen Museum Wien Dorotheergasse zu sehen. Die Ausstellung ist nicht unumstritten, wie Marta Halpert am 26. Februar 2023 in der Jüdischen Allgemeinen unter der Überschrift „Darf man das zeigen?“ berichtet. Wer hat welches Bild von Jüdinnen*Juden, wer welches Selbstbild, wer welches Fremdbild und warum? Und was geschieht mit diesen Bildern? Eine entscheidende Frage lautet: Wer hat die Deutungshoheit über die jüdische Geschichte, über richtig oder falsch beim Erinnern an die Schoa und im Verhältnis zu Israel?“ Weitere Informationen finden Sie hier.
  • „africologneFestival“: Das Festival findet vom 1. bis zum 11. Juni 2023 in Köln statt und bietet ein umfangreiches Programm mit afrikanischem Theater, Tanz, Performance, Musik, Film und dramatischer Literatur sowie Publikumsgespräche nach den Vorstellungen. Alle Produktionen werden Deutsch übertitelt. Festivalzentrum ist die Alte Feuerwache, die Spielorte verteilen sich über die Stadt. Trägerverein ist afroTopia e.V.
  • „Flashes of Memory“: Diese Ausstellung zur Fotografie im Holocaust ist bis zum 20. August 2023 im Museum für Fotografie, Jebensstr. 2, 10623 Berlin zu sehen. Weitere Informationen, auch zum Begleitprogramm, finden Sie hier.
  • Charlotte Salomon: Das Münchner Lenbachhaus zeigt bis zum 10. September 2023 das Lebenswerk der 1942 in Auschwitz im Alter von 26 Jahren ermordeten Künstlerin. Die 769 Blätter, die sie zu dem „Singespiel“ „Leben? oder Theater?“ in drei Akten zusammenfasste, entstanden nach ihrer Flucht aus Berlin in Südfrankreich. Die Ankündigung des Lenbachhauses beschreibt Struktur, Inhalt und Bedeutung ihres Werks: „Die Illustrationen und Texte fügen sich wie Szenenbilder einer Theaterinszenierung oder eines Drehbuchs zusammen und nehmen gleichzeitig den hybriden Charakter aus Text- und Bildebene von Graphic Novels vorweg. Die Figuren des Werks beruhen auf Salomons persönlichem Umfeld, sind von ihr jedoch subjektiv herausgearbeitet und somit zu fiktiven Charakteren abstrahiert.“

Kurznachrichten und weitere Empfehlungen:

  • Faktenchecks: Immer lesenswert sind die Faktenchecks des Netzwerks Correctiv. Zwei Mal täglich erscheinen Informationen, die abonniert werden können. Zu empfehlen ist auch eine möglichst regelmäßige Spende, damit Correctiv seine Arbeit leisten kann. Präsentiert werden konkrete Nachrichten, Fotos, Verlautbarungen, die nachweisliche Fehler enthalten, mitunter Verkehrungen der Wahrheit und billige, aber wirkmächtige Propaganda, wie sie in diversen mehr oder weniger sozialen Medien verbreitet werden. Wer mehr über Correctiv und seine „Recherchen für die Gesellschaft“ erfahren möchte, lese hier weiter.
  • Isolation: Die Übersetzung der Rezension von Ursula Stark-Urrestarazu zum Buch von Stanislav Aseyev, Heller Weg, ins Ukrainische ist online. Eine Aufnahme in die Print-Ausgabe von Krytika wird noch vorbereitet.
  • Demokratie im Iran: Eine*r der prominenten Akteur*innen für Demokratie und Freiheit im Iran ist der Sohn des 1979 aus dem Iran ausgereisten Schah, Reza Pahlavi. In der Mai-Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ befasst sich Katajun Amirpur mit seiner Rolle. Bisher hat er sich mit der Diktatur seines Vaters in keiner Weise auseinandergesetzt, zumindest nicht in der Öffentlichkeit, sodass bei allen verkündeten guten Absichten durchaus auch die Gefahr besteht, dass manche aus ihrem Wunsch zur Ablösung der herrschenden Diktatur der Mullahs die Herrschaft des Schahs im Rückblick romantisieren. Katajun Amirpur erinnert an eine alte iranische Fabel, in der ein Weiser dem Sohn eines brutalen Herrschers auf die Frage, wie er ein gutes Andenke seines Vaters schaffen könne, rät, noch brutaler zu herrschen. Katajun Amirpur beschreibt den Repressionsapparat des Schah im Detail, seine taktischen Versuche, mal Frauenrechte zu unterstützen, mal sie wieder zurückzunehmen, und nicht zuletzt die zynische Unterstützung durch die USA. Sie wolle nicht erleben, dass die Iraner*innen erneut betrogen werden. Den Essay finden Sie hier.
