Religionspolitische Visionen und Diskurse
Ein Gespräch mit dem Erziehungswissenschaftler Harry Harun Behr
„So wichtig eine sachlich gut informierte Politik auch ist, aus Fakten erwachsen nicht unmittelbar politische Entscheidungen; diese müssen in der Abwägung oft entgegengesetzter Interessen getroffen werden. Politiker bringen Fakten aber regelmäßig ins Spiel, um derartige Abwägungen zu verschleiern und die Möglichkeit von Interpretation zu bestreiten – die Fakten, so hört man dann, würden bestimmte Maßnahmen notwendig machen.“ (Jonas Grethlein, Für Interpretation, in: Merkur Oktober 2022)
Der Titel des Essays des Heidelberger Gräzisten Jonas Grethlein suggeriert eine Auseinandersetzung mit dem berühmten Essay von Susan Sontag „Against Interpretation“, ist jedoch vor allem eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Thesen des Münsteraner Islamwissenschaftlers Thomas Bauer zur Ambiguitätstoleranz und wider die „Vereindeutigung der Welt“. Jonas Grethlein plädiert dafür, die verschiedenen Interpretationen und ihre Spielräume, die vor allem Populisten einzuengen versuchen, offenzulegen. Es wäre sicherlich spannend, die beiden über dieses Thema debattieren zu hören.
Eben diese Debatte sollte letztlich zu einer Entwirrung von Diskursen führen. Vielleicht ließe sich dann auch diskutieren, welche Rolle und welche Bedeutung Religion (und Religionsunterricht) dabei spielen könnte und sollte. Die diskursive Verfasstheit von Religion(en) war auch Thema meiner beiden Gespräche mit dem Frankfurter Erziehungswissenschaftler Harry Harun Behr, die im Demokratischen Salon unter den Titeln „Dynamische Religiosität“ und „Von Religionen und Fußballvereinen“ dokumentiert wurden. In beiden Gesprächen haben wir über gesellschaftliche Diskurse gesprochen, wie sie sich in Schulen, in Hochschulen, auch außerhalb der Institutionen der formalen Bildung, beispielhaft spiegeln. In „Dynamische Religiosität“ spricht Harry Harun Behr darüber hinaus über den indonesischen Islam und seine Kontakte mit Indonesien, dem Land, das er als Austauschschüler kennenlernte und in dem er zum Islam konvertierte. Mit dem Titel „Von Religionen und Fußballvereinen“ karikieren wir ein wenig den fundamentalen Anspruch von Diskursen (in und über Religionen), der den von Jonas Grethlein geforderten „Raum für verschiedene Deutungen“ einzuengen droht. Dann gleicht die eigene Haltung zur Religion durchaus dem Verhalten von Fußballfans, die nur ihre eigene Mannschaft gelten lassen.
Der 7. Oktober 2023 hat die islamischen Communities – man muss dies im Plural formulieren, weil man sonst der Vielfalt der Diskurse um und im Islam nicht gerecht wird – herausgefordert. Sichtbar werden in den Medien und in den Äußerungen vieler Politiker:innen oft jedoch nur diejenigen, die sich antisemitisch und islamistisch äußern. Die Art und Weise, wie wir über Religion sprechen, zeigt jedoch, wie wir es mit einer differenzierungsfähigen Diskursfähigkeit halten, die unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft auszeichnen sollte. Harry Harun Behr ist auch Co-Autor einer Erklärung mehrerer muslimischer Theolog:innen nach dem 7. Oktober 2023, die Anlass dieses Gesprächs war. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat er am 30. Oktober 2023 in einem Gespräch mit Sascha Zoske seine Sicht der Dinge konkretisiert, auch in einer Veranstaltung des Fachbereichs Erziehungswissenschaften vom 14. Oktober 2023.
Universitäres Unbehagen
Norbert Reichel: Muslimische Eltern sind in Sorge, ihre Kinder könnten in falsche Gesellschaft geraten. Sie haben Angst, dass sich ihre Kinder radikalisieren, mitunter erleben sie bereits, dass die Radikalisierung so weit fortgeschritten zu sein scheint, dass es kaum noch einen Ausweg gibt. Frank Bachner berichtete am 5. November 2023 im Tagesspiegel, dass sich der Zahl entsprechender Nachfragen besorgter Eltern beim Violence Prevention Network (VPN) verdreifacht habe. Der Geschäftsführer Thomas Mücke nennt für Berlin eine Zahl im oberen zweistelligen Bereich. Die Angebote dieses Netzwerks gibt es in fünf weiteren Bundesländern. Andere Netzwerke haben eine ähnliche Aufgabe, so das nordrhein-westfälische Programm „Wegweiser“, das sich ausdrücklich um Jugendliche kümmert, die in eine islamistische Richtung abzudriften drohen. Ich habe im Düsseldorfer Innenministerium nachgefragt, jedoch leider keine Antwort erhalten. Aufsehen erregte eine islamistische Demonstration in Essen, in der Männer und Frauen getrennt gegen Israel demonstrierten und in der gefordert wurde, in Deutschland ein Kalifat einzurichten. Hasnain Kazim berichtete am 6. November 2023 in der Süddeutschen Zeitung. Gibt es im Rhein-Main-Gebiet vergleichbare Entwicklungen?
Harry Harun Behr: Die muslimische Community ist in der Mehrzahl hier im Rhein-Main-Gebiet sehr unterschiedlich. Dass Eltern sich beunruhigt an Beratungsstellen wenden, habe ich hier noch nicht gehört, aber das ist vielleicht auch noch zu frisch. Das gibt es natürlich immer, dass Eltern bei Hotlines Rat suchen. Die eine Seite ist der Verdacht der Radikalisierung der Tochter, des Sohnes, die nicht mehr mit ihren Eltern sprechen. Das andere ist eher eine gewisse Handlungsverlegenheit in der häuslichen Erziehung, wenn die Kinder ein bestimmtes Alter erreicht haben. Es gibt leider wenige Beratungsangebote, bei denen muslimische Eltern den Eindruck haben, sie seien auch an sie adressiert. Der Gang zur AWO, zum Jugendamt, Äußerungen gegenüber Ärzt:innen – das wäre die Schritte, die sie offenbar nicht tun, aber dazu habe ich keine Daten.
Unter den Studierenden sehe ich keine Solidarisierungswellen mit der Hamas. Heute stehen die Studierenden wegen des Lehrkräftemangels bereits mit beiden Beinen in der Schulpraxis. Sie berichten aber auch aus den Schulen nichts in dieser Richtung. Auf dem Campus gibt es andere Phänomene, die wir zurzeit beobachten. Wissenschaftliche Mitarbeiter:innen, Lehrbeauftragte, aber auch Professor:innen empfinden ein Unbehagen im Seminarraum, wenn über Gaza und den Nahostkonflikt gesprochen wird, aber auch, wenn nicht darüber gesprochen wird, sozusagen eine Spannung in der Luft liegt. Sie beschreiben ihr Unbehagen dahingehend, dass sie keine richtige analytische und fachdidaktisch-methodische Anleitung hätten, wie sie in die Situation hineinsprechen könnten. Es fehlt ein Leitfaden.
Norbert Reichel: Es bleibt dann sozusagen bei Alltagswissen?
