Nur die Hölle ist echt

Natan Sznaiders „Fluchtpunkte der Erinnerung“

„Fakten sind unverblümt, unharmonisch, grob. Reden gerne lautstark. Liegen da wie Felsbrocken. Ich überlasse sie lieber jenen, die sich mit wichtigen Dingen befassen. Mich interessiert auch nur, was sie untereinander tuscheln. Kaum hörbar, doch wie besessen. Ich stochere darin herum auf der Suche nach ein bisschen Wahrheit – wie man das früher nannte, heute gibt es dafür keinen Namen mehr. Einem leichten Funkeln will ich hinterhertauchen, ganz tief hinunter, bis an den Grund und falls ich es wieder nach oben schaffe, dann mit einer Handvoll Sand, der mir durch die Finger gleitet, denn um die Melodie des Sandes geht es mir. ‚Wer vom Schatten redet, spricht die Wahrheit.‘ Die Wirklichkeit redet mit den Schatten.“ (Aslı Erdoğan, Das Haus aus Stein, München, Penguin, 2019)

Als die deutsche Erstausgabe des Buches „Das Haus aus Stein“ von Aslı Erdoğan erschien, zehn Jahre nach Erscheinen der türkischen Originalausgabe, war der Prozess, den ihr die türkische Justiz machte, noch nicht abgeschlossen. Die Staatsanwaltschaft beantragte lebenslange Haft. Im Jahr 2016 wurde sie nach 136 Tagen Haft aus dem Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy entlassen, erhielt 2017 ihren Pass zurück und konnte nach Deutschland ausreisen. Im Jahr 2020 wurde sie freigesprochen, die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein. Die deutsche Ausgabe von „Das Haus aus Stein“ erhielt ein noch während des laufenden Prozesses geschriebenes eigenes Vorwort über ihre Haft, das mit der Erinnerung an einen Besuch in Buchenwald im Jahr 2008 beginnt. Beschreibungen Buchenwalds fand Aslı Erdoğan in den Büchern Jorge Semprúns, die jedoch ebenso sehr und ebenso wenig „Romane“ sind wie „Das Haus aus Stein“, dem sie im neuen Vorwort auch die bewusst an eine Formel des Nachspanns von Filmen gemahnenden Sätze voranschickt: „Die Personen in diesem Buch sind frei erfunden. Nur das Haus aus Stein ist echt. Nur die Hölle ist echt.“

Eine „deutsche“ Debatte

Es gibt so viele Bücher, Romane, Gedichte, Filme, Sachbücher, in denen der Versuch gewagt wird, dem erlittenen Terror, dem Schrecken der Shoah, der kolonialistischen Völkermorde, der Folter, der Morde der Vergangenheit und der Gegenwart gerecht zu werden. Gerechtigkeit durch Berichte, durch Erzählungen? Sprache ist so unvollkommen. Aslı Erdoğan schreibt: „Worte, die einander zum Echo werden, einander wiederholen, verleugnen.“ Findet sich vielleicht aber doch das, was Aslı Erdoğan „letzte Heimat“ nennt? Ist der erlebte Terror beschreibbar oder gar erzählbar? Welches Leben ist für die Überlebenden noch möglich? Vielleicht ist das die Hoffnung angesichts drohender Aphasie und drohenden Vergessens: „Nur das Leben selbst konnte sich noch dessen annehmen, was da geschah, und es ertragen. Und es blieb kein Wort zurück, das mir nicht wie ein vertrockneter Zweig in den Händen zerbrochen wäre, kein Wort, das nicht aus meiner Nacht heraus gesprochen und durch mein Schweigen Blut verloren hätte.“

Sicherlich wird auch mein Versuch einer Einleitung in diesen Essay zur seit einiger Zeit in Deutschland virulenten und mitunter mit einem rechthaberischen Unterton geführten Debatte über die Zukunft der Erinnerungskultur den erlittenen Leiden und Verbrechen nicht gerecht, nicht denen der Vergangenheit, nicht denen der Gegenwart. Erinnerung bleibt umstritten. Und so ist es mehr denn je unerlässlich, dass das Thema auf der Tagesordnung bleibt. Wie die Tagesordnung dann konkret ausschaut, ist jedoch eine andere Frage. Meron Mendel spricht mit Recht schon im Titel seines im März 2023 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buches von einer in der Tat sehr deutschen Debatte: „Über Israel reden – Eine deutsche Debatte“ (nur am Rande: auch in Österreich gibt es eine eigene Variante dieser Debatte, dort allerdings ohne das in Deutschland inzwischen etablierte Kolonialismusthema). Er warnt mit Chantal Mouffe „vor einer Situation, in der Politik im Register der Moral ausgetragen wird.“ Aber geschieht das nicht längst?

