Ungeliebte Utopien

Wolfgang Both über sozialistische Science Fiction im 20. Jahrhundert

„Sozialistische Utopien fanden keine Verbreitung, weil die Sozialisten selbst sie ablehnten.“ (Wolfgang Both, in: Rote Blaupausen)

Wolfgang Both hat sich intensiv unter historischen und politischen Vorzeichen mit utopischer Literatur und Science Fiction der vergangenen 100 Jahre befasst. Einen ausgezeichneten Überblick über das Schicksal utopischer Literatur in den kommunistischen Ländern bietet sein Buch „Rote Blaupausen – Eine Geschichte der sozialistischen Utopien“, das erstmals im Jahr 2008 erschien und im Jahr 2020 bei Memoranda neu aufgelegt wurde. Zu diesem Thema gibt es auf der Seite von Memoranda auch einen Podcast-Beitrag von Wolfgang Both. Eine denkwürdige Praxis referierte er anhand des Schicksals von George Orwells Roman 1984, der in der DDR am Ende beinahe doch noch veröffentlicht worden wäre. Wolfgang Both gibt gemeinsam mit Klaus Geus, Horst Illmer und Klaus Scheffler das „Lexikon der deutschen Science Fiction 1933 – 1945“ heraus. Er ist Mitglied des Science-Fiction-Clubs „Andymon“ in Berlin.

Sechs Jahre Schatzsuche

Norbert Reichel: Anlass unseres Gesprächs ist dein Buch „Rote Blaupausen“. Für das Buch hast du ein Jahr nach Erscheinen der ersten Auflage den Kurd-Laßwitz-Preis erhalten. Wie kam es zu diesem Buch?

Wolfgang Both: Ich habe das Buch geschrieben, weil ich es lesen wollte, und vielleicht andere auch. Es gab ja bisher keine entsprechende Aufarbeitung. Das Buch ist dann im Jahr 2008 erschienen. 2020 erschien bei Memoranda eine erweiterte Neuausgabe. Ich hatte ursprünglich jedoch eine ganz andere Absicht als es sich dann beim Schreiben des Buches ergab. Ich wollte mich mit den Sozialisten und ihrem Bilderverbot auseinandersetzen und dies dann an einigen Beispielen illustrieren. Dabei ging es mir um Punkte aus dem Kommunistischen Manifest, dann einzelne Bücher zu diesem oder jenem Thema, Arbeitszeit, Rechte der Frauen, Enteignung der Konzerne, die dies entgegen dem Bilderverbot illustrieren. Ich traf aber auf einen Lektor, der das Ganze umdrehen wollte und da ich das Buch auf dem Markt sehen wollte, habe ich mitgespielt und so lief die Sache andersherum, sodass die Frage Bilderverbot und die Haltung der Sozialisten bis hin zu verrückten Klavierspielern in Arkadien (Ernst Bloch) erst weiter hinten im Buch zu finden sind, wenn sich Leserinnen und Leser bis dahin durchgearbeitet haben.

Ich habe ungefähr sechs Jahre lang recherchiert. Die meisten Autoren sind Männer, aber es sind auch einige Frauen darunter wie beispielsweise Charlotte Perkins Gilman (1860-1935). Ich stelle auch nicht nur im engeren Sinne sozialistische Utopien vor, sondern gehe darüber hinaus. Viele Bücher sind auch sehr unterhaltsam, nicht zuletzt die Utopie von „Herland“ von Charlotte Perkins Gilman. Andere sind trockene Parteitagslyrik.

Norbert Reichel: „Parteitagslyrik“ – eigentlich ein Widerspruch in sich.

Wolfgang Both (lacht): Wenn du es so willst… Der Einstieg war ein blanker Zufall. Meine Frau und ich waren auf einem Flohmarkt und dort entdeckte ich „Utopolis“ von Werner Illing (1895-1979), jetzt in einer schönen Neuauflage bei Hirnkost verfügbar. Das war im März 2002. Das Buch fiel mir wegen des Begriffs und wegen des Covers auf. Ich fand es nicht nur sehr unterhaltsam, sondern habe auch gesehen, dass es eine linke Utopie war, die ich weiter vertiefen wollte. Ich kannte den Autor damals noch nicht und dachte, ich sollte weitersuchen. Es gäbe sicherlich weitere linke Utopien. Die Arbeiten über konservative oder rechte Utopien kannte ich bereits, beispielsweise die Arbeiten von Jost Hermand (1930-2021), zum Beispiel sein Buch „Der alte Traum vom neuen Reich – Völkische Utopien und Nationalsozialismus (1988, zwei weitere Auflagen erschienen 1991 und 2021).

