Vier Monate Fantasie – und dann?

Ein Gespräch mit Dr. Jan Hofmann über ostdeutsche Bildungspolitik

„Keiner der beiden deutschen Staaten, in die Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zerteilt war, kann ohne den Bezug auf den anderen wirklich verstanden werden.“ (Markus Meckel, Zu wandeln die Zeiten – Erinnerungen, Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2020)

Dr. Jan Hofmann und Dr. Hildegard Hamm-Brücher sel. A. während einer Veranstaltung der Theodor-Heuss-Stiftung

Dr. Jan Hofmann ist Philosoph und Pädagoge. Er arbeitete bis 1990 in der Akademie der Wissenschaften, war bildungspolitischer Sprecher der Arbeitsgruppe Bildung und Erziehung am Zentralen Runden Tisch der DDR, ab 1992 Leiter des Pädagogischen Landesinstituts Brandenburg in Ludwigsfelde. Er wurde 2007 Gründungsrektor des Landesinstituts für Schule und Medien Berlin-Brandenburg und war von 2011 bis 2016 Staatssekretär im Schul- und Kulturministerium von Sachsen-Anhalt. Im Juli 2018 hat er mit mehreren Kolleg*innen und Freund*innen die Schmalkalder Erklärung „Die Mauer muss weg“ verfasst. Ich hatte Gelegenheit mit ihm und seinem Bruder Hannes über diese Erklärung zu sprechen. In einem weiteren Gespräch vom 9. Dezember 2020 ging es um die konkreten Entwicklungen im Bildungssystem der ostdeutschen Bundesländer und nicht zuletzt um die engagierten, aber unerfüllten Hoffnungen der Zeit vom November 1989 bis zum März 1990.

Der Zentrale Runde Tisch – die große Hoffnung

Norbert Reichel: Du warst am Zentralen Runden Tisch bildungspolitischer Sprecher. Vielleicht sprechen wir zunächst über die Rahmenbedingungen.

Jan Hofmann: Der Zentrale Runde Tisch tagte in Berlin. Er war eine Sammlung der Bürgerbewegungen im ganzen Land. Auch in allen damaligen DDR-Bezirken gab es Runde Tische und vergleichbare Diskussionsforen. Es war eine große Bewegung. Der Zentrale Runde Tisch in Berlin war eine Organisationsform, in die alle Bürgerbewegungen – Neues Forum, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch, Initiative Frieden und Menschenrechte, Unabhängiger Frauenverband, Volksinitiative Bildung – die Kirchen und die politischen Parteien der DDR Vertreter*innen entsandt hatten. Vom Herbst 1989 bis zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 hat der Runde Tisch in einer sehr schnellen Schrittfolge getagt. Die erste Sitzung fand am 7. Dezember 1989 statt. Das Thema Bildung und Erziehung stand am 5. März 1990 auf der Tagesordnung. Zur Vorbereitung dieses Tagesordnungspunktes wurde im November eine Arbeitsgruppe Bildung, Jugend und Sport gebildet, in der ebenfalls Vertreter*innen der Bürgerbewegungen, aber auch aus den Parteien mitarbeiteten und ihre Positionen einbrachten.

Norbert Reichel: Auf welchem Ticket hast du dich am Runden Tisch beteiligt?

Jan Hofmann: Ich war Mitglied des Neuen Forums, wurde dann aber von der Volksinitiative Bildung benannt, die sich in Berlin gegründet hatte. Zwei Tage, bevor die Mauer fiel, am 7. November 1989, gab es im Haus des Lehrers am Berliner Alexanderplatz, in der Kongresshalle nebenan, einen großen Kongress. Das war der Gründungskongress der Volksinitiative Bildung, die mich an den Runden Tisch entsandte. Später wurde ich in der Arbeitsgruppe – warum, weiß ich heute nicht mehr – zum Sprecher und Berichterstatter für den 5 März gewählt. Ich hatte die Aufgabe, unsere Arbeitsergebnisse am Zentralen Runden Tisch einzubringen.

Norbert Reichel: Ihr hattet etwa drei bis vier Monate Zeit.

Jan Hofmann: Drei bis vier Monate. In dieser Zeit haben wir viele praktische Fragen diskutiert. Wir sind zum Beispiel in einen Jugendwerkhof gegangen, weil uns bekannt war, dass dort ganz furchtbare Bedingungen herrschten. In einen Jugendwerkhof wurden Jugendliche eingewiesen, die im DDR-System als „schwer erziehbar“ galten. Wir sind dort kurzerhand hingefahren und haben die Leitung, die Erzieher*innen spontan befragt, was hier eigentlich los sei. Wir haben uns als Verfechter*innen von Bürger- und Menschenrechten verstanden und natürlich auch grundsätzliche Fragen diskutiert, die dann in das berühmte Positionspapier eingeflossen sind, das wir dann dem Zentralen Runden Tisch zur Verfügung gestellt und am 5. März 1990 vorgetragen haben. Es gibt einen von Uwe Thaysen herausgegebenen dreibändigen Protokollband (Wiesbaden, Westdeutscher Verlag, 2000) zur Geschichte des Zentralen Runden Tischs, insgesamt drei Bände, die auch die Wortprotokolle enthalten.

Norbert Reichel: Die Jugendwerkhöfe waren damals schon ein heftiges Thema. Welche weiteren Themen habt ihr erörtert?