Harry Harun Behr: Auch Medienwissen, eine mediale Überfütterung. Das hat schon Bulimiestatus. Ich habe ein einfaches Konzept entwickelt und wurde von der Uni-Leitung gebeten, eine Art Teach-In, eine Inhouseschulung vorzubereiten. Diese findet demnächst statt. Ich habe vorgeschlagen, dass ich die im Tandem mit Sabena Donath von der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland mache.
Die Universitäten sind seltsam schweigsam, eine Art vornehme Zurückhaltung. Sucht man im Internet, was die Universität Frankfurt zur aktuellen Situation zu sagen hat, landet man bei einem Kooperationsprojekt mit der Hebrew University. Das gab es schon immer. Es gibt keine aktuelle Stellungnahme der Universität. Ich weiß, dass im Präsidium darum gerungen wurde, aber es kam nichts zustande. Es würde mich schon sehr interessieren, was dort besprochen wurde. Separate Äußerungen einzelner Fachbereiche werden von der Pressestelle nicht proliferiert. Sie sagen, das machten sie aus Prinzip nicht. Das stimmt so nicht. Jetzt machen sie es aus Prinzip nicht. Das andere sind Studierende, die sich zu der einen oder andere sogenannten Mahnwache versammeln, vorausgesetzt es regnet nicht, oder die sich in öffentlichen Chatgruppen anti-israelisch oder auch antisemitisch anmutend äußern, sodass einige im Dekanat schon darauf hingewiesen haben, was da Bedenkliches geschähe, das läse sich wie eine Stellungnahme pro Hamas oder da oder dort wäre eine Palästinafahne zu sehen, und dass man da doch etwas machen müsse. Es gibt Reaktionen zwischen Besorgnis und Denunziantentum. Ich will das weder in die eine noch in die andere Richtung auf- oder abwerten. Es hat von beidem etwas.
Norbert Reichel: Aber es gibt keine Vorfälle wie in Harvard und an anderen US-amerikanischen Hochschulen, wo sich jüdische Studierende verbarrikadieren mussten, weil sie von pro-palästinensischen beziehungsweise pro-Hamas-orientierten Kommiliton:innen körperlich bedrängt wurden?
Harry Harun Behr: So etwas gibt es hier nicht. Es geht eher um Chats und vereinzelt Zusammenkünfte auf dem Campus. Es stellt sich jedoch auch heraus, dass das oft nicht nur Studierende sind, sondern Menschen aus der Stadtgesellschaft, die den Campus als Versammlungsort nutzten. Auch in Chat-Gruppen und öffentlichen Netzwerken ist es schwer, eine Grenze zwischen Studierenden und Externen zu ziehen.
Norbert Reichel: Der Campus ist ein öffentlicher Raum, wo jeder hinkann?
Harry Harun Behr: Jein. Manche Dinge unterliegen einer Genehmigungspflicht. Eine Mahnwache, die aussieht wie eine Demo, muss als solche angemeldet werden. Ich selbst habe so etwas nicht gesehen, aber wir haben auch mehrere Campi. Flyer oder Plakate in den Fluren finden sich derzeit nicht – anders als vor einigen Jahren, als die „Atomwaffen Division“ (eine rechtsterroristische Gruppe) in der Bibliothek und der Mensa zur Tötung von Muslimen aufrief.
Es gibt auch keine erhitzten Debatten in den Seminaren. Die Studierenden, die in den Schulen sind, berichten schon, dass die Schüler:innen, wenn sie eine Lehrkraft vor sich sehen, die gesprächsfähig zu sein scheint, einen großen Bedarf formulieren. Der Bedarf ist offenbar so groß, dass das hessische Kultusministerium bereits einen therapeutischen Ratgeber an die Schulleitungen geschickt hat, in dem steht, dass die Überfütterung mit Gewaltdarstellungen bei den Schüler:innen traumaähnliche Auswirkungen haben kann, die das Lernen stören und die seelische Gesundheit gefährden. Es gibt den Appell an die Schulen, Diskurse auch streitbar zu führen, mit der eindeutigen Ansage, dass zwischen Deutschland und Israel keine Briefmarke passt. Es geht um Antisemitismus, Israelfeindlichkeit, Judenfeindlichkeit, rassistische Hetze. Da wird die muslimische Perspektive weder angesprochen noch erwähnt.
Wir haben es natürlich mit beiden Polen zu tun. Wir haben unabhängig von dem aktuellen Hamasüberfall vom 7. Oktober und den verschiedenen Ansagen, wie sich Israel die weitere Entwicklung von Gaza und Westjordanland vorstellen könnte, den Eindruck, dass sich da eine neue Welle aufbaut. Wir stehen am Anfang eines komplexen Diskurses.
Eine irre Gemengelage
Norbert Reichel: Belastbares über die Zukunft der Region gibt es ja eigentlich nicht, alles nur einzelne Äußerungen, die dann in der Regel auch sofort von jemand anderem dementiert werden. Mein Eindruck: in den Schulen haben die Lehrkräfte wenig belastbares Wissen, allenfalls Alltagswissen und sind eher hilflos. Aus Berlin weiß ich, dass man eine 40seitige Liste mit Fortbildungsangeboten und Materialhinweisen an die Schulen geschickt hat, die natürlich auch zu Kritik führte, weil der, die oder das ein oder andere darin fehle, aber wie auch immer. Mir erscheint das alles mit heißer Nadel gestrickt, obwohl es doch auch im Vorfeld schon eine Menge gutes Material gibt, das nur den Nachteil hat, dass es nur wenige Menschen kennen. Ich denke beispielsweise an die guten Materialien deiner Kollegin Julia Bernstein. Darauf ließe sich aufbauen.
Harry Harun Behr: Das ist ja oft so. Wenn irgendetwas geschieht, gibt es eine Explosion von Reaktionen und Ideen. Das ist natürlich auch gut so, weil die Lehrkräfte dann kritisch wählen können, was sie machen. Ich sehe aber auch das Problem, dass hier unterschiedliche Konfliktlinien stark miteinander verknüpft werden, auf der einen Seite israelisch versus palästinensisch, dann den arabischen Grundkonflikt. Kaum eine der Lehrkräfte ist sich darüber im Klaren, dass etwa 20 Prozent der israelischen Staatsbürger:innen Araber:innen sind, viele davon Muslim:innen, manche Christ:innen. Dann die Situation im Westjordanland mit der permanenten Siedlungsaggression, die einem rechtszionistischen Expansionsdrang geschuldet ist und die immer wieder zu Gewalt zwischen Siedlern und Palästinensern beziehungsweise bestimmten palästinensischen Gruppierungen führt.
Abbas hat als Chef der palästinensischen Autonomiebehörde wenig dazu beigetragen, Lösungen im Westjordanland zu schaffen. Ich bin da sehr skeptisch, ob und wie er irgendetwas in Gaza bewirken soll, zumal Autonomiebehörde und Hamas miteinander verfeindet sind. Was passiert? Die israelische Armee hat die jungen Siedler eingezogen, ihnen Armeeuniformen angezogen und sie wieder ins Westjordanland geschickt, um dort für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Gewalt heißt hier: Eindringen in die Häuser, Nachstellen bei bestimmten Personen, Anzünden von Autos, öffentliches Schlagen, Demütigungen, Töten von Tieren, Abfackeln von Bäumen – all das ist kein Straßenkampf im Sinne eines öffentlichen Gefechts. Bisher hat die Polizei da immer interveniert und die Siedler zurückgerufen. Jetzt steht die Polizei dort und sagt, sie könne nichts machen, weil das jetzt Angelegenheit des Militärs wäre.