Solche umfassenden Darstellungen gab es für die linken Utopien nicht. Ich stieß dann allerdings auf die Dissertation „Science Fiction in Deutschland“ (Universität Tübingen, 1972) von Manfred Nagel (*1940), der Science-Fiction-Romane der Kaiserzeit und der Weimarer Zeit aus linker Perspektive bewertete. Ich kannte bis dahin Edward Bellamy (1850-1898), dessen Bücher auch in der DDR erschienen sind. Ich habe dann bei mir im Science-Fiction-Club herumgefragt, ob der ein oder andere noch weitere Hinweise hätte. Insgesamt kamen dann mit der Zeit etwa 60 Titel in Betracht, die ich durchgearbeitet habe. Manche habe ich in Bibliotheken gefunden, andere habe ich über Kopien kennengelernt, die mir Klaus Geus aus Büchern zur Verfügung gestellt hatte, die er gesammelt hatte. Klaus Geus hatte diese Kopien zum Teil sogar regelgerecht gebunden, sodass sie in meiner Bibliothek als Prachtausgaben stehen, innendrin aber eben Kopien enthalten. Im Ergebnis habe ich 40 Bücher identifiziert, die sich seit Bellamy bis in die Neuzeit als linke, sozialistische Utopien bezeichnen ließen. Für die Neuausgabe bei Memoranda habe ich die Novelle „Morgen“ (1980) von Robert Havemann (1910-1982) ergänzt.

Mir ist aufgefallen, dass es weder in der Sowjetunion noch in der DDR eine überzeugende Darstellung der sozialistischen Zukunft gab. Es klingt sicherlich in einzelnen Romanen an, dass die Welt schon vollkommen sozialistisch oder kommunistisch wäre. Deshalb wird gemeinsam in den Kosmos gereist oder es kommen Außerirdische aus einer kommunistischen Welt auf die Erde. Es gibt Beispiele von Alexei Tolstoi (1882-1940) mit „Aëlita“ (1922) und einer Revolution auf dem Mars. Das ist aber keine so umfassende Darstellung wie die von Bellamy, der ein gesamtes Gesellschaftssystem entworfen hatte und Fragen der Wirtschaft, der Finanzen, der Bildung, der Frauenrechte thematisierte. Etwas in dieser umfassenden Form gab es im Ostblock nicht. Ich habe daher weiter recherchiert, warum solche Bücher bei uns nicht bekannt waren. Ich fand das ein oder andere in Antiquariaten und habe es noch zu guten Preisen erworben. Nach Erscheinen meines Buches sind die Preise in den Antiquariaten allerdings explodiert. Mit solchen Nebeneffekten meiner Arbeit habe ich nicht gerechnet.

Der Knaller bei meinen Entdeckungen war der kontrafaktische Roman „Die KPD regiert“ (1932) von Konrad Giesecke (alias Walter Müller, 1878-1931). Es beginnt mit einem Putsch gegen die Weimarer Regierung, deren Mitglieder verhaftet werden. Das Buch kostete damals 25 EUR, heute kostet es mindestens 100 EUR, wenn es das Buch überhaupt noch gibt. Das gilt auch für andere Bücher wie „Die Talsperre“ (1932) von Marie Majerová (1882-1976), das in der DDR 1956 beim Aufbau-Verlag erschien.

Norbert Reichel: Ich habe mal bei zvab.com nachgeschaut. „Die KPD regiert“ war nicht zu finden, von „Die Talsperre“ wurde die von dir genannte Ausgabe von 1956 zum Preis von 45 EUR angeboten.

Wolfgang Both: Vieles, was in der DDR erhältlich war, wurde leider entsorgt. Man findet es kaum noch in Bibliotheken oder in Buchhandlungen.   

