Wir brauchen eine neue Aufklärung

Tsitsi Dangarembga und der lange Weg zur Befreiung

„Wie wir wissen, hat die Aberkennung des menschlichen Werts anderer Menschen den Effekt, den menschlichen Wert zu erhöhen, den wir uns selbst zuschreiben; und wir wissen auch, dass dieser Mechanismus der differenziellen Zuschreibung von Menschlichkeit für einen Großteil der Gewalt verantwortlich ist, mit der die Menschen einander heimsuchen.“ (Tsitsi Dangarembga, Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 24. Oktober 2021 in der Frankfurter Paulskirche)

Der Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises an Tsitsi Dangarembga gab Auma Obama, Schwester des ehemaligen US-amerikanischen Präsidenten, den Titel „Gegen alle Widerstände“. Sie schloss mit einer klaren Forderung: „Bitte lesen Sie afrikanische Literatur. Schauen Sie über Ihren Horizont hinaus. Wir sind da, wir sind stark. Wir haben Ihnen etwas mitzuteilen. Es ist eine Bereicherung. Lesen Sie, was auf dem afrikanischen Kontinent geschrieben wird. Lassen Sie es nicht ein Einzelfall sein. Read African Books!“

Der Wert afrikanischer Literatur

Tsitsi Dangarembga 2021 auf der Frankfurter Buchmesse. Wikimedia Commons

Ich gebe es zu: Tsitsi Dangarembga war mir bis vor zwei Jahren nicht bekannt, weder als Autorin, noch als Filmemacherin, noch als Aktivistin für Meinungsfreiheit und Menschenrechte.

Eindeutig ein blinder Fleck. Und ich muss auch gestehen: ich stieß eher zufällig auf „Aufbrechen“, den bereits 1988 erschienen ersten Band der Trilogie über Hoffnung und Scheitern Tambudzai Sigaukes, einer jungen Frau Anfang der 1960er Jahre in Simbabwe. „Nervous Conditions“ heißt das Buch im Original. 1991 ist das Buch erstmals unter dem Titel „Der Preis der Freiheit“ bei Rowohlt erschienen, der große Leseerfolg blieb offenbar aus. 2019 veröffentlichte der kleine Orlanda Verlag den Roman mit neuem deutschen Titel.

2021 rückte der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels die Autorin und ihre Botschaft ins kulturelle Rampenlicht des deutschen Kulturbetriebs. Inzwischen sind auch die beiden Nachfolgebände zu Tambudzais Geschichte – „Überleben“ und „Verleugnen“- erschienen. Und gerade hat der Quadriga Verlag Tsitsi Dangarembgas „Schwarz und Frau. Gedanken zur postkolonialen Gesellschaft“ herausgebracht. Die drei Romane und Tsitsi Dangarembgas Beschreibung postkolonialer patriarchaler Strukturen, denen sich auch der weiße Feminismus nicht gänzlich entziehen vermag, gehören zusammen und ergänzen sich.

Fassen wir kurz die Rezeptionsgeschichte zusammen:

1989 erhält Tsitsi Dangarembga den Commonwealth Writers Prize, 2018 setzt sie die BBC auf die „List of 100 Best African Books“. Bösartig könnte ich jetzt konstatieren: The Empire Strikes Back: beide Preise sind Auszeichnungen, verankern die Autorin, Filmemacherin und Aktivistin aber in der ihr zugewiesenen weltpolitischen Ecke. Das Commonwealth ist, bei genauer Betrachtung, die Fortsetzung des British Empire, sie wurde nicht für ihre Verdienste für die englischsprachige Literatur ausgezeichnet. Und auch die Aufmerksamkeit der BBC hat ein Geschmäckle: die besten afrikanischen Bücher werden genannt, nicht die besten englischsprachigen – weltweit.

2021 erhält sie den PEN Pinter Prize und den PEN International Award for Freedom of Expression. 2021 ebenso den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, die Begründung der Jury: „In ihrer Romantrilogie beschreibt Tsitsi Dangarembga am Beispiel einer heranwachsenden Frau den Kampf um das Recht auf ein menschenwürdiges Leben und weibliche Selbstbestimmung in Simbabwe. Dabei zeigt sie soziale und moralische Konflikte auf, die weit über den regionalen Bezug hinausgehen und Resonanzräume für globale Gerechtigkeitsfragen eröffnen. In ihren Filmen thematisiert sie Probleme, die durch das Aufeinandertreffen von Tradition und Moderne entstehen. Ihre Botschaften richten sich erfolgreich an ein breites Publikum sowohl in Simbabwe als auch in den Nachbarländern.“

Nur in den Nachbarländern Simbabwes? Nicht vielleicht auch an die Lesenden und Denkenden in den Ländern der Nordhalbkugel?