Norbert Reichel: Ich muss immer wieder sagen, dass ich einen Eindruck habe, dass es sich so oder so verhalte, weil wir einfach nicht genug wissen und die Dinge sich auch stündlich verändern können. Aber ich habe eben den Eindruck, dass es in Israel zurzeit zwei Armeen gibt, die IDF unter dem Befehl von Joav Gallant und dem Kriegskabinett, die in Gaza handelt, und daneben einen anderen Teil der IDF im Westjordanland, darin die von dir beschriebenen jungen Siedler in Armeeuniformen, die von Itamar Ben Gvir und Belazel Smotrich angeleitet werden. Ben Gvir hat ja auch schon einfach und wohl völlig unabgestimmt Gewehre an Zivilisten verteilt.
Harry Harun Behr: Genau. Das ist ja das Gegenteil einer vertrauenserweckenden Maßnahme. „Krieg“ muss man in Gänsefüßchen schreiben, denn wir haben zwar eine Kriegserklärung Israels, aber es ist nicht so ganz klar, gegen wen, zumal die Hamas keine Armee ist und auch keinen Staat repräsentiert. Gaza ist im Grunde so etwas wie ein halbstaatliches Gebilde im Schwebezustand.
Norbert Reichel: Einer der Hamas-Führer hat auch sehr deutlich gesagt, dass es der Hamas nicht um die Bevölkerung gehe, dafür wäre die UNO zuständig.
Harry Harun Behr: Wir haben hier die Perpetuierung eines Urkonfliktes von der Balfour-Erklärung über die 1930er-Jahre bis zum April und dann zum Mai 1948 und der ungelösten Frage, wie man mit dem Staatlichkeitsanspruch der sogenannten „Palästinenser:innen“ whoever they are umgeht. Das ist auch mit Blick auf andere Volksgruppen eine strittige Frage. Nehmen wir einfach einmal die Kurd:innen. Daher bräuchte es eigentlich in den Debatten vier Pole. Das hilft auch meinen Kolleg:innen. Das ist diese irre Gemengelage, israelisch-arabisch, jüdisch-muslimisch, wenn man in die linken und postkolonialen Diskurse schaut, scheint ja die Grenze zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden irgendwie zwischen Gaza und Aschkalon zu verlaufen. Dann haben wir diese Links-Rechts-Verwerfungen, die völlig gaga sind, wenn wir mal in andere Länder schauen, die eine starke Linke haben wie beispielsweise Indien, wo jetzt dieser Konflikt mit Blick auf die Muslimischkeit im eigenen Land interpretiert wird. Das verunsichert. Personen in unserem Alter denken oft noch im alten Rechts-Links-Schema oder im Schema zwischen globalem Norden und globalen Süden. Wenn ich das in Gremien höre, denke ich, die sind auch Ende der 1980er-Jahre steckengeblieben. Wir wissen doch spätestens seit der letzten Documenta, dass das Ding mit globalem Norden und globalem Süden nicht mehr zieht.
Wir müssen die Diskurse entzerren, vor allem wenn sie mit Verabsolutierungen verbunden sind, Juden sind…, Muslime sind…., Migranten sind…. und so weiter. Und bei uns zappen ja jetzt Leute auf den Diskurs auf, die schon immer gegen Muslime ihre Vorbehalte hatten.
Norbert Reichel: Wir haben hier eine Migrantisierung und eine Muslimisierung der Debatte. Ich habe den Eindruck – da ist das Wort wieder – dass es vielen, die sich zurzeit äußern, gar nicht um das geht, was in Israel, in Gaza, im Westjordanland, jenseits der Grenzen Israels im Libanon etc. geschieht, sondern ausschließlich um das, was mit Migrant:innen hier in Deutschland geschehen soll. Migrant:innen werden als muslimisch gelesen, wenn sie – wie das in Polizeistatistiken so gerne geschrieben wird – ein „südländisches Aussehen“ haben. Sie werden muslimisiert. Der Islam gehört zu Deutschland? Davon will kaum noch jemand etwas hören.
Harry Harun Behr: Da kochen manche jetzt ihr Süppchen auf dem heißen Feuer des Orients bis hin zu ihren Träumen von autoritären und illiberalen Demokratien.
Versuch einer Dekonstruktion der Narrative
Norbert Reichel: Das ließe sich vielleicht noch herausarbeiten. Aber wie auch immer scheint mir all das, was geschieht und gesprochen, mehr oder weniger offiziell oder offiziös verkündet wird, dazu zu führen, dass unsere Lehrenden, in Schule und in Hochschule, extrem verunsichert werden. Lässt sich da überhaupt eine Linie finden?
Harry Harun Behr: Ich sehe hier vier Bezugspunkte, die man in der Debatte auseinanderhalten sollte, wenn man sich im Klassenzimmer oder im Seminarraum unterhält.
Einmal die Territorialität: das Konfliktszenario bezieht sich auf bestimmte Regionen, seit den Zeiten der Thora und des Tanach beziehungsweise des Alten Testaments. Beispielsweise der Prophet Amos. Er beschwört die Vernichtung Gazas, aber auch die Vernichtung Israels. Er wird am Ende selbst hingerichtet, weil ihn niemand leiden kann. Er will eigentlich, dass alle Völker vernichtet werden, weil sie alle so schrecklich und böse sind. Zum Territorium gehört auch das Thema der Zugehörigkeit, das, was Schiller als „Zustand der Person“ beschreiben würde. Das dritte ist die dazugehörige Ideologie, die möglicherweise damit zu tun hat, religiöser, politischer oder völkischer Art. Das vierte ist die Identität, im Hinblick auf die persönliche Verortung, vom Gewissen her, und wiederum ideologisch. Wenn diese vier Pole miteinander interagieren, ist es höchste Zeit, dies auseinanderzunehmen, damit man nicht aus allen Juden macht, aus allen Israelis, Muslime, Migranten, sondern differenziert auf die Situation schaut.
Alle vier Punkte haben auch eine historische Dimension, eine biografische Historie, eine sich wandelnde Historie, weil sich die Bezüge auch immer verändern, Konversionen, auch religiöse Konversionen, die sich nicht auf Ideologie, sondern auf die Definition von Zugehörigkeit beziehen. So ist das mit allen geisteswissenschaftlichen Konglomeraten.
Wir müssen auch die Perspektive mitdenken. Wo wollen wir in zehn Jahren stehen? Gibt es eine Idee, wohin das führen könnte? Nicht nur im Hinblick auf diejenigen, die das vom Sofa oder aus dem Seminarraum betrachten, sondern auch im Hinblick auf die Betroffenen. Also gibt es da, wo jetzt alles brennt, Menschen sterben, gibt es dort Menschen, die über die Frage nachdenken, wo wollen wir mit dem Konflikt hin? Ich habe die Sorge, dass das unter die Räder gerät, erst einmal plattmachen und dann schauen wir weiter.