Utopien vs. wissenschaftlichen Sozialismus

Norbert Reichel: Utopien waren im Sozialismus verdächtig. Du zitierst Lenin, der im Jahr 1912 in seiner Abhandlung „Zwei Utopien“ postulierte: „Je geringer die Freiheit in einem Lande ist, je dürftiger die Äußerungen des offenen Kampfes der Klassen, je niedriger das Niveau der Massenaufklärung, desto leichter entstehen gewöhnliche politische Utopien, und desto länger halten sie sich.“

Wolfgang Both: Wollen wir Lenin widersprechen? Ich habe bewusst solche Sachen vergleichsweise neutral zitiert um zu zeigen, warum linke Utopien in der DDR und in der Sowjetunion eigentlich keine Chance gehabt haben. Das fing schon bei Marx und Engels an, die im Kommunistischen Manifest und in anderen Abhandlungen zum wissenschaftlichen Sozialismus eine ganz strenge Abgrenzung vornahmen, so zum Beispiel Friedrich Engels 1880 in der Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ (MEW 19). Sie sagten, das, was die Utopisten zuvor gemacht haben, das waren die Anfänge, durchaus Wurzeln, auf die sie sich berufen, aber alles andere, ihre Träume, beispielsweise von der Einbindung der Fürsten oder ihre Vorstellungen von einer Umwälzung der Gesellschaft ist völlig neben der Spur. Diese Umwälzungen könne nur das revolutionäre Proletariat gestalten. Auf diese These berufen sich heute noch orthodoxe Kommunisten.

Norbert Reichel: Du zitierst auch einen Artikel aus der UZ, der Zeitung der DKP, in dem kritisiert wird, dass Bellamy nichts zum Thema Klassenkampf beitrage.

Wolfgang Both: Bellamy adressierte eine andere Gruppe als Leserschaft. Er wollte seinesgleichen für das Thema interessieren. Er wollte seine soziale Schicht davon überzeugen, etwas abzugeben und der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Der Klassenkampf war außen vor. Auch sein Nationalisierungsmodell ging erst einmal in die Staatlichkeit über. Das ging zum Ärger der Sozialisten ohne Revolution ab.

Die ersten Sozialisten haben sich schwergetan, Bücher der frühen Utopisten oder die Bücher von Bellamy dem deutschen Publikum, insbesondere auch der Arbeitsklasse zu präsentieren. Es gab Übersetzungen von Karl Liebknecht, von Clara Zetkin, die dann aber in den Vorworten zumindest distanziert Stellung nahmen, warum sie das Buch dann doch der Arbeiterklasse vorgelegt hatten, auch wenn es kein Modell für die Zukunft wäre. Es gab weitere Sozialisten, wie beispielsweise Max Adler (1873-1937) in Österreich, linke Sozialdemokraten, die gerade nach Ende des Ersten Weltkrieges und der Revolution in Deutschland in utopischer Literatur eine Grundlage fanden, bis hin zu „Utopolis“, das 1930 erschien. Das war der Einstieg. Ich habe Nachfahren und Freunde von Werner Illing befragen können, über die ich zusätzliche Informationen erhielt. Vom Herzen her waren sie alle schon links eingestellt, mussten dies in der Nazizeit natürlich verstecken. Die Bücher hatten in der Weimarer Zeit alle viel Zuspruch. Unter seinem eigentlichen Namen Walter Müller veröffentlichte Konrad Giesecke im Jahr 1930 den Band „Wenn wir 1918 … Die Überwindung des Kapitalismus“, dem „Die KPD regiert“ als zweiter Band folgte. Er beschreibt den kommunistischen Putsch und nutzt auch den realen Kommunisten Heinz Neumann (1902-1937) als Einführungsperson, um das Ganze realitätsnah zu gestalten.

Norbert Reichel: Ich darf aus deinem Buch zitieren, zunächst Karl Kautsky in seiner Rezension zu Bellamy: „Den Mangel an Phantasie hätte unser Jules Verne des Sozialismus einigermaßen ersetzen können durch ein eigehendes Studium der sozialistischen Literatur, der sozialistischen Theorien.“ Dann August Bebel: „Wer unsere beiden Schriften liest oder gelesen hat und ein wenig kritisch urtheilen kann, wird finden, daß Herr Bellamy ein wohlwollend denkender Bürger ist, der ohne Ahnung der Bewegungsgesetze, welche die Gesellschaft beherrschen, rein vom Humanismusstandpunkte aus, indem er als guter Beobachter der bürgerlichen Welt ihre Ungeheuerlichkeiten und Widersprüche erkannte, sich eine künftige gesellschaftliche Ordnung zurechtlegte, in der aber überall die bürgerlichen Gedanken und die bürgerlichen Auffassungen der Dinge durchbrechen.“ Schließlich Clara Zetkin: „Bellamy (…) erweist sich damit als Utopist, als sozialer Erfinder und Entdecker, der die soziale Neuordnung in seinem Kopf vorausschaffen will. Er ist also kein wissenschaftlicher Sozialist, der ‚mittels seines Kopfes‘ in der Gesellschaft selbst die Kräfte und Gesetze bloßzulegen und zu verstehen strebt, die unabwendbar zu höheren Formen der Gesellschaft führen.“