Jan Hofmann: Im Prinzip haben wir versucht, den Zeitgeist einzufangen. Wir wollten das, was in den Bürgerbewegungen gedacht wurde, zusammenführen. Ich nenne ein paar Stichworte:

  • Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit: Wir haben uns eine Bildungspolitik vorgestellt, die eine gerechte Chancenverteilung schafft, die nicht nur die Eliten oder die sozial Vorteilhaften berücksichtigt. Das war ein ganz anderer Ansatz, auch gegenüber dem, was in Westdeutschland diskutiert wurde. Jedes Kind sollte Gelegenheit haben, einen höherwertigen Bildungsabschluss zu erlangen.
  • Lebenslange Bildung: Es muss möglich sein, im Verlauf des Lebens stetig Bildungseinrichtungen zu nutzen. Dafür müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit jedermann*jederfrau der Zugang ermöglicht wird.
  • Sehr intensiv haben wir die Themen Frühkindliche Bildung, Kleinkinderziehung, gerade auch in Heimen, diskutiert. Das hatte mit den dramatischen Berichten über die Heimerziehung zu tun. Nicht nur in den Jugendwerkhöfen waren die Zustände katastrophal.
  • Demokratische Mitbestimmung sollte in allen Bereichen und Gremien gestärkt werden. Es sollten Wege gefunden werden, wie fundamentale Grundinteressen in einem demokratischen Verständnis einfließen können.
  • Freizeitgestaltung und Öffnung der Bildungseinrichtungen: Warum sollten Schulen eigentlich nur am Vormittag und am frühen Nachmittag öffnen? Warum sollten sie nicht ganztägig genutzt werden?

Es gab sehr viele Abstimmungsrunden, um einen Konsens zu erreichen.

Norbert Reichel: Gab es Rückkopplungsprozesse mit denen, die ihre Vertreter*innen entsandt hatten, oder auch mit anderen Bürger*innen?

Jan Hofmann: Absolut. Vielleicht noch ein paar Worte zur Vorgeschichte: Etwa ab September 1989 beteiligten sich viele Bürger*innen an vielen kleinen Initiativgruppen. Sie schrieben Papiere, um zu erklären, was sie eigentlich anders haben wollten, und diese Dokumente waren dann auch Grundlagen für den Zentralen Runden Tisch. Wir haben damals eine Inhaltsanalyse erstellt. Wir haben versucht, den Kern all dieser Texte herauszuarbeiten. Frustrationsbeschreibungen haben wir weggelassen und geschaut, was gewünscht, was gefordert wurde. Aus diesem Material sind dann die Forderungen entstanden. Es gab die Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestages „Zukünftige Bildungspolitik – Bildung 2000“ des 11. Deutschen Bundestages. Die haben diese Inhaltsanalyse dann auch veröffentlicht, sodass die Texte auch im Westen verfügbar wurden.

Eine weitere interessante Quelle ist die Schulbuchanalyse, die der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR (BEK) schon im Frühjahr 1989 erstellt hatte. Analysiert wurden etwa 10.000 Seiten Lehrpläne, aus denen das Selbstbild der DDR abgeleitet werden sollte und konnte. Wie sieht sich die DDR in der Geschichte? Was ist die Zukunftsvision? Auch dieses Material floss in die Arbeit des Zentralen Runden Tischs ein. Und natürlich haben wir weitere Berichte entgegengenommen und diese in die Arbeitsgruppe eingespeist.

Von Bedeutung waren auch die Briefe an Christa Wolf zu ihrem Artikel „Das haben wir nicht gelernt“ vom 27. Oktober 1989, die ich gemeinsam mit Petra Gruner herausgegeben habe. („Angepaßt oder mündig?“ Briefe an Christa Wolf im Herbst 1989, Sammlung Luchterhand 926) Darin sind auch fundamentale Positionen enthalten, wie sich Bildung verändern müsse.

Bildungsziele, Lehrpläne, Schulbücher in der DDR

Norbert Reichel: In deinem Nachwort zu den Briefen an Christa Wolf hast du die „Aufhebung des Bekenntniszwangs“ gefordert. Was war der Kern der BEK-Analyse?

Jan Hofmann: Ich versuche die wichtigsten Punkte zu nennen.

  • Das Thema Geschichte. Geschichte in der DDR war Klassenkampfgeschichte. Religiöse und kulturelle Aspekte kamen so gut wie nicht vor. Es gab eine mechanische Vorstellung von Geschichte bis hin zum Sozialismus. Die DDR erschien als der Endpunkt der deutschen Nationalgeschichte und alles davor war eben nur Vorgeschichte. Die DDR verstand sich als Repräsentantin der gesamten deutschen Geschichte. Alles in allem ein sehr verkürztes Geschichtsbild.
  • Thema Gesellschaft: Es gab die Vorstellung einer harmonischen konfliktfreien Gesellschaft. Das gesellschaftliche Leben wurde in staatlicher Form vorgegeben. Die Menschen konnten und sollten sich nur den Staat als Organisator von allem vorstellen.
  • Fragen der Ökologie tauchten nur unter dem Aspekt der ökonomischen Machbarkeit auf. Immer wenn etwas ökonomisch vertretbar war, kam auch Ökologie zu ihrem Recht. Wir haben dann schon gefrotzelt, dass Kinder aufgefordert wurden, ihr Bonbonpapier nicht in den Wald zu werfen, aber gleichzeitig diese Dreckschleudern in Bitterfeld und Wittenberg ungefiltert liefen. Das war schon eine Bewusstseinsspaltung, auch schon im Leben der Kinder.

Norbert Reichel: Das war im Hinblick auf Ökologie im Westen auch nicht viel anders.