Vielleicht sind das soeben zitierte Buch von Meron Mendel, das ich demnächst in einen eigenen Essay vorstellen werde, und das Buch von Natan Sznaider, das ein Jahr zuvor erschien und Hauptgegenstand dieses Essays ist, die zurzeit besten Bücher, die ich in den letzten Jahren zu dieser Debatte habe lesen können. Natan Sznaiders Buch „Fluchtpunkte der Erinnerung – Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus“, erschien in München bei Hanser. So wie Meron Mendel in seinem Buch die deutsche Perspektive – man ist versucht, im Freud’schen Sinne von „Objektwahl“ zu sprechen – hervorhebt, spielt Natan Sznaider mit seinem Titel auf die vielen Versuche an, mit denen Menschen in Deutschland (und vielleicht nicht nur dort) versuchen, der Erinnerung an die Shoah zu entfliehen und damit ihre Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Onkel und Tanten von ihrer Mitwirkung an diesem Menschheitsverbrechen mehr oder weniger freizusprechen. Vielleicht kommt manchen da die Kolonialismusdebatte wie gerufen. Dies ist eines der Themen der „Fluchtpunkte der Erinnerung“.

Doppeltes Bewusstsein

Als Anlass seines Buches nennt Natan Sznaider die Debatte um Achille Mbembe, die nicht erst mit seiner Ein- beziehungsweise Ausladung von der Ruhrgebiets-Triennale im Jahr 2020 begann, sondern sich schon Jahre zuvor abzeichnete, so bei der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises im Jahr 2015. Eine zentrale Frage in dieser Debatte, diesem Streit um die Aufarbeitung von Verbrechen der Vergangenheit, um Erinnerung und Erinnerungskultur, lautet: wie universalisierbar sind Worte über die Shoah, über Kolonialverbrechen, über Regierungsterror, wie ihn Aslı Erdoğan stellvertretend für viele Menschen in den Diktaturen und Unrechtsregimen unserer Zeit erlitt und beschreibt, und was bedeutet es dann, wenn wir von der Singularität der Shoah sprechen? Weitere Fragen leiten sich aus dieser Frage ab: Wo weist Achille Mbembe – mit anderen – auf etwas hin, das wir sehen sollten, aber bisher nicht sahen? Wo überzieht er? Was lässt sich miteinander vergleichen, was nicht?

Ebenso relevant erscheint mir jedoch auch folgende Frage: was sagt diese Debatte über uns als Vergleichende oder Rezipient*innen solcher Vergleiche aus? Letztlich berührt sie die Modi, in denen diejenigen, die – wie der Autor dieses Essays – Terror nicht am eigenen Leib erlebt und nicht am Leib der Eltern und Großeltern erfahren haben, die wohl aber Nachfahren von Menschen sind, die diesen Terror, wenn sie ihn nicht selbst ausübten, zumindest nicht verhinderten oder mittelbar beteiligt waren, über die Erinnerungen, Erfahrungen, Erlebnisse all der Menschen sprechen, die aus der Haft, vor Folter und Tod bei uns in Deutschland Zuflucht suchen? Und wie vererbt sich das Trauma erlittenen Terrors über die Generationen hinweg und was bedeutet dies für die Nachfahren der Täter*innen? Was bedeutet dies für unsere gesellschaftlichen und politischen Diskurse und Debatten?