Hamas ist in diesem Kontext ja überhaupt nicht diskursfähig. Das ist gruselig. Beispielsweise zur Frage, ob das am 7. Oktober jetzt ein Militärakt war oder ein terroristischer Akt. Da tritt dann jemand von der Hamas auf, der übliche Typ, dicker Mann mit Bart, erhobenem Zeigefinger und strengem Blick, ein Mensch, dem du nirgendwo begegnen möchtest, und der sagt dann, das sei eine militärische Aktion gewesen. Auf die einfache Rückfrage, warum sie dann Zivilist:innen getötet und Geiseln genommen hätten, mit dem Hinweis, dass das gegen jedes militärische Pflichtenheft verstößt, gegen die Genfer Konvention etc., bricht er das Interview ab, weil er nicht sprechfähig war. Ich hätte gedacht, er hätte die Gelegenheit nutzen können, etwas dazu zu sagen, was da läuft. Am Ende hatte sich herausgestellt, er ist, wie der Koran in Sure 2, Vers 171 sagt, „taub, stumm und blind wie das Vieh“, Wir kennen solche Leute von den Taliban. Mit denen kannst du nicht reden. Die sind nicht diskursfähig, sie sind in keiner Weise empathiefähig.
Wir brauchen natürlich eine klare Haltung: die Verurteilung des Terrorismus, der Angriffe, die Verurteilung einer Organisation, die dafür verantwortlich ist, die Verurteilung von Antisemitismus. Antisemitismus ist natürlich schwierig zu fassen. Die wissenschaftlichen Definitionen sind konträr, auch die innerjüdischen Definitionen widersprechen einander. Wie ordne ich zum Beispiel jüdische Israelkritik ein, die sich in nichts davon unterschiedet, was BDS macht. Darf der das, weil er Jude ist? Da gibt es eine große Verunsicherung bei den Lehrenden. Sie haben auf der einen Seite Angst, sich irgendeinen Lapsus zu leisten, irgendeine Unbedachtheit in der Sprache, und dann als antisemitisch, rassistisch oder muslimfeindlich markiert zu werden. Auf allen Seiten gibt es leider immer wieder die Neigung zu einer Sprache, die das Gegenüber entmenschlicht. Sei es als Israelis, sei es als Juden, als Muslime, als Araber. Ich drücke es mal sehr behutsam aus: Das ist wenig zielführend, das enthält keinerlei Potenzial irgendeiner Perspektive, so wie sie etwa Dan Bar-On sel.A. und Sami Adwan in ihrer konkreten Arbeit mit israelischen und palästinensischen Lehrkräften entwickelt haben.
Norbert Reichel: Ich würde einen Unterschied machen. In meinen Gesprächen mit Jüdinnen:Juden in Deutschland mache ich andere Erfahrungen. Da gibt es bei aller berechtigten Sorge um Gegenwart und Zukunft des Jüdischseins in Deutschland sehr differenzierte Positionen zum Vorgehen der israelischen Regierung. Ich teile inzwischen auch die These, dass nach diesem Krieg Netanjahu nicht mehr Premierminister sein wird und dass die rechtsextremen Gruppierungen der Regierung deutlich zurechtgestutzt werden. Bei Wahlumfragen hat Netanjahu mit seinen Koalitionspartnern keine Mehrheit mehr, und das ist deutlich.
Harry Harun Behr: Das Lieblingsthema von Haaretz.
Verschachtelungen in den muslimischen Communites
Norbert Reichel: Ich sehe auch die Demonstrationen der Initiativen für die Rückkehr der Geiseln, „Bring Them Home Now“. Bei meinen Gesprächspartner:innen erlebe ich auch viel Mitgefühl mit den leidenden Menschen in Gaza, den Kindern, den Kranken, den Zivilist:innen. Sie trennen deutlich die Zivilbevölkerung und die Hamas voneinander. Die Hamas hätte 18 Jahre Zeit gehabt, aus Gaza eine Art Singapur zu machen, hatte aber nur das Interesse, Israel zu vernichten. Auf der arabischen und türkischen Seite habe ich weniger Kontakte, aber auch da lese ich in der Presse einige Leute, die sehr deutlich sind, nicht nur Ahmed Mansour, auch beispielsweise den Vorsitzenden der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus Dervis Hisarci, die Kurdische Gemeinde, Gökay Sufuoǧlu, den Vorsitzenden der Türkischen Gemeinde und andere mehr. Bei DİTİB höre ich Unterschiedliches, einige, die in Ruhe ihre Gemeinde betreuen möchten, andere, die sich Erdoǧan anschließen, es soll ja auch Moscheen gegeben haben, die sich weigerten, eine aus Ankara vorgegebene Freitagspredigt zu verlesen. Kann man in der muslimischen Community von einer Spaltung sprechen?
Harry Harun Behr: Das ist eine Verschachtelung, weil es keine eindeutigen Pole gibt. Ich kann dir sagen, wie die DİTİB auf mein FAZ-Gespräch reagiert hat. In dem Gespräch habe ich gesagt: „Der türkische Präsident Erdoǧan behauptet, die Hamas führe einen Befreiungskampf. Die DİTİB ist von der türkischen Religionsbehörde Diyanet abhängig, und diese ist direkt dem Präsidialamt unterstellt. Deshalb muss man jene, die in Deutschland für DİTİB tätig sind, noch einmal streng in die Verantwortung nehmen: Ihr müsst jetzt eine klare Haltung zeigen. (…) Der DİTİB und anderen Religionsverbänden muss gesagt werden, dass das Existenzrecht Israels anzuerkennen ist und dass aus der Erklärung des Konflikts keine Rechtfertigung des Konflikts werden darf. Theologisch darf sich die DİTİB nicht darauf beschränken, Andersgläubige halbherzig anzuerkennen. Es geht um das volle Recht des anderen, so zu sein, wie er möchte, und sich trotzdem geschützt und aufgehoben zu fühlen. Das geht nur, wenn die DİTİB sich ihres nationalistischen Islamverständnisses entledigt. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg.“
Das hat die DİTİB in Hessen schon sehr erschüttert. Sie waren der Meinung, der Bruder Harun ist doch immer auf unserer Seite. Der Vorsitzende der DİTİB Hessen ist ein ehemaliger Student von mir. Er sprach in seiner Mail von „erheblichen Irritationen aufgrund meiner Äußerungen“. Er habe dann in irgendeinem Gespräch mit der DİTİB-Leitung gesagt, das sei doch ein Anlass, als Landesverband einmal in die innere Revision zu gehen, wie halten wir es mit dem Antisemitismus, mit unseren sonstigen Diskursgepflogenheiten. Danach gab es einen Beschluss, der mir ganz freundlich zugeleitet wurde. Man würde das Gespräch gerne fortsetzen und die DİTİB wünsche sich, mit mir an einer öffentlichen Stellungnahme zu muslimischem Antisemitismus zu arbeiten. Da dachte ich schon: Wow, das ist doch mal etwas, ohne dass die genau sagen, wozu sie überhaupt Stellung nehmen wollen. Dieses Signal, dass sie das, was ich gesagt habe, ernst nehmen, dass sie schauen wollen, ob wir gemeinsam etwas zu dem Thema machen könnten, das ist ein völlig neuer Ton. Wenn es diese Flügel gibt, von denen du sprichst, dann ist das im Grunde 1:0 für den Flügel der Besonnenen, denn es ist ja mit Risiken verbunden. Das erste Gespräch ist für den 21. November 2023 angesetzt; die drücken jetzt auf die Tube.