Der kurze Blick auf die Rezeptionsgeschichte von Tsitsi Dangarembgas literarischem Schaffen macht nachdenklich.

Warum im Frühjahr 2023 ein Riesenhype um einen Roman, der sich mit den Interna der deutschen Medienlandschaft beschäftigt? Im Übrigen von Heinrich Böll schon 1974 in extenso in seinem Roman „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ sehr anschaulich behandelt.

Warum kein Riesenhype um Tsitsi Dangarembga, Djaili Amadou Amal, Chimananda Ngozi Adichie, Felwine Sarr, zum Beispiel?

Es beruhigt mich überhaupt nicht, dass mein blinder Fleck offenbar strukturbedingt ist.

Wann fangen wir Erb*innen des Kolonialismus und anderer ausbeuterischer Ideologien endlich an, uns nicht mehr um uns selbst zu drehen, sondern so ernst zu nehmen, dass wir uns a) frei betrachten können, b) die erlernten Hierarchien als völlig unnütz für eine ernsthafte nachhaltige Debatte um die Zukunft künftiger Generationen erkennen? Wie nutzen wir dann alle Energien, um der dystopischen Weltsicht eine belastbare Utopie entgegen zu halten? Literatur ist da nicht das schlechteste Vehikel, um über den Tellerrand eigener Ansätze hinauszuschauen. Auma Obama hat Recht: „Read African Books!“

Die Tambudzai-Trilogie

Tambudzai Sigauke wächst in einem kleinen Dorf im Simbabwe der frühen 1960er Jahre auf. Als Mädchen scheint ihr Weg vorgezeichnet: heiraten, Kinder bekommen, die Familie umsorgen. Tambudzai beneidet ihren Bruder, der zur Schule gehen darf. Hierfür stellt der Onkel der Kinder, Babamukuru, das Geld zur Verfügung. Tambudzai liest gerne. Damit zieht sie sich den Zorn ihrer Eltern zu, die befürchten, dass Tambudzai sich mit dieser Leserei für den Heiratsmarkt disqualifiziert und ihre Zukunft verbaut. Dann stirbt der Bruder durch einen Unfall. So brutal es ist, das ist Tambudzais Chance. Bamakuru und seine Frau Maiguru übertragen ihre Unterstützung für den Bruder nun auf das Mädchen. Tambudzai zieht zu ihrer Tante und ihrem Onkel – und ihrer Kusine Nyasha.

Sie taucht damit in eine bis dahin unbekannte Welt ein: das Leben einer mittelständischen und in England ausgebildeten Familie. Bamakuru hat hier das Sagen. Seiner Frau, ebenso wie er mit einer englischen Universitätsausbildung versehen, ist die Rolle der Hausfrau und Mutter zugewiesen. Mit harter Hand und straffer Disziplin treibt Bamakuru Tochter und Nichte zu schulischen Leistungen, Zweitbeste zu sein gilt es nicht. Die Tochter reagiert mit Verweigerung und Gegenwehr. Sie flüchtet sich in Depression und Neurosen. Tambudzai versucht, den am britischen Schul- und Gesellschaftssystem orientierten Familiengepflogenheiten folgen. Lernen und Leistung als Voraussetzung für den sozialen Aufstieg.

Sie schafft es, in ein von Nonnen geleitetes College aufgenommen zu werden. Lernen und Leistung als Grundfesten westlicher Zivilisation bestimmen das Leben in diesem College. Von außen betrachtet. Wir schreiben immer noch die 1960er Jahre.

Zum Hintergrund: 1965 erklärten die weißen Siedler des damaligen Rhodesiens einseitig die Unabhängigkeit von Großbritannien. Sie wollten damit verhindern, dass das Empire dieses Gebiet, dass als Rhodesien und Njassaland durch Cecil Rhodes‘ Landnahme 1893 britisches Hoheitsgebiet wurde, in die Unabhängigkeit und damit in die Hand der Schwarzen Bevölkerungsmehrheit entließ. In der Folge entbrannte ein erbitterter Krieg zwischen kolonialen weißen Siedlern und der kolonisierten Schwarzen indigenen Bevölkerung.