  • Gefährdete Pressefreiheit, leider auch in Deutschland: Deutschland ist auf der von „Reporter ohne Grenzen“ geführten Liste um fünf Plätze auf Rang 21 abgerutscht. Hauptgrund laut Aussage der Journalist*innen: die Straflosigkeit der Täter*innen. ZEIT online berichtete am 3. Mai 2023. Der Anlass: „In Deutschland stieg die Zahl der körperlichen Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten 2022 auf 103 Fälle – der höchste Stand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2013. Die überwiegende Mehrheit der Attacken fand demnach in verschwörungsideologischen, antisemitischen und rechtsextremen Kontexten statt, zwei Drittel davon in Ostdeutschland.“ Correctiv verweist darauf, dass nicht zuletzt Faktencheck-Redaktionen im Visier solcher Attacken stehen. Hass- und Droh-Mails sind dort an der Tagesordnung. Eine Zunahme war vor allem in der Zeit der Corona-Pandemie festzustellen.
  • Kleine Verlage – eine Hommage: Die taz hat anlässlich der Leipziger Buchmesse mehrere kleine Verlage portraitiert, die mit hohem Einsatz und ebenso hohem Risiko Bücher verlegen, die vielleicht nicht in den gängigen Feuilletons besprochen werden, die aber eine möglichst große Verbreitung erleben sollten. Ein Blick in diese Portraits möge neu inspirieren und anregen, entweder direkt bei den Verlagen oder im Buchladen des Vertrauens zu bestellen. Das Portrait finden Sie hier.
  • Die verbrannten Dichter: Am 9. Mai 2023 wurde in Frankfurt am Main eine Neuauflage des Buches von Jürgen Serke vorgestellt. Sie erschien im Wallsteinverlag. Das Buch enthält Portraits zahlreicher Autor*innen, die Jürgen Serke für die Erstauflage im Jahr 1977 im STERN portraitiert hatte. Einen Einblick bietet ein Gespräch von Norbert Reichel mit Jürgen Kaumkötter vom Mai 2022.
  • Joachim Gauck im Interview: Am 3. Mai 2023 erschien bei Siedler das von Joachim Gauck gemeinsam mit Helga Hirsch geschriebene Buch „Erschütterungen – Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“. Stefan Kornelius hat Joachim Gauck für die Süddeutsche Zeitung interviewt. In dem Gespräch stellt er die Hauptthesen seines Buches vor.