Natan Sznaider bezeichnet sein Buch als „Essay“, als „Versuch“, in Worte zu fassen, was so schwer in Worte zu fassen ist. Sein Buch besteht aus zwei großen Kapiteln mit den Überschriften „Leben in und mit der Unmöglichkeit“ und „Fluchtpunkte der Erinnerung“. Das erste Kapitel bietet Portraits, die man auch als Variationen über ein Thema bezeichnen könnte, in denen die Ansätze und Debatten von und um Karl Mannheim, Hannah Arendt, Claude Lanzmann und Frantz Fanon, Albert Memmi und Edward Saïd analysiert werden. Neben diesen in den Überschriften der Unterkapitel genannten Autor*innen werden – jeweils etwas ausführlicher – Aimè Césaire, W.E.B. Du Bois, Maxime Rodinson, Michael Rothberg, Michael Walzer und Jürgen Zimmer zitiert.

Das zweite Kapitel bietet drei auch eigenständig lesbare Essays: „Fluchtpunkt Israel kolonialistisch, antikolonialistisch und postkolonialistisch“, „Holocaust und Völkermord: der unmögliche Platz an der Sonne – Deutschlands (post)koloniales Erbe“ und „Das doppelte Bewusstsein: Rassismus und Antisemitismus“. Wer noch tiefer in die Debatten einsteigen möchte, wird von der 25seitigen Bibliographie profitieren, 21 Seiten Fußnoten und dem Personenregister.

Bedeutsam ist die Wahl des Wortes vom „doppelten Bewusstsein“. Es geht nicht um ein geteiltes Bewusstsein, denn hätte Natan Sznaider von einem geteilten Bewusstsein gesprochen, wäre gerade bei der Debatte um das Verhältnis zwischen der Erinnerung an den „Zivilisationsbruch“ der Shoah (Dan Diner) und an die Verbrechen des Kolonialismus manchem Missverständnis Tür und Tor geöffnet. Sofort hätte sich die Frage gestellt, ob „geteilt“ im Sinne von „to share“ oder „to separate“ zu verstehen wäre?

Ambivalente Narrative

Den Begriff des „doppelten Bewusstseins“ entlehnt Natan Sznaider W.E.B. Du Bois, dem es darum ging, „die Sichtbarkeit der Hautfarbe als eine Grundkategorie des schwarzen Bewusstseins (zu) beschreiben. Auch beschäftigte ihn die Frage, ob man gleichzeitig schwarz und amerikanisch sein könne.“ Es ist die Frage der Assimilation oder der Emanzipation, welchen Begriff auch immer man wählen möchte, wie sie Hannah Arendt sah: „Sie hat das Problem der schwarzen Bevölkerung in den USA wohl unter den Vorzeichen der jüdischen Frage gesehen. Und da sie strikt gegen die Assimilation der Juden in Europa war, so glaubte sie in der liberalen Integrationspolitik die Politik der Assimilation zu erkennen. Sie dachte weder liberal noch konservativ, sondern sah die Welt ständig mit jüdischen Augen.“

Natan Sznaider geht es im Sinne von Karl Mannheim „darum, die gesellschaftliche Funktion von Theorien zu verstehen“, so eben auch die Funktion der Debatte um das Verhältnis zwischen den Erinnerungen an Shoah und Kolonialismus. Eine Antwort ließe sich auch aus seiner Beobachtung erschließen, dass die Debatte vor allem in den Feuilletons stattfindet. In der Politik sind in der Regel die Kulturausschüsse der Landtage und des Bundestags Ort des Streits, über deren Debatten und Ergebnisse dann in der Regel auch wieder in den Feuilletons berichtet wird. Geschichts- und Kulturwissenschaft, Medien und Politik sind dabei keine monolithischen Blöcke, sondern in sich jeweils in diversen Fraktionen mit- und auch gegeneinander aktiv. Dies ändert nichts daran, was eigentlich Ziel einer Analyse der Debatten sein sollte: „Es geht darum, die beiden Narrative des Kolonialismus und der Judenvernichtung historisch zu unterscheiden, auch wenn man sie politisch verknüpfen will.“

Natan Sznaiders Buch beginnt mit den letzten Sätzen der Parabel „Vor dem Gesetz“ von Franz Kafka als Motto, im Folgenden werden auch andere Texte Franz Kafkas zitiert, nicht zuletzt im Lichte der Rezeption Kafkas durch Hannah Arendt. Hannah Arendts Gedanken ziehen sich wie ein roter Faden durch das Buch, auch im kritischen Kontext der Kontroversen um ihre Haltung zu Kolonialismus und Rassismus. „Arendts Blick war der einer europäischen Jüdin, ein Blick, der zunächst von der Kritik an der Emanzipation der Juden geprägt war, danach von Flucht und Vertreibung.“ Die USA sah sie als das Land, in dem „der Widerspruch zwischen ethnischer und nationaler Identität (…) aufgehoben“ sei, eine Errungenschaft, die sie allerdings in der Gewalt der Studentenbewegung gefährdet sah.