Wolfgang Both: Diese Einlassungen belegen ganz deutlich die Auseinandersetzung der Sozialisten etwa um die Jahrhundertwende und danach. Utopische Schriften waren weit verbreitet, erfuhren große Resonanz und riefen eine Reihe von Gegenschriften hervor. Gerade um Bellamy ist ein ganzes Konglomerat von Schriften entstanden. August Bebel musste sich übrigens gegen den Vorwurf wehren, dass er bei Bellamy plagiiert hätte. Die damaligen Sozialisten sahen es als notwendig an, dass sie Stellung nehmen mussten. Sie mussten zeigen, wie sie die Zukunft sahen, auch wenn sie sie noch nicht genau voraussagen konnten, aber die Fantasiebilder der utopischen Autoren waren in ihren Augen völlig irreal und dann auch noch „kleinbürgerlich“. Dies wurde unter anderem Illing im DDR-Lexikon der Schriftsteller vorgeworfen.   

In der Nazizeit kamen all diese Schriften auf den Index, auch Jack London (1876-1916), Müller beziehungsweise Giesecke. Die Bücher sind dann erst einmal verschwunden. Ich habe eine ungewöhnliche Ausgabe von Upton Sinclair (1878-1968), „The Millennium“. Der Roman war in einem Sammelband des Malik-Verlags enthalten (1925), wurde aber von den Nazis unlesbar gemacht. Die beiden anderen Geschichten waren lesbar, aber der Roman „The Millennium“ mit der Darstellung eines Atomkriegs und wenigen Überlebenden, nach dem sich ein neues gesellschaftliches Zusammenleben entwickelte, war nach 1933 mit Klebeband zugeklebt. Nach 1945 sind solche Romane mit wenigen Ausnahmen in der DDR nicht wieder hervorgeholt worden. Sie blieben verschwunden. Das hat mich schon erschüttert.

Norbert Reichel: Und im Westen? Ich bin da skeptisch.

Wolfgang Both: Man müsste mal in der Nationalbibliothek nachschauen, welche Bücher dort aufgetaucht sind. Manfred Nagel hat im biographischen Teil seiner Dissertation einige aus der Versenkung hervorgeholt, was aber nicht zu einer Publikation geführt hatte. Diese Schriften waren einfach vergessen, sowohl auf der bürgerlichen Seite – da hatte man kein Interesse, sozialistische Propaganda zu unterstützen – als auch auf der sozialistisch-kommunistischen Seite, wo man eben auch kein Interesse hatte, solche utopischen Fantasiegebilde in die Öffentlichkeit zu bringen. Auf beiden Seiten blieben diese Geschichten in Vergessenheit.

Utopien einer neuen Gesellschaft

Norbert Reichel: Über einige Bücher möchte ich mit dir ganz konkret sprechen: Theodor Hertzka (1845-1924), „Freiland“ (1896), Charlotte Perkins Gilman (1860-1935), „Herland“ (1915) und Ri Tokko (alias Ludwig Dexheimer, 1891-1966), „Das Automatenzeitalter“ (1930). Drei Bücher mit drei Themen, die uns auch heute intensiv beschäftigen: Genossenschaftsgedanke, Feminismus, Künstliche Intelligenz – alles keine neuen Themen, sodass wir meines Erachtens viel daraus lernen können, wie man vor etwa 100 Jahren darüber nachdachte.

Wolfgang Both: „Freiland“ von Theodor Hertzka ist mit Bellamy eines der frühen Werke, das sich mit dem Genossenschaftsgedanken auseinandersetzt. Wir haben heute noch viele Genossenschaften, gerade in Berlin Wohnungsbaugenossenschaften, die ganz gut leben können, aber natürlich aufpassen müssen, dass sie nicht von den großen Wohnungsbauunternehmen aufgekauft werden. Auch in kleineren Häusern versuchen die Mieter, über das Genossenschaftsmodell das Haus mit allen Wohnungen aufzukaufen und mit Hilfe staatlicher Förderung dieses Modell voranzutreiben. Es gibt eine ganze Menge solcher Modelle, beispielsweise in Form der Gartengemeinschaft Eden oder dem Lebensfreudemodell, die in den 1910er und 1920er Jahren aus verschiedenen Jugendbewegungen entstanden sind und heute noch existieren.