  • Kolonialismus, Imperialismus: Für den Berliner Tagesspiegel hat Oliver Geyer den indisch-britischen Autor Pankaj Mishra interviewt. Pankaj Mishra ist unter anderem Autor des 2011 erschienenen Buches „Die Ruinen des Empire“. Er diagnostiziert eine Kontinuität zwischen den kolonialistisch-imperialistischen Politiken des 19. Jahrhunderts bis „zum Populismus eines Donald Trump oder Boris Johnson“ und ihrer „Religion des Weißseins“, die natürlich dazu führt, dass sich diejenigen, die nicht der (west-)europäischen Kultur angehören, ermutigt fühlen, Werte der Aufklärung als imperialistisch oder kolonialistisch zu markieren. Pankaj Mishras Fazit: „Wenn die westlichen Nationen brutalen Autokraten wie Putin, Modi oder Xi wirklich etwas entgegensetzen und als glaubwürdige Akteure in der Welt akzeptiert werden wollen, müssen sie sich ihrer eigenen imperialen Vergangenheit ehrlicher stellen. Deutschland kann mit seiner Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit da ein Vorbild sein.“
  • Konservative Intelligenz: Künstliche Intelligenz müsste eigentlich allen konservativen bis erzkonservativen oder gar reaktionären Kräften gut gefallen. Rudi Novotny und Jacob von Lindern haben in der ZEIT vom 13. April 2023 unter dem Titel „Alles unter Kontrolle…“ beschrieben, dass KI nur auf der Grundlage dessen agieren kann, das schon einmal irgendwo im weltweiten Netz hinterlegt ist. Sie kombiniert Vorhandenes, aber sie handelt nicht in die Zukunft hinein. Ergebnis: wer seine Personalauswahl mit Hilfe der KI organisiert, wird die bestehenden Benachteiligungen fortschreiben. Männer, die Thomas heißen, werden auch weiterhin Männer einstellen, die Thomas heißen. Eine Studie des Fachmagazins „Science“ kam im Hinblick auf die medizinische Betreuung von Schwarzen Menschen zu folgendem Ergebnis: „Die Benachteiligung der Vergangenheit wurde in die Zukunft fortgeschrieben.“
  • Konservative Kommunistin? Für die taz hat Aron Bocks Nora Zabel begleitet, Mitarbeiterin von Serap Güler im Deutschen Bundestag und wie ihre „Chefin“ Mitglied der CDU. Nora Zabel ist 26 Jahre alt und betreibt gemeinsam mit Lilli Fischer den Podcast „Womensplaining“. Philipp Amthor, nur wenige Jahre älter, bezeichnet sie als „Kommunistin“, obwohl er wahrscheinlich gar nicht weiß, was das ist. Das Portrait zeigt, wie vielschichtig Parteien sein können und wer in ihnen alles einen Platz finden kann, im Guten wie im Schlechten, eher mehr oder eher weniger fortschrittlich gesinnt. Auf jeden Fall lässt sich feststellen, dass in der CDU offensichtlich mehr Wandel ist als viele denken, auch wenn sich dieser Wandel noch nicht so weit sichtbar machen lässt, wie es vielleicht wünschbar wäre. Schwarz-grüne beziehungsweise grün-schwarze Koalitionen gibt es inzwischen eine ganze Reihe und vielleicht auch die Auseinandersetzungen, die erforderlich sind, um einen konstruktiven Dialog zwischen eher konservativ gesinnten und eher progressiv eingestellten Positionen zu bewegen, nicht zuletzt zum Schutz des Klimas (Nora Zabel und Serap Güler engagieren sich auch in der KlimaUnion), und zur Entwicklung einer diskriminierungsfreien Gesellschaft.
  • Frieden! Frieden? Olexandr Scherba, ehemaliger Botschafter der Ukraine in Österreich, heute Sonderbotschafter für Informationspolitik im ukrainischen Außenministerium, erklärte in einem am 20. April 2023 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Interview gegenüber Cathrin Kahlweit, wie er die derzeitigen Friedensinitiativen im „Westen“ einschätze. Er sagte, die Friedensbewegungen ignorierten, dass bei Erfüllung ihres Anliegens zwar keine russischen Soldaten mehr sterben würden, wohl aber Ukrainer*innen in den besetzten Gebieten: „Die Friedensmärsche der Vergangenheit waren eine Bewegung der Romantiker, erhebend, erhaben, erfreulich. Die jetzigen aber sind eine Bewegung von verwirrten Menschen und Zynikern, die willens sind, die Augen zu verschließen vor der Zerstörung der Freiheit von Millionen Menschen inmitten Europas. Sie agieren nicht im Namen des Friedens, sondern weil sie ihre Komfortzone nicht verlassen wollen, in der die USA immer nur eine imperialistische Großmacht sind und Russland das Recht auf eine eigene Wahrheit hat. Die Tatsache, dass dieser Waffengang ein zutiefst imperialistischer Krieg des aggressiven, hungrigen russischen Imperiums gegen seine einstige Kolonie ist, scheint sie hingegen nicht zu interessieren.“