Fern jeder Polemik, fern jeden Vorwurfs analysiert Natan Sznaider nüchtern und präzise die Wege und Irrwege einer Debatte, die Deutschland erst sehr spät erreichte, und erst zu einer Zeit virulent wurde, als die eigene kolonialistische Vergangenheit nicht mehr übersehen werden konnte. Eine wichtige Rolle spielten dabei die Debatten um die Rückgabe gestohlener Kulturgüter, das Humboldt Forum, den Louvre, das British Museum. Deutschland profitiert von diesen Debatten, denn über die Entdeckung der Verbrechen der kolonialen Vergangenheit wurde es „ein ‚normales‘ europäisches Land, und wer vom Kolonialismus nicht sprechen will, soll dann auch vom Faschismus schweigen. Damit folgt Deutschland der Logik anderer postkolonialistischer Staaten.“ Auch hier lohnt sich der Rückblick auf Hannah Arendts Bemühen um die Rückgabe des von den Nazis gestohlenen jüdischen Kulturgutes den Ton: „Das liest sich wie eine Flaschenpost zu den Debatten um das Berliner Humboldt Forum mehr als fünfzig Jahre später.“

Schuldabwehr und Entlastungsdiskurse, letztlich eine neuerliche Schlussstrichforderung, Geschichtsrevisionismus? Nicht nur, aber eben auch. Es droht Beifall von der falschen Seite, gerade dann, wenn es darum geht, Israel im Kontext kolonialistischer Traditionen zu beschreiben: „Wenn der postkolonialistische Diskurs fordert, von der Holocaust-Erinnerung unbeeindruckt, die Solidarität mit dem jüdischen Staat Israel aufzukündigen, dürfte dann auch Beifall aus jenen Ecken kommen, die sonst mit Postkolonialismus wenig zu tun haben. Am Ende begegnen sich damit geschichtsrevisionistische Diskurse, die sich von verschiedenen Beschreibungen der Wirklichkeit aus aufeinander zubewegen.“

Der Elefant im Raum

Doch wo liegt das Problem in der Argumentation Achille Mbembes wirklich? Mbembe nennt sein Grundlagenwerk bewusst „Critique de la raison nègre“ und schließt damit durchaus an das von Léopold Sédar Senghor und Aimé Césaire entwickelte Konzept der „Négritude“ an. So könnte man meinen. Natan Sznaider aber schreibt, dass Mbembe die Kategorie „Neger“ (sic!) – als europäische Kategorie gelesen – „zu einer Kategorie des überflüssigen Menschen an sich“ gemacht habe. Er habe in seiner Rede zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises vom 30. November 2015 „eine Gegenrede zur Kategorie des universalisierten Juden geschaffen, wie wir sie im Denken von zum Beispiel Hannah Arendt finden können.“ Zur gleichen Zeit „verband“ sich in Europa und nicht zuletzt in Deutschland angesichts der Zuwanderung von Geflüchteten, vor allem aus Syrien, „der Diskurs des Antisemitismus mit dem neuen Diskurs des Rassismus“. „Schlüsselfragen“ wurden „Glaubensfragen“, postuliert wurden „konkurrierende Formen des Nie wieder“. In der Tat: „Welche Minderheiten nun zur universalen Kategorie werden, das ist wohl eine der großen Fragen des 21. Jahrhunderts.“ Solche Debatten jedoch sind im Sinne von Karl Mannheim „soziale Prozesse“, deren Ende nicht absehbar ist: „Wie kann man zu einem Kompromiss kommen, wenn kein Glaube an eine gemeinsame Welt mehr existiert?“ Das Eigene erscheint dann nur noch als das, was eine*n von anderen trennt.