Jan Hofmann: Das war in diesem Punkt schon sehr ähnlich. Zum Thema Frieden: Frieden war die vom Staat gegebene Hinführung zum Sieg im internationalen Klassenkampf. Das war die Staatsdoktrin. Bis zu diesem Sieg sollten wir uns gedulden. Staat und Partei kämpften für den Frieden, und so brauchte auch niemand Abzeichen, um sich selbst als Friedensritter*in oder Friedensfreund*in zu bezeichnen. Abzeichen, die zum Beispiel Gegner*innen von Atomwaffen auf ihren Parkas trugen, waren verboten, weil sich der Staat als Friedensgarant und Friedensstifter verstand. Außerdem wurde immer wieder eine Sprache des Kampfes gepflegt, Kampf gegen den Feind, den Kapitalismus, den Imperialismus, den Faschismus, alles sehr eindimensional-deutliche Aussagen.

Thema Zukunft: der wissenschaftlich-technische Fortschritt ging immer vorwärts, höher, besser. Zukunft – so hieß es – entsteht auf den Reißbrettern des Sozialismus. Eine Alternative gibt es nicht. Das war die Vorstellung.

Aus solchen Stichworten lässt sich ersehen, welchen Stoff sich der Zentrale Runde Tisch vorgenommen hatte. Es ging auch darum, diese staatlichen Aussagen zu relativieren und ihre Blödsinnigkeit herauszuarbeiten.

Norbert Reichel: Wie waren die Verfahren zur Erstellung eines Lehrplans oder von Schulbüchern in der DDR?

Jan Hofmann: Die Leitstelle für die Entwicklung der Lehrpläne war die Akademie der pädagogischen Wissenschaften in Berlin.

Norbert Reichel: Das Archiv findet sich auf Seite des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF): Die Akademie war damals auch dein Arbeitsplatz.

Jan Hofmann: Dort habe ich in den Jahren 1988 und 1989 gearbeitet. Parallel dazu arbeitete ich im Bereich Wissenschaftsphilosophie bei Karl Friedrich Wessel an der Humboldt-Universität Berlin.

Lehrpläne entstanden im Auftrag der Ministerin für Volksbildung. Die Akademie bildete dann Kommissionen mit ihren Wissenschaftler*innen und mit ausgewählten Vertreter*innen der Schulpraxis. Diese entwickelten die Lehrpläne. Die erarbeiteten Lehrpläne wurden ideologisch geprüft und gingen in eine Erprobungsphase. Eine wichtige Rolle spiele in diesem Zusammenhang auch das zentrale Institut für Weiterbildung in Ludwigsfelde. Nach dem Fall der Mauer entstand dort das Pädagogische Landesinstitut Brandenburg, das spätere Landesinstitut für Schule und Medien Berlin und Brandenburg. Von dort aus wurden die Lehrkräfte in der DDR mit den neuen Lehrplänen konfrontiert.

Norbert Reichel: Was heißt „ideologisch überprüft“?   

Jan Hofmann: Zunächst geschah das schon in den Kommissionen, dann in einem Gremium zwischen Ministerium und Akademie.

Norbert Reichel: Musste alles der Ministerin persönlich vorgelegt werden?

Jan Hofmann: Das wurde so gesagt. Ich will aber nicht beschwören, dass sie alle Lehrpläne gesehen hat. Das war ja eine ganze Menge, aber letztlich musste die Ministerin für Volksbildung alles bestätigen.

Norbert Reichel: Und die Schulbücher?

Jan Hofmann: Das war eine Sache der Verlage, vor allem der Verlag Volk und Wissen. Das war der größte Verlag, der im Grunde eine Monopolstellung hatte. Der Verlag wurde frühzeitig bei der Erstellung der Lehrpläne beteiligt. Dann wurden sehr kurzfristig Schulbücher erstellt, die ebenfalls in der Akademie überprüft und vom Ministerium zugelassen wurden.

Norbert Reichel: Wie sah es mit den Fachinhalten aus. Über Geschichte und das Bild der Gesellschaft haben wir gesprochen. Ich denke an Staatsbürgerkunde, an Deutsch sowie an die militärische Dimension von Frieden.

Jan Hofmann: Ich bin kein Spezialist für diese Themen. Ich weiß nur, dass Staatsbürgerkunde eine zentrale Kategorie war. Es ging um die Formung des Bewusstseins der Bürger*innen des sozialistischen Staates, zentral in der gesamten Schulzeit. Der zentrale Sockel, der auch Geschichtsbewusstsein und Zukunftsvision abhandelte. Die Abfolge der Parteitage der SED war Thema, ebenso wie entscheidende Beschlüsse und Verabredungen.

Zum Fach Deutsch: Es gab einen Kanon von Literaturempfehlungen, der abgearbeitet werden mussten. Alle Schüler*innen lasen etwa zur selben Zeit dieselben Texte, das galt von Rügen bis zum Thüringer Wald. Schullektüre waren beispielsweise „Wie der Stahl gehärtet wurde“ von Nikolai Ostrowski und „Timur und sein Trupp“ von Arkadi Gaidar.

Norbert Reichel: Das waren sowjetische Autoren. Das große Vorbild, die Sowjetunion.

Jan Hofmann: Ja, so war es, die Lektüre war keine Empfehlung, die auch ignoriert werden konnte. Das waren Auflagen.

Zur militärischen Ausbildung: Wehrkundeunterricht war seit 1978 in den neunten Klassen Pflichtfach. Es gab große Konflikte um dieses Fach mit den Kirchen, auch in den Familien. Es war klar, dass wir mit dem Zentralen Runden Tisch die Abschaffung dieses Unterrichts als eine zentrale Forderung erhoben. Wenige Wochen später, noch vor der Volkskammerwahl, wurde das auch umgesetzt.

Westimporte

Norbert Reichel: Was waren die strittigen Punkte im Zentralen Runden Tisch?

Jan Hofmann: Ich nenne einen kritischen Punkt zum Thema Bildungsgerechtigkeit. Wie sollten und könnten wir Behinderte integrieren? Die DDR hatte ja ein ausgeklügeltes System, Kinder zu separieren.