  • Sprache der Erinnerung: Auf dem te.ma-Kanal fanden bereits mehrere Debatten über die Situation in und rund um die Ukraine statt, die nach wie vor verfügbar sind. Am 20. April 2023 diskutierten Katja Makhotina (Universität Bonn), Roman Dubasevych (Universität Greifswald), Inhaber eines der beiden Ukrainistik-Lehrstühle in Deutschland sowie Gasan Gusejnov. Sie sprachen unter der Überschrift „Schmerz – Macht – Krieg“ in darüber, dass sich diejenigen, die andere beleidigen oder gar terrorisieren, sich immer selbst als Opfer fühlen und darstellen. Sie wären die eigentlich Beleidigten und so spricht Putin vom „kollektiven Westen“, der ihn bedrohe und durch seine bloße Präsenz angegriffen habe. In der Kriegsführung dominieren unterschiedliche Bilder des Zweiten Weltkriegs. Gewonnen habe – so schon Stalin – „der russische Soldat“. Das, was andere Nationalitäten in der Sowjetunion geleistet hätten, geriete in Vergessenheit. Jeder in dem Krieg, der in Russland nicht so genannt werden darf, gefallene Soldat bestätigt die russische Führung und voraussichtlich auch die Bevölkerung in dem Gefühl, sie wären die eigentlichen Opfer. Hoch problematisch sei allerdings auch eine Nebenwirkung des russischen Überfalls auf die Ukraine, die sich langfristig rächen könne. Die in der Ukraine gegebene Mehrsprachigkeit werde inzwischen verfemt und es würde inzwischen alles Russische, auch Oppositionelle, Künstler*innen und Schriftsteller*innen der Gegenwart wie der Vergangenheit, mit Putin und seinen Helfer*innen gleichgesetzt. Unterschiedliche Traumata spitzen sich zu, bedrohen in ihrer unaufgearbeiteten Konkurrenz das zukünftige Neben- und Miteinander der Menschen in der Ukraine und in Russland.
  • Keeping Memories: Dies ist der Titel einer über NEUSTART KULTUR entwickelten Initiative. Das Projekt zeigt wie mit digitalen Mitteln Erinnerungskultur gestaltet werden konnte. Beispiel ist die Gedenkstätte Flossenbürg, die auch die Trägerin des Projekts war und ist. Die Internetseite enthält Dokumente der Erinnerung in Form von Erzählungen, Erinnerungsberichten, Fotografien, Zeichnungen und videografierte Interviews sowie weiterführende Informationen für Lehrer*innen. Weitere Informationen finden Sie hier. Den Hinweis auf das Projekt verdanke ich dem täglich erscheinenden Newsletter von Correctiv.
  • Traumland Deutschland: Thema der Ausgabe vom 11. April 2023 von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ waren Träume, konkret: politische Träume, als deren berühmteste im Allgemeinen die Rede von Martin Luther King vom 28. August 1963 vor dem Lincoln Memorial in Washington D.C. gilt. Aber es gab auch schon früher Träume von Gleichheit, Gerechtigkeit und Freiheit, wie sie beispielsweise Karl Marx in seinem Brief an Arnold Ruge vom September 1843, in der Formel vom „Traum von einer Sache“ Düzen Tekkal, eine der Gründerinnen der Bildungsinitiative „German Dream“, charakterisierte den politischen Traum Ein- und Zugewanderter etwas einfacher. „Meine Freundin Azadê sagt immer: Mein ‚German Dream‘ ist ‚German Mittelmäßigkeit‘. Es geht gar nicht darum, immer Höchstleistungen zu erbringen, sondern darum, so akzeptiert zu werden, wie man ist – so ‚viel‘, so kulturell bereichernd oder auch so ‚anders‘, wie man ist.“ Vielleicht ist das – um mit Bert Brecht zu sprechen – heutzutage „die Sache, die so einfach, doch so schwer zu machen ist“.
  • taz lab: Das diesjährige taz lab fand am 22. April 2023 statt. Alle Veranstaltungen sind nach wie vor online. Es lohnt sich! Im Grunde trifft man im taz lab alles was Rang und Namen hat und vor allem Menschen, die einen guten Blick auf die Analyse aktueller und kommender Problemlagen haben.