Das College, von den Nonnen im Glauben an die Segnungen der katholischen Kirche und den dadurch abgeleiteten Bildungs- und Missionsauftrag geleitet, folgt dem Dogma der Überlegenheit der weißen „Rasse“. Gute Leistung reicht nicht aus, um die „der afrikanischen Kultur inhärenten Defizite“ zu beheben oder auch nur auszugleichen. Tambudzai ist mit den Maximen des Ubuntu aufgewachsen: „Mir geht es gut, weil es dir gut geht“. Danach versucht sie auch in dieser Umgebung zu leben. Sie scheitert am Rassismus und am daran ausgerichteten Wertesystem der Nonnen. Von ihrem Onkel, der selbst dem britischen Wertesystem folgt und dabei gleichzeitig den Patriarchalismus seiner Gesellschaft nahtlos mit der westlichen Misogynie verbindet, kann sie keine Hilfe, nicht einmal einen hilfreichen Impuls erwarten, leider auch nicht von ihrer Tante und ihrer Kusine, beide auf unterschiedliche Weise im System gefangen.

Tambudzai muss erkennen, ihre Werte gelten nichts, selbst wenn sie es schafft, qua Leistung die Klassenbeste zu sein, bekommt ihre weiße Klassenkameradin den ersehnten Schulpreis.

Und die Kämpfe um die Freiheit von den Siedlern fordern Tribut in Tambudzais Familie: ihre Schwester kämpft im Widerstand und verliert ein Bein durch eine Mine, ihr Onkel, der einst geachtete Bamakuru wird von den eigenen Leuten verprügelt wegen seiner Stellung im weißen System. Gewalt ist auf beiden Seiten. Niemand kann die Hände in Unschuld waschen.

Tsitsi Dangarembga konstatiert 2021 nüchtern in ihrer Friedenspreisrede: „Simbabwe – der Staat aus dem ich komme – hat nie Frieden gekannt. Simbabwe war schon immer ein gewalttätiger und repressiver Staat. Infolge der Geschichte war Simbabwe bei seiner Unabhängigkeit 1980 ein gewaltbereiter alter Siedlerstaat, dessen Zeit vorbei war. Der neue Nationalstaat, entstanden durch einen brutalen Freiheitskampf, in dem von beiden Seiten Gräueltaten verübt wurden (…), war ebenso gewalttätig. Die militaristische Rhetorik konzentrierte sich auf Feindschaft und Feindseligkeit, und das ist die Philosophie, die bis zum heutigen Tag die simbabwische Obrigkeit beherrscht.“

Im dritten Band – „Verleugnen“ – „This Mournable Body“ – folgen die Lesenden Tambudzai in einer Abwärtsspirale. Der unerwartete Zugang zu Bildung ermöglichte ihr den Zugang zu einem selbstbestimmten Leben. Aber Tambudzai verheddert sich in der Unvereinbarkeit der Welten. Sie gehört nicht mehr zu ihrem Dorf, dessen leben ihr fremd geworden ist, sie gehört nicht zur durch die durch brutalen Wettbewerb bestimmte Gesellschaft, in der Ubuntu nicht mehr zu zählen scheint. Sie fängt in einer Werbeagentur als Texterin an, die männlichen Kollegen stehlen ihre Ergebnisse und machen auf ihren Leistungen Karriere. Sie wird Lehrerin und hält die Schülerinnen nicht aus. Sie trifft ihre Kusine Nyasha wieder, die in England studiert hat und nun mit europäischem Gatten und zwei Kindern nach Simbabwe zurückkommt, um eine ökologische, nachhaltige und ethnologisch korrekte Tourismusorganisation zu leiten. Tambudzai steigt mit ein. Das kann nicht gut gehen. In einer mehr tragischen als komischen Szene rollt Tambudzai mit ihrem SUV voller Süßigkeiten – eine Erinnerung an Onkel Bamakurus Besuche vor Jahrzehnten – in ihr Heimatdorf. Mit im Gepäck eine ganze Ausstattung an Röckchen, Schmuck und allem, was sich Tourist*innen unter „authentischem Dorfleben“ vorstellen könnten. Sie versucht tatsächlich, ihre eigene Mutter zu vermarkten. Anders als Bamakuru wird sie nicht mit Prügel aus dem Dorf gejagt. In dem sie ihre Angehörigen demütigt, demütigt sie sich selbst.