Israel ist der „Elefant im Raum“, so Meron Mendel und Sabra-Nur Cheema in ihrem sehr lesenswerten, wenn auch kontrovers diskutierten Sammelband „Frenemies“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2022). Die aktuelle Debatte um die Erinnerung an Shoah und Kolonialismus landet irgendwie immer wieder bei Israel und dem Zionismus. Natan Sznaider ordnet den Zionismus historisch ein. Er referiert die unterschiedlichen Reaktionen von Theodor Herzl und Hannah Arendt auf den Antisemitismus in Deutschland und in Europa. Der „Zionismus“ war die von Theodor Herzl postulierte Lösung, „Diaspora-Nationalismus“ die von Hannah Arendt bevorzugte Lösung, doch die Nazis sorgten dafür, dass nur noch die erste Alternative verblieb. Deren Folgen wiederum führten zu der Frage, welche Rolle Juden im Nahen Osten, dem damaligen britischen Mandatsgebiet Palästina, später in Israel und in den umliegenden Ländern und Regionen, in Jordanien und auf dem Sinai, in den arabischen Ländern spielten und spielen sollten.

Die Frage lautete bis 1933: „Sind Juden überhaupt Europäer oder vielleicht doch Fremde in Europa (…)?“ Ab 1933 veränderte sich der Kontext: „Jüdische Einwanderer hatten keine andere Wahl als Palästina, aber sie blieben dort Fremdlinge und mussten das Land mit Gewalt erobern und verteidigen.“ In diesem Dilemma wiederum wurde Israel unter tätiger Mithilfe der Vereinten Nationen, die nach ihrem ursprünglichen Teilungsbeschluss und nicht zuletzt unter der Mitwirkung der vielen entkolonialisierten Staaten, die es 1948 noch gar nicht gab, zahlreiche Beschlüsse fassten, in die Reihe der weitgehend untergegangenen europäischen Kolonialreiche gerückt. Als dahinterstehende Macht wurde die USA benannt, die in gewisser Weise als Nachfolgemacht europäischer Kolonialstaaten verstanden und angeprangert wurde.

Solche Debatten gab und gibt es auch innerhalb Israels. „Juden können orientalistisch und orientalisierend, Minderheit und Mehrheit zugleich sein.“ Die Einwanderer und späteren Staatsgründer kamen zunächst vor allem aus Osteuropa. Arabische Juden, die etwa zeitgleich mit dem Unabhängigkeitskrieg aus den arabischen Ländern vertrieben wurden und in Israel eine neue Heimat fanden, spielten in der israelischen Politik lange Zeit keine Rolle. „Die kolonialistische Beschreibung verkennt die jüdische Geschichte, universalisiert sie, indem sie Juden und Nichtjuden als weiße Europäer deklariert (…).“ Während die einen den Zionismus als „nationale Befreiungsbewegung“ verstehen, „wird das in neueren Studien zum israelischen Kolonialismus ausgeklammert. Sie arbeiten mit dem Begriff Siedlerkolonialismus“.

Der Kampf um Sichtbarkeit

Weitgehend durchgesetzt haben sich in Diskursen um die Erinnerung an die Kolonialismusgeschichte die Thesen von Edward Saïd oder auch von Aimé Césaire, sodass nicht verwundert, dass Achille Mbembe die israelische Politik mit der südafrikanischen Apartheid identifiziert. Allerdings muss man – so Natan Sznaider – auch konstatieren, dass für diese Bewertungen zunächst Südafrika und eben noch nicht der europäische Kolonialismus als Referenz für die Bewertung Israels herangezogen werden: „‚Nègre‘ ist eine Substitution für Juden geworden.“ Hier werden im Grunde anti-kolonialistische und anti-rassistische, auch antisemitische Traditionen miteinander verwoben, was jedoch nicht bedeutet, dass es da keine Verbindungen gäbe. Ähnliche Vergleiche gibt es immer wieder, beispielsweise wenn in politischen, vorwiegend linken Diskursen die Diskriminierung von Muslim*innen oder von Türk*innen mit der Diskriminierung von Jüdinnen und Juden in der NS-Zeit gleichgesetzt wird. Die Kolonialismus-Debatte liefert in der von Achille Mbembe geprägten Form solchen Vergleichen sozusagen ihren scheinbar welthistorischen und damit politisch universalisierbaren Kontext. Natan Sznaider sieht darin eine „kolonialistische Wende in den Holocaust-Studien“. Wissenschaft wird überpolitisiert: „Bei Saïd wird der Kampf gegen die israelische Besatzungspolitik gemeinsam mit der Diskursanalyse gedacht, die die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Politik weiter aufhebt.“