Norbert Reichel: Institutionalisierte Exklusion.

Jan Hofmann: Absolut. Es gab starke Forderungen nach – wie wir das heute nennen würden – Inklusion. Die Fragen, die wir heute zu diesem Thema diskutieren, haben wir auch damals diskutiert. Wie kann das funktionieren? Sind die Lehrkräfte dazu in der Lage?

Es gab eine weitere große Diskussion. Soll es wieder Gymnasialbildung geben? Die gab es in der DDR ja nicht. Aber alles in allem war deutlich, dass wir nach einem neuen Weg von Schule wollten.

Norbert Reichel: Und mit dem 18. März 1990 änderte sich dann alles.

Jan Hofmann: Es wurde beschlossen, die Volkskammerwahl auf den 18. März 1990 vorzuverlegen. In diesem Augenblick war die Diskussion tot, weil die großen politischen Parteien in ihren Wahl- und Parteiprogrammen Bildungspassagen einbauten. Sie schrieben Punkte hinein, die auch schon im Westen eingängig waren. Die SPD wollte Gesamtschulen, die CDU Gymnasien. In diesem Kontext wurde die Suche nach etwas Neuem an die Seite gedrückt. Das Kuriose daran: in der Öffentlichkeit sprachen alle über Dinge, die niemand kennen konnte. Niemand kannte ein Gymnasium, kannte eine Gesamtschule. Aber es wurde trefflich gestritten.

Norbert Reichel: Der Sieg des Westimports über die eigenen Ideen?

Jan Hofmann: Oder auch freiwillige Übernahme. Die Macher*innen der Parteiprogramme brauchten etwas zu Bildung, da griff niemand auf die Konzepte aus der Bürgerbewegung zurück, die zugegebenermaßen auch noch nicht ausgereift waren. Man*frau hat geschaut, was sagen die Parteifreund*innen im Westen und hat kopiert und abgeschrieben. Das war dann die neue Realität. Ich formuliere es mal so: mit dem Tag der Volkskammerwahl endete diese wilde, auch unstrukturierte Suchbewegung nach einem neuen Weg. Das betraf nicht nur die Bildungspolitik, auch andere Politikfelder. Am 4. April 1990 stellte der Zentrale Runde Tisch auch einen Verfassungsentwurf vor, der dann aber von der am 18. März gewählten Volkskammer nicht weiter behandelt wurde. Die Phase des Aufbruchs zwischen November 1989 und März 1990 wurde durch die Übernahme von in der Bundesrepublik Deutschland, im Westen gängigen Vokabeln, Strukturvorschlägen und Kommunikationsformen abgelöst.

Norbert Reichel: Das hört sich so an, als hätten die Parteien euch das Heft aus der Hand genommen.

Jan Hofmann: Das ist genau so gewesen. Eine der Schlussfolgerungen der letzten Sitzung des Zentralen Runden Tischs zum Bildungsthema am 5. März 1990 lautete, dass die Arbeitsformen des Zentralen Runden Tisches beibehalten werden sollten, um eine dichte und enge Beteiligung der Bürger*innen zu ermöglichen. Das wurde nie aufgegriffen. Als die Wahl durch war, hat die politische Mehrheit alles Mögliche auf den Weg gebracht, aber die bisherige Arbeitsform war beendet.

Norbert Reichel: Ich war damals Referent im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft in Bonn und kann mich noch gut daran erinnern, dass damals jedes neue Bundesland – so hieß das damals und manche benutzen diesen Begriff heute noch – sich am jeweiligen Partnerland orientierte, Brandenburg an Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt an Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern an Schleswig-Holstein, Sachsen an Baden-Württemberg und Thüringen an Hessen. Alle versuchten, das gegliederte Schulsystem des Westens mehr oder weniger im Maßstab 1:1 zu übertragen. Abweichungen gab es in Nuancen, aber nie im Grundsatz. Ein Wissenschaftler des Dortmunder Instituts für Schulentwicklung rechnete damals aus, wie teuer das wäre. Aber das interessierte nicht.

Jan Hofmann: So war es. Die im Osten entstandene Schuldiskussion erhielt ihre Impulse aus der Kritik an POS und EOS. Die Vorstellung: wir schauen, was reformbedürftig ist, was für die Zukunft in Europa passt und übernehmen eben nicht alles aus dem Westen im Maßstab 1:1. Wir schauen, wie wir uns neu aufstellen können. Dazu gehören Fragen nach Mündigkeit, Selbstverantwortung, Selbstbestimmung, unabhängigen Bürger*innen – das waren die Forderungen der Runden Tischler*innen. Das waren Bildungsziele, noch keine konkreten Strukturvorstellungen. Doch dann kamen durch die Parteiprogramme zur Volkskammerwahl Strukturvorstellungen wie Gliederung nach Schulformen in den Vordergrund und die emanzipatorischen Bewegungen im Osten wurden beiseitegedrängt.

Norbert Reichel: Wir beide haben uns 1990 kennengelernt. Damals warst du Referatsleiter im Bildungsministerium Brandenburg. Ministerin war Marianne Birthler, die auch aus dem Neuen Forum kam. Wer waren die weiteren Akteur*innen nach der Volkskammerwahl? Ich hatte den Eindruck, dass sich die Dinge in Brandenburg etwas anders entwickelten als in den anderen „neuen Bundesländern“, wie mir auch Steffen Reiche in einem Gespräch vermittelte. Es gab einige wie du und Marianne, die aus der Bürgerbewegung kamen. Aber viele der Beamt*innen, die ich traf, kamen aus dem Westen. Sie erhielten doppeltes Gehalt, die sogenannte „Buschzulage“, und besetzten Positionen, die sie im Westen vielleicht nie erreicht hätten.