Tambudzai scheitert schließlich an ihrer Zerrissenheit, an der Spannung zwischen den vermeintlich gütigeren Werten des Nordens und den Werten des Südens. Aus dieser Spannung kann nur Gewalt und Verachtung erwachsen. Und schließlich Scheitern.

„This Mournable Body“ – der englische Titel ist ein anderes Programm als der deutsche Titel „Überleben“. Ja, Tambudzai verleugnet sich und ihre eigenen Kräfte in ihrer verzweifelten Anpassung an ein sie ignorierendes System. Sie überlebt nur knapp, aber in welcher Gestalt?

Wenn man genau hinhört und genauer liest: „The Mournable Body“ heißt, dass man trauern kann über diesen Körper, über die Geschichte, der er anheimgefallen ist. Es ist kein anonymer Körper, kein namenloser Leichnam, sondern ein Mensch mit einem Namen und einer Geschichte. Trauern heißt: erzählen, was passiert ist, erzählen können, was passiert ist, in der Gewissheit, dass jemand zuhört. Das ist der erste Schritt zur Befreiung: sich gegenseitig zuhören.

Wenn der Schwarze Mensch nicht frei sei, könne es auch der weiße Mensch nicht sein, da er sonst in ständiger Angst vor dem Schwarzen Menschen lebe. So oder ähnlich hat es Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu gepredigt.

Schwarz und Frau

Tsitsi Dangarembgas Blick ist noch differenzierter.

Darryl Pinckney würdigt Tsitsi Dangarembga mit einem ausführlichen und sehr lesenswerten Essay in der New York Review of Books vom 6. April 2023. Er trifft es sehr genau, wenn er sagt, dass ihr Essayband „Schwarz und Frau“ („Black and Female“) die Romane von Tsitsi Dangarembga kommentiert und ergänzt.

„‚Schwarz und Frau‘ enthält die zornige Geschichte des Raubes von Territorien im späten neunzehnten Jahrhundert, die zu Simbabwe wurden, Land, das in europäische und nicht-europäische Gebiete aufgeteilt wurde als es Rhodesien war, Land, in dem schwarze Menschen sich nicht frei bewegen durften…Kolonialismus als Trauma ist auch Thema in Dangarembgas Romanen, aber da ist noch eine weitere Schichte der Unterdrückung abzutragen – bevor ‚Aufbrechen‘ bei der Moral ankommt, wie Afrikaner*innen sich selbst fremd, für sich selbst nicht mehr erkennbar werden mussten, um die einstweilige Mitgliedschaft in Englishness zu erlangen.“

In drei Essays – „Schreiben als Schwarze und als Frau“, „Schwarz, Frau und feministische Superfrau“, „Dekolonialisierung als revolutionäre Vorstellung“ – beschreibt Tsitsi Dangarembga ihre eigene Bewusstwerdung und ihren Weg zur Schriftstellerin, Filmregisseurin und Aktivistin. Im zweiten Essay setzt sie ihren Fokus auf die Geschichte der Frauen in Simbabwe, und die Einschränkungen, die als Auswirkungen von Imperialismus und Kapitalismus die freie Entfaltung der Frauen in ihrem weiblichen und menschlichen Potential behindern. Der dritte Essay widmet sich dem Konzept, dass Dekolonialisierung in erster Linie ein diskursiver Vorgang ist, ausgehend von der Veränderung von Vorstellungen und Einstellungen.

In ihren eigenen Worten: sie beschreibt weniger, als dass sie überprüft, wie „das Schreiben für mich zu einer dauernden Analyse der Vernetzung meiner persönlichen Geschichte mit der meines Landes wurde.“ Sie erklärt nicht, sie überprüft und beschreibt dann das Ergebnis. Und sucht nach einem Weg aus den Fängen der Geschichte. Fast nüchtern analysiert Tsitsi Dangarembga im ersten Essay ihre eigene Lebensgeschichte:

Sie wurde 1959 in Mutoko, Rhodesien und Njassaland, geboren. Kurz drauf gingen ihre Eltern nach England, um dort zu studieren. Sie nahmen die Tochter, gerade mal im Kindergartenalter mit, allerdings nicht nach Cambridge. Tsitsi Dangarembga beschreibt, wie ihre Eltern sie in ein Haus in London zu einem älteren Ehepaar führen. Dort wird sie kurzzeitig in einem Raum voller Spielzeug alleine gelassen. Nach einiger Zeit kommt das Ehepaar wieder, die Eltern sind verschwunden. Tsitsi Dangarembga und später ihr Bruder wachsen bei den Pflegeeltern auf, in einer Welt, in der sie in jeder Beziehung anders sind. In den sechziger Jahren war dieser traumatisierende Umgang mit Kindern von Studierenden aus dem Commonwealth offenbar die Regel. Als die kleine Familie nach Studienabschluss der Eltern wieder nach Simbabwe zurückkommt, sprechen die Kinder ein Englisch, das als „anders“ gehört wird – waren sie in der Schule in London fremd wegen ihrer Hautfarbe, so sind sie es jetzt „zu Hause“ wieder.

Tsitsi Dangarembga erkennt durch erste Kontakte mit dem Feminismus westlicher beziehungsweise nördlicher Prägung ihre Situation als Frau: ihr wird keine wichtige Position in der Gesellschaft, egal welcher jetzt, zugestanden. Und dann fällt ihr auf, dass sie als Frau wohl in den Schriften und Aktivitäten der Frauenbewegung vorkommt, aber nicht als Schwarze Frau. Und es gibt noch eine bittere Erfahrung: „Der Feminismus lieferte mir in den hoffnungsvollen Tagen nach der Unabhängigkeit, als es eine Weile schien, als wäre jeder Sonnenaufgang strahlender als der am Tag zuvor, eine Theorie und eine Gemeinschaft zum Üben, eröffnete aber auch einen neuen Kampf. Weiße Frauen verließen das Land, das Geld wurde immer weniger, die regierende Partei vereinnahmte die Frauenbewegung in ihrer Frauenliga. Eine Version davon existiert noch heute, und nur Organisationen, die der Staat gutheißt, erhalten Unterstützung (…). Feminismus wurde als schmutziges Wort gebrandmarkt, und viele, darunter ich, die durch die feministische Praxis aufgeblüht waren, saßen auf dem Trockenen. Während der Feminismus einerseits meine Stimme verstärkte, positionierte er mich gegen den Mainstream.“

Sie erfährt, dass ihre Werke bei den Verlagen abgelehnt werden, entweder, weil sie Frau ist, oder weil sie Schwarze Frau ist. Dasselbe geschieht ihr auch mit ihrem filmischen Oeuvre.

Schlimmer noch, ein Familienmitglied, das ihre Sache meinte entrümpeln zu müssen, verbrannte ihre Arbeit, auch ihre akademischen Arbeiten. Ihr Fazit: so wenig galt die Kunst des Schreibens. Zumal die einer Frau.

„Aufbrechen“, „Nervous Conditions“, überlebte das Inferno, nicht zuletzt, weil es bei einem Londoner Frauenverlag lag. Zwar dümpelte das Manuskript auch dort noch eine ganze Weile im Keller. Dangarembga aber machte sich auf zum Verlag, der Women’s Press, damals von der aus Südafrika stammenden und im Londoner Exil lebenden Ros de Lanerolle geleitet. Die sofort die Geschichte verstand und für die Veröffentlichung sorgte.

Allein in dieser Begebenheit wird deutlich: Die Nachwirkungen von Imperialismus und Patriarchat sind heftig und wirken im Verborgenen weiter – nicht immer ist das eigene Sensorium verlässlich.

Tsitsi Dangarembga weist auf die Unterschiede patriarchaler Systeme hin: vor der Kolonialisierung seien die traditionellen örtlichen Normen patriarchalisch gewesen. Aber dieses patriarchale System beruhte auf Verwandtschaft. Damit unterscheidet es sich von patriarchalischen Systemen, die auf Privatbesitz basieren: „Besitz impliziert ein Objekt, das besessen wird, und einen Besitzer, dem es gehört. Objekte im Privatbesitz müssen quantifizierbar sein, um sie zählen zu können. Eigentum ist demnach ein System der Disaggregation und Kontrolle als Wegbereiter des unerlässlichen Akts des Erwerbs. Demzufolge sind Wettstreit und Konflikt, die sich als Konkurrenz ausgeben, fundamental für jedes System (auch ein patriarchales), das auf Privateigentum beruht. Patriarchale Systeme, die auf Verwandtschaft basieren, erkennen andererseits die unendliche Natur verwandtschaftlicher Beziehungen und die Notwendigkeit an, die Fortdauer dieser Beziehung durch angemessenen Zugang zu Ressourcen für alle zu gewährleisten.“