Natan Sznaiders Kapitel über Claude Lanzmann und Frantz Fanon belegt, wie eine gemeinsame Position aussehen könnte. Natan Sznaider bezieht sich auf die gemeinsame Unterschrift der beiden Intellektuellen unter das Manifest der 121 vom September 1960 zur Solidarität mit den aufständischen Menschen in Algerien. Ein zentrales Buch Fanons sei „Peau noire, masques blancs“: „Für Fanon besteht der maßgebliche Unterschied zwischen Schwarzen und Juden darin, dass er als Schwarzer – im Gegensatz zu Juden – durch die Hautfarbe überbestimmt ist. Aber gleichzeitig erkennt er auch eine Schicksalsgemeinschaft und zitiert seinen Philosophielehrer, der ihn mahnte, dass einer der Juden beleidigt, auch ihn beleidige.“

Natan Sznaider vermutet, dass die Gleichzeitigkeit der Entstehung des Zionismus und des Pan-Afrikanischen Kongresses, den mit anderen W.E.B. Du Bois gründete, kein Zufall gewesen sei, wie nicht zuletzt die Bezeichnung des Ziels als „Black Zionism“ belege. W.E.B. Du Bois wandte sich jedoch 1956 unter dem Eindruck des Suez-Krieges von Israel ab. Dieser Positionswechsel wäre somit ein Beleg für den Beginn der „kolonialistischen Wende“, noch nicht der Holocaust-Forschung, wohl aber der Debatte um Israel. Mit dem Sechs-Tage-Krieg im Jahr 1967 gab es einen neuerlichen Schub. Israel wurde – wie bereits gesagt – der „Elefant im Raum“.

Es geht letztlich um Sichtbarkeit, um Sichtbarwerden, Sichtbarmachen. Claude Lanzmann lässt in seinem Dokumentarfilm „Shoah“ Überlebende ihre Geschichte(n) erzählen. Aslı Erdoğan, mit der ich diesen Essay einleitete, schreibt über die Aphasie der Erinnerung, die Unbenennbarkeit. Achille Mbembe, W.E.B. Du Bois, Edward Saïd stehen für die Sichtbarkeit der Leidensgeschichte Schwarzer Menschen und all der People of Color ein, die unter den europäischen Kolonialregimen litten. Oft vergessen wird dabei die Frage der Sichtbarkeit Schwarzer Frauen, viel zu oft werden zum Thema Kolonialismus nur männliche Autoren zitiert. Wir erleben zurzeit einen berechtigten Kampf vieler Menschen und Gruppen um Sichtbarkeit, aber auch eine Instrumentalisierung dieses Kampfes von manchen Kräften, die nicht mehr oder nur noch am Rande über die Shoah sprechen wollen. So entstehen zwei divergierende Konzepte, von denen in der politischen Debatte und im wissenschaftlichen Diskurs immer wieder vorgetragen wird, dass sie sich gegenseitig ausschlössen. Nichts falscher als das. Wird das eine sichtbarer, bedeutet das nicht, dass etwas anderes weniger sichtbar werden müsse.

Die Singularität der Shoah

So bleibt es unabdingbar und unverzichtbar, mit Claude Lanzmann die „Unvergleichbarkeit“ der Shoah zu betonen. Es geht bei dieser Formulierung nicht um die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Vergleichen, die ohnehin zum methodischen Handwerkszeug aller Wissenschaftler*innen gehören, sondern um die Benennung einer aus Vergleichen gewonnenen Prämisse, die aber gleichwohl einer ständigen Begründung bedarf, um nicht zum Dogma zu verkommen. Geschähe dies, behielte Anthony Dirk Moses mit seiner These vom „Katechismus der Deutschen“ recht.