Jan Hofmann: Da ist was dran. Die Übergangszeit vom 18.3.1990 bis zum 3. Oktober 1990 war die Zeit der letzten DDR-Regierung, eine Regierung, die das Mandat hatte, sich selbst aufzulösen. So etwas ist in der Geschichte ja nicht so häufig.

Norbert Reichel: Eher nicht. Wir sprachen eben schon an, dass der vom Zentralen Runden Tisch vorgelegte Entwurf einer Verfassung ignoriert wurde. Es erfolgte der Beitritt nach Art. 23 Grundgesetz und damit die Selbstauflösung der DDR. Die existierte als Staat nach dem 3. Oktober 1990 nicht mehr und war irgendwie auch schon seit dem 18. März 1990 nicht mehr relevant. Die Art und Weise der Behandlung der DDR-Regierung bei Gesprächen mit dem damaligen Bundeskanzler sprechen für sich.

Jan Hofmann: Angetreten war diese Regierung mit dem Auftrag, sich selbst aufzulösen und diesen Prozess zu gestalten. Es musste nun ein Einigungsvertrag her, der die Regelungen für die deutsche Einheit fixierte. In dem Augenblick, in dem wir auf der Grundlage der Wahl vom 18. März eine arbeitsfähige Regierung hatten, ging die Arbeit am Einigungsvertrag in volle Fahrt über. Es gab im Grunde folgende Alternativen:

  • Will man*frau – salopp gesagt – den Sockel der DDR stehen lassen und Schritt für Schritt kleine oder auch größere Reformen durchführen, aber eben die Grundstruktur für eine gewissen Zeit erhalten, vielleicht auch die bestehenden Handelskontakte?
  • Oder will man*frau die sogenannte Anschlussvariante, indem die 17 Millionen Bürger*innen der DDR an die BRD angeschlossen werden?

In diesen Monaten wurde die Anschlussvariante die zentrale Grundlage. Das hatte zur Folge, dass mit dem 3. Oktober 1990 das Rechts-, Regel- und Normensystem der Bundesrepublik Deutschland zu den Konditionen des Einigungsvertrags auf den Osten übertragen wurde. Damit wurden westliche Antworten auf östliche Fragen gegeben. So ließe sich das sagen. Verfahren wurden kompliziert, weil im Osten niemand Erfahrungen mit den westlichen Regelungen hatte. Ein einfaches Beispiel ist die Steuererklärung. Jetzt mussten alle eine Steuererklärung abgeben. Das gab es in der DDR nicht. In vielen Punkten gab es durchweg ein neues Koordinatensystem.

Elitenaustausch

Norbert Reichel: Ich denke mal an die handelnden Personen. Wir haben schon oft über das Thema Elitenaustausch gesprochen. Menschen aus dem Ministerium für Volksbildung, dem Staatssekretariat für Berufsbildung suchten eine Bonner Perspektive oder auch in einer der Hauptstädte der „neuen Bundesländer“. In Bonn suchten sich alle Ansprechpartner*innen, so eine Art Pat*innen, von denen sie erhofften, dass sie ihnen die begehrte Weiterbeschäftigung im neuen Staat vermittelten. Dabei überschätzten sie die Möglichkeiten der angesprochenen Personen völlig. Ich hatte gleich zwei ehemalige Mitarbeiter*innen des Ministeriums für Volksbildung, die nicht müde wurden, sich auf mich – auch ohne mein Wissen – zu berufen. Vielleicht keine Kleinigkeit: im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, in dem ich damals arbeitete, erhielten alle Bewerber*innen aus dem Osten die Möglichkeit, ihre Akten zu bereinigen.

Jan Hofmann: Vielleicht noch eine Vorbemerkung zum Elitenaustausch. Bei einer Sozialanalyse der DDR ergibt sich, dass die Personen, die im weitesten Sinne zu den Berufsgruppen gehörten, die ich jetzt einmal Funktionselite nennen möchte, damit meine ich alle vom Zentralkomitee der SED bis hin zur Basis, die das System aktiv getragen haben, etwa eine Million Menschen umfasste (Schule, Hochschule, Sicherheitsorgane, Justiz, Staatsapparat, Kombinate und VEB, Beiräte). Das sind dann etwa eine Million Menschen, die jetzt eine neue berufliche Chance für sich suchen mussten.

Zentral war mit dem 3. Oktober 1990 für diese Personengruppe wie auch für alle anderen die Privatisierung des Risikos. In der DDR lebten alle in einem relativ geschlossenen System. Von der Wiege bis zur Bahre war alles weitestgehend strukturiert und organisiert. Und wenn man*frau im System nicht aufgefallen ist, konnte man*frau damit auch hinreichend auskommen. Doch jetzt wurde das Risiko privatisiert. Jede*r war seines*ihres Glückes Schmied, du bist verantwortlich, im Beruf, du musst dich bewerben, deinen Wert deutlich machen. Darauf waren die meisten Menschen in der DDR nicht vorbereite, weil das in der DDR nicht erforderlich war. So traten dann natürlich viele Verwerfungen ein.

Dazu kam eine Heerschar von Beamt*innen aus den westlichen Bundesländern, beim Staat, bei Banken, auch in der Wirtschaft, in den Universitäten, die nun als sogenannte Aufbauhelfer*innen den Ostmenschen zur Seite traten. Sie waren sehr gut bezahlt. Du erwähntest die „Buschzulage“. Für diejenigen, die im Westen in eingefahrenen Strukturen gefangen waren, war das sicherlich lukrativ, auch im Ansehen in der Familie und im Bekanntenkreis, wenn man*frau am Montagmorgen zum Flughafen Köln/ Bonn fuhr, um nach Berlin zu fliegen und im Brandenburger Ministerium zu arbeiten.