Norbert Reichel: Erdoǧan mäßigt sich in seinen Äußerungen ja in keiner Weise, wie wir auch bei seinem Deutschlandbesuch sehen konnten.
Harry Harun Behr: Ich habe geantwortet und vorgeschlagen, wir sollten Bekim Agai ins Boot nehmen. Er leitet die Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft (AIWG) an der Goethe-Universität, und wir beide zusammen das Zentrum für islamische Studien. Wir haben ein großes und gutes Netzwerk. Es geht ja auch um mehr als eine Stellungnahme zum Antisemitismus, auch um die eigene theologische Verortung und die Verhältnisbestimmung zur Türkei. Ohne das ist das nicht möglich, denn das sind Kraftvektoren Da gibt es die Vorgaben der Diyanet, da gibt es Ablehnung und Zustimmung. Die Ortsvereine sind auch sehr unterschiedlich, aber es gibt zunehmend auch den mir gegenüber bekundeten Willen einer vielleicht kann man es Konsolidierung nennen. Das ist mehr als eine Bekundung, dass man eigentlich zu den Guten gehören will, es geht um Programmatisches, auch um Veränderungen. Das betrifft das Verhältnis zur Türkei, die Hörigkeit gegenüber politischer Einrede, Abhängigkeiten unterschiedlicher Art, auch das Portfolio von Überzeugungen. Die Baugrube ist einfach sehr tief.
Muslimisch-jüdischer Dialog
Norbert Reichel: Vielleicht ist in diesem Zusammenhang ein Verweis auf die Initiative Shalom Aleikum interessant. Der Zentralrat der Juden spricht auf seiner Internetseite von einer „Denkfabrik“. Das Problem ist nur, dass es keinen zentralen Ansprechpartner auf der muslimischen Seite gibt. Es beteiligen sich – vereinfacht gesprochen – engagierte liberale Muslim:innen. Gibt es nach deinen Erfahrungen einen funktionierenden Dialog zwischen der jüdischen und der muslimischen Seite? Ich bin offen gestanden skeptisch.
Harry Harun Behr: Der Dialog funktioniert nicht und hat auch keine gute Tradition. Es gab mal früher gute Traditionen wie im Rahmen des Bergedorfer Gesprächskreises, der allerdings sehr elitär besetzt war. Shalom Aleikum kritisiere ich sehr. Es wurde von Seiten der Bundesregierung vom selben Referat, dem Referat AS 2 im Bundeskanzleramt, initiiert, das für unser Fem4Dem-Projekt verantwortlich war. Während sich die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung mit Shalom Aleikum selbst lobte, hat sie versucht unser Fem4Dem-Projekt gleichsam in der Gosse zu versenken.
Wir haben Schalom Aleikum in unseren jüdisch-muslimischen Gesprächszirkeln oft thematisiert und dabei gemerkt, dass das Programm in der jüdischen Community überhaupt nicht gut ankommt. Es ist eine sehr zentralratsaffine Geschichte, und der Zentralrat ist in den jüdischen Gemeinden ohnehin nicht unumstritten. Das Programm Schalom Aleikum macht den Eindruck einer öffentlichkeitsfähigen Inszenierung jüdisch-muslimischen Dialogs, hat aber wenig Rückbindung an die Diskurse an der Basis, in den Gemeinden und vor allem an die Cluster jüdischen Lebens in der Gegenwart und Moderne hinein. Etwa auch im Hinblick auf jüdische Wissenschaftler:innen und Künstler:innen.
Norbert Reichel: Da gibt es auch andere Verwerfungen, wie sie beispielsweise Anastassia Pletoukhina, die Vorsitzende von ELES, auch als Vertreterin vieler junger Jüdinnen:Juden wie beispielsweise den Gestalter:innen von Jalta, ansprechen. Anastassia Pletoukhina nannte in einem Gespräch, das ich mit ihr führen und veröffentlichen durfte, aber auch ein konkretes Ergebnis ihrer Kritik, das vom Zentralrat ins Leben gerufene Gemeindecoaching, das gut angenommen wird und dazu beitragen soll, vorhandene Verwerfungen zu überwinden.
Harry Harun Behr: Da weißt du mehr als ich. Es ist aber auch die übliche Not mit den Dynamiken im sozialen Feld im Verhältnis zu zentralen Strukturen. Das ist im christlichen und muslimischen Bereich genauso. Bei DİTİB – um wieder auf muslimische Strukturen zurückzukommen – sieht es so aus, dass dieser Dampfer immer wieder kurz vor der Havarie dahintrudelt und niemand weiß, wer da auf der Brücke tatsächlich für was steht und wer wo und wie ins Ruder greift.
Ich nenne einen anderen Bereich: Seit etwa 2008 beteilige ich mich an gemeinsamen Fortbildungen für jüdische und muslimische Lehrkräfte. Wir haben auch höchst konflikthaltige Themen angesprochen. Shalom Aleikum beschränkt sich auf Themen, die als machbar gelten. Wir müssten aber offener an die Sache herangehen, wie beispielsweise in der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt. Der entscheidende Faktor ist aus meiner Sicht die Wissenschaft. Wissenschaft kann auch als soziale Interakteurin aktiv werden. Bei Fem4Dem haben wir viele Erfahrungen damit gemacht. Da geht es um jüdisch-muslimische Diskursgeschichte, auch um die ein oder anderen Gelehrten, zum Beispiel im Hochmittelalter. Wir haben jetzt mit Nathan Gibson einen Professor, der einen Schwerpunkt in der Historie vertritt.
Eigentlich möchten wir, dass die Imamin und die Rabbinerin gemeinsam im Klassenzimmer stehen. Dazu müssten sie nur wissen, was sie da eigentlich tun. Aber an dem Punkt sind wir noch nicht.
Norbert Reichel: Du sagtest eben, niemand habe eine Idee, wie Gaza in zehn Jahren aussehen könnte. Die Akteure haben alle erst einmal kurzfristige Ziele. Auf einmal wird natürlich wieder über die Zwei-Staaten-Lösung gesprochen, ob die tot sei oder nicht. Kürzlich sagte jemand, eigentlich müssten es drei sein, da das Westjordanland und Gaza doch als zwei eigenständige Einheiten zu betrachten seien. Ich denke da wieder an die Vision, dass Gaza in der Tat so etwas wie Singapur sein könnte. Aber bezogen auf den jüdisch-muslimischen Dialog: wo könnte der in etwa zehn Jahren stehen? Wie könnte man erreichen, dass muslimische Jugendliche ihre Identität nicht mehr in ihrer Abgrenzung von Jüdinnen:Juden suchen, dass sie nicht mehr auf Demonstrationen mitlaufen wie in Essen oder in der Berliner Sonnenallee?