Das andere, das mich bei Hertzka wie bei Bellamy interessierte, ist, dass mit dem Buch eine richtige Bewegung entstanden ist. Hertzka hat sehr anschaulich eine Reise nach Afrika geschildert, mit genauer Ortsangabe, in ein Tal am Kilimandscharo mit wunderbarem Klima, eigentlich war da immer Sommer. Die Expedition verlief ohne Schwierigkeiten und selbst die wilden afrikanischen Elefanten haben als Traglasttiere willig mitgemacht. Das hat eine solche Bewegung vor allem unter jungen Menschen ausgelöst, sodass in einem Aufruf zur Umsetzung der Idee vorgegeben werden müsste, dass nur junge Menschen mit guter Gesundheit und guten handwerklichen Fähigkeiten teilnehmen dürften, denn man musste ja in Afrika, wenn man da hinkam, etwas aufbauen. Man wollte schon eine Auswahl treffen, wer da mitdurfte. Bei der Durchsicht alter Zeitungen 1891-1894 habe ich zwar keinen eigenen Aufruf zur Expeditionsvorbereitungen gefunden, wohl aber viele Berichte zu Freilandvereinen und den Expeditionsvorbereitungen.

Norbert Reichel: Nur am Rande: Das war in der jungen zionistischen Bewegung nicht anders, auch dort suchte man zunächst vorwiegend junge Leute mit guter Gesundheit und guten handwerklichen Fähigkeiten. Grundlage war hier das Buch „Altneuland“ von Theodor Herzl (1860-1904), das meines Erachtens auch zur sozialistischen utopischen Literatur gezählt werden darf. Das Buch wurde im Hirnkost-Verlag im Jahr 2023 mit einem Vorwort von Karlheinz Steinmüller neu aufgelegt. Es stellt umfassend einen idealen Staat vor, durchaus vergleichbar mit den Büchern von Bellamy oder Hertzka. Und auch hier entstand eine Bewegung.

Wolfgang Both: Unter Berufung auf das Buch von Hertzka hat man Geld für die Expedition in das von ihm beschriebene Eden gesammelt. Es gab sogar eine Vorexpedition, die jedoch scheiterte, weil die britischen Kolonialbehörden Einwände hatten. Sie wollten nicht auch noch Deutschen und Österreichern die Einwanderung in ihr Kolonialgebiet erlauben. Aber mich beeindruckte, wie aus der Utopie heraus eine richtige soziale Bewegung entstand, die natürlich mit der Zeit, nachdem die Briten abgesagt hatten, wieder verflachte. Aber die Idee war damals sehr populär.

Norbert Reichel: Charlotte Perkins Gilman entwarf mit „Herland“ eine Gesellschaft, in der nur Frauen lebten.

Wolfgang Both: Charlotte Perkins Gilman war eine beeindruckende Frau. Sie wurde als Rabenmutter diffamiert, weil sie Mann und Kind verlassen und sich von der bürgerlichen Gesellschaft abgewandt hatte. Sie hat ein eigenes Leben aufgebaut, eine Zeitschrift etabliert, mehrere Bücher geschrieben. Sie hinterließ ein beeindruckendes Erbe, das selbst in den USA, selbst unter Feministinnen in Vergessenheit geraten ist. Das Buch ist erst in den 1970er Jahren zufällig im Rahmen der feministischen Bewegungen wieder aufgetaucht, dann auch übersetzt worden.