Jetzt gab es natürlich auch Stellen im Osten. Sinnvoll wäre gewesen, dass die Aufbauhelfer*innen helfen, eine neue Elite auszubilden, aber es war oft so, dass die neuen Stellen im Osten ein attraktives Jobangebot für diejenigen aus dem Westen waren, die dort nicht weiterkamen. Da gewannen die Schnellen, die Geschulten, die Gewieften. Und das waren nicht immer die Qualifizierten. So kamen nicht nur diejenigen, die im Westen zu den Zukunftsträger*innen gehörten, sondern eben auch viele andere.

Die Funktionseliten der DDR hatten kaum eine Chance. Abgesehen von einigen Seilschaften, die es natürlich auch gab, waren viele auch verbrannt. Im Großen und Ganzen gab es einen vollständigen Wechsel, der ja in der heutigen Diskussion bekannt ist und benannt wird.

Norbert Reichel: Manchmal denke ich darüber nach, was geschehen wäre, wenn Deutschland nach 1945 – in beiden Staaten – einen solch radikalen Austausch der Eliten betrieben hätte wie das nach dem Niedergang der DDR der Fall war.

Jan Hofmann: Ich benenne noch zwei weitere zentrale Begriffe der Zeit, die gerade im Bildungsbereich eine Rolle spielen: die demographische Entwicklung und die Bildungsexpansion. Beide Begriffe gehören zusammen. Auf der einen Seite wurden viele Bildungsstandorte im Osten massiv gefährdet, denn im letzten Jahr der DDR wurde noch ca. 200.000 Kinder geboren, zwei bis drei Jahre später nur noch ca. 70.000. Die Geburten reduzierten sich auf etwa ein Drittel. Das gab es in der deutschen Geschichte in diesem Ausmaß noch nie. Auf der anderen Seite wuchs der Wunsch in der DDR-Bevölkerung, ihren Kindern einen möglichst hohen Bildungsabschluss zu ermöglichen, höher als die POS. In der DDR kamen etwa 12 – 13 Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs zum Abitur. Jetzt wollten das 40 Prozent, und das möglichst auf einem Gymnasium.

An beiden Enden fuselte das System aus: es gab viel weniger Kinder in der Schule, anderseits wurde der Wunsch nach einem höheren Bildungsabschluss immer größer. Das war in der frühen Phase der „neuen Bundesländer“ eine große Herausforderung und es beschreibt die enorme Dynamik dieser Zeit.

Die große Überforderung

Norbert Reichel: Den Briefen an Christa Wolf konnte ich entnehmen, dass es auch eine nennenswerte Zahl von Lehrer*innen gab, die das System gut fanden, die eher keine Änderungen wollten, anders als die Lehrer*innen, die sich in der Bürgerbewegung engagierten. Es gab sicherlich auch viele, die sich neutral verhielten. Das war ein recht heterogenes Bild. Was hat sich zwischen November 1989 und Ende 1990 verändert?

Jan Hofmann: Es gab massive Veränderungen für die gesamte pädagogische Intelligenz, für alle, die im Bildungs- und Erziehungssystem Verantwortung trugen. Studien gibt es dazu nicht, aber ich wage – ohne es beweisen zu können – die Behauptung, dass die übergroße Mehrzahl, unabhängig von der jeweiligen Nähe oder Distanz zum System, die Veränderungen nicht nur als etwas Überraschendes, sondern auch vielleicht als etwas Verängstigendes empfanden.

Norbert Reichel: Als etwa Überforderndes?

Jan Hofmann: Überforderndes ist ein gutes Wort. Was wird aus meinem Beruf? Werde ich weiter pädagogisch tätig sein können? Das fragten sich natürlich vor allem diejenigen, die staatsrelevante Fächer unterrichteten, aber nicht nur die. Werde ich die Anforderungen, vor die ich jetzt gestellt werde, mit meinen Qualifikationsstandards, die ich in der DDR erworben habe, erfüllen können?

Für viele war die Wendegeschichte auf der einen Seite eine gute Sache. Sie konnten jetzt zum Beispiel frei reisen. Andererseits gab es berufsbedingt eine große Nervosität und Verunsicherung. Die Folge: viele versuchten, die Strategien, die sie in der DDR gelernt hatten, anzuwenden. Halte dich erst einmal zurück, fall nicht besonders auf, leg dich nicht mit der Leitung an, schau, wie sich alles entwickelt. Mit solchen Verhaltensstrategien kam man*frau in der DDR ganz gut zurecht. Und so begegneten viele der neuen Obrigkeit, ich sage mal den neuen Eliten, einerseits mit großem Respekt, aber auch mit großer Zurückhaltung. Das änderte sich später und hatte auch viel mit einer enormen Anpassungsleistung zu tun.

Wenn du mich fragst, was eigentlich das Bündel all dieser Probleme war, antworte ich mit vier Gesichtspunkten:

  • Zunächst die spezifisch ostdeutschen Probleme, die aus der ostdeutschen Geschichte, der DDR-Geschichte herrühren.
  • Dann die Probleme, die ihren Ursprung in der Schwierigkeit der Anwendung westlicher Gesetze auf östliche Bedingungen hatten.
  • Drittens der Problemexport von West nach Ost. Es gab viele Personen aus dem Westen, die im Osten die Probleme lösen wollten, die sie im Westen nicht lösen konnten, aus welchen Gründen auch immer. Das taten sie mit guten Absichten, aber es war schon eine wilde Exportstrategie.
  • Und viertens die Probleme, die sich aus der demographischen Entwicklung und dem Wunsch nach höheren Bildungsabschlüssen ergaben.