Claude Lanzmann – so Natan Sznaider – „weigert sich, den Holocaust über die Vorstellung eines universalen Bösen oder andere vergleichende Kriterien verstehen zu wollen.“ Natan Sznaider zitiert ihn mit den Worten: „Es handelt sich hier im ureigenen Sinn um ein Verbrechen gegen die menschliche Natur; die Ermordung jedes einzelnen Juden war ein gegen das Sein des Menschen gerichtetes metaphysisches Verbrechen.“ Hannah Arendt hätte dazu vielleicht gesagt, dass es zum „Sein des Menschen“ gehöre, „Rechte zu haben“. Das „Böse“ ist real, es ist keine universale Kategorie, universalisierbar ist jedoch das Sprechen über das „Böse“. Eben dies dürfte mit der Formel „metaphysisches Verbrechen“ gemeint sein, nichts transzendent, in überhöhten religiösen Sphären zu Verortendes, das wie eine unbesiegbare höhere Macht erscheint. Die Singularität der Shoah ist krudes Fakt, weil sie die Gültigkeit der Menschenrechte für Jüdinnen*Juden grundsätzlich in Frage stellt, Jüdinnen*Juden grundsätzlich ihre Menschlichkeit abspricht und so begründet dass alle Jüdinnen*Juden vernichtet werden müssten. Meron Mendel zitiert in „Über Israel reden“ Saul Friedländer, der die Singularität der Shoah weniger philosophisch, nüchterner formuliert: „Der Nazi-Antisemitismus zielte nicht nur darauf, sich der Juden als Individuen zu entledigen, sondern auch darauf, jede Spur ‚des Juden auszuradieren.“

Eine meines Erachtens umfassende aus historischen Vergleichen in mehreren Bereichen des menschlichen Miteinanders gewonnene Begründung für die Singularität der Shoah bietet Steffen Klävers in Hagalil: „Niemals zuvor wurde in der bisherigen Geschichte eine Gruppe für alles Leid der Welt verantwortlich gemacht, wurde eine Gruppe sowohl für eine Übermacht als auch für unsichtbare ‚Parasiten‘ gehalten. Viele Genozide der Geschichte ereigneten sich in konkreten Konflikten, in denen es zuvor schon konkrete Auseinandersetzungen (bspw. um Territorien und Ressourcen) gegeben hatte. Doch es gab keinen konkreten Konflikt mit dem Judentum, es ging auch keine reale Gefahr von ihm aus. Jüdische Menschen sollten auch nicht aus ökonomischen Gründen ermordet und auch nicht ausschließlich als Arbeitskräfte ausgebeutet werden. Der Vernichtungsantisemitismus der Nazis war auch keine übertriebene oder paranoide Einschätzung eines realen Konfliktes – er war reine Paranoia, reine Projektion. Dass eine Menschengruppe ausschließlich aufgrund eines solchen paranoiden Verschwörungsglaubens vollständig aus der Welt ausgelöscht werden sollte, hatte es in der Geschichte noch nicht gegeben. Dieses Element findet sich auch nicht im (kolonialen) Rassismus.“

Natan Sznaiders Fazit bringt die gesamte Debatte auf den Punkt: „Der Holocaust kann durchaus aus kolonialistischen Strukturen verstanden werden, aber gleichzeitig auch singulär sein. Das ist kein Widerspruch, sondern ein Versuch, sich aus der Binarität des Denkens zu befreien.“ Die Osteuropahistorikerin Katja Makhotina plädiert für eine „Archäologie der Empathie“ und kritisiert die „inflationäre Nutzung der Begriffe, die Verwischung der Gewissheiten über die Singularität, die Rhetorik von ‚memory wars‘, Erinnerungskriegen, ‚erinnerungskulturellem Schlachtfeld‘“ , denn das ist die andere Seite des Streits um Einzigartigkeit und Sichtbarkeit. Vergleichen ist ein wissenschaftliches Verfahren, keine moralische Vorgabe.

Aslı Erdoğans Satz gilt immer: „Nur die Hölle ist echt.“ Wir müssen sie nur sehen wollen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2023, Internetzugriffe zuletzt am 11. März 2023, Titelbild: Hans Peter Schaefer.)