Im Grunde ist das die Essenz des Ubuntu: Mir geht es gut, weil es dir gut geht, ich bin, weil du bist. Frieden zu wahren und sich nicht gegenseitig zu bekämpfen, machte die Essenz der Gemeinschaft aus. Niemand hatte in diesem Gefüge Anreiz, um Macht oder Stellung zu kämpfen, es gab Regeln, die vorsahen, dass alle, die sich friedfertig näherten, in dieses „Du-der-ich-bin“ integriert wurden.

Das änderte sich, als die Briten in „Rhodesien“ ihre Vorstellung von Gesellschaft und damit ein hierarchisches, auf Eigentum, Raub und Abgrenzung basierendes System oktroyierten. Die Folgen belegt Tsitsi Dangarembga eindrücklich in ihrer Dankesrede zum Friedenspreis.

Nach Ankunft der Invasoren bestand ein erster Akt der Gewalt in der ökonomischen Gewalt, schwarzen Menschen für die Häuser, in denen sie lebten, eine Geldsteuer aufzuerlegen. Da die usurpierte Bevölkerung bis dahin keine Geldwirtschaft nutzte, zwangen die Siedler sie, zu von ihnen festgelegten Bedingungen zu arbeiten, um so das für die Steuer notwendige Geld zu bekommen. Schwarze bekamen weniger Lohn als weiße und durften nicht mit allen Waren handeln. Auch in der Ernährung wurden für die Schwarzen Menschen nachteilige Veränderungen implementiert: die alten Getreidesorten wurden durch den Maisanbau seitens der Siedler verdrängt. Tsitsi Dangarembga spricht weiter von der „metaphysischen Gewalt“, die darin bestand, dass präkoloniale Glaubenssysteme, Rechtsordnungen, Gesellschaftssysteme, Wissen und Sprachen verhöhnt, verunglimpft und verboten wurden.

Gesetze bedrängten und verdrängten Schwarze. Polizeibrutalität und die Gewalt durch Haft und Folter erwähnt Tsitsi Dangarembga nur am Rande.

Und das ist nicht das vollständige Bild: Willkürliche Grenzziehungen und Landnahmen durch die Kolonialist*innen, Genozide und der Sklavenhandel haben die afrikanischen Gesellschaften ausgeblutet und gewachsene Strukturen grundlegend zerstört. Die Kontinuitäten des Kolonialismus im postkolonialen Afrika, die sich in der Machtgier, der Korruption und dem Rassismus auch mancher jetziger Machthaber manifestieren – gestützt von den ehemaligen Kolonialmächten – sind die Konsequenz westlicher Hybris. „Die prägende Gewalt des simbabwischen Staates ist kein isoliertes historisches Ereignis. Der größte Teil der Welt hat die facettenreiche Gewalt des westlichen Imperiums erlitten, wie ich sie im Fall Simbabwes beschrieben habe. (…) Diese Arten von Gewalt sind in die Strukturen der globalen Ordnung, in der wir leben, integriert und wurzeln in den Strukturen des westlichen Imperiums, dessen Anfänge sich vor über einem halben Jahrtausend bildeten.“

„Ich denke, also bin ich“ oder „Mir geht es gut, weil es dir gut geht“ – „Ich bin, weil du bist“

Wie kann man den Teufelskreis von Gewalt, die Gewalt erzeugt, durchbrechen, eine No-Win-Situation für „sieben Milliarden Menschen auf diesem Planeten“, die in diesem „globalen System verbunden und darin eingebettet sind“?