Diese vier Bilder machen aus meiner Sicht die zentralen Kategorien dieser Zeit aus. Letzen Endes ist die große Herausforderung, aus zwei Systemen etwas neues Drittes zu schaffen, nicht gelungen.

Strukturen oder Inhalte?

Norbert Reichel: Das hört sich als Fazit für die Arbeit des Runden Tisches vorsichtig gesagt zurückhaltend, offen gesagt vernichtend an.

Jan Hofmann: Ja, das ist auch so, und ich würde das auch so sehen. Die Sachzwänge der Zeit waren so unglaublich stark, dass die Ideen, die der Runde Tisch – oft ohne Strukturvorstellung, eher ethisch gedacht – formulierte, Gerechtigkeit, Freiheit, Beteiligung der Bürger*innen und so weiter, dass diese Ideen immer mehr in den Hintergrund und Strukturfragen in den Vordergrund rückten.

Norbert Reichel: Das sollte eigentlich umgekehrt laufen: Strukturen folgen den Inhalten.

Jan Hofmann: Sybille Volkholz war damals Bildungssenatorin in Berlin, Sie berief einen Berliner Bildungsrat ein, mit Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aus beiden Stadthälften. Da war beispielswiese Klaus Klemm dabei. Auch ich war benannt worden. Wir haben intensiv gearbeitet. Aber die Sachzwänge waren stärker. Der Bildungsrat hatte ein paar gute Empfehlungen formuliert, aber die Zeit lief so schnell, dass die Empfehlungen schon als sie aufgeschrieben wurden veraltet waren.

Vielleicht ist das etwas zynisch: in allen Fällen haben sich die Verwaltungen vorwiegend oder sogar ausschließlich um die aktuellen Fragen gekümmert, die sich aus dem System ergaben. Soll am Sonnabend Unterricht sein? Wie muss der Lehrplan in Mathematik verändert werden? Kann ein Abschluss aus der DDR anerkannt werden? Brauchen wir eine neue Prüfungsordnung? Das war ein unerhörtes Tempo.

Dann flog die Berliner Regierung auseinander, Sybille Volkholz war nicht mehr Senatorin, Cola Kuhn nicht mehr Staatssekretär, und der Bildungsrat beendete seine Arbeit. Das war eine gute Absicht, aber es gab keine Chance, so fundamental Bildung zu verändern, wie es gut gewesen wäre.

Norbert Reichel: Inhalte und Perspektiven im Vordergrund, Strukturen im Hintergrund – das war und ist auch immer wieder eine Debatte im Westen. Auch dort gewinnen in der Regel die Sachzwänge. Testergebnisse sind wichtiger als die Frage, was Kinder eigentlich wirklich lernen sollten oder die Frage, wie sie sich zu selbstbestimmten Persönlichkeiten entwickeln können.

Wir haben über Berlin und Brandenburg gesprochen. Kannst du ähnliche Entwicklungen in den anderen „neuen Bundesländern“ feststellen. In Sachsen-Anhalt warst du ja dann etwa zwanzig Jahre nach dem Mauerfall Staatssekretär.

Jan Hofmann: Die Länder hatte alle Partnerländer, sodass häufig die Handschrift des jeweiligen Partnerlandes erkennbar war. Das war eine durchaus freundschaftliche Zusammenarbeit, aber wie gesagt, auch eine Variante der freundlichen und freiwilligen Übernahme. Ein paar interessante Ansätze gab es natürlich auch. In Sachsen hatte Kurt Biedenkopf als Ministerpräsident Stefanie Rehm (CDU) zur Bildungsministerin ernannt. Sie war – ich darf das sagen – eine relativ schwache Ministerin, aber ihre Biographie war unter den damaligen Gesichtspunkten „sauber“, keine StaSi-Kontakte, nichts dieser Art. Als Staatssekretär wurde Wolfgang Nowak aus Nordrhein-Westfalen geholt, ein Sozialdemokrat. Eine ostdeutsche Frau und ein westdeutscher Verwaltungsprofi haben dann tatsächlich versucht, auch an Traditionslinien aus dem DDR-System anzuknüpfen. Sie hatten sogar eine Art Vorreiterrolle. Jahr später, sagen wir bei den ersten nationalen und internationalen Schulleistungstests (TIMSS, PISA etc.) hatte Sachsen oft noch signifikante Vorsprünge gegenüber den anderen „neuen Bundesländern“. Andere betrieben das so nicht. Grundtendenz war: wir müssen das, was wir machen, auf dem Sockel der westlichen Regeln machen.

Norbert Reichel: Du sagtest eben „freundschaftlich“. Mich erinnert der Begriff ein wenig an den Sprachgebrauch zum Verhältnis zwischen DDR und Sowjetunion.

Jan Hofmann: Ich glaube, da haben alle Schattierungen eine Rolle gespielt, mal war die Zusammenarbeit wirklich freundschaftlich, mal eher zynisch. Alle Länder haben versucht, ihre Wege zu finden. Das musste ja auch – siehe Einigungsvertrag – KMK-konform sein. Im Wesentlichen gab es in allen Ländern ähnliche Entwicklungen, wenn wir vielleicht von Einzelfällen absehen wie der sechsjährigen Grundschulzeit in Berlin und in Brandenburg.

Norbert Reichel: Die demographische Entwicklung wirkte ja dann auch, und die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems wurde bedroht. Das ist auch im Westen so gewesen, wenn auch etwas später, aber schon zu Beginn der 1990er-Jahre gab es dort Entwicklungen zu mehr integrativen Systemen, um arbeitsfähige Schulen zu erhalten. Das einzige, was im Westen nie in Frage gestellt wurde, war das Gymnasium.