Harry Harun Behr: So etwas wird wohl immer passieren. Denk mal an die Geschichte mit der Scharia-Polizei in Wuppertal. Wir sind aber auch immer in derselben geographischen Region, immer in Nordrhein-Westfalen, immer in Berlin, nie in Stuttgart oder in Frankfurt. Das ist irgendwo ein Narrativ zwischen Schlossallee und Sonnenallee. Das hat sich irgendwie verselbstständigt, wir werden auch nicht verhindern können, dass solche Formen des öffentlichen Auslebens das bevorzugte Trampolin von Gruppierungen werden, die darin ihr Süppchen kochen. Das wissen wir aus den Erfahrungen mit der rechten Szene.
Wir wissen aber, wir könnten in geordneten Bildungsstrukturen curricular sortierte und geordnete Strategien entwickeln, wie wir junge Leute zu dieser Thematik adressieren. Ich möchte davor warnen, sich Jens Spahn anzuschließen, der meint, alles werde gut, wenn sich der Staat dazu entschließe, die Moscheen zu finanzieren. Vieles von dem, was der Staat finanziert, ist nicht gut geworden. Es ist eine Rechtsfigur, die gar nicht möglich ist, aber es gibt eine Tendenz zur Verstaatlichung muslimischen Lebens. Das sieht man sehr deutlich in der Art und Weise, wie der islamische Religionsunterricht, den es nach Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz geben müsste, ausgehebelt wurde und wird. Weil das Vertrauen in die denkbaren Religionsgemeinschaften fehlt, wird der islamische Religionsunterricht peu à peu wieder durch Islamkunde ersetzt. In meinen Augen gibt es eine klare stillschweigende Verabredung in der Kultusministerkonferenz, dass es in absehbarer Zeit keinen islamischen Religionsunterricht nach Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz geben wird. Das ist eine Art Islamgesetzgebung durch die Hintertür.
Religionsunterricht im freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat
Norbert Reichel: Wir sind wieder um zehn Jahre zurückgefallen. Es gab zu Beginn der 2010er Jahre einige gute Initiativen und Entwicklungen, aber ein Datum machte alles wieder zunichte, der 15. Juli 2016 mit dem versuchten Putsch in der Türkei. Das veränderte nicht nur die Politik der Türkei, ich möchte sogar sagen, radikalisierte sie, sondern auch die Politik hier in Deutschland. Der Islam wurde mit der Politik Erdoǧans identifiziert. Die Politik hier spiegelt die Politik in der Türkei.
Harry Harun Behr: Ich glaube, es wäre ein Irrtum anzunehmen, das beträfe nur Muslime. Das ist ein etatistisches Denken in Interventionsnähe, um jedes Risiko einer kritischen Ideologisierung der nachwachsenden Generationen zu vermeiden. Das wird noch ganz andere treffen. Es geht hier nicht nur um eine Domestizierung des Islams in Deutschland, wie manche meinen. Ich denke, es dürfte irgendwann auch auf alle religiösen Gemeinschaften inklusive der jüdischen Gemeinschaften in Deutschland zukommen, um sich in einer Art Zoologischem Garten einhegen zu lassen. Da sind die Wölfe, da sind die Bären, wir halten sie alle schön auseinander, damit sie sich nicht beißen.
Norbert Reichel: Bei manchen, beispielsweise bei den Grünen, gerade bei den Säkularen, die ohnehin jeden Religionsunterricht für des Teufels halten, gibt es immer eine aus meiner Sicht merkwürdige Sympathie für das Hamburger Modell des Religionsunterrichts. Das Modell kommt mir manchmal in der Tat wie eine Art Religions-Zoo vor. Oder vielleicht eher ein Zirkus, denn es gibt ja einen Dompteur.
Harry Harun Behr: Um Gottes Willen. Dieses Modell funktioniert unter strenger brandenburgisch-preußisch-protestantischer Führung. Das ist so eine verkappte Staatsreligion. Deshalb unterstützt die evangelische Kirche das auch. Eine Historikerin aus Gießen, die Kollegin Athina Lexutt, schreibt jetzt für das Hessische Kultusministerium ein Gutachten zur Frage Religionsunterricht versus Islamunterricht. Wir fragen uns, was sie eigentlich mitbringt. Sie ist weder religionspädagogisch noch jugendsoziologisch noch migrationssoziologisch unterwegs. Ich habe das katholische Bistum Limburg angefragt, was da eigentlich seine Nachbarkirche mit diesem islamischen Religionsunterricht macht. Wir hatten doch eine ganz andere Verabredung. Wir hatten die Verabredung des Schulterschlusses der Religionsgemeinschaften, für bekenntnisorientierten Religionsunterricht gemäß Art. 7 Abs. 3 Grundgesetz einzutreten!
Das ist eine generelle Entwicklung. Ich halte dies für schwierig, solange nicht die offenen demokratietheoretischen Fragen mitgedacht werden. Die werden aber nicht mitgedacht. All das geschieht über eine Art Erlasspolitik von Seiten der Kultusministerien, aber nicht über eine religionspolitische Vision. Danach fragtest du ja im Grunde.
Ich könnte mir vorstellen, dass das Jüdische und das Muslimische als Allianzpartnerschaft gesehen werden, um in der Bundesrepublik Deutschland klarzumachen, dass sichtbare und gelebte Religion im Sinne der öffentlichen Sichtbarkeit und des gelebten Lebensstils unbedingt zum grundlegenden Portfolio des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats gehört. Das heißt, dass ausgehalten werden muss, dass Feiertage eingehalten werden, dass Ramadan gefastet wird, dass verlangt werden darf, dass in der Mensa koscher und halal gekocht wird. In meinen Studien kann ich schon feststellen, dass die Sensibilität für Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit zurzeit kollabiert. Wenn mir beispielsweise ein Schulleiter sagt, hier könne weder koscher noch halal gekocht werden, denn das sei eine deutsche Schule. Oder wenn in einer Schule im Lehrerzimmer jemand angesichts des muslimischen Wunsches nach der Möglichkeit, in der Schule zu beten, sagt, bei uns in der Schule wird nicht gebetet, und nebenan sitzt der katholische Theologe und schweigt, weil er den Diskurs nicht versteht. Ja, aber es geht um die muslimischen Schüler:innen. Warte mal ab, morgen geht es um deine Schüler:innen.
Norbert Reichel: Es ist das Problem, dass es keine Allianzen von Minderheiten gibt. Ich will jetzt Katholik:innen nicht als Minderheit bezeichnen, aber im Hinblick auf öffentlich gelebte Religiosität sind sie es heute. Das Ergebnis: Es setzten sich dann scheinbare Mehrheiten durch, die im Hinblick auf Demokratie und Liberalität ausgesprochen unappetitlich sind.