Der Schlüssel liegt darin, so Tsitsi Dangarembga in ihrer Dankesrede, „ethnisch determinierte und andere hierarchische Denkweisen abzuschaffen, die auf demografischen Merkmalen wie sozialem und biologischem Geschlecht, Religion, Nationalität, Klassenzugehörigkeit und jedweden anderen Merkmalen beruhen, die in der gesamten Geschichte und überall auf der Welt die Bausteine des Imperiums waren und noch immer sind.“

Tsitsi Dangarembga bezieht sich zum Abschluss ihrer Rede in der Frankfurter Paulskirche auf René Descartes‘ Satz: „Ich denke, also bin ich“. Und sie führt diesen Gedanken weiter: Denken ist ein Selbstgespräch, den Prozess des eigenen Denkens mit dem eigenen Sein gleich zu setzen, birgt einen Fehler. Nämlich im System. Ich denke ja in einem angeeigneten System. Was, wenn jemand, der/die* ein anderes Werte- und Denksystem benutzt, dass sich von meinem unterscheidet. Denkt dieser Geist dann? IST der dazugehörige Körper dann? Auch wenn er anders ist? Schaue ich über das Ich hinaus auf ein Wir? „Über das ‚Ich‘ hinauszuschauen zum ‚Wir‘ könnte zu horizonterweiternden Neuformulierungen des Satzes des Franzosen führen, zum Beispiel zu ‚Wir denken, also sind wir‘ oder sogar zu ‚Wir sind, also denken wir‘ und mit Letzterem den Ort der Hochschätzung vom rationalen ‚Denken‘ zum empirischen ‚Sein‘ verschieben.“

Descartes hat den Imperialismus nicht verhindert. Ubuntu hat die afrikanischen Völker nicht retten können.

Tsitsi Dangarembga plädiert dafür, alle Kräfte und alle Ideen aus allen Ecken des Planeten zusammenzuholen, um neue Gedanken zu fassen, die uns zu neuen Erkenntnissen bringen. Eine neue Aufklärung tut Not.

Ansätze gibt es ja, zum Beispiel in den TED Konferenzen. Wir müssen sie nur wahrnehmen und ernst nehmen. Und: Literatur ist immer noch ein gutes Vehikel, den eigenen Horizont zu erweitern: „Read African Books“!

Zum Weiterlesen – Bücher von Tsisti Dgangarembga:

  • The Third One (Schauspiel), Jahr unbekannt.
  • Lost of the Soil (Schauspiel), 1983.
  • The Letter (Kurzgeschichte), 1985, veröffentlicht in der Anthologie Whispering Land – An Anthology of Stories by African Women, Stockholm, SIDA, 1985.
  • She No Longer Weeps (Schauspiel), 1987.
  • Nervous Conditions (Roman), 1988 (erster Teil der Tambudzai-Trilogie), deutsch: Der Preis der Freiheit. Übersetzt von Ilija Trojanow, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1991, deutsch: Aufbrechen, übersetzt von Ilija Trojanow, Berlin, Orlanda, 2019 (neuer deutscher Titel)
  • The Book of Not (Roman), 2006 (zweiter Teil der Tambudzaia-Trilogie), deutsch: Verleugnen, übersetzt von Anette Grube, Berlin, Orlanda, 2022
  • This Mournable Body (Roman), 2018 (dritter Teil der Tambudzai-Trilogie), deutsch: Überleben, übersetzt von Anette Grube, Berlin, Orlanda, 2021.
  • Black and Female (Essays), 2022, deutsch: Schwarz und Frau – Gedanken zur postkolonialen Gesellschaft, übersetzt von Anette Grube, Berlin, Quadriga, 2023.

Filme:

  • Neria, 1993 (Drehbuch)
  • Die Schönheitsverschwörung, 1994
  • Passport to Kill, 1994
  • Schwarzmarkt, 1995
  • Everyone’s Child, 1996
  • The Puppeteer, 1996
  • Zimbabwe Birds, 1998
  • On the Border, 2000
  • Hard Earth – Land Rights in Zimbabwe, 2001
  • Ivory, 2001
  • Elephant People, 2002
  • Mother’s Day, 2004
  • High Hopes, 2004
  • Kare Kare Zvako, 2004
  • At the Water, 2005
  • Growing Stronger, 2005
  • Peretera Maneta, 2006
  • The Sharing Day, 2008
  • I Want a Wedding Dress, 2010
  • Ungochani, 2010
  • Nyami Nyami Amaji Abulozi, 2011

Ein Film über Tsitsi Dangarembga ist auf youtube verfügbar.

Beate Blatz, Köln

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2023, Übersetzungen aus dem Englischen erfolgten durch die Autorin, Internetzugriffe zuletzt am 26. April 2023.)

elbild: Beate Blatz.)