Charlotte Perkins Gilman entwirft das Bild einer reinen Frauengesellschaft, die sich von den Männern abgrenzt. Diese Frauen sind den Männern, die zufällig mit ihrem Flugzeug auf der Hochebene landen, auch körperlich überlegen. Sie waren sogar in der Lage, ohne Mitwirkung eines Mannes selbst Kinder in die Welt zu setzen. Sie haben eine wunderbare Welt entwickelt. Selbst die Löwen und die Schweine vertrugen sich miteinander. Das sozial Interessante an dem Buch liegt darin, wie es der Autorin gelingt, am Beispiel der jungen Männer, die zufällig in der Frauengesellschaft landen, die Gegensätze zwischen den Werten der Männer und den Werten der Frauen zu schildern. Die jungen Männer werden geradezu bloßgestellt, im Gegensatz zu den naiven Frauen, die über die Jahre, vielleicht über die Jahrhunderte – das bleibt in dem Buch offen – noch keine Berührung mit Männern gehabt haben und eine eigene Kultur entwickelt haben, von der wiederum die Männer überrascht sind. Schmuck spielt keine Rolle, Kosmetik, aufreizende Kleidung ebenso wenig. Das fällt den Männern natürlich auf und sie versuchen, die Frauen mit solchen Dingen zu locken, was diese wiederum nicht verstehen. Dennoch entwickeln sich Liebesverhältnisse. Das schließt Charlotte Perkins Gilman nicht aus. Sie stellt die Unterschiede zwischen der maskulinen und patriarchalischen Sichtweise der Männer und der feministischen Sicht der Frauen geschickt gegenüber.

Norbert Reichel: Ein einsames Tal, ein schwer erreichbares Hochplateau – das sind Motive wie wir sie aus utopischer Literatur eines Thomas Morus oder eines Jonathan Swift kennen, mit Elementen des im 19. Jahrhundert populären Abenteuerromans. Ich denke beispielsweise an Arthur Conan Doyle (1859-1930) und seine fantastische Reiseerzählung „The Lost World“ (1912), in der er die britischen Forschungsreisenden zwar keine ideale Gesellschaft entdecken lässt, aber Menschengruppen und Tiere der Urzeit einschließlich Sauriern. Solche Plateaus gibt es zum Beispiel in Venezuela wirklich, ebenso wie es solche Täler in Afrika gibt. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Das Buch „Das Automatenzeitalter“ von Ri Tokko hat jedoch eine ganz andere Ausrichtung.

Wolfgang Both: Ri Tokkos „Das Automatenzeitalter“ ist sicherlich unter dem Einfluss des Dramas „R.U.R.“ (Abkürzung für „Rossumovi Univerzální Roboti“) von Karel Čapek (1890-1938) entstanden. Die Ausgangsfrage lautet: Wie kann man mit Automaten das Leben einfacher und besser gestalten? Ri Tokko geht über diese Frage hinaus, indem er humanoide Roboter gestaltet. Das führt zu ähnlichen Auseinandersetzungen wie bei Čapek. Gleichzeitig sind wir in dem Buch in einer recht entvölkerten Welt mit gerade 200 Millionen Menschen. In Europa ist gerade noch die norddeutsche Tiefebene dünn besiedelt. Die Ressourcen reichen für die Menschheit völlig aus. Die hilfreichen humanoiden Roboter können die Menschen in jeder Form unterstützen und alle haben ein wunderbares Leben, das die kommunistische Zukunft zu sein scheint. Ob Dexheimer wirklich linke Ideen hatte, wissen wir jedoch nicht. Es ist ebenso möglich, dass es ihm einfach um eine Wohlstandsgesellschaft mit technologischer Unterstützung ging.

Utopien eines neuen Menschen

Norbert Reichel: Ein interessantes Thema ist meines Erachtens die Utopie eines neuen Menschen, auch im Kontext mit eugenischen Überlegungen. Eugenik war bei Weitem nicht nur Teil der Ideologie der Nazis. Peter Bierl hat linke Eugenik in seinem Buch „Unmenschlichkeit als Programm“ (Berlin, Verbrecher Verlag, 2022) ausführlich beschrieben. Ich habe das in einem Essay mal eine „Querfront der Exklusion“ genannt. Dahinter stecken ganz schreckliche Züchtungsgedanken wie beispielsweise bei dem schwedischen Ehepaar Gunnar und Alva Myrdal mit ihrem Buch „Die Krise in der Bevölkerungsfrage“ (1934), in dem sie ein Sterilisationsprogramm fordern, damit sich manche Menschen nicht mehr fortpflanzen können. Die Myrdals lehnten Marx ab, verstanden sich aber als Sozialisten. Als Idealbild gibt es daneben all diese Darstellungen muskelbepackter junger Männer, zum Beispiel in den Plastiken von Arno Breker oder den Filmen von Leni Riefenstahl, in Bildern des sogenannten Sozialistischen Realismus“ ebenso wie im frühen Zionismus mit dem von Max Nordau propagierten „Muskeljuden“.