Jan Hofmann: So auch in den ostdeutschen Bundesländern.

Norbert Reichel: Was ist denn jetzt von den Reformgedanken des Zentralen Runden Tisches geblieben?

Jan Hofmann: Ich glaube für die Akteur*innen der damaligen Zeit lässt sich Folgendes sagen:

  • Man*frau kann Kraft seiner*ihrer Werte, Kraft von Papieren die Zeit mitgestalten. Das ist zumindest für die Akteur*innen dieser Zeit tief in ihrem Bewusstsein haften geblieben. Das sagen viele, die damals aktiv waren und von denen manche dann auch in den Ländern Funktionen übernahmen. Die Akteur*innen, die dabei waren, haben gelernt, dass es möglich und richtig ist, sich in demokratische Veränderungsprozesse einzumischen.
  • Ein zweiter Punkt: Alle Themen, die der Runde Tisch damals auf die Tagesordnung gesetzt hat, die ja alle eine ethische Ausrichtung hatten, Gerechtigkeit, lebenslanges Lernen, Freiheit, das sind Themen in der Bildungspolitik auf Dauer. Und dass es notwendig ist, sich auf der Grundlage von Klärungen von Fundamentalfragen über Strukturfragen auseinanderzusetzen. Leider wird es aber oft umgekehrt gehandhabt. An den Anfang wird die Struktur gesetzt, in der Hoffnung, dass die Leute das dann auch schön finden. Am Anfang muss jedoch eine grundlegende Diskussion stehen.
  • Die dritte Erfahrung, die ich immer sehe, das ist eine sehr wichtige Erfahrung, das ist die Frage nach der Finanzierung. Die spielt immer eine Rolle. Das war ein Nachteil am Runden Tisch. Darüber haben wir uns so gut wie gar nicht unterhalten, davon hatten die meisten auch keine Ahnung. Es geht darum, dass jeder Beschluss auch ausfinanziert werden muss. Was kostet das? Wie kann ich das Geld sichern?

Das sind die Erfahrungen, die ich aus diesem Abschnitt mitgenommen habe.

Norbert Reichel: 2011 bis 2016 warst du Staatssekretär bei Stephan Dorgerloh in Sachsen-Anhalt. Ihr wart zuständig für Schule und Kultur. Wo siehst du die wesentlichen Unterschiede zwischen dieser Zeit und der Zeit von 1989 und 1990?

Jan Hofmann: In der Zeit des Runden Tisches habe ich die Erfahrung gemacht, wie wichtig es ist, Visionen und Strategien zu entwickeln und dann erst über Umsetzungsfragen, pragmatische Abläufe nachzudenken. Diese Erfahrung habe ich ins Ministerium mitgenommen. Was wollen wir eigentlich? Den Alltag verwalten oder haben wir auch eine Vision von Bildung und Kultur? Wir wollen Gerechtigkeit, Chancengleichheit für Kinder und Jugendliche, aber auch für Kunst und Kultur. Wir haben zum Beispiel die freie Kulturszene mit erheblichen Mitteln gefördert, auch der Staatskultur etwas weggenommen. Unser Ziel war es, Fragen zu Gerechtigkeit, lebenslangem Lernen, sozialer Geborgenheit im Bildungs- und im Kulturkanon zu verankern.

Natürlich habe ich auch gelernt, wie zählebig, wie mühselig und wie zeitaufwändig es auch ist – das gehört dazu – und ich kann für mich konstatieren, dass ich aus meiner Zeit im Runden Tisch in meiner Zeit als Staatssekretär an der Seite eines Ministers, der ähnlich tickte, sehr gut wiederfand.

Norbert Reichel: Die Anliegen der Bürgerbewegung 1989/1990 und die Förderung der freien Kulturszene passen ja gut zusammen. Es geht auch um Partizipation und darum, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen.

Jan Hofmann: Wir mussten uns dafür mit etablierten Strukturen anlegen. Wir waren vielleicht nicht immer so beliebt, aber das haben wir einkalkuliert. Wir sind ja nicht ins Amt gekommen, um Everybody’s Darling zu werden. Wir haben, als wir anfingen, gesehen, wie gering der Etat für die freie Kulturszene war. Da mussten wir etwas tun. Oder im Schulbereich: Gemeinschaftsschulen, die auch den Namen verdienen. Aber immer mal wieder mussten wir auch jemandem etwas wegnehmen. Das ist so, wenn man  die Idee von Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit ernst nimmt. Natürlich hätten wir uns einen schlanken Fuß machen können, störungsfrei verwalten, sich mit niemandem anlegen.

Wir hatten natürlich auch das Glück, dass wir 2013 die Präsidentschaft in der KMK hatten. Ich durfte damals die Amtschefkonferenz leiten.

Norbert Reichel: Ein Weg weisendes Dokument dieser Zeit war die weiterentwickelte Empfehlung der KMK zur kulturellen Kinder- und Jugendbildung. Ich darf aus meiner Zeit festhalten, dass Stephan Dorgerloh, danach Sylvia Löhrmann im Jahr 2014 und Helmut Holter im Jahr 2018 – alle drei aus verschiedenen Parteien – das, was du beschreibst, taten. Sie stellten Visionen, Inhalte in den Vordergrund und versanken eben nicht in Strukturfragen und Aktualitäten. Das ist den anderen Präsident*innen der KMK in der Zwischenzeit leider nicht so gut gelungen. Ein solcher Perspektivwechsel – wie ihr ihn im Runden Tisch vorgelebt hat – wäre meines Erachtens auch heute wieder an der Zeit.

Jan Hofmann: Natürlich denken wir alle gerne, dass früher manches besser war. Aber ich stimme dir zu.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2021, alle Internetlinks wurden am 15. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)