  • Taschenratgeber Antisemitismus: Wer sich schnell und kompetent über Antisemitismus informieren möchte, greife zu dem von ADIRA in Dortmund herausgegebenen Taschen-Ratgeber „Was ist Antisemitismus und was kann ich dagegen tun?“ Der Ratgeber enthält kurze Darstellung zur Geschichte, Erscheinungsformen und Auswirkungen und gibt Hinweise, wie Antisemitismus bekämpft werden kann. ADIRA stellt seine Angebote vor und verweist auf weitere Beratungsstellen. Der Ratgeber kann bei ADIRA bestellt werden.
  • Antisemitismus in muslimischen und migrantischen Communities: Dies war bereits mehrfach Thema des Demokratischen Salons, beispielsweise im August 2021 im Essay „Die Ausgeschlossenen“. Leticia Witte stellte am 23. April 2023 in der Jüdischen Allgemeinen eine Sekundäranalyse verschiedener Studien der vergangenen Jahre von Sina Arnold Anlass zur Entwarnung gibt es nicht: „Judenhass unter Muslimen verbreiteter als bei Deutschen ohne Migrationshintergrund.“ Dennoch überraschten einige Ergebnisse, einige mögen sogar beruhigen, weil sie die Wirkung demokratischer Bildung zu belegen scheinen: sekundärer Antisemitismus ist bei Muslim*innen nicht verbreiteter als bei Nicht-Muslim*innen, je länger Menschen aus dem arabischen Raum oder aus der Türkei in Deutschland leben, umso weniger Antisemitismus ist festzustellen. Von Bedeutung ist allerdings auch der Zusammenhang antisemitischer Einstellungen mit konservativ-autoritären Interpretationen des Islam und staatlich propagiertem Antisemitismus. Der Begriff des „importierten Antisemitismus“ ist auf jeden Fall falsch.
  • Kommunisten ante portas? Die Wahlen in Niederösterreich und in Salzburg brachten interessante Ergebnisse. Nach der Wahl einer kommunistischen Bürgermeisterin in Graz konnten auch die dortigen kommunistischen Parteien sich in den Landtagen etablieren. Verena Mayer schrieb im Österreich-Newsletter der Süddeutschen Zeitung vom 28. April 2023 warum. Wir erlauben uns etwas ausführlicher als üblich zu zitieren: „Die Antwort liegt in Graz. Die Stadt hat nicht nur seit Ende 2021 eine kommunistische Bürgermeisterin. Die KPÖ ist dort auch schon seit den Nullerjahren eine feste politische Größe. Ich traf für eine Recherche damals KP-Chef Ernest Kaltenegger, der 20 Prozent der Stimmen eingefahren hatte. Als ich mit ihm durch die Stadt spazierte, die als ‚Stalingraz‘“ verspottet wurde, bekam ich schnell mit, was den Erfolg der Kommunisten ausmachte. Kaltenegger setzte sich für günstiges Wohnen ein und dafür, dass alle Gemeindewohnungen ein ordentliches Badezimmer bekamen. Er hörte sich die Mietsorgen der Leute an, griff bei Problemen auch mal selbst zum Telefon. Damals wurde klar: Mit Wohnungspolitik lassen sich Wahlen gewinnen. (…) Und so war es auch in Salzburg. Dort knüpfte Kay-Michael Dankl nahtlos an die Grazer Strategie an. Er schrieb sich das Thema Mieten auf die roten Fahnen und positionierte die KPÖ als Kümmererpartei, die einem in Bürgersprechstunden mit Rat und Tat zur Seite steht. Wohnen ist die soziale Frage unserer Zeit, und die KPÖ versprach Antworten. Dazu kommt, dass der 34-jährige Dankl, der Geschichte studiert und als Museumsguide gearbeitet hat, wenig von einem sozialistischen Apparatschik hat. Und wie schon die Grazer spenden die Salzburger Kommunisten einen Teil ihrer Politikergehälter, was im Land der Korruptionsaffären durchaus originell ist.“

In etwa vier Wochen melden wir uns wieder.

Wir grüßen Sie alle herzlich.

Ihre Beate Blatz und Ihr Norbert Reichel

(Alle Internetzugriffe erfolgten zwischen dem 6. und 13. Mai 2023.)

P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen meines Newsletters nicht interessiert sein, bitten wir um Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.