Wolfgang Both: Das spielt nicht nur in den Utopien eine Rolle, sondern insgesamt auch in den Gesellschaftsmodellen, die von links, von rechts, aus der Mitte entworfen worden sind. Du hast zu Recht gesagt, es gibt nicht nur rechte Vorstellungen vom idealen Körperbau nach dem griechischen Ideal, an dem sich auch die Nazis orientierten. Wir finden das auch in jüdischen Entwürfen und auf der linken Seite. Das Selektionsmodell, das uns Charlotte Perkins Gilman vorlegt, ist noch vergleichsweise harmlos, wenn dort die Tiere zu friedlichen Wesen gezüchtet werden, die Apfelbäume reiche Ernte tragen und die Gesellschaft relativ konfliktfrei ist. Es gibt von allen Seiten Vorstellungen eines Körpers von hoher Gesundheit, großer Schönheit. Das griechische Ideal spiegelt sich in allen sozialen Vorstellungen wider.

Bei den linken Utopien kommt das soziale Verhalten hinzu: Ein Mensch, der gut angepasst ist, selbstlos, altruistisch, der sich in die Gesellschaft einbringt, dort an allen Aktivitäten mitwirkt – ich sage nur „Subbotnik“, ein zwar als freiwillig bezeichnetes, aber dennoch pflichtiges Engagement zusätzlich zur Arbeitszeit, das einfach erwartet wurde. So etwas soll herausgezüchtet werden. Das gab es schon in der Zeit vor Entstehung der jungen Sowjetunion. Beispielsweise werden bei Alexander Bogdanow (1873-1928) solche ganz praktischen Versuche beschrieben, nicht nach dem Frankenstein-Modell, aber er hat selbst einige medizinische Versuche durchgeführt. An einem ist er gestorben, weil man damals die Unverträglichkeit der verschiedenen Blutgruppen untereinander noch nicht kannte.

Das zeigt eben, dass es sehr früh schon Überlegungen gab, Menschen zu entwickeln, die nicht nur schön anzusehen sind, sondern sich auch in die Klassenstruktur, in die Gesellschaftsstruktur problemlos und konfliktfrei einfügen. In solchen Gesellschaften braucht man keine Gefängnisse mehr, keine Polizei, auch keine Armeen, weil alle friedlich und in wunderbarem Austausch miteinander leben oder Konflikte, wenn es sie gibt, zumindest sehr schlank ausgetragen werden.     

Norbert Reichel: Ich darf Ernesto ‚Che‘ Guevara zitieren (in: „Der Sozialismus und der Mensch auf Cuba“, 1965), den du auch in „Rote Blaupausen“ zu Wort kommen lässt: „Es ist der Mensch des 21. Jahrhunderts, den wir zu schaffen haben, auch wenn das bisher nur als ein subjektives und nicht systematisiertes Streben erscheint. Eben darin liegt einer der Hauptpunkte unseres Studiums und unserer Arbeit, und in dem Maße, wie wir konkrete Er folge auf einer theoretischen Basis erzielen oder umgekehrt theoretische Schlußfolgerungen von größerer Tragweite auf der Grundlage unserer konkreten Suche ziehen, leisten wir einen wertvollen Beitrag zum Marxismus-Leninismus, zur Sache der Menschheit.“ Und bei Bogdanow geht es – als Beispiel zitierst du „Der rote Planet“ (1907), nicht um das „Werk von Menschen“, sondern um das „Werk der Menschheit“. Der Einzelne hat im Kollektiv aufzugehen und wird sozusagen zum braven, man könnte auch sagen, zum funktionierenden Mitglied der Gesellschaft erzogen und letztlich herangezüchtet. Der neue Mensch ist in Physis und Psyche gleichermaßen schön.

Wolfgang Both: Sonst funktioniert es ja auch nicht.

Ein Ausblick

Norbert Reichel: Ich möchte an dieser Stelle zwei Bücher hervorheben: „Das Ministerium für die Zukunft“ von Kim Stanley Robinson und „Pantopia“ von Theresa Hannig. Das erhält dann eine ganz andere Dimension als die „Roten Blaupausen“. Isabella Hermann hat schließlich in ihrem Buch „Zukunft ohne Angst – Wie Anti-Dystopien neue Perspektiven eröffnen“ (München, oekom, 2025) utopische Literatur als bewusst anti-dystopische Literatur charakterisiert und gefordert.