Harry Harun Behr: Du hast recht, es geht um die Allianzen von Minderheiten, von Religionen. Bruno Landthaler, jüdischer Religionspädagoge in Heidelberg, sagt, wir müssen uns klarmachen, dass es Minderheitenreligionen gibt. Das hat zwei Seiten, die faktische Minorität und die Zuschreibung, eine Minderheit zu sein, und damit undemokratische Entscheidungen zu rechtfertigen. Heute geht meines Erachtens demokratischer Konsens verloren. Was ist das Kennzeichen eines parlamentarischen Diskurses? Das sind die Redezeiten der Opposition, die Rechte der Minderheiten. Minderheiten erstreiten Rechte, die auch der Mehrheit zugutekommen. Das wäre für mich Shalom Aleikum. Das wäre für mich die Idee, lass uns doch einmal auf die demokratietheoretischen Implikationen schauen. Wir sehen etwas, das die gesamtgesellschaftliche Entwicklung betrifft, aber viele nicht sehen. Denn viele leben in dem trügerischen Gefühl, sie stünden auf der richtigen Seite der Geschichte. Ohne diese Perspektive kommen wir mit niemandem im Gespräch weiter.
Das muss auch die DİTİB kapieren. Das habe ich denen schon oft gesagt, ihr müsst sehen, für wen ihr Dienstleister sein wollt, was ihr sehen wollt. Vor einigen Jahren habe ich schon auf den Segen des Generationenwandels hingewiesen, immer in etwa 30-Jahren-Etappen zu denken. Manches geht schneller. Wenn ich mir die Entwicklung in DİTİB sehe, ist das eine ziemlich schnelle Entwicklung, beispielsweise mit meiner Berufung nach Frankfurt Ich war ja einer der Todfeinde der DİTİB in Deutschland. Bekir Alboǧa hat ja keine Gelegenheit ausgelassen, mich anzuschwärzen. Doch schwupp bekomme ich in Hessen die Idjaza. Das sind schon Entwicklungen, bei denen ich sagen kann, das geht voran, wenn wir am Ball bleiben.
Ich hatte so ein Aha-Erlebnis. Du weißt, ich bin jüdischer Herkunft, meine Mutter ist Jüdin, ich habe Thora-Unterricht gehabt, hatte in München die Gelegenheit, mich mit Rabbi Pinchas Paul Biberfeld zu treffen, ich habe mit eine Sendung für Radio Xanadu gemacht, zu Fragen wie was machen Nicht-Christen an Weihnachten. Ich war damals auch aktiv in der Münchner Moschee und hatte die Idee, wir laden Rabbi Biberfeld ein, lassen ihn sprechen und hören, was er zu sagen hat. (lacht in sich hinein) Mit diesem Vorhaben bin ich grandios gescheitert. Rabbi Biberfeld sagte, du kannst es versuchen, aber die werden mich nicht einladen. Ich bin zum Moscheevorstand gegangen, damals fest in ägyptischer Hand, Ahmed Al-Khalifa, auch Mohammed Akif, der mal für die Waqf-Partei im ägyptischen Parlament saß, drei Jahre lang in München das Islamische Zentrum leitete, und habe meinen Vorschlag vorgetragen, er sagt, was er zu sagen hat, wir werden mit ihm diskutieren. Die Antwort war ja, das können wir überlegen, aber er wird nicht kommen wollen. Damit war das vom Tisch.
Islam ist Diskurs
Norbert Reichel: Ich stelle fest, ich spreche heute immer von Eindrücken, aber das ist vielleicht in einer so schwierigen Debatte auch gar nicht anders möglich, weil die empirischen Grundlagen weitgehend fehlen oder wenn es sie einmal gibt, von vielen Seiten in Frage gestellt werden. Das habt ihr leidvoll bei eurer meines Erachtens aufschlussreichen Studie zum Jugendverband von DİTİB erfahren müssen. Der Staat – das ist mein Eindruck – spricht immer wieder mal mit den konservativen Islamverbänden, ignoriert aber die liberalen Verbände. Gleichzeitig lässt er keine Gelegenheit aus, diese Verbände als un- oder zumindest vordemokratisch hinzustellen. Das ist die eine Seite, die andere: Bei diversen Demonstrationen demonstrieren zurzeit islamistische Gruppierungen und antikolonialistische Linke gemeinsam.
Harry Harun Behr: In London demonstrierten auch linke Zionisten mit, deren Kennzeichnen der rote Davidstern ist. All das zeigt auch die Verwerfungen in den ideologischen Orientierungen. Es zeigt aber auch – und das ist ein unangenehmer Befund –, dass auch in einem vermeintlich radikalisierten Umfeld und ideologischen Konstrukt der anderen Straßenseite eine Reformidee steckt, die aber verloren geht, weil sie von den falschen Leuten posaunt wird. Das haben wir in der Forschung zur islamistischen Radikalisierung schon sehr früh beobachtet. Wenn du dir zum Beispiel das Manifest der Al-Khansa-Brigaden anschaust, findest du in den Texten, fast alle in englischer Sprache, wie auch in anderen Texten, mit denen junge Leute vom sogenannten Islamischen Staat nach Raqqa gelockt werden sollten, kaum eine religionstheologische Begründung oder einen Rekurs auf den Koran oder Hadithe. Die gesamte Begründung ist säkular. Da geht es um die Verdorbenheit des Westens, die Ausbeutung der Frau, die Disfunktionalität des Emanzipationsgedankens. Du brauchst gar keine Religion. Du brauchst nur ein jugendliches Unrechtsempfinden angesichts des Zustands der Welt, um dafür empfänglich zu sein. Wir müssen nur schauen, welches religiöse Grundwissen junge Leute haben, die nach Syrien gegangen sind. Ich glaube, ähnliche Effekte erleben wir zurzeit auch in den Demonstrationen gegen Israel.
Norbert Reichel: Wie viel hat das überhaupt mit Religion zu tun? Ist Religion nur der herbeigezogene Überbau?
Harry Harun Behr: Das möchte ich nicht unterschreiben. Das funktioniert nur, wenn du ein formalistisches oder institutionelles Religionsverständnis zugrunde legst. Talal Asad sagt: „Islam is not a religion, Islam is discourse. And discourse makes Islam religion.” Als Grundlage einer Religion, die keine Lehrzucht hat. Es gibt keine muslimische Lehrzucht wie im Katholizismus, keine Institution, die diese ausübt. Dann kann man nicht mehr sagen, das, was Islamisten betreiben, habe nichts mit der Religion zu tun. Man kann nur sagen, das hat nichts mit bestimmten religiösen Organisationen zu tun, die für den Islam sprechen, sich auch davon distanzieren. Selbst der Koran argumentiert – beispielsweise in Sure 4, Vers 83, wo es um die großen Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der politischen Strukturen der frühen Gemeinde geht, säkular, beschäftigt sich mit der Frage, wie man miteinander in Verhandlungen tritt und treten soll. Das ist ja auch spannend, Religion so zu denken. Dann muss man es aber auch aushalten, wenn jemand sagt, Extremismus hat was mit deiner Religion zu tun.