Wolfgang Both: Die Bücher, die ich in „Rote Blaupausen“ vorstellen, belegen das ungebrochene Interesse an alternativen Möglichkeiten gesellschaftlichen Zusammenlebens seit dem Beginn des industriellen Zeitalters. Den Utopien wohnt immer auch der Wunsch der Umsetzung inne. Einige, wie Bellamys oder Hertzkas Bücher, setzen ja eine ganze soziale Bewegung in Gang (dazu habe ich gerade einen Artikel für das „Science Fiction Jahr 2025“ bei Hirnkost geschrieben). Das geht über das reine literarische Unterhaltungsmoment hinaus. Es bilden sich neue Klassen, Schichten, neue Berufe, die dann in die Mittelschicht aufsteigen, neue Bildungserfordernisse, um mit den komplizierteren Maschinen umgehen zu können, nicht zuletzt auch im Militär. Der Gedanke, sich damit auseinandersetzen, ist auch heute aktuell, nicht nur im sozialen und im ökonomischen, sondern auch im ökologischen Bereich. Der Roman „Ökotopia“ (1975) von Ernest Callenbach (1929-2012) ist jetzt nun nicht die Gründungsurkunde der Grünen, aber zeigt, dass Autoren auch darüber nachgedacht haben, mit Überlegungen jenseits der bisherigen Denkweisen. Der Bericht des Club of Rome hat einiges bewegt.

Das Interesse ist ungebrochen. Das konnte man in der DDR nicht verhindern und das wird auch zu unserer Freude und der Freude der Leserinnen und Leser weiter bestehen. Es sind aber auch keine umfassenden gesellschaftlichen Darstellungen wie beispielsweise bei Jakob Vetsch (1879-1942), der in „Die Sonnenstadt“ (1923) im Detail bis in die Uhr und den Kalender hinein das neue gesellschaftliche System durchgestaltet hat. Da geht es nicht nur um Bildung, Geld, Eigentum, Frauenrechte, er geht bis in Details der Kleidung. Die Mitglieder der neuen Gesellschaft hatten ihre eigenen Taschenuhren, die die neue Zeit anzeigten. Das sind dermaßen umfassende Utopien wie es sie heutige Autorinnen und Autoren nicht mehr darstellen. Dystopien haben heutzutage größeren Erfolg als die utopischen Gesellschaftsentwürfe, die – das muss ich zugeben – zum Teil auch ein wenig langweilig waren. Es war schon anstrengend, die zweite Hälfte dieser Bücher zu lesen. Auch ein Hertzka hat keine Unterhaltungsliteratur geschrieben. Am Ende stehen Protokolle von der Gründungsversammlung und anderen Veranstaltungen in Eden, in denen die Erfolge gefeiert werden. Das ist dann schon echte Parteitagslyrik.

Zum Weiterlesen:

Wer sich mit der Geschichte der Science Fiction in der deutschen Literatur befassen möchte, lese die vier Bände von Hans Frey (1949-2024), alle bei Memoranda erschienen, die diese Geschichte im 19. Jahrhundert beginnen lassen und über die Weimarer Zeit und die Zeit des Nationalsozialismus in die Zeit nach 1945 hineinreichen, nicht zuletzt auch in einem eigenen Band in die Geschichte der DDR. Die beiden ersten Bände wurden im Jahr 2025 zum Gedenken an den Autor beim Hirnkost-Verlag als Sonderbände der auf 40 Bände geplanten Ausgabe wiederentdeckter Schätze der Science Fiction neu aufgelegt.

Hans Frey bezeichnete „Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine“, so auch sein dreiteiliger Essay, der im Demokratischen Salon veröffentlicht wurde. Karlheinz Steinmüller, der Hans Frey im Hinblick auf die Zukunftsromane in der DDR beriet und nach dessen Tod die Herausgabe der wiederentdeckten Schätze der Science Fiction übernahm, hat im Demokratischen Salon eine kurzen Überblick über die „Utopische Literatur Made in GDR“ gegeben sowie in „Die zensierte Zukunft“ die Arbeits- und Publikationsbedingungen der Autorinnen und Autoren unter den Augen der Stasi beschrieben. Das Thema der sozialistischen Utopien behandelt auch Chiara Viceconti in ihrem Essay „Literarische Zukunftsvisionen unter dem Kommunismus“, insbesondere im Hinblick auf Sowjetunion und DDR.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2025, Internetzugriffe zuletzt am 3. September 2025, Titelbild: Thomas Franke, Ascheglühen, Rechte beim Künstler.)