Das ist der alte Notausgang. Du erinnerst dich an 9/11, eine Woche später, da standen drei Leute vor der Kamera, Präses Kock, Kardinal Lehmann, Nadeem Elyas, damals Vorsitzender des Zentralrats der Muslime, seines Zeichens Islamwissenschaftler und Mediziner. Die stehen da und sagen, 9/11 hat nichts mit den Religionen zu tun und Nadeem Elyas zitiert den berühmten Vers aus Sure 5, wo der Koran aus dem Sanhedrin des Midrasch zitiert: „Wer einen Menschen ohne Rechtsgrundlage ermordet, dessen Zustand ist so, als habe er die gesamte Menschheit ermordet.“ Das geht dann so weiter: „Wer einen Menschen rettet, dessen Zustand ist so, als habe er die gesamte Menschheit gerettet.“ Wunderbar. Osama bin Laden, Mohammed Atta und all die Terroristen, das sind die Bösen, die dürfen sich nicht auf die Religion berufen, weil die nichts damit zu tun hat, was sie angerichtet haben. Botschaft kapiert. Gleichzeitig gehen Brüder in London auf Schulhöfe der Secondary High Schools und werben um Sympathie für Osama bin Laden mit der Frage, warum werden die unschuldigen Zivilisten in den Twin Towers ermordet und wie sei das islamisch zu rechtfertigen? Sie berufen sich auf denselben Vers, auf den sich Nadeem Elyas beruft, und erklären pauschal alle anderen zu Kombattanten.
Das sind koranhermeneutische Tricks unter Berufung auf theologische Expertise im Sinne einer Systematik, mit der man sich vorstellt, zu einer Religion gehören eine Tradition, Narrative, eine Schrift, eine Gemeinde, eine Ritusgemeinschaft, eine Kultusgemeinschaft, eine Erinnerungsgemeinschaft. Das ist richtig, das deutsche Recht normiert Religion. Das ist wie im Fußball: Du kannst nur Schalke oder Dortmund sein. Du kannst mit einem blauweißen Schal nicht in die Dortmunder Kurve gehen und umgekehrt. Kannst du machen, ist aber nicht ratsam. So stellt sich aber unsere Gesellschaft Religion vor, die Konservativen, die Liberalen und so weiter und so fort. Auf dieser Ebene funktioniert Religion nicht. Insofern hat Talal Asad schon recht, wenn er sagt, Islam sei Diskurs. Dann gehört aber auch das Diskursrisiko dazu, ja, wir haben ein Problem mit unseren Leuten, ein Problem mit Hörigkeiten, ein Problem mit Religion am Küchentisch, wir haben ein Problem mit moralisch-ethischen Positionierungen unserer Leute, die auch genauso problematisch sind, wenn wir den Islam wegkürzen, weil sie sich einfach wie Arschlöcher verhalten.
Was kann und will bekenntnisorientierter Religionsunterricht?
Norbert Reichel: Könnte islamischer Religionsunterricht das auffangen, wenn es ihn nun gäbe?
Harry Harun Behr: Ja. Das könnte er. Wir verlangen von den Lehrkräften nicht, dass sie ihre eigene Islamischkeit inszenieren, sondern sich zu den Curricula bekennen. Und die Curricula sind das verbriefte Konsoliderungsdokument konkurrierender Auffassungen, was ein solcher Unterricht zu leisten hätte. Auf Seiten der Religionsgemeinschaft: Wir möchten unsere Schäflein behalten. Auf Seiten der Politik: Wir möchten ein Mittel gegen islamistische Radikalisierung. Auf Seiten der Schüler:innen: Wir möchten, dass uns jemand zuhört und unsere Fragen beantwortet, aber Fußnote: Wir wollen keine Imam-Antworten, sondern richtige Antworten. Auf Seiten der Eltern: Wir hätten gerne, dass der Unterricht unsere Kinder im Islam kulturalisiert und habitualisiert, weil wir das nicht mehr können. Wir können das in der postmigrantischen Situation, in der dritten oder vierten Generation, nicht mehr leisten und möchten, dass der Unterricht das kompensiert. Hypothese: das ist auch im christlichen Religionsunterricht so.
Wie führt man das zusammen? Indem man sich in den Lehrplankommissionen streitet. Das Ergebnis ist dann der Lehrplan. Der wird mit Erlass in Kraft gesetzt Curricula haben einen gesetzesähnlich bindenden Charakter, Nichterfüllung kann rechtlich sanktioniert werden. und ist damit verbindlich. Die Lehrkräfte erhalten die islamische Idjaza. Der Mindeststandard ist das Bekenntnis, es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Prophet. Es wird nicht gefragt, betest du, fastest du, trägst du ein Kopftuch? Aber wir verlangen das entschiedene Bekenntnis, nach den Curricula zu unterrichten und all dem, was hinter der Schule steht, nämlich dem öffentlichen Bildungsauftrag. Denn das Kompetenzmodell des islamischen Religionsunterrichts beruft sich auf die fächerübergreifenden Kompetenzen, die für alle Fächer gelten. Da sind diese Grundtugenden demokratischer Art bildungstheoretisch niedergelegt, neudeutsch: Bildungsstandards und Kompetenzen.
Norbert Reichel: Und das ist das Entscheidende an einem bekenntnisorientierten Religionsunterricht.
Harry Harun Behr: Richtig! Ganz genau! Das Bekenntnis geht deutlich weiter als der Rekurs auf die eigene Religionsformel, wenn man in die öffentliche Schule will. Kann man auch lassen und dann in den Moscheen anbieten. In der öffentlichen Schule muss ich das gesamte Paket annehmen.
Norbert Reichel: In den politischen Parteien sehe ich zurzeit nicht den Willen, den islamischen Religionsunterricht voranzutreiben. Das ist schon seit einiger Zeit so. Ich habe das selbst erlebt, dass islamischer Religionsunterricht in den politischen Begründungen für die erforderlichen Finanzmittel auf Terrorismus-Prävention reduziert wurde.
Harry Harun Behr: Uns fehlt eine religionspolitische Vision. Der Koalitionsvertrag gibt nichts dazu her. Aber der Befund ist alt. Wir haben uns schon in Cadenabbia, in dieser schönen Adenauervilla La Collina, darüber unterhalten (siehe die Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung von 2018 „Islam und Staat in Deutschland“), dass wir in der Vielfalt unser religiösen Verortungen – das heißt im Sinne des Diskurses – keine Idee haben, wie wir im mit Religiositäten und mit Religion umgehen sollten, was es heißt, dies mit Toleranz, Kritikfähigkeit oder der Notwendigkeit eines Systems zu verbinden, das auch einmal quer zur Strömung liegt, und dass das wichtig ist für eine offene, plurale Gesellschaft. Damit Religion in dieser Gesellschaft eine wichtige Rolle spielen kann, brauchen wir eine gestaltende Idee. Aber da sagte mir eine Kirchenvertreterin, sie unterschreibe das voll, aber das könnten die Kirchen nicht leisten, das könnten nur zivilgesellschaftliche Strukturen, an denen wir uns beteiligen. Nein, es ist eine Frage der religionspolitischen Vision, im Sinne einer Entwicklungsidee, denn Religion ist nicht nur Thema des Religionsunterrichts, es ist auch Thema des Deutsch-, Geschichts-, Kunstunterricht. Es gibt kein Fach, in dem ich in meiner Zeit als Lehrer nicht religiöse Fragen angesprochen hätte, selbst in Mathematik. Wenn wir zukunftsfähig sein wollen, brauchen wir völlig neue religionspolitische Diskurse, wo wir intelligenter miteinander reden.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2023, Internetzugriffe zuletzt am 19. November 2023, das Titelbild zeigt die Grablegemoschee Imam Schafii in Kairo, Foto: Harry Harun Behr.)